Speechless - sprachlos

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Einen Monat lang schweigen. Einfach mal nicht reagieren, nicht reden. Könntest du das?

Neuigkeiten verbreiten, über andere reden - Gossip-Girl Chelsea liebt es. Als sie auf einer Party Zeugin einer intimen Situation wird, erzählt sie natürlich allen davon. Mit schrecklichen Folgen: Ihr Klassenkamerad Noah wird so zusammengeschlagen, dass er im Koma landet; die Polizei ermittelt; Chelsea wird von allen gemieden. Um ihren Fehler nicht zu wiederholen, legt sie ein Schweigegelübde ab, genau wie der buddhistische Mönch, über den sie gelesen hat. Einen Monat will sie schweigen, in der Schule und zu Hause. Manche hassen sie dafür - aber plötzlich öffnen sich in ihrer stillen Welt Türen: zu einem wunderbaren Jungen, zu Menschen, die ihr verzeihen könnten. Vorausgesetzt, sie kann sich selbst verzeihen.


  • Erscheinungstag 11.11.2013
  • ISBN / Artikelnummer 9783862789030
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Hannah Harrington

Speechless – [Sprachlos]

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Iris Homann

Für Paula

Wie der National Geographic unabsichtlich mein Leben verändert

Geheimnisse für mich zu behalten, ist nicht mein Spezialgebiet. War es noch nie. Spätestens seit der Vorschule, als ich herausfand, dass Becky Swanson in Tommy Barnes verknallt war. Innerhalb von fünfzehn Minuten habe ich es damals geschafft, die Info an die ganze Klasse durchsickern zu lassen – einschließlich Tommy. Im Rückblick eine ziemlich beeindruckende Leistung, vermutlich bis heute immer noch meine Bestzeit. Das war vor zehn Jahren.

Mein jetziges Geheimnis ist so dermaßen viel aufregender als damals, dass ich beinah platze.

„Hörst du endlich auf, mich auf die Folter zu spannen?“, fragt Kristen. Wir sind in ihrem Zimmer. Ich helfe ihr gerade dabei, ihr Outfit für heute Abend auszusuchen. Ein langwieriger Prozess, wenn man einen so riesigen Kleiderschrank hat wie sie. „Das nervt. Sag’s mir einfach.“

Kristen ist kein geduldiger Mensch, und anscheinend habe ich den Bogen überspannt. Seit zwanzig Minuten spiele ich auf meine Neuigkeiten an, ohne dabei etwas preiszugeben. Natürlich werde ich es ihr sagen. Sie ist meine beste Freundin, und ich kann es nicht für mich behalten, ohne dass sie richtig sauer wird. Und eine übellaunige Kristen ist kein Spaß. Trotzdem – bei ihr habe ich so selten die Oberhand, dass ich sie einfach noch ein bisschen hinhalten muss.

„Ich weiß nicht“, meine ich unschuldig. „Ich bin nicht so sicher, ob du damit umgehen kannst …“

Sie dreht sich vom Wandschrank um, den sie eben noch durchwühlt hat, und bewirft mich mit einer schwarzen Ledersandale. Lachend halte ich die Hände vors Gesicht, während der Schuh gegen meinen Arm prallt und auf die Matratze fällt. Kristen stemmt eine Hand in ihre schlanke Hüfte und legt den Kopf schief, ihr glänzendes, schulterlanges blondes Haar schwingt bei der Bewegung mit.

„Du bauschst das viel zu sehr auf“, beschwert sie sich. Sie zerrt ein glitzerndes rotes Top aus dem Schrank, bevor sie sich wieder mir zuwendet. „Was auch immer es ist, ich wette, es ist total lahm.“

„Tja, wenn das so ist, behalte ich es eben für mich.“ Als sie mich wütend anfunkelt, lächele ich nur und rate ihr: „Zieh das nicht an! So wie das geschnitten ist, sieht es aus wie etwas aus der Umstandsmodenabteilung.“

Also hängt sie das Top zurück. Dann kommt sie zum Bett und lässt sich bäuchlings neben mich fallen. „Spuck’s aus“, jammert sie. Ihre vorherige Kälte verwandelt sich beinahe in Verzweiflung. Mehr Kriecherei geht bei ihr nicht. „Sonst lade ich dich für die Party aus.“

Die Drohung kann sie nicht ernst meinen. Kristen weiß, dass ich mich seit über einem Monat auf ihre Silvesterparty freue. Sie hat sogar geholfen, die Lügengeschichte für meine Mutter zusammenzuspinnen, damit ich dabei sein kann. Und zwar trotz des Hausarrests, den meine Eltern mir aufgebrummt haben, nachdem sie mein letztes Zeugnis gesehen haben. Als bräuchte ich jemals im Leben Geometrie.

Obwohl Kristen manchmal … empfindlich sein kann, würde sie mir so etwas nie antun und mich niemals von der Party ausladen. Trotzdem beschließe ich, lieber nachzugeben, statt sie länger auf die Probe zu stellen.

„Okay, okay“, lenke ich ein. „Ich erzähl’s dir.“

Sie grinst mich breit an und rutscht näher heran. Ich genieße es, wenn ich wie jetzt ihre volle Aufmerksamkeit bekomme. Kristen ist schnell gelangweilt. Sobald sie sich wirklich mal auf mich konzentriert, fühle ich mich, als würde ich etwas richtig machen. Schließlich ist sie eine der beliebtesten Schülerinnen im zehnten Jahrgang, wenn nicht die beliebteste überhaupt. Falls man sich für diesen Kram interessiert, und das tue ich. Sie ist es gewohnt, dass alle um sie herumscharwenzeln, um es auf ihre Seite zu schaffen. Seit fast zwei Jahren stehe ich jedenfalls schon in ihrer Gunst, und das soll auch so bleiben.

Also sollte ich das hier besser nicht vermasseln.

„Ich war doch heute mit Megan unterwegs, weil sie meine Beratung beim Schuhkauf gebraucht hat“, fange ich an. „Außerdem wollte sie mit mir über Owen lästern, weil er sie letztes Wochenende fies versetzt hat. Die beiden streiten sich ständig, und sie überlegt, ob sie mit ihm Schluss machen soll.“

Kristen zieht die Mundwinkel herunter. „Aaach, gähn. Weiß ich schon.“

„Ich bin noch nicht fertig“, versichere ich ihr. „Jedenfalls hat Megan ihre Freundin Tessa Schauer mitgebracht, die … Egal. Sie nervt, aber ich komme mit ihr klar. Wir shoppen eine Weile, und alles ist gut. Plötzlich fällt mir ein, dass ich Mom wegen der Sachen in der Wäscherei anrufen muss. Nur blöderweise habe ich mein Handy nicht aufgeladen, und der Akku ist leer. Ich frage Tessa also, ob ich ihr Telefon benutzen kann, sie gibt es mir und geht weg. Nachdem ich Mom angerufen habe, will ich es ihr schon zurückgeben. Aber dann beschließe ich, vorher ihre Fotos durchzugucken, weil ich doch so neugierig bin, und …“ Um die Spannung zu steigern, lege ich eine Kunstpause ein.

