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Das klassische Szenario: Mann trifft Frau … Frau geht mit einem anderen nach Hause. So beginnt die Geschichte von der quirligen Eve und dem realistischen Ben. Ein halbes Jahrzehnt lang lieben sie aneinander vorbei und verlieren sich dennoch nie aus den Augen. Doch plötzlich scheint ihre gemeinsame Zeit gekommen zu sein. Nach einer überraschenden Liebesnacht entsteht zwischen ihnen etwas Neues. Wird diese zarte, zerbrechliche Verbindung halten - vielleicht sogar für immer?

»Eine junge Nora Ephron.«
David Duchovny


  • Erscheinungstag 06.08.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955767990
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Eve

Eine Seite in mir sehnte sich danach, ihn ein bisschen zu provozieren, um zu sehen, wie weit ich gehen konnte, bis er durchdrehen und in die Wildnis flüchten würde. Wobei – das hier war New York, und wenn ich »Wildnis« sage, meine ich dieses winzige grüne Viereck vor unserem Apartmenthaus, das gerade so als Vorgarten durchging. War ich unschuldig? Nicht wirklich. Aber in zigtausend Glückskeksen steht der weise Spruch: Verurteile die Taten der Jugend nicht vorschnell, sonst läufst du Gefahr, nicht zu erkennen, wie wichtig die gesamte Reise ist. Und zigtausend Glückskekse können nicht irren.

Noch immer komme ich manchmal an ihnen vorbei – an den Straßen, den Wohnhäusern, Bars und Restaurants. Sie alle sind Teil dieser Geschichte. Die meisten Menschen nehmen sie nicht einmal wahr, mich aber lassen sie erstarren. Völlig irrational frage ich mich: Was geht hier vor sich? Ich werde philosophisch und ja, auch ein bisschen selbstbezogen. Existiert eine Wohnung noch, auch wenn du dort nicht mehr lebst? Warum geht der Betrieb in einem Restaurant weiter, nachdem du deine Rechnung bezahlt hast und die Tür sich lautstark hinter dir verschlossen hat? Ich realisiere immer noch nicht ganz, dass man hier einfach weitermacht. Ohne mich.

Ein Teil dieser Geschichte wird für immer mit diesen Orten verbunden bleiben, losgelöst von der fortschreitenden Zeit. Es gefällt mir, sie aufzusuchen und sehnsüchtig in der Vergangenheit zu schwelgen. Einige der Erinnerungen sind noch so lebendig, andere möchte ich lieber verblassen lassen. Rückblickend erkenne ich, wie uns all diese Orte irgendwohin geführt haben. Nach und nach haben wir die einzelnen Punkte mit Linien verbunden und gehofft, ein Bild zu erkennen. Es hat gedauert, bis es sich zusammensetzte. Über die ganze Stadt verteilt gab es diese Punkte – und ihre Anordnung ergab weder Sinn noch waren sie immer positiv besetzt für uns. Doch wir hätten es wissen müssen. Und immer, wenn ich mich dabei ertappe, dass ich an einer dieser Stellen vorbeigehe, drängt sich mir die Frage auf. Warum haben wir so lange gebraucht?

Ben

»Warum haben wir so lange gebraucht?« Hat sie das wirklich gerade gefragt? Ich werde dir erklären, warum es so lange gedauert hat. Das Verhältnis von unvernünftigen zu vernünftigen Gedanken in ihrem Kopf ist ungefähr zwanzig zu eins. Das ist ihr erster Fehler (und es gab weitere). Die meisten Menschen nehmen einen geraden Weg, um von A nach B zu kommen. Nicht so Eve. Sie läuft zickzack, geht mehrere Schritte zurück, dreht Schleifen, denkt bei jeder Kurve und bei jeder Gabelung der Straße lange nach, ob sie sie nehmen soll. Sie läuft im Kreis, schwebt, vielleicht kommt sie irgendwann an. Natürlich hätte ich gehen und sie mit dem ganzen Mist allein lassen können. Ich hätte Viel Glück, Eve, sagen können. Lass uns in zehn Jahren wieder treffen, wenn du weißt, was du willst. Doch das habe ich nicht getan. Denn die Sache mit Eve ist die: Wenn sie sich einmal entschlossen hat anzukommen, dann liegt etwas Unnachgiebiges in diesem Ankommen, und plötzlich ist der Gedanke fortzugehen aus deinem Kopf verschwunden.

Eve

Zufluchtsort in Morningside Heights

Es war unser letztes Jahr am College, und wir wollten eine Party schmeißen. Das Motto war »Müll«.

Unsere Wohnung war mit schwarzen Abfallsäcken und blinkender Weihnachtsbeleuchtung dekoriert. Von der Decke hing das Wort »MÜLL« in riesigen Lettern herab.

In dieser Nacht würde etwas passieren, das war unser erklärtes Ziel. Wir alle hatten das Gefühl, als würde etwas ganz Großes bevorstehen. Es spielte keine Rolle, wie häufig wir in der Vergangenheit enttäuscht worden waren, wie oft wir uns chic gemacht hatten und dann Stunden später ins Bett gefallen waren – ohne etwas anderes vorweisen zu können als einen leichten Schwindel, heftige Kopfschmerzen und einen Morgen, an dem wir uns erst mal erholen mussten. Wir waren hartnäckig genug, uns nicht unterkriegen zu lassen, dachten gar nicht daran. Stattdessen spürten wir eine noch stärkere Energie, sobald die Sonne wieder unterging. Wie unter Zwang klappten wir die Bücher zu, schüttelten die Trägheit unseres Nachmittagsschläfchens ab, zogen uns an, schmiedeten Pläne, schickten Nachrichten raus und hofften, dass sie Gehör fänden.

Es war die Macht der Möglichkeiten, das Gefühl grenzenloser Spannung, das ganz New York überfällt, sobald es dämmert – und die Räume hinter den Fenstern wirken, als würden sie schlafen. Es ist diese Zeit, ehe die Dunkelheit sich über die Stadt legt wie eine riesige Decke und die ersten Lichter aufflammen. Manchmal ängstigte mich diese unermessliche Weite, die darauf wartet, mit Leben angefüllt zu werden. Aber nicht heute Abend. An diesem Abend war ich bereit. Licht an, Manhattan! dachte ich, klatschte in die Hände und stand am Fenster unserer Wohnung, als wäre ich allein in der Lage, all diese kleinen quadratischen Schachteln da draußen mit hellem Licht zu erfüllen. Mir vorzustellen, ich hätte tatsächlich die Kontrolle, war verlockend. Du machst mir keine Angst, musste man sich einfach sagen, während man auf die Stadt schaute. Ich fürchte mich nicht vor dir, verdammt. Allerdings musste man es auch wirklich glauben.

Zusammen mit drei anderen Mädchen lebte ich in einer Vierzimmerwohnung auf dem East Campus, einem Studentenwohnheim zwischen der 117. und 118. Straße, in dem überwiegend Columbia-Studenten der höheren Semester untergebracht waren. Von meinem Fenster aus konnte ich den gesamten Campus überblicken, sah in der Ferne den Hudson River und die rosafarbenen Wolken, die sich über die Granitkuppel der Low Library senkten. In unserer Welt war die Low das Pantheon, und jenseits der Low gab es nur Gebäude – rätselhafte, anonyme Gebäude. Wir hatten einen Panoramablick über die Stadt, fast von einer Wand bis zur anderen, und doch achteten wir kaum darauf. Alles, was für uns wichtig war, passierte innerhalb der Mauern von Wohnung Nummer 1603. Nur ab und zu warfen wir einen Blick auf den Rest des Universums. Manchmal genossen wir es, uns vorzustellen, dass wir in unserer Festung hoch oben in Morningside Heights das Schicksal der Stadt in unseren Händen hielten.

