Verbotene Sehnsucht

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Als er Anne in seine Arme nimmt, erwachen leidenschaftliche Gefühle in Rafe. Sofort stößt er sie zurück - niemals darf er seine Schwägerin, die seiner Frau Beth zum Verwechseln ähnlich sieht, begehren. Bei einem Zugunglück fand Beth den Tod, während Anne, die seitdem in Rafes Haus lebt, schwere Verletzungen davontrug. Immer wieder klammern sie sich trostsuchend aneinander - und jedes Mal hat Rafe das Gefühl, Beth in seinen Armen zu halten. Liegt es wirklich nur daran, dass sich die beiden so stark ähnelten? Oder warum kommt Anne ihm so unendlich vertraut vor?


  • Erscheinungstag 09.09.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733753061
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Ich will ein Baby“, sagte Beth zu ihrer Schwester. „So bald wie möglich.“

„Schreib es auf“, befahl Anne. Sie drehte die Getränkekarte des Speisewagens um und schob sie über den Tisch. „Wenn du dich mit Rafe aussprechen willst, musst du genau wissen, worin das Problem besteht.“

Er liebt mich nicht!

Aber sie brachte es nicht fertig, die Worte laut auszusprechen.

„Er will kein Baby“, sagte Beth stattdessen. Was auf dasselbe hinauslief. „Ich weiß, wir waren uns einig, dass wir warten wollten, bis das Beratungszentrum läuft, aber das dauert länger, als ich erwartet habe.“

„Schreib es auf“, wiederholte ihre Zwillingsschwester, und Beth gehorchte. „Wann habt ihr das letzte Mal darüber geredet?“

„Am Freitag. Am Abend, bevor ich losgefahren bin, um mich mit dir zu treffen.“ Am Abend vor Annes und ihrem alljährlichen „Schwesternurlaub“ hatte sie ihrem Ehemann vorgeworfen, dass er sich mehr um die Straßenkinder von Tucson kümmerte als darum, eigene Kinder zu bekommen.

Und er hatte es nicht bestritten.

„Was ist passiert?“, fragte Anne, und Beth tippte sich mit dem Bleistift gegen den Mund.

„Nichts. Ich hatte gehofft, dass er wütend reagieren und behaupten würde, dass ich mich irre. Aber er sagte einfach nur, die Beratungsstelle sei noch nicht so weit und wir hätten viel Zeit.“

„Na ja, da hat er nicht Unrecht“, meinte ihre Schwester. „Du bist sechsundzwanzig. Und Rafe ist … achtundzwanzig? Aber okay, das ist euer Hauptproblem. Was gibt es noch?“

„Reicht das etwa nicht?“, entgegnete Beth, als der Kellner kam, um ihre Bestellung fürs Frühstück aufzunehmen. Sie wünschte, sie könnte ihn wegschicken und das Gespräch fortsetzen, ohne von Omelett mit Pilzen und Vollkorntoast abgelenkt zu werden. Aber sie hatten sich darauf gefreut, mal wieder im Speisewagen essen zu können, und deshalb den Zug von Los Angeles nach Tucson genommen.

Zurück zu dem Mann, der sie nicht wollte. Jedenfalls nicht annähernd so sehr, wie sie ihn wollte.

„Ich kann noch immer nicht glauben, dass du deinen Ehering zu Hause gelassen hast“, sagte Anne und starrte auf den irischen Claddagh – Ring, der ein Herz zwischen zwei Händen zeigte. Sie hatte ihn Beth geliehen, als sie ihre Schwester ein paar Tage zuvor beim Weinen ertappt hatte. „Und du hast es mir nicht mal erzählt! Bethie, du musst wirklich mehr über deine Gefühle sprechen.“

Da mochte Anne recht haben, aber sie konnte nicht erwarten, dass ihre Schwester ihre Probleme löste. Sich um Menschen zu kümmern war Beth’ Stärke, Anne war für alles andere zuständig.

Außerdem hatte sie gehofft, dass eine Woche ohne Rafe ihr helfen würde, innerlich zur Ruhe zu kommen.

„Ich dachte nur, ich könnte so tun, als hätten wir nie geheiratet, und herausfinden, wie es sich anfühlt“, murmelte Beth.

