Wie Inseln im Strom

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Lacy Morgan, elegant in blauer Seide, hat in den letzten Jahren viel Bildung erworben. Doch eins hatte sie darüber vergessen - wie man fühlt. Denn als Adam damals ging, nahm er ihre Liebe mit. Und so ist aus Lacy im Lauf der Zeit eine kühle Schönheit mit einem Herz aus Eis geworden. Adam Kendall erkennt sie kaum wieder, als er nach Pringle Island zurückkehrt. Vorsichtig versucht er, ihre seelischen Wunden zu heilen und den Panzer um ihr Herz zu durchbrechen.


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955762537
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kathleen O’Brien

Wie Inseln im Strom

Roman

Image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

A Self-Made Man

Copyright © 2001 by Kathleen O’Brien

erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd, Toronto

Übersetzt von Patrick Hansen

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Titelabbildung: Getty Images, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-253-7

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

1. KAPITEL

“Oh, mein Gott, was ist denn mit dem Baby?” Der entsetzte Aufschrei war in der ganzen Halle zu hören. “Lacy! Wo steckst du? Das Baby ist verkehrt herum!”

Das angeregte Geplauder in der überfüllten Reithalle verstummte für einen Moment. Über hundert Gäste hatten sich in den umgebauten Stallungen des Barnhardt-Anwesens versammelt, um sich festlich bewirten zu lassen. Es war eine Spendenveranstaltung zugunsten der geplanten Neugeborenenstation im Krankenhaus von Pringle Island.

“Lacy! Komm her!”

Zwei Dutzend Gesichter wandten sich mit diskreter Neugier Lacy Morgan zu. Andere Gäste streckten die Köpfe aus den Boxen, die einst die acht Pferde der Barnhardts beherbergt hatten. Heute Abend waren dort die Gegenstände ausgestellt, die später versteigert werden sollten.

“Lacy, komm schnell!” Die aufgeregte Stimme klang immer schriller. “Um Himmels willen, sieh dir dieses Baby an!”

Lacy seufzte stumm. Niemand außer Tilly Barnhardt konnte diese Tonlage treffen – und so lange halten! Und außer der exzentrischen alten Lady hätte niemand hier gewagt, in so einer hochkarätigen Gesellschaft zu kreischen.

“Entschuldigen Sie mich. Ich glaube, man ruft nach mir.” Lacy lächelte dem Gentleman zu, der sie seit einer halben Stunde mit allem langweilte, was es über Warentermingeschäfte zu wissen gab. Sie nahm sich ein Glas Champagner vom Tablett eines Kellners, hob ihren langen blauen Seidenrock leicht an und glitt über das polierte Parkett.

Tilly Barnhardt, ihre mütterliche Freundin, stand in der ehemaligen Sattelkammer vor einem riesigen Ölgemälde und starrte es mit gerunzelter Stirn an.

“Tilly, meine Liebe, bitte nicht so laut.” Lacy reichte ihr das Glas. “Die Hälfte deiner Gäste denkt bereits, dass hier jemand umgebracht wird.”

“Aber sieh doch! Sieh dir an, was diese Trottel gemacht haben!” Mit dramatischer Geste zeigte Tilly auf das Gemälde. “Das ist der Verengeti! Unser Knüller! Das Highlight der gesamten Versteigerung – und irgend so ein Idiot hat ihn verkehrt herum aufgehängt! Ist das zu fassen?”

Lacy strich ihr liebevoll über die Schulter und fühlte dabei den abgewetzten Samt. In diesem alten Kleid hatte Tilly zwei US-Präsidenten getroffen, drei Ehemänner geheiratet und Spenden in Höhe von rund fünf Millionen Dollar für das Krankenhaus eingetrieben. Als reiche Witwe des beliebtesten Frauenarztes von Pringle Island könnte sie es sich eigentlich leisten, für jeden Tag der Woche ein neues Kleid zu kaufen. Aber wie Tilly immer zu sagen pflegte, sie konnte sich auch leisten, es eben nicht zu tun. Ihr fehlender Snobismus war das, was Lacy am meisten an ihr gefiel.

“Er ist nicht verkehrt herum”, erklärte Lacy und betrachtete das wilde Durcheinander aus blauen und pinkfarbenen Flecken, das Verengetis Markenzeichen war. In der Mitte bildeten sie ein Baby in den Armen einer Frau, die unverkennbar auf dem Kopf stand. Vermutlich wollte der Künstler damit etwas über die kosmische Bedeutung der Mutterschaft aussagen, aber Lacy ahnte, dass Tilly dafür wenig Verständnis aufbringen würde. “Das soll so sein, Tilly.”

Tilly schnaubte. “Blödsinn.” Sie studierte das Gemälde und legte dabei den Kopf so schräg, dass Lacy schon um den Sitz ihrer steifen weißen Perücke fürchtete. “Wirklich?” Sie sah Lacy an. “So?”

Lacy nickte. “Ich fürchte, ja.” Sie hob das Champagnerglas, und dieses Mal nahm Tilly es ihr ab.

“Nun ja.” Mit einem einzigen Schluck leerte die alte Lady das Glas. “Nun ja.” Sie warf Lacy einen belustigten Blick zu. “Du hast ja Kunst studiert, da kennst du dich wohl aus.”

Lacy lächelte versöhnlich. “Stimmt.”