Ich hatte Jesse Prescott zur Party eingeladen, einen Typen aus meinem Kurs »Lyrik und die Orte in der modernen Landschaft«, mit dem ich seit Monaten flirtete. »Glücklich bis ans Ende aller Tage«, das war der Titel des Gedichts, das ich ihm vorgetragen hatte – na ja, in Wirklichkeit hatte ich es dem gesamten Kurs vorgelesen. Ja, genau. Ich hatte es laut vorgelesen. Menschen. Mit Ohren. Das machte mir noch immer zu schaffen. Zum Glück war es nicht das erste Mal gewesen. Ich hatte mir das in den vergangenen Jahren in den Schreibkursen schon hundert Male angetan. Ich hatte gelernt, es durchzustehen. Es gibt Überlebensmechanismen, die sich in Situationen wie dieser sofort einschalten. Du machst mir keine Angst, musste man sich einfach sagen, bevor man anfing zu lesen. Ich fürchte mich nicht vor dir, verdammt.

Ich war verblüfft gewesen, dass er danach noch mit mir reden wollte, dass er immer noch mit mir reden wollte, obwohl er sich dieses hyperemotionale Geschwafel angehört hatte.

Und plötzlich sieht sie alles in einer erstaunlich brutalen Klarheit.

Jene Art von Klarheit, in der die Wirklichkeit hoffnungslos wird

und du dir eine vollkommen neue Wirklichkeit wünschst,

in der du dich darauf verlassen kannst, dass die Gedanken heiterer sind.

Sie fragt sich, ob alles in der Welt fließend ist.

Die Liebe verblasst.

Die verlockenden Erwartungen brechen weg.

Die Wirklichkeit schleudert sie an einen fremden, unbewohnten Ort, dem sie ausgeliefert ist.

Alles scheint so weit außerhalb ihrer Reichweite zu liegen wie die gelben Lichter,

die sich in atemberaubender Geschwindigkeit hinter dem Mann drehen …

»Es hat mir gefallen«, sagte er, als Professor Rosario ihn aufforderte, sich dazu zu äußern, und schon allein wegen dieser Worte hatte er es verdient, eine Einladung zu unserer Müllparty zu kriegen. Aus reinem Selbstschutz sagte ich mir unzählige Male, dass er vielleicht nicht kommen würde. Irgendwie war es entscheidend geworden, ob er auftauchte. Sobald ich an den Tagen vor der Party daran dachte, war ich aufgeregt. Dann betrachtete ich mich und fragte mich, wie es so weit hatte kommen können.

Doch bevor irgendetwas passieren konnte, musste er ja erst mal tatsächlich an diesem Abend auftauchen und im sechzehnten Stock des East Campus erscheinen, eines Studentenwohnheims, das zu einem verrückten Zufluchtsort geworden war.

»Es ist Zeit zum Feiern! Partytime! Erzählt allen, dass es losgeht!«, sang meine Mitbewohnerin Scarlett. »Heute Abend will ich jemanden kennenlernen, der mich umhaut. Und dann will ich ihm das Herz brechen. Danach werde ich darum kämpfen, ihn zurückzugewinnen, ehe er mir das Herz bricht und ich dann all seine Besitztümer verbrenne.«

Ich lachte. »Was für ein Plan«, erwiderte ich und beobachtete, wie sie versuchte, das Gleichgewicht zu halten, indem sie sich mit der Hand an der Wohnzimmerwand abstützte, während sie mit der anderen glänzend schwarze High Heels mit Zwölf-Zentimeter-Absätzen anzog. An ihren Füßen sahen sie weitaus eleganter aus als in ihrer üblichen Position – in Scarletts Hand baumelnd, wenn sie am Ende einer Nacht barfuß nach Hause taumelte.

Irgendwo im Flur piepte ein Telefon. Der Ton hallte wider und schien durch die ganze Wohnung zu klingen. Nach nur wenigen Sekunden konnte ich durch die Zimmerwand hören, wie meine Mitbewohnerinnen sich darüber unterhielten.

»Es ist eine 917er- Nummer.«

»Puh, aber die Sprachnachricht ist nur dreißig Sekunden lang. Das kann nicht wichtig sein. Er sagt bestimmt ab.«

»Woher willst du das wissen?«

»Weil sie nur dreißig Sekunden lang ist. Was kann er mir in dieser kurzen Zeit mitteilen, außer, er will absagen? Und warum sonst sollte er sich so spät melden? Wenn er käme, hätte er früher angerufen. Außerdem hätte er dann keine Nachricht hinterlassen.«

»Ruf die Nummer zurück. Warum bist du so negativ?«

»Will ich ja gerade. Lass mich nur ein paar Minuten warten. Ich muss darüber nachdenken. Schließlich kann ich nicht einfach anrufen

Das Leben in Wohnung Nummer 1603 war der reinste Gefühlsrausch. Im Grunde war es ein Ort, an dem die Gefühle Spring Break feierten. Wo sie durchdrehen konnten, einfach sich selbst genießen – und nicht von Dingen wie Logik und guten Beurteilungen beeinflusst wurden. Und das galt besonders vor einer Party. Die Klamotten flogen. Die Aufregung wuchs. Wenn endlich die ersten Gäste eintrafen, war ich stets überrascht, noch aufrecht stehen zu können.

Ich hörte, wie jemand meinen Namen rief. »Eve!« Also ging ich in die Richtung, die Treppe hinunter, die vom Wohnzimmer in einen kleinen Flur und zu den Schlafzimmern führte. Langsam und misstrauisch näherte ich mich dem Zimmer meiner Mitbewohnerin Maya. Bei Maya wusste man nie.

Im Türrahmen blieb ich stehen.

»Ich habe eine Frage, Evelyn J. Porter, MD, PhD«, meinte sie.

»Einfach nur Eve. Kein J. Und ganz sicher ohne Erwähnung meines Bachelor-Abschlusses«, entgegnete ich lächelnd.

»Ich habe nur versucht, es offizieller klingen zu lassen. Ich habe mich von Todd getrennt«, erklärte sie und fuhr fort, ehe ich überhaupt die Chance hatte zu regieren. »Hältst du mich für einen selbstsüchtigen Menschen?«

Ehe ich antwortete, hielt ich kurz inne. Maya war die unberechenbarste meiner Freundinnen. Sie war eine wunderschöne junge Frau mit indischen Wurzeln, die stets eine riesige, schwarz umrandete Brille und Converse-Turnschuhe trug. Gleichzeitig war sie dafür bekannt, freundlich und mit einer sanften Stimme um Rat zu bitten, nur um völlig auszurasten, wenn ihr nicht gefiel, was man antwortete.

»Was meinst du?«, hakte sie nach. »Ich möchte wirklich wissen, was du denkst. Sag mir ganz ehrlich deine Meinung.« Die Lider ihrer großen braunen Augen drohten zu flattern. Dieses zierliche Mädchen, das da auf der dunkelroten Bettdecke saß, neben sich ein gerahmtes Foto von einer Eiskugel in einem Waffelhörnchen, schüchterte mich ein.

»Ich glaube nicht, dass du selbstsüchtig bist«, entgegnete ich. »Nicht mehr als jeder andere auch.«

»Also denkst du, dass er anrufen wird?«

»Na ja, wenn du dich von ihm getrennt hast …«

»Du meinst, er wird nicht anrufen?«, unterbrach sie mich hysterisch und durchbohrte mich mit ihrem Blick.

Ausdruckslos starrte ich zurück. »Tut mir leid, ich habe nicht sagen wollen …« Sie wendete sich mir ganz zu. All ihre Sanftmut und Aufrichtigkeit waren wie weggeblasen.

SANFTMUT!

»Ich bin sicher, er wird sich in ein paar Tagen melden«, beteuerte ich hastig.

Sie seufzte. »Ich wünschte, ich müsste mich auf eine Klausur vorbereiten.« Damit stand sie auf und lief zu ihrem Schrank. Klausuren waren Mayas Art von Therapie. Sie war einer der wenigen Menschen, die sich wohlfühlten, wenn sie sich die Nächte in der Bibliothek um die Ohren schlugen.

»Irgendwann wird wieder eine Klausur anstehen«, versuchte ich, sie zu trösten.