„Aber es fühlt sich traurig an, nicht wahr?“

Genau das war ihr Problem. Den Ehering im Schmuckkasten zu lassen war albern gewesen, und obwohl sie jetzt den Ring ihrer Schwester trug, kam ihr der Finger noch immer nackt vor.

„Ihr beide müsst euch endlich aussprechen“, fuhr Anne fort. „Vergiss das mit dem neuen Look, das ist nicht das, was du brauchst. Nicht, dass du nicht großartig aussiehst …“

„Das sagst du nur, weil ich so aussehe wie du.“

Ihre Schwester lächelte. Jetzt, mit Beth’ neuer Frisur, sahen sie sich so ähnlich wie schon seit Jahren nicht mehr. „Rotblond wirkt mit kurzen Locken einfach besser, das ist alles. Aber wie gesagt, reinen Tisch zu machen ist die beste Methode, eure Krise zu überwinden. Vorausgesetzt, du willst verheiratet bleiben.“

„Das ist ja das Schlimme!“ Sie wollte ihn noch immer als ihren Ehemann, und eine ganze Woche Urlaub hatte nichts an ihrer tiefen Sehnsucht nach Rafe Montoya geändert. „Welche Frau will einen Mann, der sie nicht braucht?“

Anne zögerte und nahm einen Schluck Kaffee, bevor sie ihrer Schwester einen skeptischen Blick zuwarf. „Beth, ich weiß, dir ist es wichtig, dich um Menschen zu kümmern. Aber gebraucht zu werden ist nicht dasselbe, wie geliebt zu werden.“

„Genau darum geht es doch in der Ehe!“

„Du brauchst eine Pro-und-Kontra-Liste“, verkündete Anne. „Gründe, verheiratet zu bleiben, und Gründe, dich scheiden zu lassen. Komm schon, schreib sie auf.“

„Aber …“ Was, wenn es mehr Gründe für eine Scheidung gab? „Ich will noch nicht aufgeben.“

„Das kommt in die Pro-Spalte“, befahl Anne und nippte wieder an ihrem Kaffee. „Was gefällt dir noch an ihm?“

Es ging nicht darum, was sie an ihm mochte, sondern darum, warum sie ihn liebte.

Und warum er ihre Liebe nie erwidern würde.

„Komm schon“, drängte ihre Schwester. „Ist er intelligent, attraktiv, reich, charmant, gut im Bett …“

„Anne!“ Sie saßen mitten in einem Speisewagen, um sie herum saßen andere Leute, und ihre Schwester fragte, wie Rafe im Bett war!

„Pünktlich, höflich, sportlich …“

„Alles“, unterbrach Beth sie hastig und versuchte, nicht an Rafes athletischen Körper zu denken. Wenigstens wenn er mit ihr schlief, konnte Rafe Montoya seinen Gefühlen freien Lauf lassen. „Nun ja, außer reich. Er zahlt noch immer die Kredite zurück, mit denen er sein Studium finanziert hat, und mit der Beratungsstelle wird er nicht viel verdienen.“

„Das kommt in die Kontra-Spalte, zusammen mit dem Baby, das er noch nicht will, und der Zahnpastatube, die er nie zuschraubt“, meinte Anne. „Aber da er uns vom Bahnhof abholt, ist es gut, dass er ein pünktlicher Mensch ist.“

Geplant war, dass Rafe sie heute Vormittag um halb zehn in Tucson erwarten würde, damit Beth und er Anne ihr neues Haus zeigen konnten, bevor sie sie zum Flughafen brachten. Wie Beth ihn kannte, hatte er längst im Bahnhof angerufen und sich nach ihrer Ankunftszeit erkundigt.

„Vermutlich kommt er direkt von der Arbeit“, sagte Beth und zog einen Strich zwischen den beiden Spalten.

„Er arbeitet so früh?“

Für einen Mann, dessen Arbeitstag nicht selten um drei Uhr morgens begann, war es nie zu früh. Manchmal kam er erst zweiundsiebzig Stunden später nach Hause, wenn ein jugendliches Bandenmitglied jemanden brauchte, der für ihn die Kaution stellte, ihn vom Polizeirevier abholte oder ihm ein Dach über dem Kopf verschaffte.