Es war ein alter Scherz zwischen ihnen. Tilly war die einzige Frau in der Stadt, die sich von Lacys akademischen Lorbeeren nicht beeindrucken ließ. Und Lacys verstorbener Ehemann hatte sich darüber immer geärgert. Malcolm Morgan war es ungemein wichtig gewesen, dass jeder ihn dafür bewunderte, was für eine kultivierte und gebildete Frau er aus der armen kleinen Lacy gemacht hatte.

Lacy selbst war es vollkommen gleichgültig, wie die Leute über ihre Verwandlung dachten. Was hatte akademisches Wissen damit zu tun, ob man Kunst und Schönheit zu schätzen wusste? Noch heute erinnerte sie sich daran, wie sie vor zehn Jahren auf einem Schulausflug zum ersten Mal ein richtiges Gemälde gesehen hatte. Keine Universität konnte einem das ehrfürchtige andächtige Gefühl vermitteln, das das geniale Talent des Künstlers damals in ihr ausgelöst hatte.

Aber jetzt, da Kunstwerke für sie zu etwas Alltäglichem geworden waren, ging ihr der Anblick nicht mehr so unter die Haut wie damals. Ja, sie war wirklich Malcolms Geschöpf, nicht wahr? Lacy Morgan, elegant in blauer Seide, mochte viel Wissen angehäuft haben. Doch eins hatte sie darüber vergessen – wie man fühlte.

Und es waren nicht nur Gemälde, die sie inzwischen kaltließen. Nach all den Jahren unter Malcolms Obhut brauchte sie nur einen Takt zu hören, um zu wissen, aus welcher Oper er stammte. Aber keine Arie hatte jemals so auf sie gewirkt wie jene Rock-‘n’-Roll-Ballade, nach der sie einst im Regen mit Adam Kendall getanzt hatte …

Adam Kendall. Vielleicht musste sie heute Abend an ihn denken, weil sie sich auf den Tag genau vor zehn Jahren hier mit ihm getroffen hatte, um allein zu sein. Wenn sie wollte, könnte sie das frische Heu riechen und den Mondschein in den neugierig blinzelnden dunklen Augen der Pferde sehen – wie damals.

Lacy hakte sich bei Tilly ein und zog sie mit sich aus der Sattelkammer. “Lass uns zurückgehen”, sagte sie. “Es wird der Neugeborenenstation nicht helfen, wenn die Leute darüber tuscheln, dass wir Babys verkehrt herum aufhängen. Außerdem kann Howard Whitehead es nicht abwarten, dir alles über Warentermingeschäfte zu erzählen.”

Tilly rümpfte die Nase. “Der alte Knabe wird zehntausend Dollar spenden, da bin ich sicher – aber erst, nachdem er uns zu Tode gelangweilt hat.” Sie lächelte Lacy zu. “Ehrlich, mir ist schleierhaft, wie du es schaffst, so ruhig zu bleiben. Das ist übermenschlich. Verlierst du denn nie die Fassung?”

Lacy lachte. “Bei einem Mann, der zehntausend Dollar spenden will? Nein.”

Arm in Arm schlenderten sie zurück in die einstige Reithalle, begrüßten Freunde und Bekannte und beantworteten Fragen zu den ausgestellten Kunstwerken, als Karla Karlin, die im Verwaltungsrat des Krankenhauses saß, auf sie zugeeilt kam. “Oh, da seid ihr ja”, begann sie atemlos. “Lacy, du wirst nicht glauben, wer hier ist! Und er hat nach dir gefragt!”

Tilly stöhnte auf. “Wenn es Howard Whitehead ist, sag ihm, dass du uns nicht gefunden hast.”

Karas Augen glitzerten aufgeregt. “Nein, nein. Es ist jemand Neues. Na ja, ganz neu ist er nicht, aber …” Sie zerrte Lacy in die Mitte der Gästeschar. “Oh, du wirst gleich sehen. Du wirst es nicht glauben. Er ist absolut … Ich meine, er ist wirklich … Komm schon, Lacy. Beeil dich!”

“Ich komme ja”, versicherte Lacy ihr belustigt und ein wenig neugierig. Hoffentlich war es nicht schon wieder so ein zweitklassiger Schauspieler. Mit seinen malerischen Straßen zog Pringle Island viele Fernsehteams an. Im vergangenen Jahr hatte ein Seifenopernstar für Aufsehen gesorgt, als er an einer Tankstelle Kondome kaufte. “Also wirklich, Kara, wenn du nicht willst, dass ich über meinen Rock stolpere und deinen Sensationsgast auf allen vieren begrüße, musst du langsamer gehen.”

Kara holte tief Luft und drückte Lacys Hand. “Na gut. Aber sieh selbst!”, sagte sie und blieb stehen.

Lacy ließ ihren Blick über die Menge wandern und hielt nach dem rätselhaften Neuankömmling Ausschau. Falls es sich mal wieder um einen Prominenten handelte, würde sie Begeisterung heucheln müssen. Schauspieler beeindruckten sie nicht besonders. Nicht mehr. Eigentlich beeindruckte sie kaum etwas.

Die meisten Gesichter hier waren ihr vertraut. Howard Whitehead hatte sich ein neues Opfer gesucht. Der Krankenhausdirektor redete jetzt auf den Bürgermeister ein. Die jungen Frauen, die ehrenamtlich bei der Betreuung der Patienten halfen, standen zusammen und flirteten mit einem attraktiven Kellner. In einer Ecke hatten sich die Künstler, deren Werke für die Auktion gespendet worden waren, versammelt, um über ihre Arbeit zu diskutieren.