»Vielleicht muss ich nur mit jemand anders schlafen … Immerhin ist das Motto des Abends ja Müll.«

»Das stimmt«, pflichtete ich ihr bei. »Du würdest dich sozusagen an einen anderen wegwerfen.« Ihr Gesicht hellte sich auf, und wir lachten.

»Gott sei Dank haben wir nicht ein Motto gewählt wie Die Ära der Unschuld«, meinte sie. »Weißt du, wie schwierig das umzusetzen gewesen wäre?«

»Dann hätten wir die Party zwar ausrichten können«, überlegte ich laut, »aber nicht daran teilnehmen dürfen.«

Aus Erfahrung wussten wir, dass es am besten war, ein Motto zu wählen, das nicht zu speziell war. Schließlich wollten wir uns nicht davon einschränken lassen. Das war ein Anfängerfehler. Wir aber waren kultivierte Großstadtmädchen, die wussten, was sie taten. Wir hatten Taschen voller Dessous aus dem Neunundneunzig-Cent-Laden, diesem zauberhaften Ort in der Amsterdam Avenue, wo man einen Jahresvorrat Toilettenpapier erstehen konnte, spirituell angehauchte Lampen und eben Wäsche für Mottopartys, die vermutlich eigentlich für Prostituierte gedacht war. In diesem Laden wühlten wir uns regelmäßig durch Pappkartons voller Klamotten, doch vor nicht allzu langer Zeit sind wir dort von anderen Gegenständen abgelenkt worden und beschlossen, dass vier riesige Topfpflanzen – größer als wir – eine kluge Kaufentscheidung wären. Sie würden für die richtige Atmosphäre auf einer Party sorgen. »Das wird wie ein Dschungel«, behauptete eines der Mädels. Nach längerer Suche entschied ich mich schließlich für schwarze Spitzenwäsche, die durchsichtig war, aber nicht komplett. Geschmackvoll eben. Und da es das klassischste der Nutten-Kostüme war, erklärten meine Freundinnen, ich sei »Park-Avenue-Müll«. Dann würde ich das eben sein.

Die nächsten Stunden verbrachten meine Mitbewohnerinnen damit, mich mit vollen Händen mit Schmuck zu versorgen – lange, unechte Perlenketten, Plastik-Diamantcolliers.

»Was soll das?«, schrie ich.

»Wenn wir dir nicht helfen, neigst du dazu, zu wenig Schmuck zu tragen.«

»›Park-Avenue-Müll‹ bedeutet, so viele materielle Reichtümer anzusammeln und zu tragen wie möglich, um zu zeigen, was man hat.«

»Du kannst nicht nur etwas Schwarzes anziehen und Feierabend!«

Kate, unsere andere Mitbewohnerin, kam jetzt in Mayas Zimmer und ließ sich auf deren Bett nieder. »Sehe ich zu schlicht aus?«, wollte ich von ihr wissen, während ich ein paar Ketten umhängte und die anderen in der Hand behielt.

»Scheint so, als hättest du ein ganzes Schmuckgeschäft um den Hals«, meinte sie.

»Danke.«

Kate war halb Tschechin, halb Chinesin, und sie hatte es geschafft, die besten Merkmale beider Nationalitäten zu vereinen. Ihre Haut war immer leicht gebräunt, die Wangenknochen waren ausgeprägt, und sie hatte Grübchen. Ihre Augen und ihr Haar hatten denselben perfekten Kastanienton. Kate gab sich niemals Mühe, Gelegenheiten wie diese zu nutzen und ein verrücktes Outfit anzuziehen, das noch unterstreichen würde, wie hübsch sie war. Das hatte sie nicht nötig. An Halloween etwa, wenn jede andere als Schlampe oder als Fee ging, verkleidete Kate sich als Unabomber.

Um zwanzig Uhr kam der Bote von Hamilton Deli – es lag nur einen Steinwurf von uns entfernt, aber das hinderte uns nicht daran, die Sachen liefern zu lassen – mit einer Kiste voll mit Orangensaft, Tonic und Gingerale. In einer Ecke der Wohnung bauten wir eine Bar auf, die aus einem Schreibtisch bestand, über den wir einen schwarzen Müllsack gezogen hatten. In einem großen Zylinder steckten rote Plastikbecher, auf den Tisch stellten wir Tequila- und Gin-Flaschen, eine halbe Flasche Wodka aus unserem Gefrierschrank und die Getränke aus dem Deli. Wir positionierten die vier Pflanzen, die wir im Neunundneunzig-Cent-Laden erstanden hatten, in den Ecken und hängten Weihnachtsbeleuchtung hinein. Nachdem wir fertig waren, schauten wir uns um.

»Es sieht total verrückt aus«, rief Maya begeistert. Zu sagen, etwas sei total verrückt, war das größte Kompliment, das man in unserer Wohngemeinschaft machen konnte. Normalerweise verwendeten wir es in Momenten, in denen Alkohol, Drogen und sinnlose Aktionen zusammenkamen. Beispielsweise, wenn nach einer langen Nacht jemand nur aus Spaß plötzlich Instantsuppen bei Duane Reade kaufte oder die Badezimmertüren strich oder anfing, Leute mit einem Feuerlöscher anzusprühen. »Es war total verrückt«, sagten wir dann und genossen den Moment. College! Wir liebten es.

Ich mixte mir den ersten Drink des Abends und setzte mich zu Kate aufs Bett, während unsere Mitbewohnerinnen in unterschiedlichen Outfits durch das Zimmer liefen und gelegentlich Fragen stellten wie: »Meinst du, Xanax und Alkohol ist eine schlechte Idee oder auf gute Weise eine schlechte Idee?« Unweigerlich antwortete eine von uns, dieses oder jenes sei eine ganz schlechte Idee, aber dabei blieb es dann, weil wir wussten, dass es sowieso nichts ändern würde.

Plötzlich platzte Maya herein und sah aus, als hätte sie gerade die beste Neuigkeit ihres Lebens erfahren. Hinter ihr tauchte Scarlett auf. Ich erwartete, dass sie verkünden würde, sie sei an der medizinischen Hochschule aufgenommen worden. Doch stattdessen sagte sie: »Scarlett hat eine Plastiktüte voll mit weißem Pulver auf dem Rücksitz eines Taxis entdeckt!«

Verwirrt starrten wir sie an.

»Was sollen wir damit tun?«, wollte sie wissen, streckte die Arme in unsere Richtung und drehte die Handflächen Richtung Decke.

»Lasst es uns schnupfen«, kreischte Scarlett.

»Bist du wahnsinnig?«, gab Kate zurück. »Es könnte alles Mögliche sein! Waschpulver zum Beispiel.«

»Das würde uns schon nicht umbringen.«

»Oh doch, das könnte es«, erwiderte Kate.

Es war nicht gerade das, was man von zwei Mädchen erwartete, die sich auf ihr Medizinstudium vorbereiteten. Maya wollte Chirurgin werden, und nicht selten stellte sie ihre Fähigkeiten unter Beweis, indem sie etwa einen verklemmten Reißverschluss fünf Minuten vor einer Party wieder löste. Scarlett interessierte sich mehr für die Notfallmedizin, weil man sich als Chirurgin auf eine Körperregion spezialisieren musste, sie aber lieber dazu in der Lage sein wollte, jedes Problem an jeder Stelle des Körpers behandeln zu können, statt sich zu spezialisieren. Überflüssig zu erwähnen, dass es die Höflichkeit gebot, mit jeder von ihnen über medizinische Probleme zu sprechen, getrennt voneinander natürlich und immer unter Berücksichtigung ihres medizinischen Schwerpunkts. Kate, unsere Stimme der Vernunft, bereitete sich darauf vor, in der Finanzwirtschaft zu arbeiten, allerdings nur in einer Sparte, die regelmäßige Reisen nach Buenos Aires voraussetzte. Das klang in unseren Ohren zunächst wenig seriös, bis sie anfing, uns regelrecht mit Fakten über die südamerikanischen Märkte zu bombardieren.

