Die Lady und der teuflische Normanne
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Nordengland, früher Herbst 1068
Lady Aelia tat, was sie konnte, um ihre Mannen zu beruhigen, bevor es zur Schlacht kam. Sie schritt den Palisadenzaun entlang und sprach auf die Bogenschützen ein, appellierte an ihren Mut, lobte ihre Tapferkeit im Kampf.
„Wir haben die letzten Monate dem Feind schließlich deshalb so erfolgreich getrotzt, weil es uns nicht an Geschicklichkeit mangelt!“, rief sie ihnen zu. „Ihr seid würdige Krieger, ihr seid Ingelwalds Helden! Fürchtet nicht den normannischen Bastard Fitz Autier, der unser Land erobern will. Er ist auch nicht anders als Gui de Reviers oder irgendeiner der anderen, die ihr im Kampf getötet habt – er ist machtlos gegen unsere Stärke!“
Aelia hoffte, dass das stimmte. Die Geschichten, die sich um Mathieu Fitz Autiers Eroberungen rankten, waren zahlreich und furchtbar. Von König William gesandt, sollte er die Gebiete erobern, in denen andere Krieger versagt hatten; seine Skrupellosigkeit hatte ihn in Northumberland bereits zur Legende werden lassen. Kein Angelsachse, sei es Mann, Frau oder Kind, blieb verschont, wenn Fitz Autier die Schlacht gewann.
Aelia würde sicherstellen müssen, dass er in Ingelwald scheiterte.
Der Tag brach schon an, und ein dunstiger Nebel lag über dem Tal. Die Geschäftigkeit vor den Toren Ingelwalds konnte sie eher spüren, als dass sie etwas sah. Fitz Autier war ohne Zweifel dabei, seine Männer in Position zu bringen. Aelia weigerte sich aber, sich von einem Gegner, den sie noch nicht einmal gesehen hatte, entmutigen zu lassen.
Viele respektable Thanes von Northumberland waren nach Ingelwald gekommen, nachdem ihre eigenen kleineren Herrensitze an die Normannen gefallen waren, und hatten Wallis, Aelias Vater, den Lehnseid geleistet. Nun, da Wallis und viele andere tot waren, war es an Aelia, ihr Gefolge von der normannischen Gefahr zu befreien.
Plötzlich riss jemand so ruckartig an ihrem Arm, dass sie fast gestürzt wäre. Sie drehte sich um und sah sich dem verärgert dreinblickenden Selwyn, ihrem Verlobten, gegenüber. Seinem bärtigen Gesicht fehlte die jugendliche Anmut, die jemand in Aelias Alter noch gehabt hätte. Und nun fehlten ihm leider auch die Ländereien, die Wallis bewogen hatten, diesem Mann seine Tochter zu geben.
Wallis hatte sich mit seinem nächsten Nachbarn, der damals ein schmuckes Anwesen südlich von Ingelwald besessen hatte, verbünden wollen. Und er hatte Aelia auch nach der Hochzeit noch in der Nähe haben wollen. Das war der Hauptgrund gewesen, warum er Selwyn seine Tochter versprochen hatte.
„Geh hinein zu den Frauen und Kindern“, befahl er verärgert und mit einer sehr feuchten Aussprache.
Angewidert wand Aelia ihren Arm aus seinem eisernen Griff. „Nein. Dies sind die Krieger meines Vaters. Sie verlassen sich auf mich in …“
„Ingelwald steht jetzt unter meiner Obhut, genau wie du und Osric“, erklärte Selwyn nicht zum ersten Mal.
„Mein Vater hat keine solche Regelung getroffen“, entgegnete Aelia mit aufflammender Wut, „wie du sehr wohl weißt.“
Wallis hatte Selwyn seine Tochter nur versprochen, um ein Bündnis mit dem starken Nachbarn einzugehen – der sein Land allerdings inzwischen an die Normannen verloren hatte. Das ursprüngliche Ziel der Verbindung war also nun hinfällig, und Aelia würde dieser geschmacklosen Verlobung ein Ende setzen, sobald sie die Schlacht für Ingelwald entschieden hatte.
Auf der Ebene unterhalb des Guts war es unnatürlich ruhig. Die Frauen und Kinder Ingelwalds saßen zusammengedrängt in der Halle und beteten um Schutz. Aelia beabsichtigte nicht, sich zu ihnen zu gesellen.
„Wallis hätte nie gewollt, dass du dich wie eine Kampfjungfer in Hosen und Wams kleidest“, sagte Selwyn, „und doch stehst du hier zwischen den Männern mit deinem Köcher auf dem Rücken und dem Bogen im Anschlag. Was denkst du dir dabei, Weib? Dass du den Bastard Fitz Autier töten kannst?“
Nichts hätte Aelia mehr Freude bereitet, als den Normannen durch ihren Pfeil sterben zu sehen. Aber sie wäre auch zufrieden, wenn einer der Männer ihres Vaters diese Heldentat vollbringen würde.
„Aelia!“
Sie und Selwyn drehten sich um und sahen einen jungen rothaarigen Burschen auf sie zurennen. Ihr Bruder war kaum erst zehn Jahre alt, besaß aber die verwegene Kühnheit und unbeugsame Tapferkeit eines doppelt so alten Mannes. Aelia versuchte vorsichtig, den Jungen aus dem Geschehen herauszuhalten und gleichzeitig seine beeindruckende Tatkraft zu würdigen.
„Hier oben ist es gefährlich, Osric“, sagte sie. „Geh weg, Junge!“, befahl Selwyn.
Darauf bedacht, die Krieger in der Abwehr nicht zu verunsichern, zog Aelia Osric in eine ruhige Ecke und sprach sanft auf ihn ein. „Habe ich dir nicht eine Aufgabe zugeteilt – eine sehr wichtige?“
„Doch“, sagte er.
