Romana Sommeredition Band 1

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INTRIGE AUF SCHLOSS MONTE AZZURRO von JANE WATERS

Ein Blick aus Ricardo Antonicellis dunklen Augen - und Judy ist hingerissen. Doch der attraktive Conte ist ihr Boss: Als Kunsthistorikerin soll Judy für ihn eine Gemäldeauktion vorbereiten. Nur warum sieht er sie so verlangend an? Erwidert er ihre Gefühle, oder spielt er nur mit ihr?

RASANTE ROMANZE IN FLORENZ von DANIELLE STEVENS

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GLUT IN SAMTBRAUNEN AUGEN von PENNY ROBERTS

Ein attraktiver Bräutigam, eine Luxusvilla in der Toskana und ein eigenes Vermögen - trotzdem ist Vanessa todunglücklich. Dabei hat es zwischen ihr und Cesare auf Anhieb gefunkt. Aber sie weiß: Sobald er ihr Geheimnis kennt, wird jede Glut erlöschen …


  • Erscheinungstag 04.08.2020
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500067
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jane Waters, Danielle Stevens, Penny Roberts

ROMANA SOMMEREDITION BAND 1

1. KAPITEL

Süß, fast betäubend, breitete sich der Duft von Kräutern und Blüten in der milden Abendwärme aus. Conte Ricardo Antonicelli atmete tief ein und spürte, wie er sich sofort entspannte. Der würzige Geruch, der durch die weit geöffneten Fenster strömte, war Balsam für seine Seele.

Er lehnte sich zurück, lauschte nun dem Vogelgezwitscher, das zu ihm nach oben drang. Von seinem Büro aus hatte er nicht nur einen grandiosen Blick auf den großen Park, sondern auch auf den nah gelegenen erhabenen Hügel mit seinen glatten Felsen, die im Abendlicht geheimnisvoll bläulich schimmerten, der Monte Azzurro, der Blaue Berg. Von ihm hatte der Familiensitz seinen stolzen Namen, ein Name, der weit über die Toskana bekannt und fest mit dem ehrenwerten Ruf der Antonicellis verbunden war.

Wie hatte seine Schwägerin Valeria darauf gedrängt, sein Büro in der unteren Etage einzurichten, aber darauf hatte er sich nicht eingelassen. Er wollte sie nicht ständig in seiner Nähe haben. Hier, in den vertrauten Wänden seines früheren Zimmers, konnte er in Ruhe arbeiten, erinnerten sie ihn doch an die glücklichen Jahre seiner Kindheit und Jugend, als er auf Castello Monte Azzurro sorglos und geborgen aufwachsen durfte.

Ricardo stand auf und ging zum Fenster. Seine glatte Stirn lag nun in Falten. Ruhelos ließ er den Blick über das Anwesen wandern, als könne er dort draußen irgendwo eine Lösung für die aktuelle Misere finden. Dämmerung legte sich über die Wiesen, die Fenster in den Künstlerateliers waren hier und da erleuchtet, er hörte leise Stimmen, sogar gedämpfte Musik. Auf den langen Wegen erkannte er ein Paar, das Hand in Hand durch den lauen Abend ging. Welch großartiges Ambiente für die jungen Künstler, hier mit einem Stipendium zu leben und zu arbeiten! Doch wie lange noch? Es war ein großer Fehler gewesen, dem Castello so lange den Rücken zu kehren. Doch die schmerzvolle Erinnerung steckte noch in allen Winkeln des Schlosses, und auf seinem Weingut im Piemont war viel zu tun gewesen. Nun aber würde er öfters hierherkommen. Er würde sehen, was zu retten war, und würde alles tun, was in seiner Macht stand.

Grübelnd setzte er sich an den Schreibtisch, blätterte noch einmal kopfschüttelnd den unheilvollen grauen Ordner durch. Er war kein Büromensch, schon gar kein Buchhalter, ihm lag mehr die Natur, die Arbeit im Freien in seinen Weinbergen. Doch selbst ein Blinder hätte gesehen, dass hier etwas nicht stimmte: Die Kontoauszüge sprachen Bände. Wie hatte es nur so weit kommen können?

Du weißt doch die Antwort, knurrte er innerlich. Valeria. Seine Schwägerin war ihm schon immer ein Dorn im Auge gewesen, aber er hatte seinen Bruder vergeblich vor einer Heirat mit ihr gewarnt. Wenn Marcello nur sehen könnte, was Valeria angerichtet hatte! Noch nie hatte es mit der Künstlerstiftung Probleme gegeben, im Gegenteil, seit der Gründung vor mehr als fünfzehn Jahren durch seinen großzügigen Vater Lorenzo Antonicelli hatten sich Ruf und Ruhm stetig vergrößert. Doch seit Valeria das Ruder in der Hand hielt, ging es bergab. Gleich nach seiner Ankunft vor wenigen Tagen hatte er ihr alle Vollmachten entzogen.

Energisch schloss Ricardo den grauen Ordner. Zum Glück hatte er einen Plan. Er hatte nun die Zügel wieder in der Hand und würde sich professionelle Hilfe holen. Erst kürzlich hatte er eine Stelle ausgeschrieben, und zwar für eine junge Kunsthistorikerin. An einen männlichen Assistenten war erst gar nicht zu denken, denn diesem würde seine unberechenbare Schwägerin ja doch nur den Kopf verdrehen. Die Qualifikationen seiner Wunschkandidatin lauteten: Mitte zwanzig, perfekte Englisch- und Italienisch-Kenntnisse, Studium der Kunsthistorik, Spezialkenntnisse in der Kunst der Renaissance, Organisations- und Durchsetzungsvermögen, engagiert, sofort verfügbar. Über hundert Bewerbungen waren eingetroffen, von denen Maria, seine Sekretärin, eine Vorauswahl getroffen hatte.

Ricardo öffnete die Mappe mit den Bewerbungen und ließ sie auf den Tisch gleiten. Auf jedem Bogen prangte ein Foto, von dem aus die Bewerberin ihm freundlich und einladend zulächelte. Langsam begann er, die Anschreiben durchzublättern. Karina, Josefine, Laura … Judy. Judy Parker. Länger als bei den anderen Kandidatinnen verweilte sein Blick auf dem Foto, und ein eigenartiges Gefühl durchströmte ihn. Woher nur kannte er sie? Kannte er sie überhaupt? Er überflog ihre Daten, schüttelte den Kopf, nichts davon kam ihm bekannt vor. Dennoch … Diese weichen Gesichtszüge, der volle Mund, die blauen Augen und die langen rötlichen welligen Haare – ihre Erscheinung rührte etwas in ihm an.

Sei nicht albern, mahnte er sich, das hier ist nur ein Bewerbungsfoto, eines von vielen. Eine ähnliche Frau hatte er vielleicht mal im Fernsehen gesehen, in den vielen Nächten, in denen sich trotz harter Arbeit in den Weinbergen der Schlaf nicht einstellen wollte.

Trotzdem las er ihren Lebenslauf noch einmal, verglich ihn mit anderen. Fast alle waren hervorragend, und das erwartete er auch. Nur drei der Bewerbungen sortierte er aus, die anderen blieben im Rennen. Ein Job auf Castello Monte Azzurro mit freier Kost und Logis sowie ein passabler Verdienst, das war in der Kunstszene die Eintrittskarte in ein erfolgreiches Berufsleben. Er wusste das. Er durfte wählerisch sein. Doch wie nur sollte er sich jetzt entscheiden?

Also gut, sagte er sich, überlassen wir es dem Schicksal. Er nahm die verbleibenden sieben Bögen, legte sie verkehrt herum auf den Tisch und vermischte sie. Dann ließ er seine Hand langsam über das blütenweiße Papier gleiten, zog ein Blatt heraus. Als er es umdrehte, stieß er einen leisen Pfiff aus: Sie war es! Die schöne langhaarige Judy Parker. Was für ein Zufall!

Ein energisches Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. So pochte nur Valeria an die Tür … Schnell ließ er die Bewerbungen wieder in der Mappe verschwinden.

„Ja bitte?“ Unwillig wandte er sich um. Er hatte richtiggelegen.

Seine Schwägerin trug ein eng anliegendes Kleid, das ihre üppigen Rundungen betonte. Zu sehr betonte, wie er fand. Für seinen Geschmack war sie etwas zu füllig, und es passte nicht, dass sie als Repräsentantin der Künstlerstiftung wie ein leichtes Mädchen herumlief. Doch als er sie gebeten hatte, auf dem Castello eine andere Garderobe zu wählen, hatte sie sich in eine verführerische Pose geworfen und ihn aufreizend angelächelt: „Aber ich bin nun mal eine sinnliche Frau – oder etwa nicht?“

Er hatte nur müde abgewinkt. Valeria machte keinen Hehl daraus, dass sie verrückt nach Männern war. Und die Trauerzeit war nun einmal abgelaufen …

Sie baute sich vor ihm auf, ihr süßes Parfüm stieg ihm in die Nase. „Hier steckst du!“

„Wo sonst“, entgegnete er und klopfte ärgerlich auf den Aktenordner mit den Kontoauszügen. „Valeria …“

„Bleib mir bitte mit deinen Vorwürfen gestohlen! Du hast dich davongemacht und die Dinge auf dem Schloss mir überlassen. Es steht nicht zum Besten, aber wir werden die Auktion gemeinsam …“

„Die Auktion war meine Idee, und ich brauche deine Hilfe dabei nicht.“

„Aber ich möchte mich ebenso darum kümmern!“ Valeria stemmte kämpferisch ihre Hände in die Hüften.

Es reizte ihn, aufzuspringen. Was bildete sie sich eigentlich ein! Spielte sich hier zur Schlossherrin auf! Doch er zwang sich, ruhig zu bleiben, und sah ihr fest ins Gesicht: „Es geht hier nicht nur darum, was du magst oder nicht magst. Nicht mehr. Ich habe beschlossen, den Bilderverkauf ohne dich zu organisieren, und damit basta. Schließlich kenne ich unser Familienerbe, das dafür herhalten muss, immer noch weitaus besser als du!“

Valeria schnaubte verächtlich. „Darf ich dich daran erinnern, dass ich als stellvertretende Geschäftsführerin …“

„Ja, ich habe dir Aufgaben übertragen, weil ich auf dem Weingut sein musste. Schließlich können wir nicht auf alle Einnahmen verzichten! Aber nun werde ich wieder die Finanzen kontrollieren. Du kannst die nächste Soiree organisieren, die Stipendiaten verabschieden, die neue Ausschreibung … ach, was weiß ich!“ Ricardo konnte seinen Ärger nicht länger verbergen.

„Du brauchst deine Wut nicht an mir auslassen“, entgegnete Valeria beleidigt. „Du denkst, ich bin an der finanziellen Lage allein schuld, aber das wird sich noch zeigen!“

„Was willst du damit sagen?“, fragte Ricardo scharf.

„Das wird sich eben noch zeigen“, wiederholte Valeria.