„Und …?“, drängelt Kristen. Sie hängt mir förmlich an den Lippen.

„Und“, fahre ich fort, „auf dem ersten Bild entdecke ich Tessa. Mit Owen. Sie scheinen sehr … sagen wir … innig zu sein.“

Ihre Augen werden groß. „Wie innig?“, fragt sie.

Ich grabe mein Handy aus der Tasche und werfe es ihr zu. „Schau selbst.“

Belustigt beobachte ich, wie sie an meinem Telefon herumfummelt und sich durch die Nachrichten scrollt. „Ohne Scheiß“, sie schnappt nach Luft, „du hast dir die Bilder geschickt?“

„Was denn sonst?“

„Merkt Tessa das nicht?“

Ehrlich gesagt ist diese Frage fast eine Beleidigung. Natürlich habe ich vorausgedacht, ich bin doch keine Anfängerin. „Ich habe die gesendeten Nachrichten gelöscht“, erkläre ich. „Sie hat keinen Schimmer.“

„Das ist …“ Kristen schweigt, dann grinst sie mich an. „Das ist absolut genial.“

Ich nehme ihr das Handy wieder ab und betrachte das Display. Von einem hohen Winkel aufgenommen, blickt mir Tessas und Owens Selbstporträt entgegen. So schäbig. Nicht nur das Bild an sich. Oder dass Owens Mund so weit geöffnet ist, dass ich sogar seine Zunge in Tessas Mund sehen kann (bäh, bäh, bäh!). Aber hinter dem Rücken der angeblich besten Freundin mit deren Lover rummachen? Das ist einfach nur niveaulos. Nicht in tausend Jahren würde ich etwas mit Kristens Freund Warren Snyder anfangen, solange sie mit ihm zusammen ist. Okay, ich würde sowieso nie etwas mit ihm anfangen, fertig. Und zwar, weil er ein Ekelpaket ist, aber das ist ein anderes Thema. Der Punkt ist: Einige Dinge sind heilig.

„Was für eine Scheißfreundin“, sage ich zu Kristen. „Nicht zu fassen, dass sie Megan das antut.“ Keine Chance, dass Megan ihr verzeiht, wenn sie es jemals herausfinden sollte. Seit über einem Jahr ist sie mit Owen zusammen, und mit Tessa ist sie wesentlich länger befreundet. Eine ganze Freundschaft in Scherben, nur weil Tessa nicht die Finger von Owen lassen kann. Das ist kein Junge wert. Nicht einmal Brendon Ryan, für den ich eine Menge unmoralische und verrückte Sachen tun würde und der wahrscheinlich die Liebe meines Lebens ist, auch wenn er es noch nicht weiß. Seit unserem ersten Highschool-Jahr haben wir eine wilde, leidenschaftliche, vollkommen einseitige Affäre.

„Tessa Schauer ist eine gemeine Schlampe. Hoffentlich versetzt Megan ihr dafür einen Tritt in den Hintern“, meint Kristen. „Wann sagst du es ihr?“

„Wahrscheinlich heute Abend.“ Megan und Tessa wollen beide zur Party kommen. Also werde ich eine Gelegenheit abpassen, Megan allein zu erwischen und ihr die Nachricht zu überbringen. Trotz meiner verwischten Spuren wird Tessa klar sein, dass ich dahinterstecke. Aber egal. Wen kümmert’s? Mit dem Freund der besten Freundin rumzumachen ist viel schlimmer, als die Handys anderer Leute auszuspionieren. Niemand wird Mitleid mit ihr haben.

Kristen steht vom Bett auf, stellt sich vor den Ganzkörperspiegel und dreht die Spitzen ihrer perfekten Haare. „Du könntest auch ein bisschen Spaß dabei haben“, überlegt sie laut.

„Wie denn?“ Ich setze mich auf.

„Wenn du Tessa erzählst, was du über sie und Owen herausgefunden hast, würde sie bestimmt so ziemlich alles tun, damit du Megan nichts weitersagst.“

„Du meinst, ich soll sie erpressen?“, frage ich stirnrunzelnd. „Ich weiß nicht …“

„Ich will damit nur sagen“, fährt Kristen fort, „es ist eine Tatsache, dass sie einen gefälschten Ausweis besitzt. Letzte Woche hat sie förmlich um Aufmerksamkeit gebettelt und ihn im Unterricht jedem gezeigt, der ihn sehen wollte. Vielleicht kannst du sie davon überzeugen, dass wir auch zwei davon gebrauchen können.“

Interessante Idee. Nur …

„Was sollen wir denn mit gefälschten Ausweisen?“, frage ich. Natürlich ist Alkohol kaufen die naheliegende Antwort. Aber während Kristen mit dem richtigen Push-up-BH und hochhackigen Schuhen als Einundzwanzigjährige durchgehen könnte, würde das bei mir nie klappen. Ich bin noch nicht so weit … entwickelt wie sie.

„Naja, ich könnte zum Beispiel mit Warren ins Rave gehen“, sagt sie. „Um reinzukommen, muss man nur achtzehn sein.“

Das Rave ist ein Club in Westfield, der nächsten Stadt. Letzten Monat ist Warren achtzehn geworden und hat dort gefeiert, zwei Wochen später hat er immer noch davon geredet. Zugegeben, ich wüsste gern, worum dieser ganze Wirbel gemacht wird.

Und wenn es Kristen wichtig ist, ist es mir auch wichtig.

„Ich werde sehen, was ich tun kann“, verspreche ich ihr. Aus der Art, wie sie mich anlächelt, schließe ich: Genau das wollte sie hören.

Sechs Stunden später

Ich habe keine Ahnung, wie ich mich da wieder herausreden soll.

Mein Handy klingelt hartnäckig, als wüsste es, dass ich es am liebsten ignorieren würde. Ein Blick auf das Display bestätigt meinen nahenden Untergang. Wie um mich zu verhöhnen, blinken die Buchstaben MOM auf. Mist.

Kristen boxt mir ihren Ellbogen in die Rippen. „Wer zum Teufel ruft dich an?“, will sie wissen. „Alle wichtigen Leute sind schon hier.“

Es stimmt, die Party ist in vollem Gange. Die Hälfte aller Schüler der Grand Lake High drängt sich in dem Raum – jedenfalls die wichtige Hälfte. Laute Musik dröhnt aus den Boxen. Dass Kristen Courteau die besten Partys schmeißt, ist kein Geheimnis. Sturmfreie Bude und ein Bruder, der kein Problem darin sieht, Minderjährige mit Alkohol zu versorgen, dazu ein großes Haus mit einer erstklassigen Musikanlage, mehr kann ein Haufen feierwilliger Sechzehnjähriger kaum wollen.

Ich sitze auf dem Sofa, eingequetscht wie eine Sardine zwischen Kristen und Brendon Ryan. Brendon Ryan ist der letzte Mensch auf der Welt, der wissen darf, dass meine Mutter mir hinterhertelefoniert.