„Vermutlich hat er die Nacht im Beratungszentrum verbracht“, erklärte Beth. „Ich meine, solange ich im Urlaub war, hatte er kaum einen Grund nach Hause zu kommen.“

Sie wünschte, sie hätte es nicht ausgesprochen. Es klang wie das Todesurteil für ihre Ehe.

„Manche Leute würden allein deshalb nach Hause kommen, um in einem richtigen Bett zu schlafen“, erwiderte Anne trocken.

Leute, die als Kind in einem richtigen Bett geschlafen hatten.

„Leute wie du und ich“, sagte Beth. „Aber du weißt ja, wie Rafe ist.“

Zur Bestätigung zog Anne die Augenbrauen hoch. Auf Beth’ und Rafes Verlobungsparty hatte sie ihre Schwester zur Seite genommen und sie gefragt, ob sie den Rest ihres Lebens wirklich mit „diesem Sankt Rafael der Straßenkinder“, verbringen wolle.

Diese Frage verfolgte Beth jetzt schon seit sechs Monaten.

„Ich weiß, wie Rafe ist“, meinte Anne und warf einen Blick auf die Uhr. „Wenn du sagst, er wird pünktlich sein, wird er pünktlich sein.“

„Du wirst deinen Rückflug kriegen“, versprach Beth und stellte belustigt fest, dass ihre Schwester schon von Urlaub auf Arbeit umgeschaltet hatte.

Denn Anne starrte noch immer auf das Zifferblatt.

Und zwar auf das von Beth’ Armbanduhr. Es war ihr Konfirmationsgeschenk und mit einer eingravierten Widmung versehen. Anne hatte sie sich am ersten Tag ihrer Reise ausgeliehen. Ihre eigene hatte sie zu Hause gelassen.

„Okay“, sagte Anne jetzt und sah mit einem entschuldigenden Lächeln auf. „Also werde ich bei Anbruch der Dunkelheit in Chicago sein. Aber hör zu, wenn du lieber mit Rafe allein sein möchtest, brauchst du mir euer Haus nicht zu zeigen. Ich kann es mir beim nächsten Besuch anschauen.“

„Nein, du musst es sehen!“, protestierte Beth. „Ich habe das Gästezimmer wie ein Büro eingerichtet, und wenn du das nächste Mal kommst, wirst du dich wie an deinem eigenen Schreibtisch fühlen.“

„Du hast dich damit abgefunden, dass deine Zwillingsschwester ein Workaholic ist, was? Aber du musst zugeben, in dieser Woche habe ich mich ganz gut gehalten.“

Wenn man davon absah, dass Anne zwei Mal am Tag in ihrer Firma angerufen hatte.

„Hast du“, bestätigte Beth. „Und wir haben sogar Zeit zum Shopping gefunden.“ Ihre Schwester hatte darauf bestanden, sie mit einem Outfit auszustatten, das zu ihrer neuen Erscheinung passte. Seit dem Besuch in San Diegos angesagtestem Frisiersalon sahen sie beide sich wieder so ähnlich wie zuletzt in der siebten Klasse.

„Das hat Spaß gemacht, nicht wahr? Der Kellner gerade, er musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu fragen. Das habe ich genau gesehen.“

Anne liebte es, wenn man sie fragte, wie es war, ein eineiiger Zwilling zu sein, und Beth hatte das Reden immer gern ihrer Schwester überlassen. „Du kannst es ihm erzählen, wenn er den Kaffee bringt“, bot sie Anne an und sah wieder auf ihre Liste. „Ich wünschte, wir hätten noch ein paar Urlaubstage.“

Manchmal sagte ein mitfühlender Blick mehr als tausend Worte, und Beth sah Anne an, was sie dachte – dass ein paar zusätzliche Urlaubstage der Ehe der Montoyas auch nicht helfen würden. Aber Anne war zu taktvoll, um es auszusprechen.