„Aber dennoch bist du hier bei den Bogenschützen. Solltest du nicht den Schwertkämpfern mit ihren Panzerhemden helfen?“
„Aelia, das kann ich nicht“, protestierte der Junge aufgebracht. „Ich bin ein Herr Ingelwalds, und ich muss …“
„Pah!“, ertönte hinter ihr Selwyns kehliger Kommentar, aber sie ignorierte ihn.
„Du musst zu den Reitern von Vater Fyrd zurückkehren, Osric. Sie werden Unterstützung bei der Vorbereitung auf die Schlacht brauchen.“
„Sie sind schon aufgesessen und bereit für den Tagesanbruch“, sagte ihr Bruder. „Mein Platz ist hier an deiner Seite. Ich habe meinen Bogen.“ Und wie leicht könnte er erschossen werden! Aelia suchte fieberhaft nach einer neuen Aufgabe für ihn, etwas, das ihm nicht unbedeutend erscheinen würde.
„Herrgott, Weib!“, knurrte Selwyn. Er stieß Aelia zur Seite, packte Osric am Genick und schob ihn vom Palisadenzaun weg. „Verschwinde, Junge! Hier ist kein Platz für ein Balg.“
„Selwyn, hör auf damit! Er ist nicht dein …“
Die Sonne zeigte sich hinter dem fernen Horizont, und mit ihr kamen die ersten gegnerischen Pfeile. Ingelwalds Bogenschützen erwiderten den Angriff, Pfeil für Pfeil, während sich die gerüsteten Soldaten im Hof anschickten, durch das Tor zu reiten.
Aelia vergaß Osric für einen Moment, als sie ihren Platz inmitten der Bogenschützen einnahm und auf die Normannen herabschaute, die das Gut und das Land ihres Vaters, ihre Heimat, erobern wollten. Sie zielte und traf einmal, zweimal und ein drittes Mal, bevor sie einen großen Reiter auf einem riesigen Schlachtross bemerkte, der seine Männer um sich versammelte.
Aelia konnte sein Gesicht nicht sehen, denn er trug eine Rüstung mit Helm. Als ihr klar wurde, dass dieser Reiter Fitz Autier sein musste, hob Aelia ihren Bogen und zielte.
Aber sie fand keine verwundbare Stelle.
Sie kniff ein Auge zu und musterte ihn unablässig, darauf wartend, dass er einen Arm heben oder sich so drehen würde, dass er einen verwundbaren Körperteil enthüllte.
Es war vergebens. Er war ein erfahrener Krieger, der Besseres zu tun hatte, als sich eine Blöße zu geben. Seine Bewegungen waren kraftvoll und kontrolliert, seine Reitkunst vortrefflich. Dennoch ließ Aelia ihn nicht aus den Augen.
Tatsächlich nahm er seinen Helm für einen Moment ab, und sie stellte fest, dass der normannische Bastard ein recht wohlgestalteter Teufel war. Selbst aus der Distanz konnte Aelia das männliche-markante Gesicht mit dem ausgeprägten Kiefer erkennen. Sein dunkles Haar war lang für das eines Normannen. Es fiel ihm in nassen Strähnen über die vor Ärger – oder Unzufriedenheit – gerunzelte Stirn. Er war so gut aussehend, dass Aelia keinen Zweifel daran hatte, dass viele normannische Mädchen seinen Tod betrauern würden.
Sie nahm ihn ins Visier, aber ihr Ziel verschwamm, als sie ein plötzliches Zittern und eine seltsame Benommenheit spürte. Eigentlich hatte sie die ominösen Worte, die ihre Mutter Jahre zuvor ausgesprochen hatte, schon wieder vergessen, aber nun, als der Anblick des normannischen Kriegers einen Hitzeschub in ihr auslöste, der sie innerlich zu versengen drohte, erinnerte sie sich daran: „Die Erde wird beben und das Zittern deines Körpers wird dir anzeigen, dass du deinen wahren Gefährten vor dir siehst.“
Aelia hatte immer an diese Vorhersage geglaubt. Es war schon ihrer Mutter und ihrer Großmutter genauso widerfahren, und auch deren Großmüttern, aber dennoch … Es konnte doch unmöglich ein Normanne sein – ein normannischer Bastard!
Fitz Autier konnte unmöglich der Mann sein.
Aelia schoss den Pfeil ab. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, während sie darauf wartete, dass er sein Ziel traf. Der Atem stockte ihr in der Kehle. Mit den Händen hielt sie den Bogen fest umklammert, bis sie plötzlich Blut über das Gesicht des Normannen rinnen sah.
Aelias jubelte innerlich, denn sie hatte geschafft, was jeder englische Thane vor ihr angestrebt hatte: Tod und Zerstörung den normannischen Anführern, die gekommen waren, um ihnen ihr Land wegzunehmen.
Aber nein … Fitz Autier war nicht tot, nur angeschossen. Blut floss aus der Wunde in seiner Wange, wobei Aelias Pfeil nicht darin steckte. Enttäuscht stellte sie fest, dass sie ihn wohl nur gestreift hatte.
Sie sah, wie er den Kopf hob und zu ihr heraufschaute. Ihre Blicke trafen sich, und in dem Moment wurde Aelia klar, dass Fitz Autier wusste, dass sie ihn verwundet hatte. Sie fragte sich, ob er auch dieses quälende Zittern spürte, das sie nun wieder heimsuchte, als er sie anblickte.
Die Schlacht wütete den ganzen Vormittag und zog sich noch weit in den Nachmittag hinein. Aelia schaffte es, die unbequeme Ahnung abzuschütteln, dass ihre Empfindung beim Anblick Fitz Autiers genau das war, was ihre Mutter ihr vorausgesagt hatte. Ihre Mutter, die bei Osrics schwieriger Geburt gestorben war, hätte niemals wissen können, dass Aelia eines Tages diesem wilden normannischen Feind gegenüberstehen würde. Sie schob ihre Gefühle auf die ungewöhnliche Situation, in der sie sich befand.