Um elf waren wir aufgedonnert, heiß darauf, Koks zu schnupfen – oder eben Waschpulver –, und blickten uns in der leeren Wohnung um. Scarlett, die etwas anhatte, was aussah wie ein Badeanzug aus den Fünfzigern, und dazu ihre gigantisch hohen Absätze trug, stand auf, um im Haus von Flur zu Flur zu ziehen.

»Kommt ihr zu unserer Party, Jungs?«, lud sie die Typen auf unserer Etage ein, die ihr – ohne zu antworten – bis in unser Apartment folgten, als seien sie besessen von Scarlett. Mit unseren neuen Freunden im Schlepptau bestanden meine Mitbewohnerinnen darauf, Shots zu trinken. Den ersten kippte ich mit Leichtigkeit hinunter, beim zweiten spürte ich, wie der Alkohol in meine Blutbahnen rauschte. Beim dritten fühlte ich mich elend. Das ging alles zu schnell. Eigentlich brauchte ich jetzt schon eine Pause, dennoch hob ich das Glas vom Küchentisch und beobachtete, wie der Schnaps eingeschenkt wurde. So schlimm war es auch wieder nicht. Das machen die Leute ständig!

»Kommt der Typ aus deinem Literaturkurs heute Abend?«, erkundigte sich Maya. »Was läuft da eigentlich zwischen euch?«

»Nichts«, erwiderte ich und schob mein Schnapsglas außer Sichtweite. Maya reichte mir eine Limettenscheibe, und ich grub meine Zähne hinein. »Wir gehen nach dem Kurs immer ein Stück spazieren.«

»Ihr geht zusammen spazieren

So traurig es klang, es war die einzig richtige Beschreibung, die mir einfiel. Wir waren vom Kurs zum Pizzastand gelaufen – und ein anderes Mal zu Duane Reade. Ich gebe zu, dass ich mir ein paar Sachen ausgedacht hatte, um mit ihm zusammen zu sein, doch er hatte es genauso gemacht. Überwiegend erledigten wir gemeinsam Besorgungen. Einmal hatte ich ihn zum Computerraum begleitet und ihm zugesehen, wie er eine E-Mail verschickte. Ich richtete all meine Aufmerksamkeit auf unsere Gespräche und hatte nur einen Wunsch: dass unsere Spaziergänge länger dauerten. Der Campus war so konzipiert, dass man alles, was man brauchte, innerhalb weniger Blocks fand, was in diesem Fall ein ziemlicher Nachteil war. Ich stand am Tresen bei Duane Reade und erklärte ihm die Vor- und Nachteile von Reese’s Pieces und M&Ms, aber das war es dann auch. Ich war fixiert darauf, dass er mich mögen würde, und schnell war klar, dass ich das schaffte, und das ohne besonders viel Aufwand. Jedes Mal, kurz bevor wie uns eigentlich hätten trennen müssen, fand einer von uns wieder einen Grund, noch länger nebeneinanderher zu laufen. Als wir an der Kreuzung am Broadway standen, berührte er mein Handgelenk. »Ich glaube, ich könnte einen Kaffee gebrauchen«, meinte er, nachdem er langsamer geworden war und schließlich anhielt.

»Oh, klar«, gab ich erleichtert zurück. »Ich auch.« Und dann spazierten wir weiter und taten beide so, als wäre uns nicht klar, was der jeweils andere da eigentlich tat.

»Ihr lauft zusammen? Das ist alles?«, hakte sie verblüfft nach.

Als ich gerade antworten wollte, brachte mich Kate mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Glaub ihr nicht«, wandte sie sich an Maya. »Sie sind verliebt.«

Ich lachte. »Wie kommst du darauf, wir könnten verliebt sein?«

»Okay, also …«, begann sie, sich auf die Aufzählung der Gründe vorbereitend. »In den Kursen sehen sie sich seltsam an. Sobald die Stunde vorbei ist, kommt der Typ rüber und denkt sich irgendeinen seltsamen Grund aus, um noch Zeit mit ihr zu verbringen. Etwa ›Äh, mein Mitbewohner und ich haben gestern die Skittles aufgegessen, äh, magst du mit mir zu CVS gehen und mir helfen, die Tüte zu mir nach Hause zu tragen?‹«

»Tja, das ist spannend«, meinte Maya.

»Da ist nichts«, beteuerte ich. »Außerdem gibt es ein paar schwerwiegende Probleme.«

»Allerdings.« Kate stellte sich gerade hin und bemühte sich um einen ernsten, professorenhaften Tonfall. »Anhand seiner Gedichte haben wir erkannt, dass er mental instabil sein könnte, doch schließlich ist er Musiker, da ist das wahrscheinlich normal.«

Ich hatte Kate von den Liedtexten erzählt, die er im Unterricht zitiert hatte, und von einem Gedicht, das er geschrieben hatte und das den Titel »O Captain! My Captain!« trug. »Allein der Titel«, hatte ich ihr vorgeschwärmt. Die Tatsache, dass ihn schon mal jemand anderes benutzt hatte, minderte seine Qualität in meinen Augen nicht im Geringsten. Soweit ich es verstanden hatte, handelte es von jemandem, der unter dem quälenden Druck stand, sein Leben in sichere Bahnen zu lenken. In zwei Monaten würde er seinen Abschluss machen können. Die reale Welt war kein Ort für einen vielversprechenden Musiker. Ich las zwischen den Zeilen, während alle in unserem Literaturkurs eine sorgenvolle Miene aufgesetzt hatten. Zunächst schien er zu erklären, wie es sich anfühlte, Feuer zu fangen, während man einen maßgeschneiderten Anzug trug. Dann ging es darum, zu Thanksgiving nach Hause zu fahren und von den Eltern und einem psychotischen Hund lebendig begraben zu werden. Es gab also einige Warnhinweise. Aber statt beunruhigt zu sein wie jeder normale Mensch, fand ich ihn wahnsinnig einfühlsam. Okay, faszinierend, um genau zu sein. Ich saß da wie hypnotisiert von seinen Worten und fragte mich, was das alles bedeuten sollte.

»Ein mental instabiler Musiker? Das ist genau dein Typ!«, behauptete Maya zuversichtlich. »Er passt genau zu dir.«

Es schien meine Freundinnen zu amüsieren, dass ich mich mit völlig anderen Leuten umgab, zu denen sie keinen Zugang hatten. Und es stimmte wohl, dass ich Berührungspunkte zwischen ihnen und den Kommilitonen aus meinem Literaturkurs vermied. Sie würden den Zirkel als »Pseudokünstler« bezeichnen, und vielleicht war das auch so. Für mich allerdings waren die Leute im Literaturkurs zauberhaft, weil sie sich mit Dingen beschäftigten, die sich nach dem College, in der realen Welt, unmöglich weiterverfolgen ließen. Diese Menschen schlugen sich die Nächte um die Ohren, um an Projekten zu arbeiten, die keinen wirklichen Zweck hatten – einfach nur, weil sie es liebten. Was hätten sie auch anderes tun können? Das war mir fremd. Ich bin in der Bronx aufgewachsen, mein Vater verdiente unseren Lebensunterhalt als Fensterbauer, und meine Mutter verbot mir, die Muppets zu gucken, weil diese ihrer Meinung nach eine Bande von Unruhestiftern waren.