„Hör zu“, begann sie stattdessen. „Du weißt, du kannst mich jederzeit besuchen. Es wäre wunderbar, wenn du dich mal ein wenig umsehen würdest.“

„Wo, im Büro?“ Das war nicht Beth’ Domäne, auch wenn die Firma ihnen beiden gehörte. „Ich würde gar nicht wissen, wo ich anfangen soll.“

„Du könntest es lernen. Nur für den Fall, dass du beschließt, dein Leben zu verändern.“

Was immer aus Rafe und ihr wurde, Beth konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, mit ihrer Schwester zu tauschen. Anne war dazu geboren, die Firma namens Dolls-Like-Me zu leiten, die Kindern mit Doppelgänger-Puppen Freude bereitete. Beth dagegen war glücklich, zu Hause zu bleiben und in ihrer Werkstatt die Puppen für Kinder mit Down-Syndrom herzustellen.

„So sehr will ich es nicht verändern, aber trotzdem danke“, erwiderte Beth.

„Na gut, dann mach dich an deine Liste. Du hast nur noch drei Stunden.“

Drei Stunden, um zu beschließen, ob sie verheiratet bleiben wollte oder nicht? „So schnell kann ich mich nicht entscheiden“, protestierte sie.

„Das musst du doch noch gar nicht“, entgegnete Anne, während sie ihren Kaffeebecher hob und dem Kellner zunickte. „Du listest lediglich auf, was dafür und was dagegen spricht.“

„Okay“, gab Beth nach. Als der Kellner an ihren Tisch trat, um ein wenig mit ihrer Schwester zu flirten, machte Beth sich an die Arbeit.

Aber auf der Rückseite der Getränkekarte war einfach nicht genug Platz, um all das zu notieren, was in den letzten zwei Jahren geschehen war. Sie hatte die Geschäftsführung Anne überlassen, die mit einem Abschluss in Betriebswirtschaft von Harvard zurückgekommen war. Und sie war bereit gewesen, früher als geplant eine Familie zu gründen.

Rafe nicht. Nicht im letzten Jahr. Nicht vor sechs Monaten. Nicht jetzt.

Seine ganze Leidenschaft galt Legalismo, der Kombination aus Beratungsstelle und Anwaltskanzlei, mit der er Jugendliche davor bewahren wollte, auf die schiefe Bahn zu geraten. Er setzte all seine Energie und Zeit dafür ein, Kindern zu helfen. Kindern, die einem Leben entfliehen wollten, das ihn selbst zu einem Kämpfer gegen Leid und Ungerechtigkeit gemacht hatte. Genau das hatte sie damals fasziniert, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war.

Bevor sie begriffen hatte, dass es einfacher war, einen Helden zu lieben, als mit einem zusammenzuleben.

„Ich sag dir was“, holte Anne sie aus ihren Gedanken, als der Kellner sich entfernte. „Du siehst aus, als könntest du eine Pause gebrauchen. Lass uns in den Aussichtswagen gehen.“

Gestern Abend hatten sie sich gleich nach der Abfahrt von Los Angeles in ihrem Abteil schlafen gelegt, aber jetzt wäre ein Blick von der oberen Etage eine nette Abwechslung. Jedenfalls für die letzten paar Stunden der Reise. Schließlich ging es beim „Schwesternurlaub“ darum, die gemeinsame Zeit zu genießen.

„Wohin wollen wir im nächsten Jahr?“, fragte Beth, als sie sich in die letzte Reihe des Aussichtswagens setzten. Vor den großen Fenstern glitt die endlose Wüste dahin. „Du darfst das Ziel aussuchen.“

„New York“, antwortete Anne sofort. „Du warst noch nie da, und es wird höchste Zeit. Und falls ich dann noch Kontakt mit Marc habe, wird er uns Karten für jede Show am Broadway besorgen, in die wir gehen wollen.“

Marc war der italienische Architekt, den Beth’ Schwester vor einigen Monaten kennen gelernt hatte – der Letzte in der Reihe attraktiver Männer, die Anne mit erstaunlicher Leichtigkeit anzog und wieder fallen ließ.