Es bot sich keine weitere Gelegenheit, den normannischen Bastard zu erledigen. Die Krieger Ingelwalds schafften es, das Tor zu verteidigen, wenn auch zu viele Bogenschützen fielen. Die Schwertkämpfer konnten den Feind daran hindern, das Gut einzunehmen. Als der Abend dämmerte, zogen die Normannen sich in ihr Lager jenseits des Waldes am Südrand Ingelwalds zurück; zweifellos, um sich auf die Schlacht am nächsten Morgen vorzubereiten.
Auf dem Gutshof erhellten Fackeln die Dunkelheit. Die Dorfbewohner, die um das Gut herum lebten, hatten ihre Hütten verlassen und suchten Schutz hinter der Palisade.
Aelia mischte sich unter ihre Gefolgschaft. Sie kümmerte sich um die Verwundeten und machte den Männern, die Ingelwald verteidigten, Mut. „Der Sieg ist euer!“, rief sie. „Eure Wunden werden heilen, und Ingelwald ist stolz auf eure Tapferkeit, eure Opferbereitschaft!“
Alle, die nicht tödlich verwundet waren, scharten sich um Aelia, um ihren Worten zu lauschen und neue Hoffnung zu schöpfen. Sie blieb bei ihnen, bis alle Wunden versorgt worden waren und alle genug zu essen hatten. Dann verließ sie die Halle, um die Einfriedung zu inspizieren und nach den Familien aus dem Dorf, die hier Schutz suchten, zu sehen.
Die Nahrungsmittelvorräte gingen zur Neige, aber hinter der großen Halle gab es einen Brunnen mit frischem Wasser. Wenn morgen die Schlacht so verlaufen würde wie geplant, würden sie die Normannen besiegen, und das Leben in Ingelwald würde zur Normalität zurückkehren.
Aelia bahnte sich einen Weg zum Brunnen, schöpfte Wasser und wusch sich den Schmutz der Schlacht vom Gesicht und von den Händen.
Sie hatte Selwyn nicht in der Halle gesehen, aber er war auch nicht auf dem Hof. Auch wenn sie ihn nicht heiraten wollte, so gedachte sie doch, ihm Respekt zu zollen, denn er hatte großen Einsatz für Ingelwald gebracht, als er den Kampf vor den Toren des Guts angeführt hatte.
Sie trank einen großen Schluck des klaren, sauberen Wassers, als sie hörte, wie einer von Osrics Kameraden ihren Namen rief. Kurz darauf stand er neben ihr. „Osric ist weg!“
Sie wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. „Welche Anweisung hatte er denn bekommen?“
„Modig hat uns befohlen, auf das Dach der Scheune zu klettern und Alarm zu schlagen, falls die Normannen den Zaun durchbrechen würden.“
„Und Osric hat seinen Posten verlassen?“
„Ja, aber …“
„Wenn du ihn findest, sag ihm, dass er mir dafür Rechenschaft ablegen muss“, sagte Aelia, obwohl sie wusste, dass Osric keine Angst vor ihr hatte. Er war ein willensstarker Kerl, dem ihr Vater seit dem Tod ihres älteren Bruders Godwin vor zwei Jahren in seiner Trauer viel zu viel hatte durchgehen lassen. Andererseits war Osric sich der Tatsache bewusst, dass dies ungewöhnliche Zeiten waren und er unter genauer Beobachtung stand.
„Nein! Er ist weg, Mylady! Außerhalb des Guts!“
Aelia schlug das Herz bis zum Hals. „Außerhalb? Was meinst du denn, Grendel? Wohin?“
„Er hat gesagt, er würde den Bastard Fitz Autier selbst töten!“
Aelia hielt sich am Stamm der Eiche fest, in deren Ästen Osric und seine Freunde immer unbeschwerte Stunden verbrachten. Es waren in letzter Zeit schon zu viele Menschen gestorben. Sie hatte Godwin verloren, und vor nicht einmal zwei Monaten ihren Vater. Sie wollte nicht auch noch Osric verlieren.
„Was hat er dir gesagt?“ Sie unterdrückte ihre Panik und schritt wieder auf die Halle zu, während Grendel hinter ihr herlief. „Welchen Plan hatte er?“
„Keinen, außer dass er Fitz Autier im Schlaf töten wollte. Osric hat gesagt, dass Selwyn ihn wie ein hilfloses Kind behandelt hat, und dem alten Mann würde er es zeigen.“
Aelia hätte wissen müssen, dass Osric so reagieren würde. Er betrachtete fast alles, was jemand sagte, als persönliche Herausforderung. Und selbst wenn Selwyn Osric eine würdige Aufgabe übertragen hatte, so musste es für Osric dennoch einer Beleidigung gleichgekommen sein, von der Schlacht ausgeschlossen zu sein.
Sie musste Alarm schlagen und eine Truppe von Männern zusammenstellen, die Osric retten würden. Andererseits wäre es töricht, sich im Dunkeln in einen Kampf zu begeben.
Möglicherweise gab es eine bessere Möglichkeit.
Sie sandte Grendel zum Waffenlager, damit er mit den Männern essen konnte, und schritt die Palisade an der Ostseite ab, bis sie zu einem kleinen, gut versteckten Durchschlupf kam, den sie und ihre Geschwister schon früher immer benutzt hatten, um das Gut heimlich zu verlassen. Es wäre sinnlos, eine ganze Truppe ins normannische Lager zu schicken, wenn ein einzelner Kämpfer das Problem mit einem viel geringeren Risiko lösen konnte.
Aelia kannte das Terrain gut. Sie war hier aufgewachsen, hatte das Land mit ihrem Pferd durchstreift und war mit ihrem Vater und Godwin auf die Jagd gegangen.
Sie würde versuchen, Osric abzufangen, bevor er überhaupt in das Lager der Normannen vordringen konnte. Falls er ihr entwischen würde, müsste sie sich etwas anderes einfallen lassen.