Und dann war da die Gruppe von Frauen an der Bühne. Mit glitzerndem Brillantschmuck und verführerischem Lächeln umringten sie einen großen dunkelhaarigen …

Oh nein. Das konnte doch nicht sein.

Aber er war es. Selbst aus der Entfernung konnte sie erkennen, dass seine Augen blau waren. So blau wie ihr Kleid. Und urplötzlich wurde ihr bewusst, warum sie dieses Kleid so liebte, warum sie es überhaupt gekauft hatte, warum sie es so oft wie möglich trug. Nervös tastete Lacy nach dem Ausschnitt. Die Seide war kühl unter ihren zitternden Fingern. Niemand im Raum konnte wissen, warum sie sich selbst nach zehn Jahren noch in Seide hüllte, die genau die Farbe seiner Augen hatte.

“Ich …” Kara wartete auf eine Antwort, doch Lacy brachte keinen vollständigen Satz heraus. Ihre Lippen schienen ihr nicht mehr zu gehorchen. “Er …”

“Genau.” Kara schmunzelte triumphierend. “Siehst du, was ich meine?”

Ja, Lacy sah es. Sie war unfähig, sich abzuwenden. Reglos stand sie da und starrte ihn an.

Ihre Hilflosigkeit schien ihn zu amüsieren. Sein Blick richtete sich auf ihr dunkelbraunes Haar, das sie zu einem lockeren Nackenknoten hochgesteckt hatte. Für ihn hatte sie es früher immer offen tragen müssen … Er betrachtete das blaue Kleid mit dem engen Oberteil und dem weiten fließenden Rock. Er hatte geschworen, ihr irgendwann genau so ein Kleid zu kaufen … Und dann wanderte der Blick wieder nach oben, zu dem protzigen quadratischen Brillanten an ihrer Hand. Damals hatte er sich nicht einmal einen kleinen silbernen Ring leisten können. Aber … eines Tages, Lacy. Eines Tages.

Doch dieser Tag war nie gekommen. Und jetzt trug sie den Ring eines anderen Mannes. Sie sah, wie sein Blick sich verhärtete, ließ die Hand sinken und bereute es sofort. Es war ein Zeichen von Schwäche, von Scham, und er schien darauf gewartet zu haben. Er beobachtete, wie sie ihre zitternde Hand in einer Falte des Rocks verbarg. Und dann lächelte er. Es war ein wunderschönes Lächeln. Ein grausames, nichts verzeihendes, teuflisch schönes Lächeln.

Er hasst mich, dachte Lacy.

Es traf sie wie ein Schlag in die Magengrube, und ihre Knie wurden weich. Würde sie etwa in Ohnmacht fallen? Nein, den Erfolg gönnte sie ihm nicht. Wie konnte er es wagen, sie zu hassen? Unauffällig legte sie eine Hand an die raue Holzwand.

War sie nicht überzeugt gewesen, nichts mehr fühlen zu können? Woher kam dann dieser Ansturm von Empfindungen? Lippen, Freudenfeuer, Regen, Hände, Musik, Zauber, Tränen, Schmerz, Blut, Schmerz, Schmerz – die Erinnerungen durchzuckten sie wie Blitze.

“Wenn das nicht Adam Kendall ist!” Tilly war hinter Lacy aufgetaucht, und ihr freudiger Ausruf hallte durch den ganzen Raum. “Kommen Sie her, junger Mann, und geben Sie Ihrer alten Freundin einen Kuss!”

Adams Miene erhellte sich, als er Tilly erkannte, und gehorsam kam er auf sie zu. Dass er einige enttäuschte Schönheiten zurückließ, schien ihm nichts auszumachen. Lacy entging nicht, wie sie ihm hinterherschauten. Seine Figur war noch immer perfekt.

Lacy wusste besser als jede von ihnen, wie perfekt er gebaut war. Kräftige Muskeln an einem langen schmalen Oberkörper, der von den Sommern in der Betonfabrik gebräunt war, bis hinab zu blasseren, aber umso erregenderen Rundungen …

Sie hörte, wie sie einen leisen Laut von sich gab, und fühlte Tillys stützende Hand an ihrem Ellbogen. Es war wirklich erstaunlich, wie viel Kraft in den dünnen alten Fingern steckten. Lacy war ihr sehr dankbar dafür.

“Nur Mut, Kind”, flüsterte ihre Freundin.

Lacy atmete tief durch, hob das Kinn und spürte, wie sie langsam ihr inneres Gleichgewicht wiederfand. Sie zwang sich, ruhig mit anzusehen, wie Adam Kendall, der begehrenswerteste, aber auch gefährlichste Mann, den sie kannte, mit langsamen, hochmütigen Schritten in ihr Leben zurückkehrte.

“Mrs. Barnhardt”, sagte er, und diesmal war sein Lächeln ohne jede Spitze. Er ergriff Tillys Hand und küsste sie auf die Wange. “Es ist schön, Sie wiederzusehen. La he echado de menos.”

Tilly schnalzte tadelnd mit der Zunge, aber Lacy sah ihr an, dass sie sich geschmeichelt fühlte. Früher hatte sie ihm Spanischunterricht gegeben, wenn er in ihrem Haus kleinere Arbeiten erledigt oder die Pferde gestriegelt hatte. Heute war seine Aussprache makellos.

“Unsinn”, erwiderte Tilly und versuchte, sich ihre Freude nicht anmerken zu lassen. “Schneidige junge Männer vermissen klapprige alte Frauen nicht, wenn sie in die Welt hinausziehen. Nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde.”