„Du meinst, er ist …“ Beth suchte nach dem richtigen Wort. „Ist er etwas Besonderes?“

„Er ist nicht der Mann fürs Leben“, erwiderte Anne. „Aber für ein paar Monate dürfte es mit ihm viel Spaß machen.“

Könnte sie sich doch zusammen mit Annes Ring auch deren unbeschwerte Zuversicht ausleihen und von einem Mann nur „Spaß“ und nichts anderes erwarten …

Aber so konnte man keine Familie gründen!

„Weißt du, was wir jetzt brauchen?“, fragte Anne. „Kaffee mit einem Schuss Brandy.“

Kaffee mit einem Schuss Brandy würde es ihr nicht erleichtern, nach Hause zu kommen. Aber wenn es auch Anne vor dem Ende ihres Urlaubs graute, wollte Beth keine Spielverderberin sein.

„Ich hole uns welchen“, bot sie an und schaute dorthin, wo andere Passagiere auf einen freien Sitz warteten. „Ich bin gleich wieder da. Halt meinen Platz besetzt.“

„Dann lass mich wenigstens bezahlen“, sagte Anne. Sie gab Beth ihre kleine Handtasche und legte Beth’ auf den freien Sitz. „Ich bleibe hier. Es sei denn, ich finde zwei bessere.“

Das ist typisch für Anne, dachte Beth, als sie mit der leuchtend roten Handtasche ihrer Schwester den Gang entlangging. Manchen Menschen wurde der Optimismus in die Wiege gelegt. Die Zuversicht, die man brauchte, um alles zu erreichen, was man wollte. Was sie für andere noch attraktiver machte, als sie ohnehin schon waren.

Und genau das bestätigte sich, als sie die Bar im nächsten Wagen betrat. An einem der Tische hob ein Mann mit einem Aktenkoffer den Kopf und begrüßte sie überschwänglich.

„Anne Farrell! Jake Roth aus Boston. Wie ist es dir ergangen?“

Seit der High School war sie immer wieder mit ihrer Schwester verwechselt worden, und es war ihr auch jetzt noch unangenehm. Sicher, es war schmeichelhaft, aber eben auch peinlich, wenn jemand nicht einsehen wollte, dass er den falschen Zwilling vor sich hatte.

Jake Roth stand bereits auf, um ihr die Hand zu geben, und sah so begeistert aus, dass es ihr schwer fiel, ihn zu enttäuschen. „Nun ja“, begann Beth. „Anne ist meine …“

„Toll, dich zu sehen!“, unterbrach er sie und schüttelte begeistert ihre Hand. „Mindy erkundigt sich dauernd nach dir. Ich muss ihr unbedingt erzählen, dass wir im selben Zug waren. Wohin fährst du?“

„Nach Tucson.“ Sie hatte Mühe, das Gleichgewicht zu wahren, denn der Zug schien plötzlich stärker als sonst zu schwanken. „Aber …“

Unter ihr schien sich der Fußboden aufzubäumen, und Beth fühlte, wie sie zur Seite geworfen wurde. Jake hielt sie fest, bis er selbst taumelte.

Sie packte die Tischkante und fand dort Halt, bis etwas gegen den Mann neben ihr prallte und sie beide umwarf. Ein anderer Passagier schrie auf, dann ertönte ein metallisches Knirschen, das immer schriller wurde. „Anne, halten Sie sich fest, das ist ein Zusammenstoß!“

Bestimmt war es nur ein Felsbrocken, der auf den Schienen lag – aber noch während sie sich Mut zu machen versuchte, drang ein markdurchdringender Schrei an ihr Ohr. Sie erstarrte, fühlte, wie der Boden unter ihr nachgab, und sah, wie die Seitenwand des Waggons auf Jake stürzte.

Und auf sie.

Ob Beth lächeln wird? Vielleicht sollte ich die Blumen doch nicht hinter dem Rücken verstecken, wenn sie aus dem Zug steigt, dachte Rafe, während er die Tür der Beratungsstelle verschloss.

Auf dem Weg zur Arbeit hatte er einen prächtigen Strauß gekauft. Einen, wie Prominente ihn immer überreicht bekamen. Vermutlich würde Beth erröten, wenn er ihn ihr gab … aber sie sollte wissen, wie viel sie ihm bedeutete.