Er musterte sie, doch das Gesicht seiner Schwägerin spiegelte keine weitere Regung. Sie war wirklich eine gute Schauspielerin, konnte einschmeichelnd sein, zornig, kalt, ganz nach Belieben. Mit dieser Fähigkeit hatte sie es wohl auch geschafft, sich in die Familie einzuschleichen …

Er schlug den Ordner auf. „Ich finde hier Abbuchungen in enormer Höhe, und du bist mir eine Erklärung schuldig.“

„Beim Privat- oder beim Stiftungskonto?“ Valeria hob nur eine Augenbraue.

„Beides!“ Wie konnte sie bloß so unschuldig fragen!

Doch schon zog Valeria wieder einen Schmollmund. „Gut, ich habe sicherlich nicht alles richtig gemacht. Deswegen verkaufen wir ja auch ein paar Bilder, und schon ist die Kasse …“

„Ich verkaufe die Bilder, Valeria, ich!“ Ärgerlich schlug er auf den Tisch.

„Bleib doch ruhig, Ricardo.“ Scheinbar unbeteiligt betrachtete Valeria nun ihre langen glänzenden Fingernägel. Und plötzlich, blitzschnell, griff sie nach der Mappe auf seinem Schreibtisch. „Was ist denn das hier?“ Schon zog sie einen Bogen heraus.

Sofort nahm er ihr die Papiere wieder aus der Hand. „Das ist mein Büro, Valeria, ich warne dich“, fuhr er sie an. Es wurde Zeit, sie in ihre Grenzen zu weisen. „Aber wenn du es unbedingt wissen willst: Das hier sind Bewerbungen von sehr kompetenten jungen Kunsthistorikerinnen, und eine von ihnen wird mir bei der Vorbereitung der Auktion helfen.“

„Wirklich? Ach so ist das!“

„Ja, wirklich! Und sie kommt Ende dieser Woche“, legte Ricardo fest, dabei hatte er noch gar nicht mit dieser Judy Parker gesprochen. Doch wenn diese die Frist nicht einhalten konnte, so würde er eben auf eine der anderen Bewerberinnen zurückgreifen. Schließlich hatte er keine Zeit mehr zu verlieren.

Valeria sah ihn widerwillig an. Bevor sie allerdings etwas Spitzes antworten konnte, setzte er warnend nach: „Damit das von Anfang an klar ist: Sie ist allein meine Assistentin, du hast nichts mit ihr zu tun!“ Deutlich nämlich sagte ihm eine innere Stimme, dass seine Schwägerin auf keinen Fall von den verborgenen Bildern und seinen Plänen wissen durfte. Denn dieses Geheimnis noch zu hüten, das war er seiner Familie schuldig. Schaden hatte Valeria schließlich schon genug angerichtet, und sie schien zu allem fähig zu sein.

Judy konnte sich nicht sattsehen. Die vergangenen Tage in London waren grau, kühl und windig gewesen, doch hier strotzte die Natur vor lauter Kraft und Lust, sich zu entfalten. Sie wusste, dass die Toskana wundervoll war, und dennoch überwältigte sie der Anblick: Silbergrün schimmernde Olivenhaine zogen an ihr vorbei, anmutig streckten sich die schlanken Zypressen in den blauen Himmel, Weinberge säumten die Straßen, malerische Dörfer thronten auf saftig-grünen Hügeln, Blütenteppiche wogten im Wind. Sie war bis Florenz geflogen und dort in den Zug gestiegen – Ziel war eine kleine Stadt in der Nähe von Siena, dort sollte sie abgeholt werden. Eigentlich hatte sie erst ein, zwei Tage in Florenz verbringen wollen, um dort einige Museen zu besichtigen. Doch Conte Antonicelli war ziemlich angebunden gewesen, als er sagte, er brauche sie dringend, und zwar so bald wie möglich.

Bestimmt finde ich in den nächsten Wochen Zeit, einen Ausflug zu machen, tröstete sich Judy, als der Zug seine Fahrt verlangsamte. Rund drei Monate waren ihr auf Castello Monte Azzurro in Aussicht gestellt worden. Lange genug, um all die Geschehnisse in London verblassen zu lassen. Danach, mit einer Referenz von der renommierten Ariana-Antonicelli-Stiftung, würde sie ihren weiteren Weg schon finden. Aber nun musste sie erst einmal dort ankommen. Sie fühlte sich ziemlich angespannt, denn alles war sehr schnell gegangen. Sie hatte die Bewerbung erst vor zwei Wochen abgeschickt, dann war vor fünf Tagen die Zusage gekommen. Wie gut, dass sie London ohnehin erst einmal den Rücken kehren wollte. So fiel ihr der Abschied leicht, und für ihr Zimmer mit den wenigen Möbeln hatte sich schnell eine Untermieterin gefunden.

Judy seufzte. Finanziell gesehen hatte sie es noch nicht weit gebracht, doch die Liebe zur Kunst war ihr allemal wichtiger. Sie hatte das Studium mit Auszeichnung abgeschlossen und ihre heimliche Leidenschaft zum Thema der Abschlussarbeit gemacht: das Engelmotiv in den verschiedenen Epochen der Kunst. Danach hatte sie im Museum und einer Galerie gearbeitet, bis sie die größte Enttäuschung ihres Lebens erfahren hatte … Sie schreckte hoch. Die Bremsen des Zugs quietschten, gleich musste sie aussteigen. Wie schwer es ihr noch fiel, von ihren trüben Gedanken zu lassen! Schnell griff sie nach ihren beiden Koffern, zog sie in den Gang. Die Gepäckstücke waren schwer, doch zum Glück half ihr ein beherzter Italiener und stellte ihr Gepäck mit auf den Bahnsteig.

„Grazie, Signore!“, bedankte sie sich. Dann sah sie sich um. Der Bahnhof bestand nur aus zwei kurzen Bahnsteigen, es waren kaum Reisende ausgestiegen: ein älterer Herr, der eilig davonging, und ein Mädchen, das von seinen Eltern abgeholt wurde. Sonst war niemand mehr da.

Vielleicht werde ich vor dem Gebäude erwartet, überlegte Judy. Hilflos sah sie sich nach einem Rollwagen um, doch Fehlanzeige. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Koffer selbst zu schleppen.

Atemlos erreichte sie die kleine Bahnhofsvorhalle, und auch hier schien alles in einen Jahrhundertschlaf gefallen. Der Schalter war geschlossen, die Türen standen offen, Tauben pickten auf dem Boden nach Krumen. Judy trat auf den Vorplatz, auf dem zwei Taxis standen. Es gab ein winziges Café mit zwei Tischen, sonst nichts. Ratlos stützte sie die Hände in die Hüften. Warum war niemand da, um sie abzuholen? Hatte es ein Missverständnis gegeben? Sie sah auf die Uhr. Schon eine Viertelstunde nach der verabredeten Zeit, und unter der Nummer, die Conte Antonicelli ihr gegeben hatte, war niemand zu erreichen. Seltsam.

Sie ging zu einem der Taxis und beugte sich zum offenen Fenster hinunter. „Buongiorno, Signore, ich möchte zum Castello Monte Azzurro. Ist das sehr weit?“

„Monte Azzurro!“ Das Gesicht des Fahrers leuchtete auf. „Aber nein, eine Viertelstunde nur. Es ist eine sehr schöne Strecke, kommen Sie.“ Schon stieg er aus und nahm ihre Koffer. „Sind Sie eine Stipendiatin?“

„Nein“, antwortete Judy. „Ich … ich helfe dort aus.“

„Sie helfen aus?“

„Nun – ja.“ Judy wusste selbst nicht genau, was sie dort erwartete. Es war von der Vorbereitung einer größeren Veranstaltung die Rede gewesen, von weiteren organisatorischen Aufgaben und der Katalogisierung von Bildern. Sie hätte sich nicht beworben, wäre es nicht die bekannte Ariana-Antonicelli-Stiftung gewesen. Immerhin war dies ein Etikett, mit dem man sich lebenslang schmücken konnte.

Zum Glück bohrte der Taxifahrer nicht weiter nach, und sie stieg ein. Schnell versetzte sie die Fahrt durch die liebliche hügelige Landschaft wieder in einen träumerischen Zustand. Hier zu leben und zu arbeiten …! Sie lächelte, bis ein Ruck sie aus ihrer Verzückung riss und sie einen hell glänzenden Wagen auf der schmalen Straße auf das Taxi zuschießen sah.

Maledetto, verflixt noch mal!“, fluchte der Taxifahrer, als er dem Fahrzeug auswich.

Ihr Herz schlug einen Moment schneller. Sie wusste nicht, ob es wegen des Schrecks war oder wegen des Anblicks des Mannes, der dort am Steuer saß. Seine dunklen Augen blitzten auf, er hatte die Sonnenbrille lässig aus dem gebräunten Gesicht geschoben, und er sah, soweit sie das im Vorbeifahren sehen konnte, mit seinem etwas zu langen Haar und dem Drei-Tage-Bart verdammt gut aus. Unwillkürlich lief ihr ein Schauer über den Rücken, und sie drehte sich nach dem Raser um. Er sah fast noch besser aus als … Sie biss sich auf die Lippe und starrte wieder nach vorne auf die Straße. Nein, an das, was hinter ihr lag, wollte sie nicht denken. Und schließlich musste sie darauf vorbereitet sein, hier in Italien immer mal wieder einen attraktiven Mann zu sehen, der sie an ihre Vergangenheit erinnerte. Damit musste sie klarkommen. Sie straffte sich und nahm sich wieder einmal vor, über der neuen Arbeit alles andere zu vergessen.

Das Taxi bog nun in einen kleinen Seitenweg ein. Ein paar Schafe trotteten widerwillig blökend zur Seite. Judy ließ das Fenster hinunter und steckte neugierig den Kopf hinaus. Es roch wunderbar frisch nach Frühling, und endlich tauchte das Anwesen der Antonicellis auf, das sie natürlich von Bildern schon kannte. Doch hier und jetzt, als sie endlich angekommen war, wirkte alles wie ein Traum: Vor ihr erstreckte sich ein Park, und darin, eingebettet in viel Grün, leuchteten die hellen Gebäude im Sonnenlicht. Auf einer kleinen Anhöhe lag das Castello, flankiert von zwei Türmen und geschmückt mit wehenden bunten Fahnen, erhaben, aber nicht protzig. Wie Judy wusste, war Lorenzo Antonicelli als Kunstmäzen stets dafür bekannt gewesen, Stil und Geschmack genauso leichthin zu präsentieren wie seine Großzügigkeit. Viele junge Künstler hatten mit seiner Unterstützung den Weg in die Öffentlichkeit gefunden. Der tragische Unfall vor eineinhalb Jahren, der auch seinen Sohn Marcello mit in den Tod riss, war für die Kunstszene ein großer Schock gewesen. Judy wusste nicht, wie sie mit diesem heiklen Thema umgehen sollte, wenn sie für Conte Ricardo Antonicelli, den einzigen Hinterbliebenen und derzeitigen Geschäftsführer der Stiftung, arbeiten würde.