Adam lachte. “Die Welt kann ganz schön rau sein, Mrs. Barnhardt, selbst für schneidige junge Männer. Ich erinnere mich an einen besonders harten Winter, in dem ich den ganzen verdammten Globus für ein einziges Stück Ihrer Blaubeertorte eingetauscht hätte.”

Errötend legte Tilly die Stirn in Falten. “Achten Sie auf Ihre Ausdrucksweise, junger Mann. Ich habe immer versucht, Ihnen außer Spanisch auch ein paar Manieren beizubringen, aber offenbar hat es nicht gefruchtet. Sie haben noch nicht einmal meine Freunde begrüßt”, sagte sie mit gespielter Strenge und zog Kara zu sich. “Ich glaube, Sie kennen Mrs. Karlin noch nicht. Sie ist die Vorsitzende der ehrenamtlichen Helfer im Krankenhaus.”

Karas Augen wurden groß, als Adam ihr zulächelte, und sie tarnte ihre Befangenheit, indem sie ihm unglaublich heftig die Hand schüttelte. Er protestierte nicht, sondern hob lediglich eine Augenbraue. Irgendwann wurde Kara bewusst, dass sie seine Hand noch immer festhielt. Abrupt gab sie sie frei und murmelte etwas Unverständliches, das vermutlich eine Entschuldigung sein sollte.

Schmunzelnd wandte Tilly sich Lacy zu und legte fürsorglich einen Arm um ihre Schultern. “Und natürlich erinnern Sie sich an unsere kleine Lacy.”

Lacy zwang sich, ihm ins Gesicht zu schauen, und machte sich auf den Schmerz gefasst. Sie hatte seine Augen immer geliebt. Ein atemberaubendes Blau, umrahmt von schwarzen Brauen und seidigen Wimpern. Klar, intelligent, verwegen, sexy. Mit einem verborgenen Lachen darin, das einst nur sie gesehen hatte.

Und das Feuer! Wie hatte sie nur glauben können, dass die zehn Jahre ihrer Trennung es zum Erlöschen gebracht hätten? Es war noch da, das Feuer, das sie selbst in den kältesten Nächten ihres Lebens gewärmt hatte …

Offenbar brauchte es mehr als zehn Jahre, um Adam Kendall in einen Eisblock zu verwandeln. Sie konnte sich gut vorstellen, wie viele Frauen Schlange gestanden hatten, um sein Feuer zu schüren, nachdem er Pringle Island und Lacy Mayfair hinter sich gelassen hatte.

Mit Tillys Hilfe schaffte sie es, die Fassung zu bewahren. Lächelnd streckte sie ihm die kalten blassen Finger entgegen. “Hallo, Adam”, sagte sie höflich. “Willkommen daheim.”

Er ergriff ihre Hand. Seine war warm, ihr Griff kräftig. Lacy nahm es kaum wahr.

Adam kam es vor, als würde er einer Schaufensterpuppe die Hand schütteln.

“Hallo, Mrs. Morgan”, erwiderte er, und sie fragte sich, ob außer ihr noch jemand die leise Schärfe hörte, mit der er ihren Namen aussprach. “Es ist mir ein Vergnügen. Sie sehen gut aus.”

“Sie sieht gut aus? Unsinn!”, rief Tilly. “Sie sieht fantastisch aus, und Sie wissen es.”

Adam musterte Lacy. “Ja”, sagte er schließlich. “Sie hat recht, Mrs. Morgan. Sie sehen … wohlhabend aus. Die Ehe scheint Ihnen gutgetan zu haben.”

Tilly runzelte die Stirn. “Adam …”

Aber Lacy brauchte ihre Hilfe nicht. Selbst Schaufensterpuppen fanden die Sprache wieder, wenn man sie genug provozierte.

“Und dir scheint das Reisen gutgetan zu haben, Adam”, entgegnete sie mit einem demonstrativen Blick auf seinen zweifellos maßgeschneiderten Smoking. “Auch du bist auf Hochglanz poliert.”

Lächelnd zuckte er mit den Schultern. “Nur äußerlich.” Er legte den Kopf schief und war plötzlich nicht mehr der gepflegte Gentleman, sondern ein verwegener Pirat. “Offenbar haben wir beide gelernt, die richtige Uniform zu tragen.”

Lacy kniff die Augen zusammen. “Uniform?” Sein Lächeln war unangenehm. Warum ließ es ihr Herz noch immer schneller schlagen?

“Ja.” Sein Lächeln wurde breiter, reichte jedoch nicht bis zu den Augen. “Ohne die korrekte Garderobe gehört man nicht dazu, oder?”

Sie atmete tief durch und wehrte sich gegen den Zorn, der in ihr aufstieg. Wie konnte er es wagen? Vielleicht war sein Outfit nur eine Maskerade, hinter der sich der respektlose Rebell verbarg, der er immer gewesen war. Aber ihre Verwandlung ging tiefer. Sie war nicht mehr das ungezähmte Kind, das er gekannt hatte. Fast mager von der Armut, ein wenig schäbig von der Vernachlässigung und voller Sehnsucht nach Liebe. Seiner Liebe.

Nein, sie hatte sich nicht kostümiert, um die selbstsichere junge Witwe zu spielen. Sie hatte mehr gewechselt als nur die Garderobe. Sie war nicht mehr naiv, verzweifelt oder dumm. Und sie hatte gelernt, ohne Liebe zu leben.

“Ich kenne mich da nicht so aus”, antwortete sie kühl. “Und jetzt entschuldige mich, ich muss zurück zu den anderen Gästen.”