„Das ist meine Mutter“, erkläre ich Kristen. Um mich über den Lärm hinweg verständlich zu machen, lehne mich so dicht wie möglich zu ihr hinüber. Hoffentlich ist Brendon mit seinem Bier beschäftigt und bekommt nichts mit. „Wenn ich nicht rangehe, wird sie stinksauer.“

„Dann geh ran“, sagt Kristen, als wäre das so einfach.

„Damit sie das hier hört?“ Ich schüttele den Kopf. „Sie würde mich umbringen!“

„Gut, dann geh eben nicht ran.“ Kristen verdreht die Augen und kippt den Rest ihres Drinks herunter. Irgendwie schafft sie es, sogar dabei gut auszusehen. „Ich hol noch ein Bier“, informiert sie mich. Damit schält sie sich aus der Couch, tanzt durchs Zimmer in Richtung Kühlschrank und lässt mich allein mit meinem Problem sitzen. Manchmal kann sie so ein Miststück sein. Wäre sie nicht meine beste Freundin, ich würde sie vermutlich hassen.

Neben mir legt Brendon seine Hand auf meine Schulter und beugt sich zu mir. Normalerweise wäre ich begeistert, a) weil Brendon Ryan mich anfasst, b) weil er mir so nah ist, dass ich ihn riechen kann und c) WEIL BRENDON RYAN MICH ANFASST OH MEIN GOTT (!!!). Aber wegen meiner Panik kann ich den Moment kaum genießen. Außerdem stinkt er heute nach Bier und süßlichem Aftershave, was mich enttäuscht, denn ich hatte angenommen, ein perfektes Wesen wie Brendon Ryan würde nach Frühlingsregen, Bergluft und anderen himmlischen Dingen duften.

„Hey“, sagt er. Sein warmer Atem streift mein Ohr. Oh ja, das reicht, um meinen sowieso schon rasenden Puls auf Schallgeschwindigkeit hochzujagen. „Im Flur ist es bestimmt leiser.“

Es ist ein wirklich simpler Vorschlag, aber in diesem Augenblick kommt Brendon mir vor wie ein amtlich beglaubigtes Genie. Vielleicht liegt es daran, dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann, sobald ich auf zwei Meter an ihn herankomme. Okay, möglicherweise hilft der Jell-O-Shot auch nicht gerade, den ich vor zehn Minuten weggekippt habe.

„Ja“, quetsche ich schließlich heraus, als mir aufgeht, dass ich in den letzten Sekunden nur mit offenem Mund in seine hirnschmelzenden, haselnussbraunen Augen gestarrt habe. Wie die liebeskranke Vollidiotin, die ich ja auch bin. „Gute Idee.“

Ich stemme mich aus dem Sofa, stolpere an einer Gruppe halb nackter Neuntklässlerinnen vorbei, die sich zu irgendeinem nervigen Elektro-Remix verrenken. Ich laufe weiter bis zum Ende des Flurs. Natürlich sind die Vibrationen von den wummernden Bässen aus der Hi-Fi-Anlage bis hierher zu spüren. Mein Handy hat vor einer Weile aufgehört zu klingeln. Großartig. Jetzt muss ich mir auch noch eine Ausrede einfallen lassen, warum ich nicht gleich ans Telefon gegangen bin. Und zwar eine, in der nicht vorkommt, dass ich mit einem Haufen betrunkener Minderjähriger bei einer Silvesterparty bin.

Es ist so bescheuert. Wegen einer einzigen lächerlichen Zensur stellen meine Eltern sich an, als wäre es das Ende der Welt. Eine Vier in Geometrie ruiniert doch nicht mein Leben. Aber sie sehen das natürlich anders. Heute durfte ich Kristen nur deswegen besuchen, weil wir behauptet haben, wir würden auf ihre kleinen Cousins aufpassen. Sollte Mom je herausfinden, was hier wirklich los ist, macht sie mir die Hölle heiß.

Ich öffne den Wandschrank im Flur und verkrieche mich darin. Wenigstens halten die Türen etwas vom Lärm der tobenden Party ab. Wieder klingelt mein Telefon – es ist natürlich Mom. Ich schiebe einen Besen zur Seite, dann nehme ich das Gespräch mit dem unverfänglichsten „Hallo“ an, das ich zustande bringe.

„Chelsea“, begrüßt sie mich. Allein an der Art, wie sie meinen Namen sagt, kann ich mir ihren verkniffenen Gesichtsausdruck lebhaft vorstellen. „Warum hast du eben nicht abgehoben?“

„Ähm …“ Fieberhaft krame ich in meinem Hirn nach der nächstbesten glaubwürdigen Entschuldigung. „Das Handy war ganz unten in der Tasche, und ich hab’s nicht schnell genug gefunden. Du weißt doch, was für ein Schwarzes Loch meine Handtasche ist.“

„Aha“, sagt sie. Ich kann nicht einschätzen, ob sie sich skeptisch anhört oder ob ich nur paranoid bin.

Während ich die Schranktür im Auge behalte, hocke ich mich auf die Kante eines Pappkartons. „Was gibt’s denn?“

„Ich wollte dich nur fragen, ob du auf dem Nachhauseweg morgen einen Liter Milch kaufen kannst.“ Einen Moment schweigt sie. „Wie klappt das Babysitten?“, erkundigt sie sich dann.

„Super“, antworte ich, und natürlich ist genau in dem Moment im Flur ein krachendes Geräusch zu hören. Ich zucke zusammen und presse eine Hand auf die Stirn. Es könnte kaum besser laufen.

„Was war das?“

Sofort habe ich mich wieder gefangen. „Ach, eins der Kids macht gerade Ärger“, sage ich. „Wahrscheinlich hätten wir ihnen nach dem Essen nichts Süßes geben sollen. Überzuckerung.“ Ich lache und hoffe, es hört sich nicht zu gezwungen an. „Ehrlich gesagt, ich glaube, ich sollte besser Kristen helfen, bevor sie das Haus auseinandernehmen.“

„Okay“, sagt Mom derart nichtsahnend, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme. Aber nur kurz. Dann bin ich einfach nur erleichtert, weil sie mir die Geschichte abnimmt. „Denk dran, morgen die Milch mitzubringen.“

„Richtig. Die Milch. Alles klar.“ Ich muss dieses Gespräch so schnell wie möglich beenden, bevor irgendetwas mich verrät. „Wir sprechen uns später, ja?“

„Gute Nacht, mein Schatz“, sagt Mom noch, dann legt sie auf, und ich bin befreit.

Oder fast. Ich winde mich aus dem Wandschrank und schließe die Tür, ziehe meinen Rock glatt und fahre mir mit den Händen durch die Haare. Zwei Stunden habe ich mit dem Glätteisen gekämpft, um sie zu plätten, und jetzt werden sie schon wieder wuschelig und widerlich. Toll. Ich versuche, sie so gut wie möglich zu ordnen, und verfluche zum millionsten Mal meine Gene, die mich nicht mit so glattem, seidigem Haar beglückt haben wie Kristen.