Auf leise knirschendem Kies fuhr das Taxi vor dem Castello vor. Vor ihr erstreckte sich eine breite Treppe und führte zu einem majestätischen Eingangsportal, das auf beiden Seiten von großen steinernen Engeln bewacht wurde. Judy konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Engel waren für sie ein gutes Zeichen, Glücksbringer, die ihr signalisierten, dass sie in ihrem Leben auf dem richtigen Weg war. Darin war sie ein wenig abergläubisch. Sie bezahlte den Fahrer und nahm dankend ihr Gepäck entgegen.

Nun öffnete sich oben eine der mächtigen Türen, und eine kleine dunkelhaarige Frau eilte die Treppe hinunter. Sie lächelte herzlich und streckte einladend die Hand aus. Sie mochte schon weit über fünfzig sein. „Sie sind …?“

„Judy. Judy Parker.“

„Also doch! Das dachte ich mir. Ich bin Maria Bocca, Sekretärin und …“, die Frau lachte fröhlich auf, „… manchmal auch Mädchen für alles, aber das mit Herz und Seele. Willkommen auf Castello Monte Azzurro!“

„Danke.“ Maria Boccas Lachen war ansteckend. Doch dann fragte Judy nach: „Nun, es war niemand am Bahnhof … Habe ich etwas missverstanden?“

Die Sekretärin zögerte. „Das tut mir leid … Es gab ein Missverständnis mit Ihrer Ankunftszeit. Aber nun sind Sie ja mit dem Taxi gekommen“, setzte sie schnell nach. „Kommen Sie, Sie haben einen langen Weg hinter sich. Das Gepäck wird gleich nachgebracht.“ Und schon stieg sie vor Judy die Treppe hinauf, wo jetzt noch eine weitere Frau wartete, allerdings mit weniger freundlicher Miene und kühlem Händedruck. Sie mochte etwa Ende dreißig sein, doch sie schien ihr Alter unter einer dicken Make-up-Schicht verbergen zu wollen.

„Contessa Valeria Antonicelli“, sagte sie knapp. „Ich bin Managerin der Stiftung. Mein Schwager, Conte Ricardo Antonicelli, hat mich beauftragt, Sie zu empfangen und auf Ihr Zimmer zu führen.“ Doch statt nach der Begrüßung den üblichen Small Talk folgen zu lassen, fuhr die Contessa mit seltsam bestimmtem Ton fort: „Sicherlich möchten Sie sich zuerst etwas ausruhen.“

Und obwohl Judy lieber einen Spaziergang durch den Park gemacht hätte, antwortete sie: „Gerne.“ Denn sie wollte der kühlen Blondine, die hier offensichtlich das Sagen hatte, nicht gleich widersprechen.

Als sie in die große Vorhalle traten, stieß Judy einen Laut der Bewunderung aus. Prächtige in Gold gerahmte Gemälde zierten die Wände, und mit einem Blick erkannte sie, dass es sich hier um Kostbarkeiten handelte. Doch der förmliche Ton Valerias brachte sie gleich wieder zum Schweigen: „Bitte, hier entlang.“

Judy schaute noch einmal zu Maria Bocca, die entschuldigend die Schultern hob und ihr aufmunternd zulächelte. Aber das Gefühl, wirklich willkommen zu sein, wollte sich nicht einstellen. Erst wurde sie nicht wie besprochen abgeholt, und nun hatte man offensichtlich keine Zeit für sie. Aber vielleicht, so sagte sie sich, bin ich wirklich nur von der Reise erschöpft und ein bisschen empfindlich. Als sie jedoch hinter Valeria Antonicelli herging und diese kein weiteres Wort an sie richtete, dämmerte es ihr: So schön wie erhofft würde es auf Monte Azzurro vielleicht nicht werden. Aber solange sie hier arbeiten durfte, und mochten die Bedingungen noch so hart sein, war ihr alles andere egal. Hauptsache, sie war hier sicher vor Männern, die das Blaue vom Himmel versprachen und rücksichtslos mit ihren Gefühlen spielten.

2. KAPITEL

Judy schlug die Augen auf. Sie war eingenickt, hatte von üppig blühenden Wiesen geträumt und wusste sogleich auch, warum: Die Luft, die durch das offene Fenster strömte, war einfach wunderbar, aromatisch und duftend. Unter ihrem Fenster erstreckte sich ein parkähnlicher Garten mit hohen Bäumen. Sie konnte es kaum erwarten, das gesamte prächtige Anwesen und die hier arbeitenden Künstlern kennenzulernen. Ihr Zimmer jedenfalls begeisterte sie jetzt schon: Die Decken waren mit Stuck verziert, es gab einen riesigen Wandspiegel und einen flauschigen Teppich. Wann jemals hatte sie so schön gewohnt?

Mittlerweile war es schon Abend, und sie entschloss sich zu einer erfrischenden Dusche. Sicherlich gab es bald das Essen, und sie würde endlich mehr über ihren Aufenthalt hier erfahren. Sie hoffte inständig, nicht allzu viel mit Valeria Antonicelli persönlich zu tun haben. Wenn diese allerdings die Managerin der Stiftung war, war eine Zusammenarbeit wohl kaum vermeidbar.

Judy verscheuchte die bedrängenden Gedanken. Der Aufenthalt hier war ohnehin nur eine kleine Zwischenstation auf ihrem Karriereweg. Irgendwann würde sie eine große Galerie führen oder ein Museum leiten. Schließlich hatte sie schon angefangen, dafür beste Referenzen zu sammeln.

Als sie wenig später frisiert und angezogen aus dem Badezimmer kam, klopfte es, und Maria Bocca trat ein. Wieder lachte sie warmherzig und fragte: „Konnten Sie sich ein wenig ausruhen?“

„Ja, vielen Dank!“, erwiderte Judy ebenso freundlich.

„Ich werde Sie nun zum Speisezimmer bringen. Conte Ricardo erwartet Sie dort.“

„Das ist gut“, sagte Judy gelassen, obwohl sie plötzlich ein wenig Aufregung verspürte. Der Conte hatte am Telefon ziemlich streng geklungen, als sie vor einigen Tagen das erste Mal mit ihm gesprochen hatte, und sie stellte sich ihn als zugeknöpften, verbitterten Menschen vor. Doch wenn das Schicksal einem die Familie geraubt hatte, war dies auch gut zu verstehen. Schnell warf sie noch einen Blick in den Spiegel, und Maria Bocca bestätigte: „Sie sehen wundervoll aus.“

Judy hatte nur einen Hauch von Make-up aufgetragen und ein hochgeschlossenes, enges dunkelblaues Kleid gewählt, das hervorragend mit ihrer Augenfarbe harmonierte. Ihr welliges rötlich schimmerndes Haar hatte sie, wie so oft, zu einem Zopf zurückgebunden, der locker über ihren Rücken fiel. Sie wusste, sie war hübsch, ohne dabei aber aufdringlich zu wirken. Sie bevorzugte klassische, zweckmäßige Kleidung und vermied Veranstaltungen, bei denen sie sich aufdonnern musste. Das war nicht ihr Stil, auch wenn es in der Kunstszene so einige gab, die gerade durch ihr schrilles Auftreten Aufmerksamkeit erzielen wollten.

Während sie die Gänge entlangliefen, bewunderte Judy die geschmackvolle Ausstattung des Castellos: Wertvolle Teppiche, ausgewählte Gemälde und erlesene Jugendstil-Lampen sorgten für ein stilvolles Ambiente. Maria Bocca hakte sich wie selbstverständlich bei ihr unter und machte ihr Mut: „Wann immer Sie Fragen haben, ich bin für Sie da. Fragen Sie nur! Im ersten Stock ist mein Büro, dort bin ich fast täglich.“

Dankbar lächelte Judy sie an. Eigentlich hatte sie tausend Fragen, doch sie wollte zunächst abwarten, was der Conte über ihre Arbeit hier zu sagen hatte. Und darauf war sie mehr als gespannt.

Vor einer großen weißen Flügeltür blieben sie stehen, und Maria klopfte an.

„Ja!“, erklang eine dunkle Stimme von innen.

Die Sekretärin steckte den Kopf durch den Türspalt: „Judy Parker, sie ist jetzt hier.“

„Gut.“

Ihr Herz fing aufgeregt an zu klopfen. Dann trat sie, ermuntert durch einen Klaps von Maria Bocca auf ihre Schulter, ein.

Das Erste, was sie dachte, als sich Conte Ricardo Antonicelli vom Tisch erhob und auf sie zukam, war: Diesen Mann kenne ich doch! Das Zweite, was sie dachte, war: Der sieht verdammt gut aus. Und das Dritte, was sie dachte, war – nichts. Ihr Kopf war plötzlich völlig leer, als der Conte ihre Hand nahm und sie fest drückte. Ihr fiel allerdings sofort auf, wie wohlgeformt und kräftig seine Hände waren.

„Hatten Sie eine gute Reise?“

„Ja … ja“, brachte sie nur heraus. „Danke.“ Diese dunklen Augen, dieser wache Blick, das gebräunte Gesicht, die schöne Stirn … woher …? Jetzt fiel es ihr ein. Der Conte war der Mann, der ihr am Nachmittag mit dem Auto entgegengerast war, nur hatte er jetzt keinen Bartschatten mehr, sondern war perfekt rasiert. Er trug einen eleganten Anzug, jedoch keine Krawatte, und dunkle Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn. Seine aristokratische Ausstrahlung, kombiniert mit einem Hauch scheinbarer Nachlässigkeit, beeindruckte sie. Auf alles hatte sie sich eingestellt, aber nicht auf einen derart attraktiven Mann, dessen Lächeln sie noch mehr verwirrte.

„Ich freue mich, dass Sie hier sind, Signorina. Nehmen Sie Platz! Wir werden zusammen essen.“

Der Conte führte sie zu einem Stuhl, dann setzte er sich ihr ungezwungen gegenüber. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, verblüfft, weil er so ganz anders war, als sie es sich vorgestellt hatte. Und einen Moment lang wusste sie nicht, ob sie dies begrüßen sollte oder nicht. Denn dieser italienische Graf hier gefiel ihr auf Anhieb viel zu gut …

Solcherlei Gedanken haben hier nichts zu suchen, wies sie sich jedoch gleich selbst zurecht und sah sich in dem Zimmer um. Die Tafel war für zwei Personen gedeckt, und ein riesiges Bukett frischer Rosen schmückte den Tisch. In einer Ecke des Raumes stand ein Flügel, in der anderen eine helle einladende Sitzgarnitur. Alles hier zeugte von Geschmack und Stil. Ein Dienstmädchen in weißer Schürze trat ein und füllte die Gläser mit Wasser und Wein. Knusprige Bruschetta, geröstetes Brot mit Tomaten, Knoblauch und Olivenöl, wurden gereicht.

„Willkommen also auf Castello Monte Azzurro – haben Sie unseren blauen Berg schon bewundert?“

„Nein, noch nicht …“

„Ich werde Ihnen alles zeigen, versprochen. Zunächst jedoch möchte ich Sie ein wenig kennenlernen und Ihnen dann erklären, was Ihre Aufgabe sein wird.“ Der Conte hob sein Glas.