Sie ignorierte Karas schockiertes Luftschnappen. Wie sollte die Frau sie auch verstehen? Kara Karlin, die Tochter des Bürgermeisters, wusste nichts von ihrer Vergangenheit. Für die feinen Kreise von Pringle Island hatte Lacy Mayfair früher gar nicht existiert. Für die war sie erst an dem Tag ‘geboren’ worden, an dem sie Malcolm Morgan geheiratet hatte.

Lacy sah Tilly an. “Vielleicht solltest du Adam einige der teureren Bilder zeigen”, sagte sie mit grimmiger Miene. “Jetzt, da er sich als reicher Menschenfreund verkleidet hat, wollen wir ihm doch nicht die Chance verweigern, zur besseren Gesellschaft zu gehören, nicht wahr?”

Oben auf dem alten Heuboden, direkt neben dem auf die Bühne gerichteten Scheinwerfer, saß Gwen Morgan und schaute auf ihre Mutter hinunter, die gerade mit irgendeinem reichen Knaben im Smoking plauderte. Widerwillig gab sie zu, dass Lacy heute Abend atemberaubend aussah. Das strahlende Blau stand ihr, und die Entscheidung, keine Ohrringe zu tragen, war mutig, aber richtig gewesen. Verglichen mit Malcolm Morgans eleganter Witwe wirkten alle anderen Frauen fast ordinär.

Aber wann sah Lacy Morgan nicht perfekt aus? Seit zehn Jahren gab sie Gwen das Gefühl, ein hässliches Entlein zu sein, das nie richtig angezogen war. Manchmal war Gwen sich geradezu unsichtbar vorgekommen. Jetzt drehte sie den Scheinwerfer ein wenig nach links, bis der Lichtstrahl auf Lacys exquisit frisiertes Haar fiel. Makellos wie immer, dachte sie und strich sich über ihre widerspenstigen, ewig zerzausten Locken. Vor Jahren hatte sie einmal versucht, sie glatt zu bügeln, und sich dabei die Kopfhaut verbrannt.

Die Nonnen des Nobelinternats, in dem Gwen damals eingekerkert war, hatten ihren Vater angerufen. Er war wütend gewesen, dass man einen so viel beschäftigten Mann wie ihn mit einer solchen Lappalie behelligte. “Lass diese Experimente”, hatte er gebellt. “Du bist schon problematisch genug. Also verschone wenigstens deine Haare.”

Problematisch. Selbst mit dreizehn hatte sie gewusst, dass das nur eine Umschreibung für ‘enttäuschend’ war. Alles an ihr enttäuschte ihn – vom Haar bis zu den Schulnoten, vom miserablen Aufschlag beim Tennis bis zu ihrer hartnäckigen Akne. Und besonders problematisch war ihre Angewohnheit, immer dann im Weg zu sein, wenn ihr Vater mit der schönen Lacy allein sein wollte.

Lacy Mayfair Morgan. Ihre Stiefmutter. Die junge Braut ihres Vaters. Ein Braut, die nur fünf Jahre älter als Gwen war. Eine Braut, die zwar auf der falschen Seite der Stadt geboren worden war, an der jedoch nichts an ihre unfeine Herkunft erinnerte.

Gwen beobachtete, wie Lacy sich von dem Typen im Smoking abwandte, um mit einem der anderen Geldsäcke im Pinguin-Look zu reden. Plötzlich bekam sie große Lust, den eleganten Nackenknoten ihrer Stiefmutter mit etwas zu bewerfen – einem mit Wasser gefüllten Luftballon, zum Beispiel.

Ach, nein. Wozu? Lacy würde selbst so eine Szene selbstsicher überstehen. Gwen sah, wie ihre Stiefmutter außer Reichweite schlenderte, und seufzte gereizt. Ausgerechnet jetzt musste Teddy Kilgore an ihrem Nabelring herumfummeln. Sie packte seinen Daumen und drückte kräftig zu.

“Wenn du das nicht sofort lässt, breche ich dir jeden Finger einzeln”, flüsterte sie scharf.

Hier oben war es zu dunkel, als dass er ihren drohenden Blick hätte sehen können, aber sie funkelte ihn trotzdem an. Mit einundzwanzig war Teddy Kilgore zwei Jahre jünger als sie, ein Musterstudent, der Arzt werden wollte und der Augapfel seiner snobistischen Mutter war. Und unglaublich langweilig. Aber seit Gwen zum ersten Mal mit einem BH aus dem Internat nach Hause gekommen war, versuchte Teddy, bei ihr zu landen.

Manchmal gefiel es ihr, manchmal nicht. Im Moment wünschte sie, er würde sich noch ein Bier holen. Dann würde er vielleicht einschlafen, und sie könnte sich endlich darauf konzentrieren, die Stiefhexe zu beobachten.

Außer Teddy wusste niemand, dass Gwen wieder in der Stadt war. Irgendwann würde sie sich natürlich zeigen müssen. Schließlich brauchte sie einen Platz zum Schlafen. Und einen Vorschuss auf ihren monatlichen Scheck, den nur Lacy ihr geben konnte. Aber erst wollte sie diese wenigen Minuten genießen, in denen sie sich ihrer Stiefmutter überlegen fühlen konnte.

“Verdammt, Teddy”, wisperte sie. Der junge Mann hatte ihren kleinen goldenen Nabelring zwischen die Zähne genommen. Wenn sie ihn wegstieß, würde es sie einen Streifen Haut kosten, also griff sie in sein seidiges schwarzes Haar und ballte die Hand zur Faust. “Das tut weh.”