Im College war ich ein wandelnder Gefühlsausbruch. Ein sanfter Druck, und ich spürte diese Empfindlichkeit in mir, ein prickelndes Gefühl. Nur ein leichter Druck von außen, und alles sprudelte unkontrolliert aus mir heraus. Es gab keine Grenzen, keine Bedingungen, für das, was ich sagte oder schrieb – oder wie lange ich etwas spüren würde. Der Literaturkurs war für mich eine ebenso wundervolle wie gefährliche Gelegenheit, mir diese Welt zu erschließen, ein Spielball der Gefühle zu werden, ohne dafür beurteilt zu werden. Okay, ein bisschen wurde ich schon beurteilt. Aber es war nicht so, dass die Leute um mich herum sagten, ich dürfe keine Gefühle haben. Schließlich hatten sie selbst auch welche. Meistens sagten sie Dinge wie: »Könntest du deine Gefühle weniger verworren ausdrücken, mehr erzählerisch, in flüssiger Dialogform?«

»Er passt perfekt zu ihr!«, stimmte Kate Maya zu. »Lasst uns überlegen … Da war dieser Bühnenautor mit der Highschool-Liebe in Florida.«

»Ich wollte ihm nur mal etwas Abwechslung gönnen«, schrie ich. »Außerdem wusste ich nicht, dass seine Freundin in Florida Cheerleaderin war. Dann hätte ich viel schneller aufgegeben – dagegen habe ich keine Chance.«

»Und dann gab es noch den kokainsüchtigen Fotografen«, ergänzte Maya.

»Nur an den Wochenenden!«

Kate verdrehte die Augen. »Danach kam der Drummer, dieser Einsiedler, der in unserem ersten Semester auf unserer Etage wohnte, nie sein Zimmer verließ und ausschließlich weiße, löchrige T-Shirts trug. Trotzdem war er sehr sexy, das muss ich zugeben. Puh, diese T-Shirts. Erinnert ihr euch, wie er einmal betrunken die Tür aus den Angeln gehoben und sie dann mit Absperrband wieder versperrt hat?«

»Zumindest war er ehrlich!«

»Was wir sagen wollen, ist, dass dieser spezielle Typ genau ins Schema passt. Du warst noch nie mit jemand Normalem zusammen.«

Ich sah von einer zur anderen. »Was ist normal?«

»Puh, du klingst schon genauso wie sie«, antwortete Kate.

»Weißt du, was lustig an Eve ist?« Maya wandte sich an Kate und tat so, als wäre ich gar nicht da. »Wenn du sie auf der Straße sähst, dann würdest du denken: Ein ganz normaler Mensch! Oder?«

»Absolut.« Kate nickte heftig.

»Vielleicht würdest du denken: Oh, sie ist hübsch! Aber das ist auch alles. Sie hat glattes braunes Haar, ist durchschnittlich groß, trägt diese türkisfarbenen Ohrringe … Aber dann legt sie ein kleines bisschen Eyeliner auf und fängt an, über ihre Gefühle zu reden – und schon merkt man, dass sie ein Freak ist.«

»Ein Freak?«, warf ich empört ein.

»Und genau deshalb magst du sie alle.«

»Wen mag ich?«

»Die anderen Freaks«, erklärte Kate. Ich stemmte die Hände in die Hüften und schnaubte. Sie lachten. Ja, kommt schon, kommt alle, und seht euch das Mädchen mit der traurigen Familiengeschichte an, mit dem Stiefvater, der uns eine Lavalampe und ein Animal House-Poster gekauft hat, um die coole Atmosphäre in unserer Wohnung noch zu unterstreichen.

»Aber gleichzeitig siehst du so normal aus und trägst ganz normale Sachen, und du magst Frozen Yogurt und schaust dir Project Runaway an – und deshalb bist du mit uns befreundet.«

»War mit euch befreundet«, korrigierte ich sie.

Maya schaute mich mit großen Augen an. »Läuft das auf eine dieser Situationen hinaus, in denen du seine Band spielen siehst, und er sieht dich an, während er spielt, und dann kommt der Moment, in dem du erkennst, dass er ein Lied über dich geschrieben hat? Dann gehst du nach dem Auftritt hinter die Bühne, um ihn zu treffen, und da sind all diese Mädchen, die um seine Aufmerksamkeit buhlen. Aber du kannst Macht Platz, Ladys, dieser Song handelt von mir! sagen.«

Ich lachte. »Du bist nur noch eine romantische Komödie davon entfernt, den Verstand zu verlieren.«

»Beantworte meine Frage«, verlangte sie wie einer der Richter in den täglichen TV-Gerichtsshows.

»Wir hatten bisher kein einziges Date, deshalb kann ich dazu noch nichts sagen – doch die Nacht ist noch jung.« Ich lächelte.

Sobald wir aufhörten, auf die Tür zu starren, tauchten die ersten Gäste in Zweier- und Dreiergruppen auf wie Motten, die vom Licht angelockt wurden – allerdings sehr seltsam gekleidete Motten. Wir passten auf, dass immer eine von uns hinter der Bar stand, und verteilten die Drinks. Jeder, der hereinkam, wirkte wie betäubt, sobald er die Grünpflanzen, die blinkenden Lichter und die Mülltüten entdeckt hatte. Die Wohnung sah aus wie eine Mischung aus Dschungel und einer dunklen Gasse voller Abfall.

Nachdem die erste Runde Cocktails ihre Wirkung erzielt hatte und alle miteinander ins Gespräch kamen, begannen die ersten, sich zur Musik zu bewegen, zunächst eher pflichtgemäß, dann mit immer mehr Hingabe. Die Playlist für diese Nacht zusammenzustellen war meine Aufgabe gewesen. Ich hatte alle Songs rausgesucht, die etwas mit Dschungel zu tun hatten – wegen der Grünpflanzen-Deko. Doch als ich bei »Welcome to the Jungle« und »Jungle Love« angekommen war, hatte sich die Auswahl als weitaus begrenzter entpuppt als angenommen. Also hatte ich noch ein paar Songs aus einem Album mit dem Titel »Sounds of the Jungle« hinzugefügt. Zwitschernde Vögel. Das Rauschen des Regens. Grillenzirpen. Entweder würde es auf dieser Party total gut ankommen oder überhaupt nicht. Wir würden sehen.

Meine Mitbewohnerinnen und ich tranken noch einen Shot zusammen, nur wir allein. Es war eine Party innerhalb der Party, und die gehörte nur uns.

»Auf alle falschen Entscheidungen«, rief Maya aus, und wir stießen die Gläser aneinander.

Ich gab vor, nicht nach Jesse Ausschau zu halten, aber das stimmte nicht. Meine Laune sank, da ich immer mehr bekannte Gesichter entdeckte, denen ich schon tausendmal begegnet war. Langsam wurde ich nervös und befürchtete, dies würde nur einer von vielen Abenden werden – keine neuen, immer nur dieselben Leute, dieselben Stimmen wie seit Jahren, nur in seltsamer Aufmachung. Ich rief mir ins Bewusstsein, wie ich mich vor ein paar Stunden fertig gemacht hatte – als ich das schwarze Spitzenteil angezogen, mich verstohlen im Spiegel gemustert hatte, innerlich übersprudelnd. Und ich spürte, dass ich streitlustig wurde. Es passiert immer wieder genau das Gleiche. Warum tust du dir das an?

Während die Party weiterging, bemerkte ich, dass ich in einer wenig behaglichen Traurigkeit versank. Ein Typ in einem T-Shirt, auf das er Malerkrepp geklebt hatte, stieß mit mir zusammen, und ich verschüttete meinen Drink. Viel schlimmer als die Tatsache, dass ich den Wodka an meinen Füßen spürte, fand ich die Aussicht, mit ihm reden zu müssen.

»Hey«, meinte er, »tut mir leid.«

»Schon okay«, erwiderte ich unverhältnismäßig gereizt. »Nett, dich kennenzulernen.«

»Eigentlich kennen wir uns schon«, erklärte er. »Ich bin Ben. Der Mitbewohner von Julian.«

»Ach ja.« Ich nickte und tat so, als würde ich mich erinnern. Dabei starrte ich auf die Worte, die er mit Edding auf das Malerkrepp geschrieben hatte: Tacoma Narrows Bridge. Er war groß und schlank, hatte helle Haut und dunkelblondes Haar.

Jetzt folgte er meinem Blick auf sein T-Shirt. »Die Brücke ist zusammengebrochen – also ist sie Müll«, erklärte er und schaute mich erwartungsvoll an. »Ich studiere Ingenieurwesen«, fügte er dann hinzu. »Weiß nicht … war zumindest ein Versuch.« Er zuckte mit den Schultern. »Tatsächlich bin ich auf all euren Partys gewesen.«

»Wirklich? Cool.« Es war alles andere als cool. Es war das Uncoolste, was ich heute Abend gehört hatte. Erwartete er tatsächlich, dass ich über den Brücken-Witz lachte?