„Chelsea?“

Ich fahre herum und erblicke Tessa, wie sie dasteht und mich mit hochgezogenen, übermäßig gezupften Augenbrauen anglotzt. Normalerweise betrachtet Tessa mich anerkennend, manchmal auch etwas ängstlich. Aber im Augenblick steht ihr nur freundliche Neugier ins Gesicht geschrieben.

Das gefällt mir nicht.

„Was?“, schnauze ich sie an, und sie zuckt fast unmerklich zusammen. So ist es besser.

Alle Selbstbräunungscreme der Welt könnte nicht vertuschen, wie sie rot wird. „Ich habe mich nur gewundert, was du in dem Schrank machst“, sagt sie.

„Geht dich nichts an.“ Auf keinen Fall werde ich Tessa wissen lassen, dass ich zu den Losern gehöre, die ihre Eltern für alles um Erlaubnis bitten müssen. Was Tessa betrifft, tue ich, was ich will, wann immer ich will.

„Himmel, du musst mir ja nicht gleich den Kopf abreißen“, sagt sie. „War doch nur eine Frage.“

„Komisch. Ich habe nämlich auch eine Frage an dich“, gebe ich zurück. „Wie fühlt es sich an, der besten Freundin in den Rücken zu fallen?“

„Wovon redest du?“, schnaubt sie verächtlich, aber ich sehe, wie das Schuldbewusstsein in ihren Augen aufflackert. So aalglatt ist sie nicht.

„Ich weiß von dir und Owen“, teile ich ihr mit. Tessa reißt die Augen auf, und ich trete einen Schritt näher. „Hast du wirklich geglaubt, du könntest das geheim halten?“

Verstört weicht sie zurück. „Ich weiß nicht, was du meinst“, schwindelt sie. „Du bist wohl betrunken.“

„Stell dich nicht dumm“, kontere ich. „Was Megan wohl sagt, wenn sie es herausfindet? Ihr Freund und ihre beste Freundin. Wenn das kein Messer im Rücken ist.“

Endlich lässt sie die unschuldige Fassade fallen, vor Wut spannt sie die Kiefer an. „Sie würde dir nie glauben.“

„Fotos lügen nicht“, gebe ich zu bedenken.

Ich kann sehen, wie ihr langsam ein Licht aufgeht. „Du hast in meinem Handy herumgeschnüffelt.“

„Du solltest mit deinen Geschmacklosigkeiten vorsichtiger umgehen“, rate ich ihr grinsend und ziehe mein Telefon aus der Tasche. „Wofür braucht ihr überhaupt die Bilder? Wolltest du die bei Facebook posten und es Megan so herausfinden lassen? Warum spare ich dir nicht die Mühe und leite sie direkt an Megan weiter …“ Mein Daumen schwebt über den Tasten.

Tessa stürzt sich auf das Handy, aber ich reiße die Hand zurück und halte es außerhalb ihrer Reichweite. Wollte sie sich ernsthaft mit mir darum prügeln? Sie ist wirklich ein niederträchtiges Miststück.

Mittlerweile schlägt ihre Wut in Panik um. „Bitte, sag ihr nichts“, fleht sie mich an. „Es war dumm von mir, ich weiß. Aber er hat gemeint, er würde sowieso mit ihr Schluss machen, und es war nur ein paarmal, und …“ Ihre Stimme kippt. „Bitte, du darfst es ihr nicht sagen …“

„Entspann dich“, stutze ich sie zurecht, damit sie bloß mit diesem Geflenne aufhört. Diese Fremdschäm-Nummer macht mich fertig. „Du siehst nur lächerlich aus.“

„Ich weiß, dass du mich nicht magst, Chelsea“, sagt sie, während sie sich eine einzelne Träne unter ihrem Auge abwischt. „Trotzdem, bitte, tu das nicht. Megan ist meine beste Freundin.“

„Vielleicht hättest du dir das überlegen sollen, bevor du ihrem Freund deine Zunge in den Hals gesteckt hast.“

Tessa zieht den Kopf ein. „Das kannst du nicht machen“, wiederholt sie. „Das kannst du einfach nicht.“

„Okay“, sage ich.

„‚Okay?’“, echot sie. Vorsichtiger Optimismus stiehlt sich in ihre Stimme. „Du erzählst ihr also nichts?“

„Nicht, wenn du mir einen Gefallen tust.“

Als ich zurück ins Wohnzimmer komme, knutscht Kristen in einer Ecke mit Warren. Ich brauche mich nicht umzusehen, ich weiß auch so, dass mehr als ein Mädchen neidisch zuguckt. Warren ist im vierten Highschooljahr und der Star des Basketball-Teams. Er ist groß, breitschultrig und hat gerade so viel Bart, dass er älter und erwachsener aussieht, als er ist. Und Kristen ist … tja, Kristen eben. Blond, blauäugig, hat Kurven an den richtigen Stellen und ist schlank an allen anderen. Sie ist so hübsch, dass es wehtut. Neben ihr zu stehen ist immer ein Dämpfer fürs Selbstwertgefühl.

Ich werde nie verstehen, warum Kristen mich so nah an sich herangelassen hat, aber das hat sie. Die gesamte Mittelstufe habe ich in ehrfürchtigem Abstand von ihr verbracht. Bis zur achten Klasse, als wir im Bio-Labor nebeneinander gesetzt wurden. Von da an nahm Kristen nicht nur meine Existenz zur Kenntnis. Irgendwie fing sie im Laufe des Jahres an, mich zu sich einzuladen, mich ins Einkaufszentrum mitzunehmen, mir zwischen den Unterrichtsstunden Zettel zu schreiben, mir beim Mittagessen einen Platz freizuhalten. Ehe ich michs versah, waren wir Freundinnen. Nicht nur Freundinnen, sondern beste Freundinnen.

Es hat seine Vorteile, Kristens beste Freundin zu sein. Alle wissen, wie man heißt. Man wird zu allen Partys eingeladen (oder zumindest zu allen, die es wert sind, dass man daran teilnimmt). Man hat eine feste Clique. Und zwar dieselbe Clique, zu der Brendon Ryan gehört, der mühelos mein Seelenverwandter sein könnte. Wenn er mich jemals wahrnehmen würde.

Ich drehe den Kopf – und da steht er, füllt seinen Becher mit Bier auf, und Natalie Thomas klebt förmlich an ihm. Igitt, Natalie kann ich nicht ausstehen. Sie war vor mir Kristens beste Freundin. Zwar würde sie es mir nie ins Gesicht sagen, aber ich weiß, dass sie es mir insgeheim übel nimmt, dass sie es jetzt nicht mehr ist. Sie ist eine derartige Klette. Außerdem flirtet sie zwanghaft mit allen Typen in einem Radius von zehn Kilometern, egal, ob sie in festen Händen sind oder nicht.

Heute hat sie sich in dieses grelle neonfarbene Glitzerkleid geschmissen, das ihr nur bis knapp unter die Hüfte reicht. Wenn man sie direkt anguckt, bekommt man sofort einen unheilbaren Netzhautschaden. So, so billig. Am liebsten würde ich kotzen.