„Gerne“, erwiderte Judy und tat es ihm nach. Zwar war sie bei derlei Gesprächen normalerweise etwas forscher, aber die vornehme Ausstrahlung der Umgebung flößte ihr Respekt ein. Nun, sie würde schon noch auftauen, dessen war sie sich sicher. Wenn es um ihr Fachgebiet ging, hielt nichts sie mehr zurück. Und ein harmloses Tischgespräch würde sie ja wohl bewältigen.

Während sie aßen und zunächst nur Belanglosigkeiten austauschten, merkte sie, wie der Conte sie immer wieder musterte, wenn sie auf ihren Teller schaute, und das tat sie häufiger als gewöhnlich. Sicherlich waren die Speisen – ein schmackhafter grüner Salat, leckere Pasta und zartes Gebäck – appetitlich dargeboten und interessant anzusehen. Doch eigentlich fühlte sich Judy unter den intensiven Blicken von Ricardo Antonicelli etwas unsicher – war er nicht zufrieden mit seiner Wahl? Legte er Wert auf Äußerlichkeiten? Sie hatte, bis auf wenige Ausnahmen, nur relativ schlichte Kleidung im Gepäck, und sie war natürlich längst nicht so geschminkt wie etwa Valeria oder andere italienische Frauen.

„… Darf ich Ihnen ein Kompliment machen? Sie sehen wunderbar aus, eben ganz wie eine stilvolle Engländerin. Ich denke, ich habe mit Ihnen die richtige Entscheidung getroffen.“

Entwarnung. Judy war erleichtert. Aber so ganz traute sie dem schönen Grafen nicht: Bestimmt fiel es ihm nicht sonderlich schwer, Frauen zu schmeicheln. Doch mit der einsetzenden Wirkung des Weins entspannte sie sich etwas und wurde gleichzeitig mutiger: „Ob ich die Richtige bin, wird sich zeigen, wenn ich die beruflichen Anforderungen hier zu Ihrer Zufriedenheit erfülle“, lenkte sie geschickt das Gespräch auf die Arbeit. Denn wenn sie ehrlich war, fand sie die Situation für ein erstes Kennenlernen ihres Arbeitgebers etwas zu privat. Auch wenn sie dieses Abendessen durchaus genoss – denn der Conte gefiel ihr von Minute zu Minute besser. Diese dunklen Augen, die so anziehend wirkten, der muskulöse Oberkörper, der sich unter dem Jackett andeutete, und vor allem diese tiefe männliche Stimme, der sie ewig zuhören mochte … Das konnte und durfte so nicht weitergehen!

Offensichtlich war der Conte derselben Meinung, denn sein Gesichtsausdruck wurde nun ernst. „Natürlich. Sie sollten endlich Genaueres erfahren. Wichtigste Aufgabe wird sein, eine große Auktion vorzubereiten.“

Judy nickte begeistert. Darin hatte sie Erfahrung, und zudem machte es Spaß.

„Mein Vater war ein leidenschaftlicher Kunstsammler, das ist bekannt. Doch von einigen Bildern möchten wir uns trennen“, fuhr Conte Ricardo fort.

„Aber die Familie betreibt doch ohnehin einen großen Kunst- und Antiquitätenhandel?“ Judy glaubte, sich über die Antonicellis gut informiert zu haben. Der Kunsthandel war für die Familie neben der öffentlichen Bildergalerie stets eine wichtige Einnahmequelle gewesen.

Einen Augenblick senkte sich Stille über den Raum, und Conte Ricardos Augen schienen sich noch mehr zu verdunkeln, bevor er antwortete: „Das Geschäft wird seit dem Tod meines Vaters von einem Dritten weitergeführt. Aber es floriert lange nicht mehr so gut. Das ist kein Geheimnis.“

Judy rutschte unbehaglich auf dem Stuhl umher und hätte sich ohrfeigen können. Ohne es zu wollen, hatte sie das Thema auf das Schicksal der Familie gelenkt, und dieses war kein leichtes: Es waren ja nicht nur Conte Ricardos Vater und sein Bruder vor eineinhalb Jahren bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen. Auch Ariana Antonicelli, seine Mutter, war vor fünfzehn Jahren nach schwerer Krankheit früh gestorben. Nach ihr war die damals zu ihrem Andenken gegründete Stiftung auch benannt worden.

„Jedenfalls wird Ihre Hauptaufgabe die Vorbereitung der Auktion sein, mit meiner Hilfe natürlich“, sagte Ricardo und fixierte dabei einen Punkt hinter ihr, der weit in der Ferne zu liegen schien. „Und eines ist mir dabei sehr wichtig: Bitte folgen Sie ausschließlich meinen Anweisungen. Vergessen Sie das nicht.“

Judy nickte und suchte nach Worten, um die vorherige angenehme Atmosphäre wiederherzustellen. Die Stimmung im Raum war gekippt. Wenn sie eben noch mit einem äußerst charmanten Grafen bei einem fast behaglichen Abendessen gesessen hatte, so hatte dieser plötzlich die Ausstrahlung eines Eisblocks und ließ sie frösteln. Sie konnte nur annehmen, dass seine Familie ein äußerst wunder Punkt war, und sie nahm sich vor, nie wieder darauf zu sprechen zu kommen. Am liebsten hätte sie sich sogar über den Tisch gebeugt und ihre Hand auf seine gelegt, ja, sie empfand fast eine Sehnsucht, seine schön geformten warmen Finger zu spüren und ihm Trost zu spenden. Verlegen räusperte sie sich.

Das hier ist dein Arbeitgeber, und ihr kennt euch noch keine zwei Stunden. Hör auf mit diesen dummen Gedanken! mahnte sie sich.

Nun sah der Conte sie wieder an und versuchte ein höfliches Lächeln. „Details besprechen wir morgen. Ich denke, Sie hatten einen langen Tag, und ich habe noch zu tun.“ Mit diesen Worten stand er auf.

Auch Judy erhob sich, wusste nicht, was sie zu diesem abrupten Abschluss noch sagen sollte. „Vielen Dank für alles“, brachte sie nur hervor, während der Blick von Conte Ricardo wieder länger als gewöhnlich auf ihr weilte und sie leicht erröten ließ. Peinlich – sie reagierte doch sonst nicht so schamhaft! Aber es war eben auch nicht normal, von seinem Vorgesetzten so intensiv angeschaut zu werden. Was sollte das nur?

„Eine englische Lady“, sagte er mit seltsamem Unterton.

Sie straffte sich und konterte: „Ein italienischer Graf.“ Und als sie diese Worte ausgesprochen hatte, merkte sie, dass eine seltsame Bedrohung davon ausging.

Nervös ging Ricardo in seinem Büro auf und ab. Längst hatte sich tiefe Dunkelheit über das Anwesen gelegt, überall herrschte Ruhe. Es war schon spät, aber zu Bett gehen konnte er noch nicht. Wahrscheinlich würde es wieder eine schlaflose Nacht werden.

Er ging zu seiner Minibar und goss sich ein Glas Chianti ein, ein Wein, der hier aus der Gegend kam. Früher war es nicht einfach gewesen, mit diesem weltweit überaus gefragten Rotwein zu konkurrieren. Doch der Barolo, der von seinem Weingut im Piemont stammte, war sehr hochwertig und heute extrem gefragt. Und er war einfach köstlich. Bei dem Gedanken an die Weinberge ergriff ihn eine unbestimmte Sehnsucht. Er vermisste die Arbeit in der Natur. Wie glücklich er gewesen war, als er vor Jahren die Leitung des großen Weinguts übernommen hatte, während sich sein Vater und Marcello um die Belange des Castellos kümmerten. Zwar heiratete sein Bruder dann Valeria, die er wegen ihrer Geltungssucht noch nie geschätzt hatte, aber solange die Stiftung stetig an Ruf gewann und die Geschäfte gut liefen, gab es keinen Grund zur Klage. Und nun plötzlich – Geldsorgen und Ungewissheit, ob die Stiftung weiterhin die vielen Stipendiaten fördern könnte. Sein Vater würde sich im Grabe umdrehen!

Doch zumindest hatte er einen Plan. Die Auktion mit einigen Bildern aus der großen Sammlung war bestimmt die richtige Idee, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Und dabei hatte er ja noch einen geheimen Schatz, von dem nur er allein wusste, eine unglaubliche Sensation … Alle finanziellen Sorgen wären damit todsicher bereinigt. Und seine neue Mitarbeiterin würde ihn bei seinem Vorhaben unterstützen. Judy Parker schien sehr kompetent zu sein.

Trotzdem war es nicht so, dass ihre Anwesenheit ihn beruhigte, sondern im Gegenteil. Seit er sie das erste Mal gesehen hatte, ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. Schon das Bewerbungsfoto hatte einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Sie kam ihm bekannt vor, seltsam bekannt, und er wusste einfach nicht, an wen sie ihn erinnerte. Aber auch das war es nicht, was ihn irritierte. Es war einfach alles an ihr. Die tiefblauen Augen, die träumerisch in die Welt blickten, ihr Gang, bei dem sie ein wenig zu schweben schien, die weiche Stimme, die ihn aufmerksam zuhören ließ. Und dass sie dabei eine selbstbewusste Frau war, hatte sie an diesem Abend bewiesen: Gezielt hatte sie das Gespräch auf ihre Arbeit im Schloss gelenkt, als er ihr Komplimente machte, und das zu Recht. Denn er, das war ihm nur zu sehr bewusst, hatte sich bei diesem ersten Gespräch nicht besonders professionell verhalten, sondern gerade so getan, als habe er mit Judy ein Rendezvous. Was war nur in ihn gefahren?

Ricardo trank einen Schluck Wein und starrte nach draußen in die Nacht. Vielleicht lag es an der großen Einsamkeit der letzten Zeit. Außer wenigen flüchtigen Bekanntschaften hatte es in den vergangenen Jahren keine Frauen für ihn gegeben, und seit dem Tod seines Vaters und Bruders lebte er völlig zurückgezogen. Da konnte bei der ersten näheren Begegnung mit einer schönen jungen Dame schon mal etwas durcheinandergeraten. Wahrscheinlich sollte er das Ganze nicht so ernst nehmen. Ab morgen würde er die richtige Distanz halten, und in ein paar Tagen, wenn Judy eingearbeitet war, erst einmal auf sein Weingut zurückkehren.

Er stellte sein Glas ab und trat ans Fenster. Ein Nachtvogel ließ seinen einsamen Ruf ertönen, und der abnehmende Mond spendete nur spärliches Licht. Ricardo atmete tief aus und ein, doch sein Gedankenkarussell wollte nicht zur Ruhe kommen. Bald, in nur drei Monaten, würde der Stiftungsrat zusammentreten und ihn als Geschäftsführer bestätigen – hoffentlich. Denn diese Position konnte er nur halten, wenn bis dahin die Kasse wieder stimmte. Die Auktion musste also so zügig wie möglich vorbereitet werden. Er war seit dem Tod seines Vaters und Bruders für alle Vorgänge bezüglich der Stiftung verantwortlich, also musste er auch für Valerias Misswirtschaft geradestehen.