Er hob den Kopf und machte einen Schmollmund, den er wahrscheinlich für sexy hielt. “Ach, komm schon. Wenn du nicht willst, dass Männer damit spielen, warum trägst du ihn dann?”

“Du sagst es, Teddy”, erwiderte sie, ohne ihren Griff zu lockern. “Männer. Leider fällst du nicht in diese Kategorie.”

“Schade.” Er versuchte, die Enttäuschung zu überspielen, drehte sich auf den Bauch und wedelte mit den Fingern vor dem Scheinwerfer herum. “Schau mal”, sagte er. “Ich kann Schattenfiguren auf den Vorhang werfen.”

Gwen folgte seinem Blick und kniff die Augen zusammen. Auf den Stoffbahnen hinter dem Podium tanzte etwas, das aussah wie eine Kreuzung aus dem Osterhasen und einem Tyrannosaurus Rex.

Teddy schmunzelte zufrieden. “Sieh hin. Das hier habe ich aus der Schule. Es sind zwei Leute mit …”

“Psst!” Gwen hielt seine Finger fest und presste sie an ihr pinkfarbenes, mit Strass besetztes T-Shirt. Lacy war wieder in der Nähe und unterhielt sich mit jemandem, den Gwen nicht erkennen konnte. Ihr war, als hätte sie gerade ihren Namen gehört.

“Was?”

“Sei still!”, fauchte sie Teddy an.

“… lebt sie in Boston, nicht wahr?”, fragte die unbekannte Stimme und klang, als wäre Boston ein wahrer Sündenpfuhl. Offenbar ein typischer Pringle-Island-Snob. Gwen kannte die Sorte. Ihr Vater war der schlimmste gewesen. “Wir konnten es kaum glauben, als wir erfuhren, dass Gwen im Haushalt eines Arztes wohnt … als Au-pair-Mädchen!”

“Ja”, erwiderte Lacy ruhig. “Ich glaube, das stimmt.”

“Oh, Lacy, meine Liebe.” Jetzt erkannte Gwen die Stimme, in der gekünsteltes Mitgefühl lag. Sie gehörte Jennifer Lansing, der größten Klatschtante der Stadt. “Ich weiß, wie du dich fühlen musst. Ein Kindermädchen! Nach allem, was du und Malcolm für sie getan habt, arbeitet sie als … eigentlich nur ein besserer Babysitter, nicht? Bestimmt dreht Malcolm sich im Grab um.”

Lacy lachte. “Er hätte sicher Verständnis dafür. Sie ist doch noch jung und hat viel Zeit, sich einen richtigen Beruf zu suchen.”

Jennifer schnalzte mit der Zunge. “Sie ist nur ein paar Jahre jünger als du, Lacy, und … Nun ja, natürlich ist der Vergleich unfair, nicht wahr? Wenigstens jobbt sie nicht mehr als Kellnerin im Honeydew Café. Wenn ich an diese hautengen Tops denke … Besser Babys als lüsterne alte Männer, die ihre Hände nicht bei sich behalten können, nehme ich an.”

Lacy neigte den Kopf. “Ja, da hast du sicher recht. Aber da wir gerade von Babys reden, hast du den hübschen Verengeti gesehen, der für die Auktion gespendet wurde? Ich könnte ihn mir sehr gut in deinem Wintergarten vorstellen. Nicht jeder hat einen so stilvollen Raum, um ein solches Gemälde zur Geltung zu bringen, aber …”

Mühsam unterdrückte Gwen ihren Zorn, als Lacy Jennifer davonführte. Diese selbstgerechten Snobs! Was war daran schlecht, als Kindermädchen zu arbeiten? Nur weil keine von beiden eigene Kinder hatte … Und was das Honeydew Café anging – na ja, Jennifer Lansing war so dürr und knochig, dass man sie dafür bezahlen würde, kein enges Top zu tragen.

Erst als Teddy protestierte, merkte Gwen, dass sie seine Finger noch immer festhielt. “He! Entspann dich!”

Sie sah ihn an. “Entschuldigung”, murmelte sie und wahrte nur mühsam die Fassung. Am liebsten hätte sie ihre Wut hinausgeschrien. Ihr Vater mochte aus Lacy einen gehorsamen kleinen Robotersnob gemacht haben, aber bei seiner Tochter war ihm das nicht gelungen.

Teddy musste ihren Blick falsch gedeutet haben, denn seine Augen wurden groß, und er beugte sich mit kussbereit gespitzten Lippen zu ihr. Seine unbeholfene Umarmung beförderte sie beide direkt vor den Scheinwerfer. Geblendet vom grellen Licht schloss Gwen die Augen. Plötzlich wurde ihr klar, dass ihre und Teddys Umrisse sich auf dem Vorhang hinter dem Podium abzeichneten – wie ein nicht jugendfreies Schattenspiel.

Eine ziemlich drastische Art, ihre Ankunft auf Pringle Island bekannt zu geben. Aber plötzlich fand Gwen Gefallen an der Vorstellung, ihre Stiefmutter vor allen Leuten zu blamieren. Also hörte sie auf, sich zu wehren, und ließ zu, dass Teddy seine Lippen auf ihre presste.

Mal sehen, wie die Stiefhexe damit fertig wird, dachte sie hämisch. Eins hatte sie in all den Jahren immer wieder festgestellt – wenn es etwas gab, das ihre frigide kleine Stiefmutter nervös machte, dann war das Sex.