Die Verbissenheit, mit der Ingelwald sich verteidigte, überraschte Mathieu Fitz Autier nicht. Aber dass sie ein Kind als Mörder schickten, war entweder einfach nur dumm oder aber genial. Der Junge behauptete, Wallis‘ Erbe zu sein, und wenn das stimmte, würde er eine hübsche Geisel abgeben.
Aber die Angelegenheit konnte bis zum Morgen warten. Seine Männer waren müde vom Kampf, und den Jungen hatten sie geknebelt und gefesselt, sodass er für die Nacht erst einmal gut untergebracht war. Wenn Wallis ihn zurückhaben wollte, würde er sich bei Tagesanbruch vielleicht noch vor dem Kampf ergeben. Dann würde Mathieu den Gefolgsherrn mitsamt seinen Söhnen und Lady Aelia, seiner Tochter, gefangen nehmen.
König Williams Befehl war eindeutig. Mathieu sollte seine englischen Gefangenen persönlich nach London bringen, wo sie vermutlich öffentlich vorgeführt und hingerichtet werden würden.
Im Feldlager war noch alles ruhig. Mathieu glaubte nicht, dass Wallis im Dunkeln einen Angriff wagen würde, aber er hatte trotzdem Wachen aufgestellt, die ihn im Fall des Falles rechtzeitig warnen sollten. Mit einer Fackel passierte er die kleinen Zelte, die seinen Soldaten Obdach boten, und steuerte sein eigenes, größeres Zelt an, in dem er nicht nur schlief, sondern sich auch mit seinen Feldherren traf, um Strategien auszuarbeiten und die Schlacht zu planen.
Er duckte sich unter der Zeltklappe hindurch und ließ sie lose hinter sich zufallen. Dann zog er sein Steppwams aus, goss Wasser aus einem Krug in eine Tonschale und kühlte seine Wunden. Erstmals erlaubte er sich, über den Bogenschützen nachzudenken, dessen Pfeil ihm fast den Wangenknochen zerschossen hätte.
Der Schütze war eine Frau.
Selbst aus der Ferne hatte man sehen können, dass sie mit ihrem goldenen Haar, das in der Sonne rötlich schimmerte, eine zarte Schönheit war, die einen krassen Gegensatz zu den rauen Kriegern um sie herum bildete. Bei ihrem Anblick erfasste ihn eine seltsame Ahnung und hielt ihn wie mit eisernem Griff fest, während der Boden unter seinen Füßen zu beben schien. Die Empfindung verwirrte ihn dermaßen, dass er jede Vorsicht vergaß, und er kam erst wieder zur Besinnung, als ihm sein Helm aus der Hand zu gleiten drohte.
Als ihn der Pfeil einen Moment später gestreift hatte, hatte er nach oben geschaut, und ihre Blicke waren sich begegnet. Es war, als ob …
Nein, er war doch kein Tölpel, der sich sofort von einem hübschen Gesicht betören ließ. Außerdem war das eine angelsächsische Frau, die ihn töten würde, wenn sie die Gelegenheit dazu bekäme. Sie hatte es an diesem Morgen ja fast schon geschafft.
Mathieu wusch sich das Blut von der Wange. Man würde die Wunde vermutlich nähen müssen, aber er wollte Sir Auvrai jetzt nicht damit behelligen. Er straffte die Schultern und dehnte den Rücken, wobei er weitere Wunden bemerkte. Das war der Preis des Krieges, nicht mehr und nicht weniger. Aber diesmal würde er auch die Kriegsbeute bekommen, wenn König Williams Feind besiegt war.
Dieser Sieg würde Mathieu zu dem Land verhelfen, das er schon lange begehrte, und zur Hochzeit mit der schönsten Frau der Normandie – Lady Clarise, der Tochter von Lord Simon de Vilot.
Mathieu diente William seit Jahren. Als Bastard eines adligen Vaters hatte er weniger Rechte als seine ehelichen Halbbrüder, und er besaß nichts als sein Pferd und seine Rüstung. Trotzdem hatte er sich den Respekt und die Zuneigung seines Herrn, der jetzt der König von England war, erarbeitet. Bald würde er sich seinen Lohn nehmen. Als Lehnsherr von Ingelwald und der umliegenden Ländereien und als Schwiegersohn Simon de Vilots wäre Mathieu seinen Brüdern gleichgestellt.
Nein, er wäre ihnen sogar überlegen.
Aelia musste über die Ignoranz der Normannen, die ihr Lager direkt am Fluss aufgeschlagen hatten, lachen. Wussten sie denn nicht, dass das Rauschen des Wassers jedes Geräusch möglicher Eindringlinge übertönte? So war es ihr möglich, sich unbemerkt heranzuschleichen, und der herumliegende Unrat war ein dankbares Versteck, von dem aus sie beobachten konnte, wie die Männer sich nach und nach in ihre Nachtlager begaben.
Leise schlüpfte sie unter eine ausrangierte Plane aus Zelttuch und hob eine Ecke an, sodass sie den Platz im Auge behalten konnte. Sie schloss die Augen, beruhigte sich, indem sie sich zwang, langsam und tief zu atmen, und stellte sich auf eine lange Wartezeit ein. Sie hatte Osric im flackernden Licht der Fackeln noch nicht entdeckt, aber im Lager war alles ruhig. Hätte ihr Bruder Fitz Autier getötet, wäre das anders gewesen, es sei denn, man hätte die Leiche des Normannen noch nicht gefunden.
Wo könnte er sein?
Einen Augenblick später lief Fitz Autier in ihr Blickfeld, und erneut überkam sie dieses seltsame Beben. Diesmal war sie sich sicher, dass es durch die Angst um Osric ausgelöst wurde. Der Bastard schritt sein Lager ab und ging direkt an ihr vorbei. Auch wenn der Ruf des Normannen ihm nach Ingelwald vorausgeeilt war, so handelte es sich trotzdem bloß um einen Menschen, keinen Kriegsgott mit übernatürlichen Kräften.