Brendon Ryan ist zu gut für sie. Brendon Ryan hat Stil. Er trägt trendige Poloshirts oder Freizeithemden mit Pullis darüber. Seine dunkelblonden Haare stylt er so perfekt, dass sie absichtlich zerzaust aussehen. Er ist Vorsitzender vom Schülerrat, und im Unterricht meldet er sich immer erst, bevor er spricht. Statt Kaugummis nimmt er lieber Mint-Pastillen, die er in einem kleinen Döschen mit sich herumträgt. Seit meiner ersten Woche an der Highschool, als er sich im Klassenzimmer zu mir umgedreht und mir mit seinem umwerfenden Lächeln ein Pfefferminzbonbon angeboten hat, bin ich in ihn verliebt. Alles an Brendon trieft vor müheloser Coolness, anders als bei den krampfigen Sporttypen, mit denen Kristen und ich uns sonst abgeben.

Wann Natalie glaubt, sie könnte mir Brendon wegschnappen, ist sie auf dem Holzweg.

Ich marschiere schnurstracks auf die beiden zu und quetsche mich zwischen sie. Das ist zwar ein bisschen eng, aber ich tue einfach so, als bräuchte ich extrem dringend mehr Salzstangen.

„Hi“, sage ich zu Brendon.

„Hi“, antwortet er lächelnd. „Wie war der Anruf?“

„Ich hab’s hingekriegt. Dank dir.“

Natalie lehnt sich zu mir vor, während ich mir eine Handvoll Salzstangen in den Mund stopfe. „Du frisst dich ganz schön voll“, stellt sie fest. „Lass uns auch noch welche übrig.“

„Da kann wohl jemand den Hals nicht vollkriegen“, murmele ich vor mich hin. Ich mustere ihre verpfuschten blondierten Haare, die so schäbig aussehen wie alles an ihr, und füge lauter hinzu: „Wow, Natalie. Ich wusste gar nicht, dass braune Haaransätze diese Saison in sind. Ist Straßenschick wieder angesagt?“

Natalie zieht ein mürrisches Gesicht. „Es überrascht mich, dass du überhaupt eine Meinung hast“, kontert sie. „Bist du nicht Kristens kleines Sprachrohr? Genieße es, solange es geht. Sie lässt dich schon früh genug fallen, wie alle anderen.“

„Hmm, solltest du dir nicht besser noch ein paar Schlampenstiefel zulegen?“, schieße ich zurück. Ich senke den Blick auf ihre Schuhe und lächle spöttisch. „Leopardenmuster? Du hast Klasse, das sehe ich.“

Sie funkelt mich an und gibt ein genervtes Fauchen von sich – aber es hat gewirkt. Sie wirbelt herum und stöckelt auf wackeligen Beinen davon. Ob es an ihrem Alkoholpegel liegt oder an der Höhe der blöden Absätze, weiß ich nicht.

Brendon mustert mich irritiert. „Das war ziemlich gemein.“

„Sie oder ich?“, frage ich.

„Ihr beide, ehrlich gesagt.“

„Sie hat angefangen“, erwidere ich. „Außerdem wäre ich vielleicht netter zu ihr, wenn sie sich ein bisschen besser anziehen würde.“ Natürlich nur dann, wenn sie die Finger von Brendon lässt und ihn nicht mit ihren Schlampenbakterien eindeckt. Natalie gehört zu den Mädchen, bei denen man sich allein vom Hingucken mit der nächstbesten Geschlechtskrankheit ansteckt.

„Sie sieht doch okay aus.“

Als ich Warrens Stimme hinter mir höre, zucke ich zusammen. Ich wirbele herum und entdecke ihn zusammen mit Kristen und seinem Freund Joey Morgan. Kristen knufft ihm fest gegen die Schulter. Daraufhin packt Warren sie und küsst sie gierig, was sie bereitwillig erwidert. Ekelhaft. Ständig sabbern die beiden sich voll. Nehmt euch ein Zimmer!

„Oh Mann, ich weiß nicht“, meint Brendon. „Ich persönlich mag es, wenn man noch ein wenig der Fantasie überlässt.“

Er zwinkert mir zu, und der Schmetterlingsschwarm in meinem Magen flattert so wild auf, dass ich das Gefühl habe, mich sofort übergeben zu müssen. Ich brauche etwas zur Beruhigung. Die naheliegendste Lösung ist mehr Alkohol – nicht umsonst nennt man den ja auch Mutmacher.

Nach zwei Jell-O-Shots kommt mir wieder in den Sinn, was Natalie gesagt hat: Ich wäre Kristens Sprachrohr. Ich weiß, so nehmen mich die anderen wahr. Und wenn ich ehrlich bin, stimmt es irgendwie auch. Es ist kein Geheimnis, dass Kristen die Anführerin unserer Clique ist. Was mich aber wirklich wurmt, ist, dass Natalie meinte, ich würde fallengelassen. Mit Kristen befreundet zu sein ist ein Balanceakt, zugegeben. Aber den meistere ich mittlerweile seit einigen Jahren, und wenn sie mich loswerden wollte, hätte sie das längst getan.

Warum stört mich der blöde Kommentar dann so? Schließlich kam er von Natalie, und ihre Meinung interessiert keinen.

Brendon reicht mir noch einen Shot, und mir fällt auf, wie perfekt goldgebräunt sein ausgestreckter Arm ist.

„Wow, bist du braun“, sage ich, fahre mit den Fingern über sein Handgelenk und bestaune den tief rotbraunen Farbton. Seine Haut fühlt sich heiß an, und wieder flattern die Schmetterlinge in meinem Bauch.

„Ja“, antwortet er lachend. „Über Weihnachten war ich in Miami bei meinen Großeltern.“

„Oooh, toll!“ Ich betrachte meinen eigenen Arm und verziehe das Gesicht. „Ich bin dermaßen käsig“, jammere ich, und Kristen kichert.

„Du bist nun mal ein Rotschopf“, meint sie. Dann senkt sie die Stimme, als wollte sie mir ein Geheimnis anvertrauen. „Trotzdem, es könnte schlimmer sein. Neulich war ich vorm Sport in der Umkleide, weißt du? Da kommt Steph Lidell rein und fängt an, sich direkt neben mir umzuziehen. Sie zieht ihr Sweatshirt aus, und ich bin geblendet vor lauter Orange.“

Das ist mir nicht neu. Steph sitzt in Geometrie vor mir, und immer, wenn sie Handouts weiterreicht, darf ich einen Blick auf ihre fleckig-rötlichen Hände werfen. Trotzdem bin ich nicht so dumm, Kristen darauf hinzuweisen, was für ein alter Hut das ist. Sie mag nicht gern übertrumpft werden, wenn sie etwas erzählt.