»Sie sind immer lustig. Was war das noch mal für eine … mit all den roten Martinis?«

Ich sah ihn an, als wüsste ich es nicht mehr genau, obwohl das nicht stimmte.

»Valentinstag«, schob er hinterher.

»Jepp.«

»Da habt ihr nur rote Getränke ausgeschenkt, nicht wahr?«

»Ja.« Langsam nickte ich. »Haben wir.«

Es war nicht so, dass etwas an dem Typen verkehrt war. Er war einfach nur einer von vielen Bekanntschaften, die ich im Laufe der Jahre zufällig gemacht hatte – vor der Bibliothek, am Fahrstuhl, im Hamilton Deli. Man grüßt den anderen und fragt sich insgeheim, ob man weitergehen kann oder stehen bleiben und ein paar Worte wechseln muss. Heute Abend wollte ich etwas Vielversprechenderes. Deshalb reagierte ich so abweisend auf diese peinliche gesellschaftliche Verpflichtung. Wo blieb Jesse?

»Okay, ich werde mir mal noch etwas zu trinken holen«, verkündete ich. Noch einen Drink. Das war stets die angemessenste Art des Rückzugs. Nicht gerade perfekt, weil jeder weiß, warum man das sagt, aber immerhin dezent. Also wandte ich mich um und steuerte auf die Küche zu, wo meine betrunkenen Freundinnen sich leise unterhielten. Ich tat so, als hörte ich interessiert zu. Auch wenn ich es vehement abgestritten hätte, war ich mir doch jeder Person qualvoll bewusst, die sich in meiner Nähe aufhielt. Während ich mich unterhielt, ohne meine Gesprächspartner direkt anzusehen, starrte ich auf die Tür.

Es stand außer Frage, dass ich es in der Sekunde spüren würde, wenn er hereinkäme. Als er schließlich tatsächlich kam, hatte ich ihn schon bemerkt, ehe mir überhaupt bewusst war, wohin ich gerade guckte. Unsere Blicke trafen sich quer durch den Raum, und wir lächelten uns an. Er wich den Gästen links und rechts seines Weges aus. Sobald er näher kam, merkte ich, wie mich Erleichterung durchflutete.

»Du bist gekommen«, sagte ich und versuchte, nicht zu überrascht zu klingen.

»Natürlich!«, gab er zurück.

Ich erklärte ihm mein Outfit damit, dass »Müll« das Motto sei, als hätte er das nicht selbst erkannt, und beteuerte, unter anderen Umständen wäre das nicht meine bevorzugte Klamotten-Wahl gewesen. Alle klugen Gedanken waren wie weggeblasen.

»Du siehst gut aus«, sagte er. »So etwas solltest du in der Vorlesung anziehen.« Lächelnd strich er sein dunkles, fast schwarzes Haar aus den grünen Augen. Sein Haar war unordentlich und stand ab, vorn fiel es in die Stirn. Die Brille, die er in der Vorlesung trug, hatte er heute nicht auf.

»Ähm …« Ich lachte.

Dann sprachen wir ein bisschen über die anderen Studenten in unserem Kurs. Er erinnerte sich noch an einige Verse aus ihren Gedichten, und alle paar Minuten zitierte er amüsiert und fassungslos aus dem einen oder anderen. Ich hörte auf, mir den Kopf zu verdrehen und auf die Tür zu achten. Stattdessen sah ich zu ihm hoch, stellte mich dichter vor ihn, lachte über alles, was er sagte, und meine Augen strahlten. Ich stellte ihm Fragen und berührte seinen Arm, wenn er etwas Witziges sagte. Ich hatte Spaß.

Irgendwann kam Maya zu uns und verlangte nach meiner Aufmerksamkeit. Daraufhin verloren Jesse und ich uns in der Menge aus den Augen. Zusammen mit Maya ging ich in die Küche und versuchte, sie zu besänftigen. So schlimm konnte es schon nicht sein, was auch immer sie beunruhigen mochte. Mit einem hysterischen Gesichtsausdruck zeigte sie mir die leere Flasche Wodka. Wir durchsuchten die Küche, bis wir eine Flasche Espresso-Wodka fanden, die jemand mitgebracht haben musste. Er war in einer pyramidenförmigen Flasche und leuchtete grün auf, als wir ihn vom Tresen nahmen. Völlig begeistert hoben wir die Flasche mehrmals hoch und stellten sie wieder ab. Wir beschlossen, sie als »Die verzauberte Wodkaflasche« zu vermarkten, und fingen an, den Gästen den Wodka direkt aus der Flasche in den Mund zu kippen. Er sei viel zu erlesen, um ihn in Gläser zu füllen, erklärten wir, zu teuer, um auch nur einen Tropfen zu verschwenden. Sobald ich selbst ein paar Schlucke getrunken hatte, war ich plötzlich völlig überdreht und lächelte so breit, dass ich es in den Augenwinkeln spürte. Auf einmal verspürte ich den unersättlichen Drang, mich unter die Leute zu mischen, und so plauderte ich mit Wildfremden über ihre Verkleidung und die Partydekoration – etwas, was mir sonst nicht mal im Traum passieren würde.

Dabei hielt ich die ganze Zeit nach Jesse Ausschau und entdeckte ihn an verschiedenen Stellen im Wohnzimmer. Irgendwann sah ich, dass er ziemlich nah bei einem blonden Mädchen mit einem locker gebundenen Pferdeschwanz stand. Ein paarmal musterte er sie kurz und diskret. Auch sie hatte ihn bemerkt, erwiderte sein Lächeln, nickte ihm zu und lachte weiter mit ihren Freundinnen. Sie trug ein schwarzes rückenfreies Top, das sie aus einem Müllsack gebastelt hatte. Hübsch und nachhaltig – verdammt, die Karten wandten sich gegen mich! Es war bauchfrei und wurde mit einem Band im Nacken zusammengehalten. Prüfend schaute ich sie an, als könnte ich aus ihrer Miene schlau werden. Sie blickte ihre Freundinnen an, aber irgendwie schaffte sie es auch, immer wieder zu Jesse hinüberzusehen. Dann drehte sie sich um. Sie kannten sich. Ich sah, wie er sie leicht im Nacken berührte und seine Hand genau an dem Punkt unterhalb ihres Zopfes liegen ließ. Dann sagte er etwas zu ihr, was ich nicht verstehen konnte. Sie flüsterte ihm ins Ohr. Zwischen ihnen gab es ein geheimes Einverständnis, das ich nicht nachvollziehen konnte. Tja, es gab auch noch andere. Natürlich gab es auch noch andere. Diese Party bot unendlich viele Möglichkeiten. Die Mädchen standen bereit für ihn, für was auch immer.

Ich schob Sachen in der Küche hin und her und gab vor, sehr beschäftigt zu sein – mehr Alkohol, zum Gefrierschrank hin und wieder zurück, einen Stapel Tassen umräumen, eine Tüte Chips aufreißen. Kurz unterhielt ich mich mit Maya. Ein paar Minuten später sah ich ihn aus dem Augenwinkel mit einem anderen Mädchen, ziemlich unverblümt. Ihr Gesicht leuchtete auf, als er ihren goldenen Creolen-Ohrring berührte und mit dem Finger daran entlangfuhr. Von ihr ging ein solches Strahlen aus, dass man glauben konnte, sie sei der glücklichste Mensch der Welt. Mit dem Handrücken berührte sie leicht seinen Bauch, trank einen Schluck aus ihrem Plastikbecher und sah intensiv zu Boden. Mein Blick schoss zu ihm zurück. Ich mag diesen Mann wirklich sehr. Jetzt legte er seine Hand auf ihren Arm und lächelte sie an. Von ihr ging keine Gefahr aus, er war nicht dabei, eine zukünftige Version von »Wie wir uns kennengelernt haben« zu erleben. Ganz besonders für heute Nacht war er, alles in allem, perfekt.