Diese genusssüchtige Person! Wie hatte er sie hier nur über ein Jahr lang alleine schalten und walten lassen können! Aber er hatte nach dem tragischen Unfall einfach nicht auf Monte Azzurro bleiben können. Erst die lange ruhige Zeit auf dem Weingut, die tägliche einfache Arbeit gemeinsam mit den Bauern und Arbeitern, das Graben in der Erde und Betrachten der langsam wachsenden, sich der Sonne entgegenstreckenden Reben hatten ihn zu sich kommen lassen. Endlich konnte er wieder klar denken. Und einen klaren Kopf würde er brauchen für die nächste Zeit.

Wenn ihm nur Valeria das Leben nicht so schwer machen würde! Hatte sie ihn am Nachmittag nicht absichtlich in die Irre geschickt? Als er sie wegen Judys Ankunft nach der Uhrzeit fragte, hatte seine Schwägerin ihn beruhigt und länger als nötig mit einer Formalie aufgehalten, sodass er dann ziemlich Gas geben musste. Natürlich hatte er in der Eile auch noch sein Handy vergessen, und der Bahnhof war leer gewesen. Umsonst gerast! Später bedauerte Valeria scheinheilig, ihre Uhr sei leider ein wenig nachgegangen. Die neue Mitarbeiterin sei nun mit dem Taxi gekommen, schon in ihrem Zimmer und wünsche, nicht gestört zu werden.

Dabei hatte er vorgehabt, mit Judy Parker zunächst einen Rundgang zu machen, um ihr das Anwesen zu zeigen. Sie hätten sich in ungezwungener Atmosphäre persönlich kennenlernen können, um abends dann gezielt über geschäftliche Dinge zu sprechen. So aber war beides nicht ganz glücklich zusammengefallen, und er hatte sie mit seinen etwas zu neugierigen Blicken in Verlegenheit gebracht. Ob sie in ihrer ersten Nacht hier gut schlafen konnte?

Jetzt denkst du schon wieder an diese Engländerin! schalt er sich. Unwillig schüttelte er den Kopf. Als ob er keine anderen Probleme hätte, als sich um den Schlaf seiner neuen Assistentin zu sorgen. Nun, ab morgen wird alles anders werden, nahm er sich vor. Nicht nur Valeria, auch Judy gegenüber würde er seine Souveränität schon klarstellen. Und jetzt – zu Bett.

Mit einem energischen Griff wollte er das Fenster schließen, als ein Rascheln ihn aufhorchen ließ. Er hielt inne – da, tatsächlich, ein leises Geräusch, und es kam von draußen. War noch jemand im Park unterwegs? Um diese Zeit? Vorsichtig lehnte er sich hinaus, wo die Wiesen und Wege verlassen im schwachen Schein der wenigen Laternen lagen. Trotzdem, er war nicht allein, er spürte das. Konzentriert spähte er ins Dunkle, hörte wieder einen Laut. Und dann sah er sie – oder besser gesagt, er sah ihr rötliches langes Haar schimmern.

Judy lehnte sich weit aus dem Fenster und summte ein Lied. Ihr Zimmer lag ein Stockwerk tiefer und ein Stück nach links versetzt. Beide teilten sie also den schönen Ausblick auf den Park und Garten und, ganz offensichtlich, auch diese schlaflose Stunde. Ricardo betrachtete sie einen Moment lang von oben und erkannte schließlich die Melodie: Strangers in the Night von Frank Sinatra. Er horchte gespannt. Anscheinend hatte Judy eine romantische Ader, wenn ihr hier in tiefster Nacht ein solches Liebeslied durch den Kopf ging. Ja, ganz bestimmt hatte eine so junge und hübsche Frau einen Liebsten, irgendwo da draußen, einen, der nur darauf wartete, dass sie bald wieder zurückkam. Das Herz wurde ihm schwer. Wenn doch auch er die Richtige finden könnte! Aber seit dem Verlust seiner Familie hatte sich sein Herz verschlossen. Er ging jedem Flirt – und hier im Künstlerhaus waren oft attraktive Stipendiatinnen zu Gast – einfach aus dem Weg, und erst recht ignorierte er die plumpen Andeutungen Valerias, dass sie an ihm, dem Bruder ihres verstorbenen Ehemanns, Gefallen fand. Wie taktlos! Ihr ging es doch einzig und allein darum, ihre Machtposition auf Monte Azzurro auszubauen.

Schon merkte er, wie er sich aufzuregen begann, doch dann zwang er sich, weiterhin ruhig ins Dunkel zu lauschen: „… something in your eyes was so inviting, something in your smile was so exciting …“ – etwas in deinen Augen war so einladend, etwas in deinem Lächeln war so aufregend … Nun fing diese Judy auch noch zu singen an! Einen Augenblick lang wünschte er sich, selbst mal wieder so unbeschwert zu sein, vielleicht sogar verliebt, doch dann schüttelte er den Kopf. Die nächsten Monate würden seine ganze Kraft und Aufmerksamkeit fordern, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Eskapaden konnte er sich nicht leisten, und er wollte es auch gar nicht. Die Partnerin, die er sich wünschte, war nämlich nicht nur schön, sondern vor allem auch hundertprozentig vertrauenswürdig und loyal. Diese Frau jedoch zu finden, das erschien ihm fast unmöglich. Und wenn er ehrlich war, hatte er sich damit auch schon abgefunden.

3. KAPITEL

Warm schien die Sonne durch das offene Fenster, und Judy aß mit großem Appetit. Sie fühlte sich bestens, denn über Nacht hatten sich ihre Bedenken, auf Monte Azzurro vielleicht nicht willkommen zu sein, zerstreut. Gut – Valeria Antonicelli war ihr etwas spitz begegnet, warum auch immer, sie wusste es nicht. Ricardo jedoch schien charmanter als erwartet. Und jetzt saß sie plaudernd mit Maria Bocca zusammen, die ihr beim ersten Frühstück im Castello Gesellschaft leistete.

„Ich bin froh, dass Conte Ricardo wieder hier ist und nach dem Rechten sieht“, sagte Maria gerade, während Judy einen weiteren Schluck des köstlichen italienischen Kaffees trank. „Und auch, dass Sie jetzt bei uns sind“, fuhr sie lächelnd fort.

Judy wurde aufmerksam. Das klang ja so, als ob hier etwas im Argen lag. Was konnte das sein? Dann unterbrach ein Klingelton das interessante Gespräch, und Maria holte ihr Handy aus der Tasche.

„Ja, Conte Ricardo, wir sitzen gemeinsam im Salon. Ist gut. Ich werde es ihr ausrichten. Ciao!“ Sie wandte sich wieder an Judy: „Der Conte möchte Sie gleich hier abholen. Bitte aber essen Sie erst in Ruhe.“

Doch Judy war der Appetit vergangen. Stattdessen verspürte sie ein leichtes Ziehen in der Magengegend. „Das ist nett gemeint, Signora Bocca, aber ich bin wirklich schon satt.“ Entschieden schob sie den Teller von sich.

„Dann ist es ja gut.“ Die Sekretärin stand auf. „Und heute Abend werden Sie unser Schloss von der schönsten Seite kennenlernen. Übrigens habe ich es gerne unkompliziert. Nennen Sie mich Maria.“

„Danke, Maria.“ Judy streckte ihr die Hand entgegen. „Sie sind sehr freundlich …“ Dann blieb sie allein am Tisch zurück und blickte unruhig durch das Fenster. Erst jetzt wurde ihr wieder bewusst, wie gut ihr der italienische Graf am Tag zuvor gefallen hatte. Zu gut! Doch diesem Gedanken durfte sie keine Beachtung schenken. Bestimmt war es nur ein Streich ihrer Sinne, weil sie mit ihrer Vergangenheit noch nicht abgeschlossen hatte. Und außerdem hatte sie sich geschworen, jede Schwärmerei, und sei sie noch so klein, im Keim zu ersticken. Sie wollte sich ausschließlich auf ihre Karriere konzentrieren. Selbst wenn der Conte auf einem weißen Ross daherritt, sie würde sich davon nicht beeindrucken lassen.

„Signorina? Buongiorno!“ Die tiefe Stimme Ricardo Antonicellis riss sie aus ihren Gedanken. Rasch erhob sie sich, ging ihm entgegen. Sein Händedruck war warm, fest und angenehm. Dunkle Bartstoppeln auf Kinn und Wangen verliehen ihm etwas Verwegenes. Und wieder hatte sie Mühe, den Blick von seinen schwarz schimmernden Augen zu lösen, bevor diese ihr alle Gedanken raubten.

„Machen wir zunächst einen kleinen Rundgang“, schlug Ricardo vor.

„Gern“, sagte Judy und folgte ihm nach draußen in den sonnigen Garten, wo sie auf einen kleinen plätschernden Brunnen zusteuerten. Entzückt blieb sie stehen. Ein blitzender Wasserstrahl schoss aus der Brust eines Engels, der verträumt auf einer Steinkugel saß. Von diesen geflügelten Glücksbringern schien es auf Monte Azzurro so einige zu geben.

Buongiorno! Bis heute Abend!“ Zwei junge Männer liefen vorbei und grüßten fröhlich.

„Was ist denn heute Abend?“, fragte Judy neugierig.

„Unsere monatliche Soiree. Diese Veranstaltung hat bei uns Tradition. Es kommen viele Gäste, und einige Künstler zeigen ihre Werke. Da werde ich Sie gleich als meine neue Assistentin einführen. Hier in diesem wunderschönen Garten.“

„Oh …“ Judy war überrascht.

„Das Anwesen umfasst mehrere Hektar“, erzählte Ricardo weiter. „Im Südteil des Parks liegen die Bibliothek und die Galerie, die ja öffentlich sind. Dort sind auch unsere Bediensteten und Stipendiaten untergebracht. Die Ateliers befinden sich im Künstlerhaus – kommen Sie!“ Er legte kurz die Hand auf ihre Schulter, bevor sie weitergingen.

Judy fühlte sich ein wenig beklommen. Hieß das, dass sie als einzige Fremde im Schloss wohnen durfte? Was für ein Privileg! Doch warum …?

„Für besondere Gäste haben wir Gästezimmer im Schloss.“ Der Conte schien ihre Gedanken erraten zu haben. „Sie werden gleich sehen, wie weit hier die Wege sind.“

„Nun, ich bin doch aber in diesem Sinne kein Gast …“, wandte Judy ein.

„Doch. Mein Gast. Denn …“ Er blieb wieder stehen, und die Sonne ließ seine Augen glitzern. Prüfend betrachtete er sie. Wieso bloß sah er sie schon wieder so seltsam an?

„Ach, hier seid ihr!“ Wie aus dem Nichts stand plötzlich Valeria vor ihnen, diesmal die blonden Haare zu einem strengen Knoten zusammengesteckt. Sie nickte Judy nur kurz zu, bevor sie Ricardo mit ihren blutrot geschminkten Lippen anlächelte. „Wolltet ihr den Rundgang etwa ohne mich machen?“ Der schnippische Ton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

„Warum denn nicht?“, entgegnete Ricardo kühl. „Miss Parker ist schließlich meine persönliche Assistentin und hat nur mit mir zu tun.“

Judy hielt den Atem an. Deutlich konnte sie die Spannungen zwischen den beiden spüren, doch es ging sie nichts an, woher diese kamen. Sie wusste nur, dass sie beide durch den tragischen Unfall furchtbar getroffen sein mussten: Der Conte hatte seinen Vater und Bruder verloren, Valeria ihren Ehemann … Rückte man durch so einen Schicksalsschlag nicht enger zusammen?