„Diese krisseligen ausgeblichenen Haare sind schon schlimm genug. Aber so ein ekliges Bräunungsspray? Ernsthaft?“ Betrübt schüttelt Kristen den Kopf. „Es war schrecklich. Ich meine, sie ist fast zwei Meter groß! Wie eine riesige orangefarbene Giraffe. Und gestunken hat sie auch noch, nach einer komischen Mischung aus Senf und Schweiß oder so. Im Ernst, ich wäre beinahe umgekippt.“ Sie lacht, dann sagt sie seufzend: „Ich schwöre, es war deprimierend.“

„Wirklich deprimierend“, stimme ich zu und kippe den Jell-O-Shot, sodass er meinen Rachen herunterläuft, merkwürdig warm und kalt zugleich. Diese Dinger bestehen zu neunundneunzig Prozent aus Wodka mit höchstens einem Prozent Wackelpudding. Als der Shot in meinem Magen ankommt, schüttele ich den Kopf und ziehe eine Grimasse.

Joey haut mir so fest auf den Rücken, dass ich mich fast verschlucke. „Schon betrunken, Chelsea?“

Ja, das bin ich tatsächlich. Mehr als nur ein bisschen. Als ich mich ihm zuwende, dreht sich das Zimmer um mich. Vielleicht war der letzte Shot keine gute Idee. Jetzt kommt er richtig bei mir an.

Joey hebt die Hand und legt mir lässig einen Arm um die Schultern. Hoffentlich denkt er nicht, wir würden heute Nacht etwas miteinander anfangen. Ein paarmal haben wir geknutscht, es hat mir allerdings nie wirklich gefallen. Aber Kristen will mich mit ihm verkuppeln. Sie hofft, wenn ich mit Warrens bestem Freund zusammen bin, können wir zu viert ausgehen. Wenn ich Joey auch nur im Entferntesten anziehend fände, hätte ich vielleicht sogar mitgemacht. Meiner Meinung nach ist er aber einfach nur ein durchtrainierter, hohler Sportler, definitiv nicht wie Brendon Ryan. Als er mich unter seine schweißige Achselhöhle klemmt, wird mir schlecht.

Nein, Moment mal, das kommt vom Alkohol.

„Ähm …“ Ich winde mich aus Joeys Umarmung. „Ich glaube, ich muss …“ Abrupt breche ich ab und presse mir eine Hand auf den Magen, der sich gerade umdreht.

Anscheinend sieht man mir die Übelkeit an, denn Kristen sagt lachend: „Oh Gott, wenn du auf meinen Teppich kotzt, werd ich so sauer!“

Brendon mustert mich besorgt. „Alles in Ordnung?“

„Mit geht’s gut“, beharre ich. Mein Magen sieht das aber anders. „Ich muss nur … Toilette. Toilette wär gut.“

Ich stürme aus dem Raum, zwänge mich auf der Treppe an zwei jüngeren Mitschülern vorbei, die sich gegenseitig begrapschen, und nehme zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen, entdecke ich eine Schlange gelangweilt aussehender Mädchen vor dem Klo. Tja, ich weiß nicht, ob ich so lange warten kann. Jedenfalls will ich es nicht darauf ankommen lassen.

Beim Gästezimmer gibt es noch eine Toilette, und Kristen macht es bestimmt nichts aus, wenn ich sie benutze. Ich renne zum Ende des Flurs und reiße, ohne nachzudenken, die Tür auf. Doch bevor ich einen weiteren Schritt tun kann, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Hier ist schon jemand.

Hier sind zwei Jemands.

Ich habe noch nie zwei Typen zusammen gesehen. Nicht so. Die zwei Jungen sind ineinander verkeilt, der eine liegt auf dem anderen, sie atmen schwer. Der dunkelhaarige Junge oben hat seine Hand im Haar des Blonden unter ihm. Als das verräterische Ratschen eines Jeans-Reißverschlusses an meine Ohren dringt, schnappe ich nach Luft. Anscheinend hat der Blonde es gehört, denn sein Kopf fährt hoch, und unsere Blicke treffen sich. Jetzt wird mir klar, dass ich ihn kenne. Es ist Noah Beckett. Wir sind nicht miteinander befreundet, aber wir gehen in dieselbe Klasse. Letztes Jahr habe ich in Spanisch neben ihm gesessen. Er hat mir seine Stifte geliehen, und nun macht er mit einem Kerl rum, den ich nicht kenne, im Gästezimmer meiner besten Freundin.

Plötzlich habe ich meine Übelkeit vergessen.

Ich verarbeite noch den Anblick, da rappelt sich Noah auf, Panik im Gesicht. Instinktiv weiche ich zurück und stoße dabei mit der Schulter gegen den Türrahmen. Noah ruft mir nach, aber ich ignoriere ihn, stolpere zurück durch den Flur und die Treppe hinunter. Dann lehne ich mich gegen das Geländer und versuche, wieder zu Atem zu kommen.

Noah Beckett ist schwul? Darauf wäre ich nie gekommen. In meinen Augen ist er nur irgendein Junge, der mit seinem Skateboard über den Schulparkplatz kurvt. Ich glaube, er spielt in der Fußballmannschaft oder so. Er ist einer der netten Typen, die mit vielen verschiedenen Cliquen herumhängen und sich mit fast allen gut verstehen. Die in der Menge untergehen. In Wirklichkeit ist er mir nie aufgefallen.

Tja, ab jetzt wird er mir dafür wohl umso mehr auffallen.

„Geht’s dir besser?“

Brendon nähert sich mir mit einem vorsichtigen Lächeln, als hätte er Angst, ich könnte jederzeit auf seine Schuhe speien. Völlig abwegig ist das nicht. Im Moment bin ich ziemlich sicher, dass meine Hand am Geländer das Einzige ist, was mich aufrecht hält.

„Äh …“ Warum höre ich mich immer wie so eine derartige Idiotin an, wenn Brendon in der Nähe ist? Im Ernst, in seiner Gegenwart bin ich unfähig, auch nur einen vollständigen Satz zu sprechen, selbst wenn ich stocknüchtern bin. Es ist ziemlich armselig. Okay, sehr armselig. Ich atme aus und versuche, mich zu konzentrieren. „Wo ist Kristen?“

„In der Küche, glaube ich.“ Er runzelt die Stirn. „Stimmt etwas nicht?“

„Nein“, sage ich. „Es ist nur … Ich muss mit ihr sprechen.“

Tatsächlich finde ich sie in der Küche, umringt vom halben Basketball-Team. Auf der Suche nach was zu essen räumen die Jungs die Schränke halb leer. Kristen kann von Glück reden, dass ihre Eltern nicht in der Stadt sind; morgen früh sieht es hier vermutlich aus wie in einem Katastrophengebiet. Wahrscheinlich werde ich beim Aufräumen helfen müssen. Irgendwie bin ich am Ende meist diejenige, die die vollgekotzten Kloschüsseln putzt.

„Kristen!“, rufe ich lauter als beabsichtigt. Alle drehen die Köpfe zu mir um und können sehen, wie ich ihr auf unsicheren Beinen entgegenwanke. Die Balance zu halten ist im Moment eine knifflige Sache.

Kristen sieht mich über ihren Bierbecher hinweg teils belustigt, teils peinlich berührt an. „Gott, Chelsea, bist du hinüber“, sagt sie, was ziemlich schwach von ihr ist. Schließlich leuchten ihre eigenen Wangen wie rote Äpfel, und an ihren glasigen Augen kann ich erkennen, dass sie höchstens einen Bruchteil weniger besoffen ist als ich.