Endlich gelang es mir, Jesse dazu zu bringen, mich quer durch den Raum anzusehen. Was passiert hier? Bin ich dran? Er flüsterte dem Typen neben ihm ins Ohr, und etwas an der Art, wie er dabei meinen Blick hielt, gab mir das sichere Gefühl, dass er über mich sprach. Plötzlich hatte ich eine Idee. Der Kerl neben ihm war ein Freund von Kate. Ich bahnte mir den Weg durch die Menge zu ihr.

»Kannst du herausbekommen, worüber Jesse gerade gesprochen hat?«, bat ich sie. Meine Stimme war ungewöhnlich laut.

»Gerade eben?«, fragte sie unbeeindruckt.

»Ja! Genau jetzt.«

Sobald Jesse und sein Freund sich trennten, schickte ich Kate hin. Ich stand abseits und ließ sie reden. Nachdem sie leise miteinander gesprochen hatten, sah sie mich an und griff nach meinem Arm. Gemeinsam gingen wir auf die andere Seite des Raums.

»Er hat gesagt – und ich schwöre es: ›Siehst du die Tussi da? Ich will ihr das Hirn aussaugen.‹« Sie rümpfte die Nase, als hätte es sie angewidert, die Worte auszusprechen.

»Was?«, fragte ich verwirrt.

»Er will dir das Hirn aussaugen.«

»Du meinst, vögeln?«

»Was?«

»Vögeln ergäbe mehr Sinn. Es klingt auch nicht so nach Zombie.«

»Oh«, erwiderte sie. »Klar. Vögeln. Wahrscheinlich.«

Die ganze Party schien innezuhalten. In diesem Augenblick waren all meine Vorstellungen, all die Gedankenspiele über diesen Abend mit einem Federstreich zunichte gemacht. Unvermittelt wurde ich ernst. »Das hat er gesagt?«

Desinteressiert nickte sie. Sie war hierfür die falsche Ansprechpartnerin. Während Kate sich auf bodenständige Einschätzungen verstand, waren meine anderen Freundinnen besser geeignet, mich auch ohne vernünftigen Grund blind zu unterstützen.

»Bist du sicher?«, hakte ich nach.

»Ja«, beteuerte sie irritiert. »Ich dachte, du hättest gesagt, er sei ein Meister der Dichtkunst.«

Ich lächelte. »Das ist Dichtkunst.«

Ich war in dem Stadium des Betrunkenseins, an dem man sehr direkt auf den Punkt kommt. Man sagt den Leuten freiheraus, was man empfindet. Packt sich die Dinge, die man haben will. Inzwischen tanzten immer mehr Gäste und drängten sich in der Mitte des Raums. Die Mädchenrunden hingen eng zusammen, man hörte das Lachen der Jungs. Während ich durch das Zimmer ging, spürte ich, wie etwas in meiner Kehle höherstieg und mich leicht erzittern ließ. Als ich auf Jesse zulief, trafen sich unsere Blicke. Es war einer dieser wenigen Momente tiefen Verstehens. Irgendwann würde ich womöglich eine Anspannung in meinem Innern spüren, eine plötzliche Starre, die Unfähigkeit, weiterzugehen. In diesem Moment aber genoss ich das Gefühl.

»Zeigst du mir dein Zimmer?«, bat er, sobald ich in Hörweite war.

»Auf jeden Fall«, erwiderte ich, drehte mich um und steuerte auf die Treppe zu, die hinunter zu unseren Schlafzimmern führte. Ich wusste, dass er mir folgte.

Mein Schlafzimmer war in einem grellen Rot gestrichen – das Resultat eines Malerei-Forschungsprojekts mit meinen Mitbewohnerinnen, bei dem wir alle Zimmer in unterschiedlichen Farben gestrichen hatten, eine brutaler als die andere, ohne darüber nachzudenken, wie sie im Falle eines Hangovers wirken würden. Mitten in der Nacht zog ich manchmal in Erwägung, mein Zimmer neu zu streichen, weil ich glaubte, keine Sekunde länger darin schlafen zu können. Dann lag ich im Bett und dachte darüber nach, ob rote Wände Auslöser für einen Nervenzusammenbruch sein könnten. Während ich noch darüber grübelte, schlief ich meist wieder ein. Ich habe das Zimmer nie dekoriert. Im College bedeutete einen Raum zu dekorieren, etwas an die Wände zu hängen. Und die Auswahl war entscheidend. Ich hatte nie das richtige Poster gefunden, das meine Identität unterstrichen hätte. Wenn ich im Laden mit fünf bis zehn Motiven konfrontiert wurde – eine Frau mit einem Regenschirm, die Brooklyn Bridge, der Central Park im Herbst – beugte ich mich unter dem Druck der Entscheidungsfindung. Stattdessen vertraute ich darauf, dass mein Bett mit dem weißen Bettbezug und den kleinen pinkfarbenen Herzchen darauf die Hauptattraktion des Zimmers war. Wenn ich das Gefühl hatte, harte Zeiten durchzumachen, half mir der Blick auf diese Bettwäsche.

Als ich ein Kind war, hatte, bei uns zu Hause, meine Mutter zwar billige Möbel gekauft, aber trotz ihrer bescheidenen Möglichkeiten Wert auf weiche Bettwäsche gelegt. Ein gemütliches Bett sei das Einzige, was zähle, hatte sie immer betont. Jedes Jahr im College hatte ich mir, während ich mir mein Zimmer im Wohnheim einrichtete, vorgestellt, wie sie mein neues Zimmer betreten und sich umsehen würde. Sie würde die nackten Wände mit der abgenutzten Farbe betrachten, die kalten Flure und die grauenhafte blaue Matratze mit dem verknitterten Etikett und dem Laken, das an den Seiten heraushing. »Lass uns mal dein Bett machen!«, hätte sie fröhlich vorgeschlagen und keine Widerrede geduldet. Dann hätte sie frisch gebügelte, hellgrüne und lavendelfarbene Bettwäsche ausgepackt, und mit dem Aufschütteln des letzten Kopfkissens hätte die Welt heller ausgesehen.

Jesse ging durch mein Zimmer und musterte alles mit prüfendem Blick. Währenddessen saß ich auf der Matratze und versuchte, mich zu sammeln. Ich spürte, wie mein Herz klopfte und meine Haut prickelte, im Mund hatte ich einen bitteren Geschmack. Es war das Ergebnis seiner Anwesenheit in meinem Zimmer, verbunden mit der Wirkung von Espresso-Wodka. Er beugte sich über meinen Schreibtisch und kritzelte etwas auf ein Stück Papier. Dann klebte er den Zettel an die Wand über meinem Bett. Ich sah ihn mir an. Walden Pond stand darauf.

»Walden Pond?«, las ich fragend vor.

»Es ist ein Witz«, erklärte er.

»Ein ziemlich britischer Witz.«

»Verstehst du ihn nicht?«

»Ich hasse es, das zugeben zu müssen, aber ich habe tatsächlich noch nie Walden gelesen.«

Erstaunt sah er mich an.

»Was? Ist das schlimm?«, wollte ich erschrocken wissen.

»Ein bisschen. Es ist ein Klassiker. Darin geht es um Schlichtheit. Leere Wände. Du bist ein ziemlich geradliniger Mensch. Das gefällt mir an dir.«

»Entschuldige«, rief ich und schlug mit der Faust auf mein Bett. »Ich bin vielschichtig

»Mmmm-hmmm«, erwiderte er und sah mich von oben bis unten an. »Die Wände sind ziemlich kahl für jemanden, der über Musik schreiben will. Wo ist dein Rolling-Stones-Poster?«

Darauf hätte ich sagen sollen: »Ich will nicht wegen irgendeiner Band oder eines Songs über Musik schreiben, sondern weil Musik Situationen prägt und Menschen und die Moleküle in deinem Innern.« Stattdessen erwiderte ich gar nichts, und kurz schwiegen wir beide.