Während sie Teddy, der sein Glück gar nicht fassen konnte, ihren Hals darbot, erinnerte sie sich daran, was für eine kalte, passive und widerwillige Ehefrau Lacy Mayfair ihrem Vater gewesen war.

Vermutlich kannte sie so etwas wie Leidenschaft nur aus dem Kino – wenn überhaupt.

Sie strich immer wieder über Teddys Rücken und wand sich unter ihm. Um unten Aufsehen zu erregen, bedurfte es schon einiger Übertreibung. Teddy reagierte begeistert. “Na, endlich”, murmelte er atemlos und nutzte die lang ersehnte Gelegenheit.

Eigentlich küsste er gar nicht mal so schlecht. Wenn sie nicht mit den Gedanken woanders gewesen wäre, hätte sie es vielleicht sogar genossen. Ihre Mühe wurde bald belohnt. Kaum eine Minute später drangen erstaunte Ausrufe nach oben. Immer mehr Gäste bemerkten das seltene Schauspiel auf dem Vorhang, und aus dem höflichen Partygeplauder wurde ein halb amüsiertes, halb entrüstetes Getuschel.

Gwen schob die Finger in Teddys Haar, drehte seinen Kopf ein wenig zur Seite und schaute über seine Schulter nach unten. Die meisten Leute starrten gebannt auf die Leinwand hinter der Bühne. Manche lächelten heimlich, andere pressten reich beringte, tadellos manikürte Finger auf offene Münder.

Nur eine Frau schien zu ahnen, was hier vor sich ging. Sie war die Einzige, die nicht zur Bühne starrte, sondern nach oben, zum Scheinwerfer schaute. Direkt zu den beiden Schattenspielern hinauf.

Natürlich war es Lacy. Ihr anmutiges Gesicht war blass und so ausdruckslos wie immer, aber Gwen wusste, wie schockiert sie sein musste.

Gwen schob Teddys Schulter zur Seite und grinste ihrer Stiefmutter zu. Dann zwinkerte sie spöttisch.

Reiß dich zusammen, um Himmels willen, hatte ihr Vater immer gesagt. Ist dir noch nie aufgefallen, dass Lacy sich niemals zum Gespött der Leute macht?

Ja, dachte sie boshaft, bis jetzt.

2. KAPITEL

Zwei Stunden später war Lacy mit den Nerven am Ende. Die Versteigerung lief hervorragend, und die Band spielte noch immer Songs, in denen das Wort ‘Baby’ vorkam. Vor einem Monat bei der Planung dieser Veranstaltung hatte sie das noch für eine lustige Idee gehalten.

“Baby, I’m Yours.” “Be My Baby.” “Baby, Come Back.” “Walking My Baby Back Home.” Wie war sie nur auf diesen idiotischen Einfall gekommen? Und dann noch all diese gemalten Babys – schlafende Babys, Babys beim Stillen, weinende Babys, Babys in den Armen liebevoller Mütter. Plötzlich fand Lacy die ganze Sache ermüdend.

Vielleicht lag es an Gwens provozierendem Auftritt. Lacy konnte nur vermuten, wie groß Gwens Hass sein musste, um sie derart zu brüskieren. Einen Moment lang war Lacy wie gelähmt gewesen. Wie reagierte man auf eine derartige Unverschämtheit? Aber dann hatte sie kurz geschmunzelt und laut verkündet, dass ihre Stieftochter sich offensichtlich einer Theatergruppe angeschlossen hatte. Danach hatte sie leise applaudiert. Auch andere Gäste hatten geschmunzelt und sich dem Applaus angeschlossen, den die beiden jungen Leute mit verlegenen Gesichtern entgegennahmen.

Die Katastrophe war abgewendet.

Trotzdem, es hatte sie viel Kraft gekostet. Gwen war ihr für den Rest des Abends aus dem Weg gegangen, aber sie wusste, dass die Konfrontation unausweichlich war. Gwen kehrte nur auf die Insel zurück, wenn sie etwas wollte. Lacy konnte es ihr nicht verdenken.

Aber für einen Abend war das einfach zu viel: Adams Auftauchen und Gwens ewige Verbitterung. Lacy hatte Kopfschmerzen und wünschte, sie könnte nach Hause gehen, unter die Bettdecke kriechen und eine Woche lang schlafen.

Doch als Vorsitzende des für die Spendensammlung zuständigen Komitees musste sie bleiben, bis der letzte Zuschlag erteilt, das letzte Champagnerglas geleert und der letzte Spender aus der Tür war.

Aber Lacy brauchte jetzt unbedingt ein paar Minuten für sich allein. Verstohlen schaute sie sich um, ob sie jemand beobachtete. Doch die Gäste verfolgten die Auktion mit großem Interesse – niemand würde bemerken, wenn sie kurz verschwand. Mit angehaltenem Atem huschte sie in eine kleine Kammer am Ende des Gangs, deren Tür halb hinter einer Reihe von Farnen verborgen lag. Für einen richtigen Ausstellungsraum war sie zu schmal, deshalb hingen hier nur zwei Bilder. Die meisten Gäste wussten vermutlich gar nicht, dass es sie gab.

Lacy tat so, als würde sie das größere der beiden Gemälde betrachten. Es hatte ihrem verstorbenen Mann gehört. Sie war nicht sicher gewesen, ob sie es für die Auktion stiften sollte. Ein Bild wegzugeben, das man hässlich fand, war nicht besonders wohltätig. Sie fragte sich, ob jemand es ersteigern würde. Es stammte von einem recht angesehenen Künstler aus den Südstaaten, aber sie hasste es.