Ich ignoriere die Beleidigung und packe sie fest am Arm. „Kristen“, wiederhole ich. „Du glaubst nicht, was ich gerade gesehen habe.“

Das weckt ihr Interesse – und das aller anderen. Warren macht den Kühlschrank zu und guckt zu uns herüber, Brendon stellt sich neben mich. Joey rutscht von der Anrichte, dann verschränkt er die Arme. Alle sind still und fragen sich wohl, was ich zu sagen habe. Ehrlich, das ist der beste Tratsch, der mir im ganzen Jahr untergekommen ist. Wenn man bedenkt, dass das Jahr in weniger als einer Stunde offiziell zu Ende geht, will das schon was heißen.

Ich weiß nicht, was ich mir davon verspreche, wenn ich es allen weitersage. Wahrscheinlich glaube ich, es wäre eine lustige Geschichte, oder wenigstens eine denkwürdige. So eine, an die man sich später zu allen möglichen Gelegenheiten erinnert. „Hey, weißt du noch, als Chelsea Noah und den fremden Typen beim Rummachen erwischt hat?“ Auf dieses Stichwort hin würde ich dann einspringen und meinen Bericht aus erster Hand zum Besten geben, und alle wären amüsiert und gleichzeitig empört. Vielleicht wäre Brendon hingerissen, wie toll ich erzählen kann, und beichtet mir auf der Stelle seine unsterbliche Liebe. Oder so.

Dass Kristens Reaktion so ausfällt, hätte ich nicht erwartet. Sie lacht nicht, sondern ist eher extrem angeekelt, als hätte ich gerade behauptet, das Gästezimmer sei von Kakerlaken befallen. Kaum habe ich die Details ausgespuckt, schüttelt sie sich am ganzen Körper. In einer Mischung aus Schock und Abscheu reißt sie den Mund auf.

„Oh Gott. Oh Gott! Igitt!“, kreischt sie entsetzt. „Er hat über meine ganzen Laken geschwuchtelt!“ Sie betont es, als wäre Schwulsein so etwas wie eine hoch ansteckende Krankheit. Mein Magen sackt mir in die Knie, und ich öffne den Mund, um ihr zu antworten.

Doch bevor ich etwas sagen kann, fängt Derek Connelly aus dem Basketballteam an zu lachen. „Der Typ?“, sagt er. „Echt?“

Warren stakst zu uns herüber, eine Faust um den Hals seiner Bierflasche geballt, die andere fest an seiner Seite. „Waszurhölle …“, lallt er. Zornesröte kriecht über seinen Nacken und entflammt sein ganzes Gesicht. „Dieser verfluchte … Ich schwöre … Ich werde ihn …“ Er führt den Gedanken nicht aus, aber wahrscheinlich sollte der Satz nicht mit „in den Arm nehmen“ enden. Warren ist ungefähr so gutmütig wie redegewandt.

„Im Ernst. Was – zur – Hölle“, echot Joey, nutzlos wie immer.

„Mit wem war er überhaupt zusammen?“, fragt mich Kristen.

„Ich … ich weiß nicht“, sage ich beklommen. „Ich glaube nicht, dass der andere Junge auf unsere Schule geht.“ In diesem Moment dämmert mir, dass die Unterhaltung eine andere Entwicklung nimmt, als ich mir vorgestellt habe.

„Was zum Teufel glaubt er eigentlich, wer er ist?“, knurrt Warren. Mit der Faust wischt er sich den Schweiß von der Oberlippe. „Also gut, wo ist die Schwuchtel? Ich red mal mit dem.“

„Genau, verdammt“, stimmt Joey zu.

Damit drängeln sich die beiden aus der Küche und machen sich auf den Weg zur Treppe. Ich laufe ihnen hinterher, wobei ich beinahe fünf Leute umschubse. Auf halber Strecke durchs Wohnzimmer hole ich sie ein.

„Jungs, nicht“, bitte ich sie. „Sie wollen sowieso gerade gehen. Lasst sie in Ruhe, okay?“

Ich deute in die Richtung, wo ich Noahs weißblonden Schopf sehen kann. Mit rotem Kopf eilt er zur Haustür, einen süßen schwarzhaarigen Jungen im Schlepptau. Der Dunkelhaarige scheint hinter ihm herzutrödeln und absichtlich im Schneckentempo zu gehen. Er hält Noahs Handgelenk umfasst, während die beiden sich durch die Menschenmenge am Fuß der Treppe schieben. Noah hält an und sagt etwas, die Worte sind über die Musik und die Gespräche nicht zu verstehen. Der Junge antwortet ihm, woraufhin Noah die Stirn runzelt und ihn an der Hand weiterzerrt. Dann verschwinden sie zusammen durch die Tür.

Die Ironie an der Sache ist: Hätte ich nichts getrunken, hätte ich wahrscheinlich überhaupt nichts erzählt. Nicht dort, vor allen andern. Ich hätte gewartet, bis ich mit Kristen allein bin. Und ich hätte mich garantiert nicht mit Warren abgegeben – mit Kerlen wie ihm ist nicht zu spaßen.

Wäre ich nüchtern geblieben, hätte ich natürlich gar nicht erst so dringend zur Toilette gemusst und hätte nicht gesehen, was ich gesehen habe.

Warren schubst mich mit düsterer Miene weg, sodass ich seitlich gegen Kristen falle. Sie lacht und stützt mich gegen die Wand.

„Du bist sooooo breit“, sagt sie. „Oh mein Gott.“

„Die halten verflucht noch mal Händchen? Scheiße.“ Warren spuckt in seinen roten Plastikbecher − dermaßen widerlich −, bevor er Joey zunickt und fragt: „Kommst du?“

Und Joey sagt: „Klar, verdammt“, weil er ein Vollidiot ist.

„Jungs.“ Ich stoße mich von der Wand ab. „Hey, Jungs. Ernsthaft. Nicht. Lasst es einfach, okay? Okay?“

„Keine Sorge“, erwidert Warren. „Wir wollen ihnen nur eine kleine Lektion erteilen.“ Aber das Grinsen sitzt falsch und verzerrt in seinem Gesicht. Auch in seiner Stimme schwingt etwas mit, das mich warnt, es nicht zu weit zu treiben.

Also tue ich es nicht. Weil es einfacher ist. Es ist einfacher, sie ziehen zu lassen.

Mein Plan, dass Brendon mich Schlag Mitternacht von den Füßen und in seine Arme reißt, wird vereitelt, als sich meine Übelkeit wieder bemerkbar macht. Also läute ich den Jahreswechsel stattdessen im Badezimmer ein, wo ich mir die Seele aus dem Leib kotze. Irgendwann danach muss ich eingeschlafen sein, denn als ich am nächsten Morgen aufwache, liege ich um den Fuß der Toilette gerollt, wie an jemanden angekuschelt. Kristen hat nicht einmal daran gedacht, mich zu wecken und mir ins Schlafzimmer zu helfen. Jetzt tut mir die Hüfte weh und mein Nacken ist steif. Ganz zu schweigen davon, dass mein Mund total ausgetrocknet ist.