»Danke, dass du zu meiner Party gekommen bist«, sagte ich schließlich mit einer aufgesetzten Begeisterung in der Stimme. Danke, dass du zu meiner Party gekommen bist? Wie alt war ich? Elf?

Mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck sah er mich an. »Ich bin gern gekommen.«

Wieder entstand eine Pause, und er schaute sich erneut um.

»Schöne Mütze«, meinte Jesse dann und zeigte auf die grün und pink gemusterte Duschhaube, die auf meinem Bücherregal lag. Hastig sprang ich vom Bett auf, um sie zu verstecken, doch er hatte sie sich schon geschnappt und musterte sie nun mit äußerster Konzentration. Ich gab mich geschlagen und ließ mich aufs Bett zurückfallen. Meine Freundinnen versuchten seit Jahren, mir diese Duschhaube auszureden. Gelegentlich hatten sie sich schon in mein Zimmer geschlichen und sie in einer Tüte mit Papiertaschentüchern versteckt, von der sie wussten, dass ich sie wegwerfen wollte. Doch es war unmöglich, sie vor mir zu verstecken.

»Die ist cool, die ist wirklich cool«, beteuerte er. »Sehr Martha-Washington-mäßig.«

»Vielen Dank«, erwiderte ich lächelnd. »Genau das wollte ich damit bezwecken.«

»Darf ich dir etwas verraten?«

»Klar …«, erwiderte ich vorsichtig. Ich starrte auf das viereckige Stück Teppich zu meinen Füßen, das sich zu bewegen schien. Meine Augen spielten mir einen Streich. Der Saum des Teppichs war wie Treibsand, der weiter und weiter in einen Strudel versank. Es passiert das Gleiche wie immer. Nur für diese Nacht? So einfach ist es nie. Es könnte schlimm enden. Richtig schlimm. Warum nimmst du dich so wichtig? Was machst du eigentlich hier? Warum hast du ihn eingeladen? Nur, damit du hier sitzen und dich von jemandem enttäuschen lassen kannst? Gut gemacht! Weiter so! Unbedingt. Lass dich heißmachen, und dann schlaf mit ihm. Und dann wird es vorbei sein.

»Ich bin gern in dem Kurs mit dir«, sagte er.

»Ehrlich?« Ich sah ihn an.

»Ja«, beteuerte er lachend. »Warum? Ist das so erstaunlich? Du siehst aus, als hätte ich dir gerade eröffnet, dass dein Hund gestorben ist.«

»Keine Ahnung«, erwiderte ich hastig.

Er griff nach meiner Hand und zog mich hoch. Dann legte er mir den Arm um die Taille, drehte sich zu meinem Bücherregal um und fragte mich, ob ich etwas mit ihm lesen wolle. Ein paar Sekunden lang stand ich einfach nur da.

»Ich glaube, mir wird schlecht«, erklärte ich kleinlaut, ehe ich mich von ihm löste und mir die Hand auf den Mund presste.

»Vom Alkohol?«

»Nein«, antwortete ich und schüttelte den Kopf. »Von deinem Vorschlag.«

Ich starrte auf das Bücherregal, dann lächelte ich. Ich hatte ihn. Er lachte.

»Du bist echt ein Nerd«, sagte er.

»Ich bin ein Nerd? Du bist doch derjenige, der sich auf Walden bezieht und vorschlägt, wir könnten zusammen was lesen.«

»Das war eine romantische Geste.«

»Normalerweise mag ich keine romantischen Gesten.«

»Ich bitte dich, natürlich magst du sie«, widersprach er und verdrehte die Augen. »Erzähl mir nicht, du seist da die große Ausnahme. Das kaufe ich dir nicht ab.«

»Nein, ich mag so etwas nicht. Wirklich nicht.«

Ganz plötzlich hob er mich hoch und legte mich aufs Bett, sein Körper war über mir, sein Gesicht dicht vor meinem. Er wartete darauf, dass ich ihn ansah. Das war mir bewusst, doch so schnell gab ich nicht nach. Also schaute ich überallhin, nur nicht zu ihm. Ich werde dich nicht ansehen. Ich werde dich nicht ansehen. Ich sah ihn an. Sofort beugte er sich hinunter und küsste mich. Verloren. In meinem Kopf drehte sich alles, das Zimmer war in weite Ferne gerückt.

Es klopfte laut an der Tür.

»Hey, Leute!«, hörte ich Kate rufen, und Maya lachte. Und als ich meinen Kopf ein bisschen zur Seite neigte, bemerkte ich Kates Hand, die sich durch den Türspalt schob und das Licht ausmachte. Dann zog Kate schnell die Tür zu und hielt sie von außen zu.

»Wir lassen euch allein, sobald wir hören, wie ihr vögelt«, schrie sie.

»Deine Freundinnen drehen ein bisschen durch«, stellte Jesse fest.

Keiner von uns machte Anstalten, das Licht wieder einzuschalten, und ein paar Minuten lang küssten wir uns im Dunkeln. Dann stand er auf, und ich hörte, wie er zur Tür lief. Will er sie aufmachen? Verschwindet er jetzt? Er schloss ab.

Das Geräusch der Verriegelung löste etwas in mir aus. Ich setzte mich hin und schob mein Kleid zurecht, bis es weiter über meine Beine reichte. Als Jesse zurückkam, versuchte ich mich zu entspannen. Er fing an, die Ketten, die ich trug, über meinen Kopf zu streifen, eine nach der anderen. Ich spürte seine Fingerspitzen an meinem Hals. Als er damit fertig war, umarmte er mich.

»Was hast du da eigentlich an?«

»Ich dachte, es gefiele dir.«

»Das bist nicht du«, erklärte er.

»Gott sei Dank«, entgegnete ich lächelnd. »Von diesem Mädchen brauche ich eine Pause.«

Ich bemerkte, wie er in seine Hosentasche griff, und dann sah ich das Licht seines Handys, das plötzlich immer näher auf mich zukam.

»Was tust du da?«, wollte ich wissen. Er stöhnte.

»Nichts«, gab er zurück, und dann verschwand das Licht wieder. »Mist. Ich muss los.«

»Was?« Plötzlich stellte ich mir vor, wie ich meinen Mitbewohnerinnen diese Nachricht emotionsgeladen überbringen würde. Er ist gerade gegangen!

»Es gibt da etwas, was ich erledigen muss«, sagte er vage.

»Okay …«

»Sei nicht sauer. Sagen wir mal, ich habe einen Lieferservice, allerdings mit der Art von Waren, die ich sofort liefern muss, wenn jemand etwas haben möchte. Selbst wenn ich gerade … etwas anderes zu tun habe.«

»Du meinst … Was hast du …? Wie bist du …? Was?«

»Entscheide dich für eine Frage, Schätzchen.«

Ich schaffte es, tatsächlich einen ganzen Satz zustande zu bringen. Ich ahnte, dass er über Drogen sprach – und darüber, dass er damit handelte. Doch danach konnte ich nicht direkt fragen, denn gleichzeitig wollte ich nicht, dass er es bestätigte. Deshalb redete ich drum herum. »Wie bist du da reinge­raten?«

»Ein Stellenangebot im Internet.«

»Im Ernst?«

»Nein.« Er lachte.

»Oh.«

»Aus dem gleichen Grund, warum ich in der Bücherei arbeite. Ich brauche das Geld. Schließlich bin ich ein armer Junge aus Nebraska, und so wie es aussieht, werde ich ein noch ärmerer erfolgloser Musiker. Wie auch immer. Eine langweilige Geschichte, die du schon tausendmal gehört hast. Ich bin sicher, du kannst es dir vorstellen.«

Autor

Leslie Cohen
Leslie Cohen ist in New York City geboren und aufgewachsen. Sie studierte an der renommierten Columbia University Literatur. Nach dem Abschluss arbeitete sie unter anderem als Musikjournalistin für eine Tageszeitung in Colorado. »Ab morgen für immer« ist ihr Debütroman.
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