Allerdings war er von höherem Wuchs als alle Engländer, die sie kannte. Auch ohne seine Rüstung glich sein Brustkorb einem Wall aus Stein, und seine Arme strotzten vor Muskeln. Er machte sich im Gehen an den Schnallen und Schnüren seines Rocks zu schaffen, und Aelia wünschte, er möge damit aufhören. Er würde sich hoffentlich nicht entkleiden, bevor er sein Zelt betreten hatte, da die Nacht doch so kalt war. Sie hatte kein Interesse daran, seinen enthüllten Körper zu sehen.
Endlich verschwand er in seinem Zelt, und Aelia hätte sich dorthin begeben, wären nicht plötzlich zwei Wachleute aufgetaucht und hätten ihren Plan durchkreuzt. Saß Osric in dem Zelt und wartete auf Fitz Autier? Würde er den Normannen ohne Hilfe töten können?
Osric hielt große Stücke auf sich selbst, und obwohl er wusste, wie man mit einem Messer umging, konnte er einem ausgewachsenen Mann nicht das Wasser reichen – und schon gar nicht einem wie Fitz Autier, der vermutlich einen jungen englischen Burschen entweder mit seinem Schwert aufspießen oder ihn als Geisel nehmen würde.
Aelia musste etwas tun. Sie musste Osric da herausholen, bevor er sich am falschen Ende des Schwerts wiederfinden würde. Obwohl sie gerne ihr Versteck sofort verlassen hätte, musste sie sich gedulden, bis die Wachleute außer Sichtweite waren. Sie zwang sich, an Ort und Stelle zu bleiben und das Lager zu beobachten, und rechnete fast schon damit, Osric mit seinem blutverschmierten Messer in der Hand aus dem normannischen Zelt schleichen zu sehen.
Besorgt hielt sie die Wachen an den Außengrenzen des Lagers fest im Blick und fragte sich, ob Osric nun in Fitz Autiers Zelt war oder nicht.
Falls nicht, würde Aelia selbst vollbringen, was ihr Bruder hatte tun wollen. Osrics Idee war nicht schlecht, auch wenn es sich nicht für einen so jungen Burschen schickte, sie auszuführen.
Als die Wächter mit ihren Fackeln außer Sichtweite waren, kam Aelia leise unter der Plane hervor und kroch auf das Zelt zu. Dort legte sie sich ganz still hin und lauschte angestrengt auf Geräusche aus dem Inneren. Aber es war völlig still. Sie hörte nichts.
War Osric dort und lauerte auf den passenden Moment?
Die Zeltklappe hing lose herab, sodass Aelia darunter hindurchgleiten konnte, wobei sie versuchte, das Zelttuch nicht zu berühren.
Im Zelt angelangt blieb sie wieder einen Augenblick lang regungslos liegen, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Von den Lagerfeuern draußen drang ein schwacher Lichtschein durch die Zeltwand. Aelias Blick wanderte zu der Gestalt, die auf einem Fell lag.
Er bewegte sich nicht, aber er war auch nicht tot. Und Osric war nicht hier. Aelia lauschte auf den ruhigen und gleichmäßigen Atem des schlafenden Normannen. Während sie auf ihn zurobbte, vorbei an dem Pfosten in der Mitte und an der Rüstung, die ordentlich an der Zeltwand platziert lag, zog sie ihr Messer aus der Scheide an ihrem Gürtel.
Als sie so nah war, dass sie die dunklen Stoppeln auf seinem Kinn erkennen konnte, hob sie den Arm und stach zu.
Mathieu reagierte mit einer Schnelligkeit, die man bei seiner Körpergröße nicht hatte erahnen können. Er drehte sich, ergriff das Handgelenk der Frau und hielt sie unter sich fest. Ironischerweise hatte genau die Wunde, die sie ihm vorher zugefügt hatte, so sehr geschmerzt, dass er nicht hatte einschlafen können und genau mitbekommen hatte, wie sie ins Zelt gekrochen war.
„Lady Aelia, nehme ich an.“
„Lass mich los, du … du normannisches Schwein!“
„Wie ich sehe, ist Eure Zielsicherheit besser als Eure Manieren. Und glücklicherweise passt Eure Körpergröße nicht zu Eurer Geschicklichkeit, sonst müsste ich mir am Ende noch Sorgen machen.“
Sie wand sich unter seinem Griff, aber er gab nicht nach. „Habt ihr Angelsachsen vor, mich einzeln nacheinander anzugreifen, bis ich euch alle überwältigt habe?“
„Nacheinander?“, wiederholte sie stöhnend. „Mein Bruder … ist er hier?“
Es war schon eine Weile her, dass eine Frau unter ihm gelegen hatte. Ihre weichen, weiblichen Rundungen erregten ihn zwar, aber er wollte keine Gewalt anwenden. Das hatte er bei seinem Vater schon immer abstoßend gefunden. Nein, er wollte keine unterwürfige Partnerin, und schon gar keine, die sich wehrte, sondern eine, die es auch wollte. „Meint Ihr das rothaarige Würmchen, das mich mit seinem mickrigen Schwert pieksen wollte?“, witzelte er. „Wenn Wallis jetzt schon Kinder schicken muss, um seinen Feind zu überwältigen, dann habe ich jeglichen Respekt ihm gegenüber verloren.“
„Mein V … Vater ist tot.“
Ihre Worte überraschten ihn. Wer verteidigte denn dann Ingelwald? Wallis’ älterer Sohn? „Dann regiert Godwin jetzt Ingelwald?“
Lady Aelia antwortete nicht, sondern versuchte sich erneut zu befreien, indem sie Mathieu ihr Knie unbarmherzig zwischen die Beine rammte. Er keuchte und rollte sich auf die Seite, hielt aber noch immer ihre Handgelenke in seinen Fäusten.