Ich ziehe mich am Waschbecken hoch, dann drehe ich den Hahn auf. Während ich das kalte Wasser mit den Händen auffange und es mir ins Gesicht spritze, versuche ich, die Ereignisse der letzten Nacht zusammenzustückeln. Ich erinnere mich noch, dass Warren und Joey abgehauen sind. Aber alles, was danach passiert ist, ist ein wenig verschwommen. Irgendwie macht mich das wahnsinnig; ich bin noch nie so betrunken gewesen. Nie so sehr, dass ich am nächsten Tag nicht mehr gewusst hätte, was passiert ist.

Ich trockne mein Gesicht mit dem dicken Frotteehandtuch vom Haken ab, dabei kommt langsam alles wieder zurück. Wie Kristen mich beschwatzt hat, noch einen Shot zu trinken, obwohl ich schon zum Umfallen betrunken war. Wie ich auf ihren Couchtisch gesprungen bin und darauf getanzt habe, bis ich runter auf eine Neuntklässlerin gestürzt bin. Brendon – oh Gott, Brendon. Ich bin ziemlich sicher, dass ich mich ihm auf die allerpeinlichste Art an den Hals geschmissen habe.

„Jepp, genau das hast du“, informiert mich Kristen fröhlich, nachdem ich es geschafft habe, in die Küche zu stolpern und auf den nächsten Stuhl zu fallen. Sie stellt mir ein Glas Wasser und zwei Ibuprofen hin – das Äußerste an Fürsorglichkeit, wozu Kristen in der Lage ist. „Du hast dich ständig an ihm gerieben und davon geschwafelt, wie heiß sein Minzdöschen ist. Er war völlig perplex. Das Ganze war zum Schreien komisch.“

„Keine Frage“, brummele ich. Es wäre nett gewesen, wenn Kristen eingegriffen und mir die Demütigung erspart hätte. Aber vermutlich hatte sie ihre helle Freude an der Situation.

Sie sammelt die leeren Bierflaschen ein, die über den Tisch verstreut herumliegen, und bringt sie zum Spülbecken. „Kopf hoch“, tröstet sie mich. „Wenigstens wurdest du nicht von deinem angeblichen Freund sitzengelassen.“

Ein beunruhigendes Gefühl macht sich in meinem Magen breit. „Ist er gestern Nacht nicht mehr zurückgekommen?“

„Nein“, antwortet sie verächtlich. „Verdammter Arsch. Wahrscheinlich hat er seinen Truck mit Joey in eine Kifferhöhle verwandelt. Ich schwöre …“ Das Telefon auf der Anrichte klingelt und unterbricht sie. Seufzend greift sie danach. „Das ist er bestimmt. Am besten kommt er jetzt gekrochen.“

Während sie den Anruf entgegennimmt, schlucke ich die Ibuprofen und stürze das gesamte Wasser aus dem Glas mit ein paar großen Schlucken herunter. Mein Kopf hämmert. Ich fühle mich wie ausgespuckt und aufgewärmt. Nein, vergesst das. Ich fühle mich wie ausgespuckt, zwei Tage auf dem Tresen stehen gelassen und dann für dreißig Sekunden in der Mikrowelle erhitzt. Genau so fühle ich mich.

Auf dem Tisch liegt eine halb aufgeschlagene Ausgabe des National Geographic. Ich nehme sie in die Hand und schaue flüchtig hinein. Abgesehen von Promi-Blogs und der Klatschzeitschrift U.S. Weekly bin ich keine große Leserin. Aber Kristen redet viel, und sicher wird sie sich noch eine Weile mit Warren herumstreiten, bis er nachgibt und verspricht, ihr etwas Glitzerndes zu kaufen, damit sie Ruhe gibt. Auf der aufgeschlagenen Magazinseite ist ein beeindruckendes Foto von einem alten buddhistischen Mönch abgedruckt. In einen gelben Umhang gekleidet, hat er sich zum Gebet niedergekniet. Unter dem Bild steht eine kurze Biografie von dem Mönch, der ein Schweigegelübde geleistet und seit sechzig Jahren kein Wort gesprochen hat. Anscheinend wollte er dadurch in ständiger Einkehr versunken sein, um näher an Gott oder an die Erleuchtung heranzukommen – oder so was Ähnliches.

Ich bin so sehr damit beschäftigt, den Artikel zu überfliegen und unter meinem Kater zu leiden, dass ich nichts von Kristens Gespräch mitbekomme. Aber dann ruft sie so scharf: „Was?“, dass meine Aufmerksamkeit zu ihr zurückschnellt. Als ich aufsehe, steht sie sprachlos da, Augen und Mund aufgerissen. Dann dreht sie sich weg und spricht so leise weiter, dass ich nicht mehr verstehen kann, was sie sagt. Erst als sie auflegt und sich in den Stuhl neben mir fallen lässt, bekomme ich eine Antwort aus ihr heraus.

„Was ist los?“, frage ich.

Der Schock ist ihr ins Gesicht geschrieben. Langsam hebt sie die Augen vom Telefon in ihrer Hand und erwidert meinen Blick. „Noah Beckett ist im Krankenhaus“, sagt sie.

„Was, wirklich?“

Kristen nickt nur, und mein Mund wird wieder trocken. Ich verschränke die Finger um das Wasserglas. „Was zum Teufel ist passiert?“, frage ich weiter.

„Er war auf dem Parkplatz vom Quality Mart, und er … er wurde ziemlich übel zusammengeschlagen“, erklärt sie. Dann sagt sie lange nichts. „Ich glaube, er ist bewusstlos.“

Wenn ich mir Noah so vorstelle, bleibt mein Herz beinahe stehen. Wer würde ihm so etwas antun? Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

Am liebsten würde ich die Frage nicht stellen, denn ich fürchte, dass ich die Antwort schon kenne. Aber ich muss. „Waren das Warren und Joey?“

Kristen sagt nichts, doch das muss sie auch nicht. Ihre Miene spricht Bände.

„Oh Gott“, flüstere ich und sinke zurück in den Stuhl. „Oh mein Gott.“ Ich schlage eine Hand vor den Mund. „Ich dachte, sie wollten bloß mit ihm reden!“

„Du darfst nichts sagen.“ Auf einmal klingt ihre Stimme ängstlich.

„Aber …“

„Ich meine es ernst“, sagt sie, dieses Mal bestimmter. „Das ist kein Witz. Falls irgendwer fragt: Es ist nichts passiert. Du weißt gar nichts. Kapiert?“

Autor

Hannah Harrington
Hannah Harrington stammt aus Michigan, wo sie mit einem Hund und zu vielen Katzen wohnt. Wenn die junge Autorin nicht gerade schreibt, geht sie gern reiten, diskutiert über Politik, schaut sich Dokumentarfilme an und spielt – ziemlich schlecht – Gitarre. Mehr über Hannah Harrington unter hannahharrington.blogspot.com, facebook.com/hannahharrington und unter Twitter...
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