Seit ihrem unschönen Abschied vor einer Woche hatte sie kein einziges Mal aus Kalifornien angerufen. Er musste ihr beweisen, dass sie noch immer der wichtigste Mensch in seinem Leben war.

Also hatte er für heute Abend einen Tisch in einem schönen Restaurant reserviert und …

„He.“

Die Stimme des Jungen klang betont lässig, aber Rafe registrierte die Verzweiflung, die einen Jugendlichen dazu brachte, um diese Zeit vor einer Anwaltskanzlei zu warten. Doch egal wie früh oder spät es war, er war für jede Gelegenheit dankbar, mit Oscar Ortiz reden zu können. Denn der Junge erinnerte ihn nachdrücklich daran, wie er selbst mit fünfzehn gewesen war.

„Hallo“, erwiderte Rafe und bemerkte erst danach die Waffe in Oscars Hosenbund. Um den Jungen nicht zu verschrecken, tat er, als müsse er ein Gähnen unterdrücken. „Ich wollte mir gerade einen Kaffee holen. Kommst du mit?“

Solange sie auf der Straße waren, konnte er die eiserne Regel Keine Drogen, keine Waffen missachten, die in der Beratungsstelle galt. Als Oscar mit den Schultern zuckte, steuerte er auf dem rissigen Bürgersteig die nächste Bodega an.

Wenn er Oscar dazu bewegen konnte, bei den Lobos auszusteigen, wie er selbst seinerzeit den Bloods den Rücken gekehrt hatte …

„Wollen Sie immer noch mit Cholo sprechen?“, fragte der Junge, und Rafe warf einen Blick auf die Uhr. Es konnte eng werden, aber er durfte sich die Chance nicht entgehen lassen, die Beziehung zum Anführer der zweitgrößten Bande des Viertels zu festigen.

Offenbar war Oscar der Blick nicht entgangen, denn sofort zog er das Angebot zurück. „Anwälte sind immer beschäftigt.“

„Ja“, sagte Rafe. Es hatte keinen Sinn, dem Jungen etwas vorzumachen. Der Junge spürte, ob man ehrlich war. „Ich muss meine Frau abholen. Sie kommt mit dem Zug aus L.A.“

Oscar strich im Vorbeigehen über eine Bank, auf der in Kreide das Zeichen einer rivalisierenden Bande prangte. „Nicht mit dem, der verunglückt ist, oder?“

Ein Zugunglück? Nein, davon hätte er gehört.

„Es kam im Radio“, berichtete der Junge. „Ein Zusammenstoß draußen in der Wüste.“

Nein. Nicht Beth’ Zug. Zwischen hier und Los Angeles musste es etwa ein halbes Dutzend Züge geben. Mehr sogar.

Trotzdem fühlte er, wie sich in ihm etwas verkrampfte. Beth geht es gut, sagte er sich. Ich verliere niemanden, den ich liebe.

Nicht wieder.

Nie wieder.

„Sie kann nicht in dem Zug sein“, sagte er zu Oscar, der erneut mit den Schultern zuckte und auf den Streifenwagen an der Ecke starrte. „Nicht Beth.“ Nicht seine Frau. „Es geht ihr gut.“

Der Junge antwortete nicht, und Rafe spürte die Anspannung, die er nur zu gut kannte. Sie hatte ihn immer dann befallen, wenn er kurz davor war, angegriffen zu werden.

„Ein Irrtum, das ist alles“, sagte er. Die gab es dauernd. Wahrscheinlich versuchte irgendeine Radiostation etwas Aufsehen zu erregen, indem sie von einem Zugunglück berichtete, das gar nicht stattgefunden hatte. „Er wird sich gleich aufklären.“ Ein kurzer Anruf würde genügen. Zum ersten Mal wünschte er, er hätte auf Beth gehört und ein Handy mitgenommen.

„Das Radio“, begann Oscar, aber Rafe ließ ihn nicht ausreden.

„Ich muss herausfinden, was passiert ist.“ Er entdeckte eine Telefonzelle. Sie war leer. Er rannte hinüber, riss die Tür auf und seufzte erleichtert, als er eine Leitung bekam. Hastig wühlte er in der Hosentasche nach Kleingeld.