Samstagmorgen: Nach dem Paradies hatte der Maler es genannt. Es zeigte einen sonnigen Sommertag an einem Flussufer. Im Vordergrund lag ein Liebespaar in erotischer Umarmung auf einer blau karierten Picknickdecke. Im Hintergrund, am Rand der Decke und dicht am Wasser, lag vergessen ein schlafendes Baby.

Malcolm hatte das Bild ein Jahr nach ihrer Heirat gekauft und es so aufgehängt, wo es nicht zu übersehen war. Lacy hatte ihm nie gesagt, was sie davon hielt. Warum auch? Er hatte sie nie nach ihrer Meinung gefragt.

“Falls du dich unsichtbar machen willst, empfehle ich dir ein anderes Kleid.” Die Farne raschelten, und plötzlich stand Adam Kendall in dem kleinen Raum direkt hinter ihr. Er berührte ihren Arm. “Etwas weniger Auffälliges. Diese blaue Seide leuchtet ja geradezu.”

Sie drehte sich um. Seine breiten Schultern blockierten die Tür. Schlagartig erinnerte sie sich daran, dass dieser Raum deshalb so eng war, weil hier früher Stuten gedeckt worden waren. Hier konnten sie dem Hengst nicht ausweichen.

Sie wehrte sich gegen die aufsteigende Panik. Adam hatte sie gefunden. Sie hatte immer gewusst, dass es geschehen würde. Früher hatte sie sich danach gesehnt, davon geträumt und es sich bis ins kleinste Detail ausgemalt. Jetzt wollte sie es nur so schnell wie möglich hinter sich bringen.

“Zehn Jahre”, sagte sie halb zu sich selbst. “Zehn Jahre, seit wir uns zuletzt gesehen haben, und wir reden über Kleidung.”

Ein Lächeln umspielte seinen Mundwinkel, während er über die Seide strich. “Ich finde das keineswegs so belanglos. Zwischen den Zeilen zu lesen ist eine aussterbende Kunst, findest du nicht auch?”

Wie konnte sie vorgeben, ihn nicht zu verstehen? Und in gewisser Weise hatte er ja recht. Ihre Kleidung war wirklich symbolisch, oder? Seine alten Jeans mit den abgewetzten Knien und das mit Rostflecken übersäte T-Shirt hatten Armut, Hunger und Ehrgeiz verraten. Der nagelneue Smoking signalisierte Luxus, Erfolg, Zufriedenheit. Aber das schäbige T-Shirt hatte so herrlich nach Seife und Sonnenschein gerochen. Und nach ihm. Jedes Mal, wenn sie es ihm damals über die Schultern und den Kopf zog, presste sie es sich gegen das Gesicht und atmete seinen Duft tief ein, bevor sie es zur Seite warf.

Vor zehn Jahren war sein zerzaustes, aber seidiges schwarzes Haar ein Ausdruck von Rebellion, Trotz und Eigensinn gewesen. Jetzt strahlte diese elegante, sorgfältig arrangierte Frisur Sex, Macht und Selbstbewusstsein aus. Die ungebändigten Wellen waren ihm immer in die Augen gefallen, wenn er über sie glitt und den Kopf auf ihre Brüste senkte. Und wenn er sie küsste, streichelten sie ihre Haut.

Lacy musterte ihn, von den gestrafften Schultern bis zu den glänzenden Manschettenknöpfen, von der perfekt gebundenen Krawatte bis zur arrogant hochgezogenen Augenbraue.

Aber was war das? Eine Narbe? Unterhalb seines rechten Auges glitzerte ein schmaler Strich, der aussah, als hätte jemand den Wangenknochen mit einem dünnen Silberstift nachgezogen. Oder mit einer Messerklinge. Sie starrte auf die Narbe, den einzigen Makel an seiner perfekten Erscheinung. Den einzigen Beweis dafür, dass die zehn Jahre ohne sie nicht nur voller Erfolg und Lachen, Wohlstand und Frauen und Luxus gewesen waren.

“Woher hast du diese Narbe?” Sie sah ihm in die Augen. Warum stellte sie ihm nach all den Fragen, die sich in einem Jahrzehnt des Schweigens in ihr aufgestaut hatten, ausgerechnet diese?

“Das ist vor vielen Jahren passiert. Eine Explosion. Etwa einhundert fingerlange Glassplitter wollten sich unbedingt in meinem Gesicht verewigen.” Seine Stimme klang so beiläufig, als würde er über das Wetter reden. “Einer davon hat es auch geschafft.”

“War es ein Arbeitsunfall?” Sie widerstand der Versuchung, die Narbe zu berühren. “In der Raffinerie? Ich erinnere mich, dass es ein gefährlicher Job war …”

Er lächelte matt. “Sie zahlen einem keine Gefahrenzulage, wenn man am Schreibtisch sitzt. Und genau deshalb habe ich den Job gemacht, oder? Wenn ich mich recht erinnere, wollte ich so schnell wie möglich reich werden, um nach Hause kommen zu können.” Er zuckte mit den Schultern. “Damals war mir das ziemlich wichtig.”

Sie schluckte schwer, denn sie erinnerte sich nur zu gut. “Aber eine Explosion … Du hättest …”

Autor

Kathleen Obrien
Mehr erfahren
Kathleen Obrien
Mehr erfahren