„Und nun möchten wir deine wertvolle Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen, liebste Schwägerin“, fuhr Ricardo unbeirrt fort und fasste Judy wie vertraut am Arm.

In Valerias Miene flackerte Zorn auf. „Gut, dann wünsche ich euch viel Spaß“, gab sie jedoch beherrscht zurück. „Und wenn ihr gleich zu den Ateliers geht, Ricardo – Alexandra verzehrt sich geradezu nach dir. Du weißt doch, dass bei uns die persönlichen Kontakte zu den Stipendiaten ganz großgeschrieben sind!“

Ricardo runzelte die Stirn: „Alexandra?“

„Jetzt tu doch nicht so!“, rief Valeria ihm im Weggehen über die Schulter zu. „Deine schöne Russin!“ Und dann war nur noch das Klack-Klack ihrer Stilettos zu hören.

Als er Judy wieder losließ, blitzten seine Augen vor Ärger. „Meine Schwägerin ist etwas exaltiert. Aber Sie werden mit ihr nicht so viel zu tun haben. Sie kümmert sich um die Ausschreibungen, die Künstler und das Organisatorische. Sie aber, Miss Parker, beschäftigen sich ausschließlich mit der Auktion … und mit einer ganz besonderen Aufgabe.“

„Darf ich darauf gespannt sein?“, fragte Judy, froh, dass sie nicht für Valeria tätig sein musste. Doch statt zu antworten, legte der Conte nur geheimnisvoll den Finger auf die Lippen und ging weiter, sodass ihr nichts übrig blieb, als ihm einfach durch den Park zu folgen.

Trotz der unschönen Szene mit Valeria und des etwas rätselhaften Verhaltens Ricardos genoss Judy den Spaziergang. Es war ein wunderschöner Morgen, der erste schöne Morgen in ihrem neuen Leben, weit weg von London. Als sie zu dem großen Nebengebäude gelangten, fuhr dort gerade ein Reisebus vor. Sie blieben stehen.

„Die Galerie und die Bibliothek“, erläuterte Ricardo. „Täglich kommen einige Hundert Besucher. In der Galerie werden wir einige Bilder für die Auktion auswählen. Ach, richtig. Das hätte ich fast vergessen …“ Er holte ein Namensschild aus seiner Jackentasche. „Darf ich?“ Und schon begann er, das Schild an ihrem Kragen zu befestigen.

Judy konnte nicht anders, als auf seine schlanken Finger zu sehen, die ihr plötzlich so nah waren. Geschickt, aber ohne Eile, steckte er das Schildchen fest. Sie konnte dabei die Wärme seiner Haut spüren und einen Hauch seines herben Aftershaves wahrnehmen. Unwillkürlich atmete sie tief ein, und ein kleiner Schauer lief ihr über den Rücken.

„Jetzt können Sie überall hinein“, sagte Ricardo. „Und in ein paar Tagen brauchen Sie auch das Schild nicht mehr, dann wird Sie jeder hier kennen.“

„Danke.“ Judy war etwas verunsichert. Denn es war ihr nur zu bewusst, welche Wirkung Ricardo schon wieder auf sie hatte. Aber wahrscheinlich kommt einfach nur alles zusammen, redete sie sich ein. Sein unbestreitbar gutes Aussehen, seine Herkunft, die fantastische Möglichkeit, im Schloss zu arbeiten, und ein wenig eben auch die Aufregung vor der großen Aufgabe, die Auktion zu organisieren: Ob die Galerie auch viele Bilder aus der Renaissance, ihrer Lieblingsepoche in der Malerei, beherbergte? Es musste ja nicht unbedingt ein Leonardo da Vinci dabei sein …

„… und Sie werden mich dann eine Weile hoffentlich gut vertreten“, hörte sie Conte Ricardo plötzlich sagen.

„Vertreten? Wieso?“ Mit einem Mal spürte Judy ein flaues Gefühl im Magen. „Müssen Sie fort?“

„Nun … ja. Ich lebe eigentlich nicht mehr hier. Seit Jahren kümmere ich mich um das Weingut, das auch zu unserem Besitz gehört. Es liegt im Piemont.“

Ein Gefühl der Enttäuschung stieg in ihr auf. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sie mit ihrer großen Aufgabe allein lassen würde.

„Ich werde dort genauso dringend gebraucht wie hier“, fuhr Ricardo gleichmütig fort. „Aber ich denke, Sie können einen guten Teil der Auktion allein organisieren. Sie haben darin ja schon einige Erfahrung …“

Judy straffte sich. War es eigentlich nicht viel besser so für sie? Schließlich wollte sie sich auf die Arbeit konzentrieren und sich nicht von einem attraktiven Grafen ablenken lassen. Außerdem würde er ihr dann nicht ständig über die Schulter schauen, was ihr nur recht war. „Wenn Sie mir in diesen Tagen genau sagen, was Sie wollen, werden Sie das auch bekommen“, erwiderte sie selbstbewusst.

„Das höre ich gern.“ Anerkennend, aber auch leicht belustigt, sah der Conte sie an. Sie wurde etwas verlegen. Was hatte sie da nur gesagt? Wie doppelsinnig … Doch zum Glück schlenderte Ricardo schon weiter und wurde endlich ausführlicher: „Obwohl die Stiftung längst staatliche Zuwendungen bekommt, wird ein großer Teil über private Spenden finanziert. Und weil wir in der allgemeinen wirtschaftlichen Krise nicht mehr so gut dastehen, möchte ich durch den Bilderverkauf Geld in die Kasse spülen.“ Er deutete auf ein langes zweistöckiges Gebäude am Ende des weitläufigen Parks. „Dort unten arbeiten und leben übrigens unsere Künstler. Wollen wir sie besuchen?“

„Ja, gern.“ Judy nickte. Schließlich interessierte sie sich nicht nur für antike Gemälde, sondern auch für die Kunst der Gegenwart.

Beim Näherkommen entpuppte sich das Künstlerhaus als großzügige Wohnanlage. Jedes Atelier hatte eine kleine Terrasse, über die der Arbeitsplatz einsehbar war. Judy konnte Staffeleien und große Leinwände erkennen, und manche der Stipendiaten arbeiteten auch unter freiem Himmel.

„Die Entstehung der Werke ist hier öffentlich“, erläuterte Ricardo.

Judy war von dem Konzept begeistert. Wie viele Künstler, die einsam vor sich hinarbeiteten, hatten schon den Kontakt zur Außenwelt verloren? Nicht so der junge Mann mit den wilden roten Haaren, bei dem sie stehen blieben, um ihm bei der Arbeit zuzuschauen. Enthusiastisch erläuterte der Rotschopf sein Werk, ein sich innig umarmendes Paar. Judy fühlte einen kleinen Stich im Herzen – mit dem Thema Liebe wollte sie sich erst gar nicht beschäftigen. Sie ging weiter und merkte erst nach einer Weile, dass Ricardo zurückgeblieben war. Nun unterhielt er sich mit einer zierlichen dunkelhaarigen Frau, die laut lachte und nach seinen Händen griff. Die Frau mit den frechen Locken schien seine ganze Aufmerksamkeit zu fesseln. Dann hörte sie ihren Namen: Alexandra … Das musste jene russische Künstlerin sein, die Valeria gemeint hatte. Und in der Tat schien die Russin den Conte anzuhimmeln – oder beruhte dies etwa auf Gegenseitigkeit? Jedenfalls ließ sie seine Hände gar nicht los, was er auch einfach so geschehen ließ.

Judy wandte sich ab. Was ging es sie an, mit wem Conte Ricardo sich hier vergnügte? Auswahl schien er jedenfalls genug zu haben, denn es kamen unzählige Künstlerinnen nach Monte Azzurro. Da lag es wohl nah, sich von diesem attraktiven Grafen verführen zu lassen … was für sie auf keinen Fall infrage kam. Ihr Traum von der großen Liebe war längst zerbrochen, und das hieß nicht, dass sie nun deswegen Zerstreuung suchte. Im Gegenteil. Und wieder hörte sie diese Alexandra laut lachen. Wie die gurrte! Wie unverhohlen sie mit Ricardo flirtete! Ein wenig war sie doch neidisch. Denn ein solches Vergnügen, das hatte sie beschlossen, kam für sie nun lange, lange Zeit nicht infrage. Außerdem würde sie niemals wieder im Leben die Arbeit mit Liebesdingen vermischen, das hatte sie sich nach ihrer schrecklichen Erfahrung geschworen. Sie seufzte auf. Was war das doch für eine große Durststrecke, die sie da nun vor sich hatte.

Die zarten Piano-Töne gingen im lärmenden Trubel fast unter. Im Park war unter den ausladenden Ästen einer uralten Pinie ein Flügel platziert, und am überladenen Buffet drängten sich zahlreiche Gäste in feinster Garderobe. Auch Judy hatte sich schön gemacht, doch mit den meisten Damen hier konnte sie nicht mithalten: Sie sah tief am Rücken ausgeschnittene Kleider, schillernde Stoffe, funkelnde Ketten. Einmal mehr wurde ihr ihre klamme finanzielle Situation bewusst – teure Kleidung konnte sie sich nicht leisten. Zwar trug sie wenigstens nicht wieder dasselbe Kleid vom Vorabend, doch mehr als diese zwei hatte sie nicht dabei. Gleich von ihrem ersten Gehalt würde sie sich einkleiden müssen. Hoffentlich fanden bis dahin nicht noch mehr offizielle Anlässe statt. Dann würde der Conte bald merken, dass ihre Garderobe wirklich etwas zu wünschen übrig ließ. Obwohl sie sich in diesem perlgrauen, anschmiegsamen Kleid, das ihr schönes Dekolleté zur Geltung brachte, sogar selbst ganz gut gefiel. Und ihr ausgefallener Silberschmuck, den sie vor Jahren so glücklich ersteigert hatte, war immer ein ausgesprochener Blickfang.

Was für eine fantastische Atmosphäre an diesem Abend herrschte! Das Anwesen der Antonicellis war ein Traum. Sie fühlte sich wirklich wohl hier, und auch Valeria hatte sie vorhin freundlich begrüßt und gefragt, wie es ihr gehe. Sie schien ihr nun also besser gesinnt. Vielleicht war sie ja einfach nur ein launischer und unberechenbarer Mensch. Oder steckte etwas anderes dahinter?