Beth war okay.

Er musste einfach nur …

Verdammt! Zwei Fünfcentstücke und ein paar Scheine, was bedeutete, dass er erst einen davon in der Bodega wechseln musste und …

„Hier.“ Oscar legte eine Hand voll Münzen auf das Telefonbuch und wich zurück. Rafe überlegte hektisch, während er den Vierteldollar einwarf. Wo sollte er anrufen? Am Bahnhof? Richtig, dort würde man Bescheid wissen. Mit zitternder Hand wählte er die Nummer, unter der er sich im Morgengrauen nach der Ankunftszeit erkundigt hatte.

„Der Neun-Uhr-dreißig aus Los Angeles“, rief Rafe, als am anderen Ende abgenommen wurde. „Meine Frau ist in dem Zug, und …“

„Sir“, wurde er unterbrochen. „Es hat eine … Verspätung gegeben … und wir können Ihnen nähere Auskünfte geben, wenn Sie herkommen …“

„Nein, ich will nur wissen, ob es ihr gut geht.“

Der Mann zögerte. „Sir, bitte kommen Sie zum Bahnhof und …“

Rafe knallte den Hörer auf die Gabel. So ging es nicht, aber bestimmt war alles in Ordnung. Beth war in Ordnung. Okay, zwischen ihnen gab es einige Probleme, aber die würde er lösen. Sie würde einsehen, dass sie beide noch viel Zeit hatten, um ein Baby zu bekommen. Er würde mit allem fertig werden, er musste nur wissen, was … wer …

Morton. Der Polizist, der ihm geholfen hatte, vor einigen Monaten, als die Kids einen Dämpfer brauchten. Morton würde herausfinden, was los war. Aber verdammt, er hatte die Nummer im Büro gelassen.

Rafe rannte zurück, getrieben von der Panik, die früher zu seinem Leben gehört hatte – wenn man nicht wusste, wer gerade hinter einem her war. Jetzt war die Straße leer – obwohl das nichts zu bedeuten hatte. Vor der Beratungsstelle wartete niemand. Das war gut, denn im Moment konnte er niemanden beschützen. Erst musste er Beth finden.

Da, das Telefon. Mortons Nummer. Jetzt brauchte der Cop nur noch abzunehmen. Und dann keine Nettigkeiten, nur seinen Namen und die Frage.

„Können Sie etwas über ein Zugunglück herausfinden?“

„Was, die Entgleisung?“ Der Polizist hörte sich nicht verwirrt, sondern neugierig an, was bedeutete, dass Oscars Radiomeldung vielleicht doch stimmte. Aber das musste nicht heißen, dass Beth etwas zugestoßen war. Beth ging es gut.

„Der aus Los Angeles“, fuhr Rafe atemlos fort. „Meine Frau ist an Bord.“

„Oh, Mann.“ Morton klang besorgt, aber das lag vermutlich an der schlechten Verbindung. Denn alles war in Ordnung. „Augenblick, ich frage nach – bleiben Sie dran.“

Beth geht es gut, sagte Rafe sich zum wiederholten Mal und packte den Hörer noch fester, während er zwischen seinem Schreibtisch und der Tür hin und her ging.

Beth war in Sicherheit.

Sie war auf dem Weg nach Hause.

Richtig. Richtig, obwohl Menschen nicht immer nach Hause kamen – Mom, Carlos, Nita, Gramp und Rose, zum Beispiel –, aber das hier war anders. Schließlich war er nicht von Beth abhängig.

Also musste sie okay sein. Es dauerte nur eine Weile, bis Morton das bestätigte. Gleich würde er berichten, dass es nichts Schlimmes war, nur eine kleine Verzögerung …

„Rafe?“ Der Polizist klang unsicher, und Rafe hielt den Atem an. „Hören Sie, es tut mir leid, aber …“ Er zögerte. „Warten Sie, reist Ihre Frau mit ihrer …“

„Schwester, ja“, brachte Rafe heraus. Vielleicht lag eine Verwechslung vor, vielleicht war ihrer Schwester etwas passiert. Das wäre hart, aber Hauptsache, Beth war am Leben. „Anne. Sie sind Zwillinge.“

„Oh, verdammt“, murmelte Morton. „Die Schwester wird gerade ins Krankenhaus gebracht. Aber Beth … Es tut mir leid. Sie hat es nicht geschafft.“

Nein.