„Ihr habt mir doch schon genügend Schaden zugefügt, Demoiselle“, zischte er durch zusammengebissene Zähne, während sie unablässig nach ihm trat. „Hört auf. Das bringt doch nichts.“ Er legte sich so auf sie, dass sie weder Arme noch Beine bewegen konnte, und fragte sich, wie sie es geschafft hatte, sich an all den patrouillierenden Wachen vorbeizustehlen. Er musste zugeben, dass ihr dabei ihr zierlicher Wuchs wohl zupassgekommen war.
„Wo ist mein Bruder?“
„Sicher verwahrt“, sagte er mit rauer Stimme. Sein Gesicht war ihrem so nah, dass er auf ihrer glatten, makellosen Haut ein paar helle Sommersprossen erkennen konnte. Ihre vollen rosigen Lippen waren leicht geöffnet, sodass er ihre weißen, geraden Zähne sehen konnte.
Wie verführerisch der Gedanke, sie zu küssen, auch war, er widerstand der Versuchung. „Sollen meine Männer auch nach Godwin Ausschau halten?“
„Lass mich los!“
Das hatte Mathieu aber nicht vor. Zumindest nicht, solange sie nicht ordentlich gefesselt war. Mit einer weiteren schnellen Bewegung drehte er das Mädchen um, sodass sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Fell lag, das sein Bett war. Er drückte ihr ein Knie in den Rücken, schob den langen blonden Zopf zur Seite und hielt ihre Arme mit einer Hand auf ihrem Rücken fest. Mit der freien Hand griff er nach einem Strick. Dann drehte er sie wieder um und band ihre Hände vorne zusammen.
Er war nicht grausam. Sein Ruf als skrupelloses Ungeheuer hatte nicht viel mit der Realität zu tun, war ihm aber im Kampf für den König gerade recht gekommen. Hätte Wallis nur auf Fitz Autier gehört, könnte er jetzt noch über seinen Besitz herrschen. Stattdessen hatte er sich gegen William aufgelehnt und sich geweigert, ihn als seinen König anzuerkennen. William war nichts anderes übrig geblieben, als eine Armee zu entsenden, die den Aufstand niederschlug.
Als die Frau ordentlich gefesselt war, gestattete Mathieu ihr, sich aufzusetzen und ihn anzusehen. „Wird Godwin Eure Freilassung verhandeln?“
Sie presste die Lippen zusammen, schaute weg und war offenbar nicht bereit zu antworten. Aber Mathieu sah, wie sie schluckte und ihre Lippen leicht zitterten. Sie war nicht einfach nur stur. Wenn er sich nicht täuschte, war das Trauer, die sich hier verriet.
Ihr Bruder war tot.
Er ignorierte den Anflug von Mitgefühl, der in ihm aufstieg. So war es eben im Krieg. Soldaten und Unschuldige verloren ihr Leben, insbesondere dann, wenn die Unschuldigen sich nicht friedlich den Eroberern ergeben wollten. Krieg war Mathieus Geschäft, und er übte es nicht aus, um irgendjemanden zu retten. Schon gar nicht dieses englische Mädchen, das sich der Erfüllung seiner sehnlichsten Wünsche in den Weg stellte.
Mathieu stand auf und legte das Messer der Frau auf sein Kettenhemd, während er überlegte, was er mit ihr anstellen sollte. Zunächst dachte er daran, sie zu ihrem Bruder auf den Versorgungswagen zu legen, aber entschied sich dann dagegen. Es war besser, sie getrennt unterzubringen.
„Wer ist der Verantwortliche in Ingelwald?“, fragte er.
Sie hob das Kinn und vermied es, ihm in die Augen zu blicken. „Das spielt keine Rolle.“
Er warf ein Fell auf den Boden neben das, auf dem die Frau saß. „Morgen früh, wenn Ihr als Bündel über mein Pferd drapiert am Tor von Ingelwald ankommt, wird schon irgendjemand mit mir verhandeln.“
„Wo ist mein Bruder?“, blaffte sie.
Mathieu lachte. „Ihr seid nicht in der Position, Antworten zu erzwingen, Demoiselle.“
„Er ist noch ein Kind … lass ihn nach Hause gehen.“
Mathieu nahm das Messer. „Ihr versteht noch nicht ganz, Lady Aelia. Der Junge hat kein Zuhause mehr. Und Ihr auch nicht.“
Ein Laut entrang sich ihrer Kehle, als hätte er sie geschlagen. Hätte er sich gestattet, auch nur einen Funken Mitleid zu empfinden, hätte er ihn für diese stolze Frau erübrigt, die einer Legion feindlicher Soldaten getrotzt hatte, um ihren jüngeren Bruder zu retten. Wäre Mathieu einfacher gestrickt gewesen, hätte er zugelassen, dass ihn ihre Schönheit und ihre weiblichen Kurven verführten.
Aber er verfolgte hier nur ein Ziel. Er musste Ingelwald für William einnehmen, der es ihm, seinem loyalen Lehnsmann, dafür überlassen würde. Es war ein schönes Gut und damit ein weitaus größerer Lohn, als seine beiden Brüder erhalten hatten. Er war sogar von König William bereits zum Baron von Ingelwald ernannt worden.
Er nahm einen weiteren Strick, wickelte ihn der Frau zweimal um die Taille und band ihn auf ihrem Rücken zusammen. Dann ergriff er die losen Enden, band sie sich an eines seiner Handgelenke und legte sich auf das unbenutzte Fell.