Judy nippte an ihrem Glas und ließ den Blick über die illustre Gesellschaft schweifen. Den Conte umringte, wie konnte es anders sein, ein Heer schöner Frauen. Sein weißes Hemd war am Hals geöffnet, und er trug, im Gegensatz zu allen anderen, wieder keine Krawatte. Und es stand ihm gut, denn sein ebenmäßiges Gesicht und seine Haltung strahlten eine so natürliche Eleganz aus, dass er auf Formelles gut verzichten konnte. Sogar die etwas längeren dunkel glänzenden Haare, die bei anderen Männern jugendlich wirken mussten, passten zu seinem souveränen Auftreten. Auch die kleine Russin befand sich unter seinen Verehrerinnen. Und sie sah wirklich reizvoll aus.

Judy zwang sich, woanders hinzusehen, und ihr Blick fiel auf ein Paar, das sich gerade küsste. Auf einmal fühlte sie sich traurig. Offensichtlich lauerte ihre Vergangenheit noch an jeder Ecke, denn sonst würde es sie nicht so schmerzen, hier auf dieser Soiree glücklich Verliebte zu sehen. Verliebte, die an ihre Träume glaubten, die in einem glücklichen Rausch lebten … ein Rausch, der jäh in bittere Enttäuschung umschlagen konnte, wie sie heute nur zu gut wusste.

Das Klavierspiel hatte aufgehört, es gab Applaus. Sie klatschte mit, ließ sich nur zu gern von ihrer Grübelei ablenken. Was stand nun auf dem Programm? Da löste sich Ricardo aus dem Publikum, ging zum Piano und nahm ein Mikrofon in die Hand. „Verehrte Gäste, liebe Freunde und Förderer der Ariania-Antinocelli-Stiftung“, begann er. „An diesem wundervollen Abend möchte ich Ihnen noch jemanden vorstellen …“

Judy stellte ihr Weinglas zur Seite und sah sich nervös um. Er meinte jetzt doch nicht etwa sie?

„… eine neue Mitarbeiterin, die bei uns vorübergehend zu Gast ist. Sie ist Kunsthistorikerin … Judy, kommen Sie mal bitte, Judy, wo sind Sie denn?“

Widerstrebend ging sie nach vorne, spürte tausend kritische Blicke auf sich gerichtet. Wieso nannte der Conte sie denn plötzlich vertraulich Judy? Doch sie behielt ihre Fassung und trat zu ihm. Lächelnd nahm Ricardo sie am Arm und fuhr fort: „Da ist sie ja, Judy Parker! Eine Kunsthistorikerin aus London, die dort im renommierten ‚Museum of Timeless Art‘ beschäftigt war. Und hier auf Monte Azzurro wird sie eine große Auktion organisieren.“

Anerkennendes Gemurmel ging durch die Reihen, manche der Gäste klatschten. Ricardo hob kurz die Hand: „Die Auktion wird etwa in drei Monaten stattfinden, und wir hoffen auf reges Interesse. Doch zunächst heißen wir Judy willkommen und wünschen ihr viel Erfolg!“

Nun wurde das Klatschen stärker, und als sie dem Conte dankend zunickte, flüsterte er: „Ich darf Sie doch Judy nennen, oder?“

Sie rückte ein kleines Stück von ihm ab, denn abermals stieg ihr sein Duft in die Nase, ein herber, männlicher Duft, der ihr eine Gänsehaut verursachte. „Wenn ich weiterhin bei Conte Ricardo bleiben darf …“

„Das dürfen Sie.“ Er lachte leise auf. „Ich hoffe, Sie hatten bisher einen interessanten Abend?“

„Natürlich“, sagte sie, und das war nicht gelogen. Sie war sich sicher, sie würde auf Monte Azzurro sehr gut allein zurechtkommen.

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein danke, mein Glas steht noch da drüben …“ Zwar war sie sich bewusst, dass sie sich etwas abweisend verhielt, aber war es nicht besser, so auf Distanz zu bleiben? Dem Conte allerdings schien ihre Unsicherheit nicht zu entgehen. Nach kurzem Zögern, in dem er sie eindringlich und etwas kühl musterte, sagte er: „Wenn Sie wollen, können wir später gemeinsam etwas trinken. Und uns noch ein wenig unterhalten.“

„Gern“, erwiderte Judy schnell und lächelte. Denn wenn sie ehrlich war, freute sie sich nun doch darüber, dass er ihre Gesellschaft suchte.

Während sie zu ihrem Platz zurückging, begann der Pianist erneut zu spielen: Strangers in the Night … eines ihrer Lieblingslieder! Sie lehnte sich an eine Mauer und sah etwas wehmütig in den Himmel, aus dessen tiefdunklem Blau schon die ersten Sterne zu ihr hinunterblinkten. Leise summte sie mit und schloss kurz die Augen, bis das Lied verebbte. Bald war auch ihr Glas leer, und sie hatte keine Lust, weiterhin alleine herumzustehen. Wo war nur Conte Ricardo? Suchend ging sie ein paar Schritte umher und traf wenigstens den Rotschopf, den sie am Morgen kennengelernt hatte. Und während sie mit ihm sprach, entdeckte sie auch endlich den Grafen: Er stand abseits, heftig gestikulierend, neben Valeria. Beide waren offenbar in ein intensives Gespräch vertieft. So schnell also hatte er vergessen, dass er sich eigentlich mit ihr verabredet hatte. Aber so waren sie eben, Männer wie er: überaus attraktiv – überaus begehrt. Und wenn sie sich entgegen ihrer inneren Stimme von seinem Charme einwickeln ließ, so musste sie verrückt sein. Wollte sie das zweite Mal in eine solche Falle treten?

Nein! Judy wandte sich ab und beschloss, künftig jede Situation mit Ricardo zu vermeiden, die über das Geschäftliche hinausging. Und deswegen war es auch besser, sie verschwand jetzt von dieser Party, bevor der Wein und ihre grenzenlose Einsamkeit sie wieder umstimmen konnten.

4. KAPITEL

Ricardo war erleichtert. Mit Judy hatte er wirklich eine gute Wahl getroffen, ja, ihr Fachwissen übertraf geradezu seine Erwartungen. Seit einer halben Stunde schon begleitete er sie durch die Galerie, und zu fast jedem Bild hatte sie kluge Kommentare: Epoche, Maler, Motiv, und mit einigen Werteinschätzungen hatte sie gar nicht so schlecht gelegen. Wie anmutig ihr dabei die langen Haare über ihre schmalen Schultern fielen, und wie ihre Wangen vor Begeisterung glühten.

„… was ich wirklich bewundere, ist die Bandbreite der ausgestellten Werke. Von der Renaissance bis hin zum Surrealismus – die Ausstellung hat Klasse. Sie wollen sich doch nicht von allzu vielen Bildern trennen, Conte Ricardo?“

Er verneinte. Wenigstens einen Tag noch wollte er warten, bevor er Judy in das große Geheimnis einweihte, über das sie dann bis zur Auktion schweigen musste. Ob er sich wirklich auf sie verlassen konnte? Maria jedenfalls, auf deren Rat er etwas hielt, war von der neuen Mitarbeiterin begeistert.

Inzwischen war Judy so in ihre Betrachtungen vertieft, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als ihr zu folgen, denn anscheinend war er Luft für sie. Und ein wenig ärgerte ihn das. Zwar war es manchmal wirklich lästig, wenn Frauen versuchten, ihn in lange Gespräche zu verwickeln und ihn dabei wie zufällig zu berühren. Auf Judy jedoch schien er überhaupt keinen Eindruck zu machen. Aber vielleicht war sie trotz ihres jungen Alters einfach schon zu sehr Profi und wusste genau, dass es besser war, in einem Arbeitsverhältnis erst gar keine Tändelei aufkommen zu lassen. Und hatte er nicht wirklich Wichtigeres zu tun, als mit seiner Assistentin zu flirten? Wenn da nur nicht dieser Drang wäre, herauszufinden, an wen sie ihn – verflixt noch mal – erinnerte! Je öfter er sie ansah, desto schneller musste er doch auch dahinterkommen, oder etwa nicht?

Nun drehte Judy sich um und sah ihn fragend an. Hatte sie gespürt, dass sein Blick mehr auf ihr statt auf den Bildern weilte? „Sie sollten einige unserer Ausstellungsstücke für die Auktion katalogisieren“, sagte er schnell.

Judy nickte und sah ihn erwartungsvoll an. „Welche?“

„Das besprechen wir noch.“

„Aber es muss doch schnell gehen, und Sie reisen ja bald ab …“

Er winkte ab. „Ich habe das im Blick, glauben Sie mir.“

Judy schien die Antwort zu akzeptieren und konzentrierte sich auf ein Bild, das ein hell gewandetes Mädchen mit rundem, lächelndem Gesicht zeigte. „Eine herrliche Darstellung, schönster Klassizismus“, lobte sie, und er pflichtete ihr bei. Im Geheimen war dies eines seiner Lieblingsbilder. Es vermittelte den Frohsinn eines Kindes, das hier auf Castello Monte Azzurro fehlte. Die Ehe seines verstorbenen Bruders war kinderlos geblieben, und ob er selbst jemals eine glückliche Familie haben würde, das stand in den Sternen. Doch wenn er keine Kinder bekam, wer sonst würde später das Schloss mit Leben erfüllen?

Du denkst zu weit, mahnte er sich. Zuerst musste er sich um die Stiftung kümmern und Geschäftsführer werden. Später würde er an einer der vielen Frauen, die ihn umschwärmten, schon Gefallen finden. Kurze Affären waren allerdings nie seine Art gewesen, und seit dem Tod seines Vaters und Bruders hatte er an Lebensfreude verloren. Er war oft schweigsam und verschlossen. Aber wenn die bedrohliche finanzielle Lage entschärft war, würde er das Leben bestimmt wieder genießen können. Am Abend zuvor jedenfalls, bei seiner kleinen Rede auf der Soiree, hatte ihn so etwas wie eine Vorahnung auf einen neuen, besseren Lebensabschnitt erfüllt. Ja, das erste Mal seit Langem hatte er wieder eine leichte Heiterkeit verspürt, bis Valeria ihn aus dem Nichts heraus mit einer unheilvollen Andeutung überfallen hatte: „Ich muss dir etwas sehr Ernstes mitteilen.“

„Kann das nicht später sein? Judy Parker wartet auf mich …“, hatte er sich von ihr freimachen wollen, doch sie hatte ihn nicht einmal ausreden lassen. „Unsere Finanzen – du glaubst also immer noch, es sei alles meine Schuld?“ Was für eine Provokation!

Jetzt ließ er Judy in der Galerie ein paar Schritte vorausgehen, damit sie seine aufsteigende Wut nicht bemerkte. Doch die hübsche Engländerin achtete nicht weiter auf ihn, und vielleicht war das auch besser so, denn im Gedanken war er ganz bei Valerias dubiosen Andeutungen: Anscheinend wollte seine Schwägerin die Verantwortung für die katastrophale finanzielle Lage auf andere abschieben. Dabei hatte sie in den vergangenen eineinhalb Jahren Unsummen verprasst, hatte rücksichtslos die Spendengelder für eigene Pläne verwendet, wie etwa den Bau zweier Luxusateliers. Dass er nicht lachte! Er wusste genau, was dahinterstand: Künstler, die natürlich ausschließlich männlich und attraktiv waren, erhielten dort eine Sonderbetreuung von Valeria, die ja so uneigennützig handelte. Zudem hatte sie zwei nagelneue Luxusschlitten angeschafft und einen Koch für nächtliche Diners eingestellt … Er hatte sich die Haare gerauft, als er von all diesen Extravaganzen erfahren hatte. Und dann kam sie daher und behauptete, dass die leeren Kassen nicht ihre Schuld wären!