Nein, wiederholte Rafe stumm, während er wie in Zeitlupe auflegte. Das konnte nicht sein.

Es war unmöglich.

So etwas passiert dauernd.

Nein. Nicht dieses Mal.

Sie hat es nicht geschafft.

Nicht Beth. Nicht schon wieder.

Aber er erkannte das Gefühl – die Schwere ums Herz, den heißen Druck hinter den Augen …

Nein. Keine Tränen. Er musste sich bewegen, er musste etwas tun …

Nicht weinen.

Nein. Weinen war sinnlos. Er taumelte in den Vorraum.

Es tut so weh.

Nein, das konnte nicht sein. Beth konnte nicht fort sein, denn er musste so viel in Ordnung bringen. Sie war abgereist und hatte gedacht, dass er noch kein Baby wollte, weil er sie nicht liebte, aber er liebte sie doch …

Aber nicht genug.

Nie genug.

Rafe fühlte, wie ein Beben in ihm aufstieg, und schluckte mühsam. Er stützte sich mit beiden Händen auf die Lehne der Plastikcouch, auf der die Ratsuchenden auf den Dienst habenden Anwalt warteten. Er durfte die Tür nicht abschließen. Nicht, wenn jeden Moment jemand auftauchen konnte, aber …

Nein, das hier war nicht in Ordnung zu bringen.

Er konnte es nicht.

Er musste es in Ordnung bringen. Es war sein Beruf, Dinge in Ordnung zu bringen, und er konnte nicht weinend im Vorraum stehen und …

Aber die Tränen hörten nicht auf. So sehr er auch den Atem anhielt, denn aus irgendeinem Grund fiel ihm das Schlucken immer …

Nicht hier!

Rafe eilte ins Bad und verriegelte die Tür. Die Hitze, die ihm in den Hals und die Augen stieg, wurde immer unerträglicher. Es war, als würde er ersticken, und plötzlich hörte er sich schluchzen und schien nicht mehr aufhören zu können …

Nein. Nicht Beth.

Nicht dieses Mal.

Bitte!

Keine Antwort, so sehr er auch darum flehte, von ganzem Herzen, mit aller Hoffnung. Aber zugleich wusste er, dass es nicht genug war. Weinen half nicht, nichts half, und er musste sich zusammenreißen. Er musste weg von hier und die Kraft finden, die er sein ganzes Leben hindurch gesammelt hatte, damit er diesen Schmerz nie wieder fühlen musste.

Doch jetzt war der Schmerz zurück, schlimmer als beim letzten Mal, obwohl er inzwischen wusste, wie er sich dagegen wehren konnte. Er wusste, dass er die Arme auf den Rücken legen, so tief wie möglich durchatmen und langsam zählen musste. Fünf, zehn, fünfzehn …

Fünfundsiebzig, achtzig, fünfundachtzig.

Zweihundertzwanzig, zweihundertfünfundzwanzig, zweihundertdreißig.

Er musste zählen, so weit, wie er kam. Damit fing es an, das wusste er, aber die wahre Kraft lag anderswo. Um sie zu finden, musste er weg von hier. Er musste sich um jemanden kümmern. Um wen auch immer. Vielleicht waren im Vorraum Mandanten, aber er hatte niemanden hereinkommen hören. Als es ihm endlich gelang, die Schultern zu straffen und die Tür aufzureißen, war alles leer.

Okay. Er würde es trotzdem durchstehen.

Autor

Laurie Campbell
Laurie Campbell spielte als Kind mit ihrer Schwester gerne Phantasiespiele. Als sie aus diesen Spielen rauswuchs, begann sie die Charaktere, die ihr schon so vertraut waren, in einem Buch festzuhalten. Sie begann eine Bruder-Schwester-Geschichte aufzuschreiben. Sie schwörte sich selber, dass sie sie eines Tages beenden würde. Aber mittlerweile genießt sie...
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