Aelia reckte sich, um sich den Strick, der sie verband, schnappen zu können, und versuchte sich loszumachen. „Wenn du denkst, dass ich hier liegen bleibe …“
„Ich bin müde, Mädchen“, knurrte er, als sie sich weiter abmühte. Sie trat ihn und versuchte, mit den Fäusten auf ihn einzuschlagen, aber Mathieu stieß sie wieder auf ihr Fell zurück und griff ihren Nacken am Ansatz des rotgolden schimmernden Zopfes. Er beugte sich zu ihr hinunter und sprach ihr sanft ins Ohr. „Ich kann meine Männer rufen, und falls Ihr deren Gesellschaft der meinen vorzieht, könnt Ihr gerne die Nacht mit ihnen verbringen.“
„Das würde zu dir passen, Normanne!“, schrie sie und versuchte, sich seinem Griff zu entwinden. „Eine unschuldige Frau den …“
„Unschuldig?“ Er drehte sie um und zog ihr Gesicht nahe an seines heran. „Diese klaffende Wunde auf meiner Wange hat nichts mit Unschuld zu tun. Der Pfeilhagel, der auf meine Soldaten niedergeprasselt ist, war auch nicht gerade ein Zeichen von Zuneigung, Demoiselle. Seid dankbar, dass ich kultvierter bin als Ihr, und schweigt. Schlaft oder lasst es bleiben, aber seid versichert, dass der Erhalt Eurer Gesundheit und der Eures missratenen Bruders einzig von Eurem Betragen heute Nacht abhängt!“
Aelia sah keinen Ausweg. Fitz Autier hatte sich abgewendet und schien eingeschlafen zu sein, aber sie kam nicht zur Ruhe. Ein Ruck an dem Strick, der sie mit ihm verband, würde ihn wecken, und er sah aus der Nähe sogar noch respekteinflößender aus. Es war schrecklich, sich das einzugestehen, aber sie hatte Angst davor, seinen Zorn auf sich zu ziehen.
Aus der Ferne war er ihr hübsch vorgekommen, aber jetzt, da sie seine Gesichtszüge, den mächtigen Brustkorb und die starken Arme, zum Schlafen entblößt, so vor sich sah, wusste sie, dass Fitz Autier viel mehr war als ein schönes Gesicht. Seine Nase war an der Wurzel etwas krumm, vermutlich war sie schon einmal gebrochen worden. Eine schmale Narbe verunzierte seine Stirn; sie lief quer durch die linke dichte, dunkle Augenbraue hindurch. Und ab sofort würde er für immer eine Erinnerung an ihren Pfeil auf seiner Wange tragen.
Hätte der Schuss doch nur richtig getroffen! Dann wäre sie jetzt nicht in dieser misslichen Lage gewesen.
Sie versuchte, den Strick an ihren Handgelenken zu lockern, aber es klappte nicht. Die Knoten, die er auf ihrem Rücken gebunden hatte, waren unerreichbar; sie konnte sie nicht nach vorne schieben, um sich daran zu schaffen zu machen.
Sie suchte den schemenhaft erkennbaren Innenraum ab nach irgendetwas, das sie hätte als Waffe verwenden können, oder als Werkzeug, um die Fesseln durchzuschneiden. Natürlich hatte Fitz Autier ihr Messer an der gegenüberliegenden Wand abgelegt, und um dahin zu kommen, hätte sie über ihn klettern müssen.
Auf einer kleinen Holztruhe prangte ein geschnitzter Wolf. Dort befand sich auch die Rüstung mit dem Helm, dem Kettenhemd und dem Schwert des Normannen. In ihrer Reichweite aber gab es nichts, womit man ihn hätte töten können, und nichts, was ihr zur Flucht verholfen hätte.
Selbst wenn sie es irgendwie schaffte zu entkommen, wüsste sie nicht, wo Osric sich aufhielt. Sie würde jeden Zoll des Lagers nach ihm absuchen müssen, und wenn sie ihn nicht finden und zurück nach Ingelwald bringen konnte, würde der Normanne zweifellos seine Drohung wahr machen.
Er würde Osric töten.
Aelia seufzte vor Verzweiflung, ließ sich mit mulmigem Gefühl hinter Fitz Autier auf das Lager sinken und beobachtete, wie er im Schlaf tief und regelmäßig atmete. Er war bemerkenswert entspannt für jemanden, der neben einer Gefangenen lag, die sich seine Vernichtung in den Kopf gesetzt hatte.
Er war nicht zugedeckt, aber sein Körper gab Wärme ab. Die kräftige Schultermuskulatur dehnte sich bei jedem Atemzug, und Aelia schluckte beklommen, als ihr wieder bewusst wurde, wie groß dieser Mann war und mit welch kräftigen Händen er sie festgehalten hatte.
Er könnte Osric – oder auch sie – damit einfach zerquetschen.
Aelia gelang es nicht, zur Ruhe zu finden. Sie hatte nie zuvor neben einem Mann geschlafen und wollte nicht mit einem Normannen beginnen, insbesondere nicht mit diesem Bastard. Sie rückte so weit wie möglich von ihm weg, wobei sie aus Versehen an dem Seil zog und ihn dadurch weckte.
Sie verfluchte seine schnellen Reflexe, als er sofort nach ihr griff, sie unerbittlich packte und mit seinen Armen niederdrückte.
„Bei allen Heiligen, Mädchen, das ist das letzte Mal, dass ich Euch sage, Ihr sollt Euch hinlegen, oder ich rufe die Wachen. Legt Euch hin!“
Aelia war klar, wie dumm es gewesen wäre, sich zu wehren. Sie würde nicht nur ihr eigenes, sondern auch Osrics Leben riskieren.
Sie legte sich auf das Fell, aber er gewährte ihr keinen Freiraum. Er blieb ihr zugewandt, und sie war zwischen seiner breiten Brust und der gespannten Zeltwand gefangen.
Als sein Atem ruhiger wurde, lenkte sie ihre Aufmerksamkeit weg von dem muskulösen Krieger und konzentrierte sich auf den kommenden Morgen. Sie musste überlegen, was zu tun war, wenn man sie gegen Ingelwald eintauschen würde.