Gedankenverloren betrachtete Ricardo seine eifrige Assistentin. Gerne hätte er am Abend zuvor etwas mehr von Judy erfahren, doch Valeria hatte ihm während der Soiree ja keine Chance dazu gelassen! Denn ihre nächste Bemerkung hatte ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen: „Hast du schon einmal die Buchhaltung deines Vaters überprüft?“

„Meines Vaters? Der ist tot!“, war seine ungehaltene Antwort gewesen.

Sie hatte eingelenkt: „Ricardo, das alles ist immer noch schlimm für uns. Doch ich werde deswegen nicht meinen Kopf für deinen Vater hinhalten!“

„Ich weiß nicht, wovon du redest.“

„Dann wirst du noch rechtzeitig davon erfahren.“ Mit diesen Worten war sie abgerauscht.

Ricardo schüttelte es jetzt noch – wollte Valeria etwa die Toten beleidigen? Wenn sie das wirklich vorhatte, so würde er alles tun, um sie von Monte Azzurro zu vertreiben …

„Conte Ricardo?“ Judy war ein gutes Stück weitergegangen und blickte nun zu ihm zurück. Mit ihren langen welligen Haaren und den tiefblauen Augen sah sie schön und irgendwie auch unschuldig aus. Ja, sie war eine junge unabhängige Frau, die das ganze Leben noch vor sich hatte. Kein Schloss hing an ihr, keine Stiftung, keine Familienehre, keine Titel und auch keine intrigante Schwägerin. Stattdessen widmete sie sich mit aller Begeisterung der Kunst und würde sicherlich einmal sehr glücklich sein. Sie würde Spaß am Leben und Erfolg im Beruf haben … Wie er sie beneidete! Nein, nicht immer war der Platz in einer adligen, ehrwürdigen Familie auch ein leichtes Los, selbst wenn das viele Neider so sehen mochten. Genau deswegen lebte er so gern auf dem Weingut, weil dort seine Herkunft unwichtig war und er mit den Weinbauern ganz einfach nur am Tisch sitzen konnte.

Nun kam Judy auf ihn zu. „Conte Ricardo … ist Ihnen nicht gut? Sie sehen besorgt aus …“

Auch das noch. Jetzt las sie schon seine Gedanken. Er straffte sich. „Nein, ich bin nur etwas angestrengt von gestern … es war ein langer Abend.“

„Ah ja“, hörte er sie nur sagen. Wahrscheinlich dachte sie nun, er habe sich noch länger mit den Frauen vergnügt, doch das Gegenteil war der Fall gewesen. Nachdem er Judy nirgends mehr hatte entdecken können, war er in sein Büro gegangen, schockiert über Valerias unglaubliche Anschuldigung. Wenn nun etwas Wahres daran war? Wie konnte er es ausschließen? Er hatte sich in den Jahren zuvor ja kaum um die Belange Monte Azzuros gekümmert. Vielleicht lag wirklich noch mehr im Argen, als er ahnte, und womöglich hatte Valeria vor, ihn damit unter Druck zu setzen …

Plötzlich konnte er es kaum erwarten, den Dingen selbst auf den Grund zu gehen. Als Allererstes würde er Luigi Fallone, den langjährigen Buchhalter, befragen. Den hatte er ohnehin seit einigen Tagen nicht mehr gesehen.

„Nun“, setzte Judy nach, „ich komme hier auch allein zurecht. Sie haben die Bilder ja schon so oft gesehen …“ Sie lächelte.

Wie geschickt sie ausdrücken konnte, dass sie seine Gesellschaft nicht unbedingt länger brauchte! „Gut, aber am Nachmittag kommen Sie in mein Büro. Dann zeige ich Ihnen Ihren Arbeitsplatz.“

„Ich bin gespannt“, erwiderte sie.

So wie er. Denn seit er seine Assistentin das erste Mal ins Gespräch gebracht hatte, schienen sich die Dinge zu verändern: Valeria arbeitete offensichtlich gegen ihn, und er hatte sie bisher noch nicht in ihre Schranken weisen können. Doch von diesen inneren Spannungen schien Judy nichts zu merken, und so sollte es auch bleiben. Wenn sie in drei Monaten Monte Azzurro wieder verließ, sollte sie ihren Aufenthalt hier in guter Erinnerung haben. Ihm jedoch stand noch eine schwere Zeit bevor. Und diese Vorahnung wurde mit jedem Tag stärker.

Judy hatte gehofft, gemeinsam mit Maria in der unteren Etage arbeiten zu dürfen, doch der Conte hatte ihr ein eigenes Zimmer direkt neben seinem Büro zugewiesen. Zwischen beiden Räumen gab es eine Verbindungstür, sodass er jederzeit bei ihr hereinschauen konnte. Aber da er ja bald wegfuhr, würde sie die Etage wohl mehr oder weniger für sich allein haben. Dass ihr Büro klein war, störte sie nicht, im Gegenteil. Es hatte etwas Gemütliches an sich, und die Ausstattung war absolut hochklassig. Bewundernd strich sie mit der Hand über das edle Holz ihres Schreibtisches, auf dem ein nagelneuer Laptop für sie bereitstand. Außerdem hatte sie von hier oben einen fantastischen Blick in den schönen Garten und auf den legendären Monte Azzurro. Der Conte hatte ihr erzählt, er gehe dort öfter spazieren und im Abendlicht würde der Berg zur Blauen Stunde tatsächlich blau schimmern. Ein Arbeitsplatz mit einer solchen Aussicht – das war doch mal was.

Nachdem sie ihre Unterlagen im Schreibtisch verstaut und sich die umfangreiche Broschüre über die Stiftung durchgelesen hatte, wusste sie nicht so recht, was sie noch tun konnte. Conte Ricardo hatte nur gesagt: „Arbeiten Sie sich in Ruhe ein“, dann war er verschwunden. Nun saß sie untätig in ihrem Ledersessel. Vielleicht konnte sie ja Maria über die Schulter schauen? Oder vielleicht sogar … Valeria Antonicelli? Am Abend zuvor war ihr diese doch recht freundlich begegnet. Vielleicht konnte sie die Schwägerin des Conte ja noch ein wenig besser kennenlernen. Er hatte zwar ausdrücklich betont, dass ihre Arbeitsbereiche getrennt waren, aber für Judy war es wichtig, sich mit allen gut zu verstehen, auch mit zickigen Schwägerinnen.

Zielstrebig ging sie die Treppe hinab und klopfte an Valerias Büro.

„Herein!“

Valeria rekelte sich auf einem Sofa, während sie leise ins Telefon lachte und Judy erst gar nicht weiter beachtete. Sie flüsterte ein paar Worte und sagte dann lauter: „Tesoro mio, ich muss Schluss machen, ja? Ciao, ciao, wir sehen uns später!“ Offenbar hatte Valeria gerade ein sehr vertrauliches Gespräch geführt, doch sie reagierte auf die Unterbrechung gelassen: „Miss Parker, was für eine Überraschung!“

„Entschuldigen Sie die Störung …“, begann Judy.

„Aber wieso denn, es ist doch schließlich eine ganz besondere Ehre, dass Sie mich besuchen.“

Judy glaubte, einen ironischen Ton zu bemerken, aber sie ließ sich nicht irritieren, denn sie war in guter Absicht gekommen. „Ich dachte, ich kann Ihnen vielleicht … über die Schulter schauen?“

„Mir?“ Valeria schien einen Augenblick lang zu stutzen. „Hat mein Schwager etwa keine Arbeit für Sie?“

„Doch, schon, aber er musste offensichtlich auf einmal weg.“

„Wohin denn?“

„Das weiß ich nicht.“

„Hat er sie etwa zu mir geschickt?“

Judy begann, sich unwohl zu fühlen. Vielleicht hätte sie lieber auf Ricardo hören sollen, denn heute wirkte Valeria wieder sehr abweisend. Aber verhielt es sich mit dem Conte nicht ähnlich? Mal war er freundlich, ja geradezu charmant, und dann wieder distanziert. Aus der Familie Antonicelli wurde sie jedenfalls nicht so ganz schlau.

„Ja, Ricardo ist sehr beschäftigt und unterhält vielfältige Beziehungen, meine Liebe“, sagte Valeria nun. „Er hat übrigens schon in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen.“

„Na ja“, wehrte Judy ab. „Bisher habe ich noch nicht so viel getan …“

„Was sollen Sie denn tun?“

„Na, die Auktion vorbereiten …“ Was durfte sie überhaupt erzählen? Judy spürte, wie ihr die Situation entglitt.

„Und mehr würde ich an Ihrer Stelle auch nicht tun“, riet Valeria kühl.

„Wie meinen Sie das?“

Valeria verzog die Lippen. „Wie ich es sage. Sie sollten sich wirklich nur auf die Arbeit konzentrieren, nicht auf Ricardo.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Das werden sie schon. Ich möchte Sie nur warnen. Der Conte ist vielleicht nicht so frei für seine Mitarbeiterinnen, wie er sich gibt. Wir haben gewisse … Interessen innerhalb der Familie zu wahren.“

Judy wusste nichts zu erwidern. Was nur sollte diese Anspielung?

„Und was Ihre Anwesenheit hier angeht, meine Liebe, da habe ich eine andere Meinung als mein Schwager. Sie mögen ein netter Mensch sein, das kann ich nicht beurteilen. Aber wir sind bisher gut allein zurechtgekommen, und ich weiß nicht, was Ricardo dazu bewogen hat, Sie einzustellen.“

„Die Auktion!“, rief Judy nun etwas erregt. „Haben Sie so etwas schon einmal gemacht? Wüssten Sie denn, was genau zu tun ist?“

Valeria sah einen Moment perplex aus, dann schob sie die Unterlippe vor. „Ich habe mich schon in viele Dinge eingearbeitet …“

„Vielleicht aber ist dazu nicht genug Zeit!“

„Warum nicht?“

Nun wurde es Judy zu viel. „Was fragen Sie mich! Conte Ricardo wird seine Gründe haben. Warum unterstützen Sie ihn nicht lieber in seiner Arbeit?“, fuhr sie auf.

Valeria legte den Kopf zur Seite und sah Judy von unten her spöttisch an. „Unterstützen! Es geht hier auf Monte Azzurro um mehr, als ihn nur zu unterstützen. Schließlich ist er auch ein sehr attraktiver Mann …“

Autor

Danielle Stevens
Danielle Stevens liebt London, wo sie und ihr Ehemann gern Zeit bei ausgedehnten Spaziergängen im Hyde Park oder beim Shopping auf der Regent Street verbringt. Doch auch überall sonst auf der Welt fühlt sie sich zu Hause. So haben ihre Reisen sie unter anderem bereits nach Spanien, Frankreich, Griechenland und...
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