Selwyn wäre weniger an ihrer sicheren Rückkehr interessiert als daran, Ingelwald für sich zu behalten. Aelia hatte ihn seit dem Tod ihres Vaters viel zu oft daran erinnern müssen, dass Osric das Gut durch Geburtsrecht gehörte. König Harold hatte versprochen, dass Wallis und seine Erben die Earls von Ost-Northumberland bleiben würden.
Als ihr Bruder Godwin vor zwei Jahren verstorben war, war diese Ehre Osric zugefallen. Sicherlich nicht Selwyn, der in der englischen Hierarchie keine nennenswerte Stellung innehatte.
Aelia zitterte; ob vor Kälte oder Nervosität, wusste sie nicht. Aber wie von selbst näherte sich ihr Körper der Wärme des Mannes, der neben ihr schlief, und er schlang ihr einen Arm um die Taille. Das gleichmäßige Atemgeräusch beruhigte sie, und ihr fielen die Augen zu. Ihre Gedanken kreisten jedoch weiter.
Unter Selwyns Kommando würden Ingelwalds Krieger die Normannen bis aufs Blut bekämpfen. Er würde nicht aufgeben, bis alle, Männer, Frauen und Kinder, getötet worden waren.
Was aber, wenn Selwyn als Erstes umkäme? Möglicherweise würden die Krieger ihres Vaters sie und Osric gegen einen friedlichen Einzug der Normannen tauschen.
Wie viele Leben konnten gerettet werden, wenn Ingelwald auf die Forderungen der Normannen einginge?
Ingelwalds Krieger waren den Normannen, deren Rüstungs-, Waffen- und Nahrungsvorräte sich niemals zu erschöpfen schienen, zahlenmäßig unterlegen. Außerdem waren sie mit Vorräten nicht gut ausgestattet. Es gab nicht genügend Waffen und, da die Ernte in diesem Jahr mager ausgefallen war, nur wenig Getreide. Aelia wusste nicht, wie lange die Bevölkerung aushalten konnte, bevor der Hunger oder eben ein Gemetzel sie dahinraffen würde.
Aelia sah Grendel, den jungen Freund ihres Bruders, und seine Schwestern und Eltern vor sich. Sie dachte auch an all die anderen, die ihr viel bedeuteten. Da war Beorn, der Tischler, der auch Lauten bauen konnte. Und Erlina, die jedem, der Bedarf hatte, Heiltränke und Salben zusammenbraute, so töricht sie auch sonst war. Wenn Ingelwald sich ergab, würden die Normannen der Bevölkerung dann erlauben, in Frieden zu leben und ihr Land zu bewirtschaften, wie sie es seit Generationen taten?
Diese Frage trieb sie um.
Fitz Autier festigte seinen Griff, als hätte er ihre schmerzlichen Gedanken gehört und wollte sie nun trösten. Er schob ihr ein wuchtiges Knie zwischen die weichen Schenkel. Sie fürchtete, ihn zu wecken, und bewegte sich nicht. Stattdessen hielt sie den Atem an, als er eine Hand ihren Rücken entlang- und dann zu ihrem Hinterteil hinabgleiten ließ.
Aelia schloss die Augen. Sie hatte nicht die Kraft, sich zu wehren, als seine Berührungen immer intimer wurden. Die Wärme seines Körpers zog sie magisch an und gab ihr das Gefühl, in einen schützenden Kokon zu driften. Es war so lange her, dass Aelia sich in Sicherheit gewähnt hatte. Sie hatte ihren Bruder und ihren Vater in Scharmützeln gegen die Armeen des Bastardkönigs verloren. Nun musste sie mit Selwyn fertigwerden, der Osric Ingelwald wegnehmen wollte. Es kam ihr manchmal so vor, als würde der Kampf niemals enden.
Fitz Autier machte im Schlaf ein sanftes Geräusch und veränderte seine Position ein wenig. Er war sich seiner Handlungen zwar nicht bewusst, aber Aelia spürte ihn mit jeder Faser ihres Körpers. Und als sein Bein noch höher glitt, konnte sie kaum mehr atmen.
Sie war müder denn je, aber der Druck seines Oberschenkels machte es ihr unmöglich einzuschlafen. Das Gefühl von Sicherheit und Ruhe wich einer seltsamen Spannung, einem so heftigen Lustempfinden, dass sie die Lippen aufeinanderpressen musste, um nicht laut aufzustöhnen. Wie von selbst umschlossen ihre Beine seinen Oberschenkel, und die empfindsamste Stelle ihres Körpers schmiegte sich an seine Haut.
Sie wollte ihn nicht wecken, aber sie konnte auch nicht aufhören. Jegliche Empfindung schien sich an dieser einen Stelle zwischen ihren Schenkeln zu konzentrieren, und als alles Pulsieren ihres Körpers in einem einzigen Höhepunkt zusammenfloss, dachte Aelia, ihr Herz müsste zerspringen. Sie schloss die Augen und ließ zu, dass sich dieses ungewohnte Glücksgefühl in ihr ausbreitete.
Plötzlich schien sie alles um sich herum ganz anders, viel feinfühliger, wahrzunehmen. Sie spürte Fitz Autiers Atem in ihrem Haar, hörte seinen Herzschlag, fühlte das dunkle gelockte Haar auf seiner Brust an ihrer Wange. Er roch so sauber, seine Haut war warm und glatt, und wieder erfasste sie diese bebende Gewissheit, die sie schon beim ersten Anblick des Kriegers überkommen hatte.
Aber er war ihr Feind!
Diese seltsamen Gefühle konnten einfach nichts zu tun haben mit der viele Jahre zurückliegenden Vorhersage ihrer Mutter, die sie schon getroffen hatte, als Edward noch König und William nur ein lästiger Franzose gewesen war. Sie hatte nicht ahnen können, welches Verhängnis drohte, welch schreckliche Opfer die Normannen von den Ingelwäldlern fordern würden. Sie konnte unmöglich gesehen haben, dass ein Normanne Aelias wahrer Gefährte sein würde, wenn diese doch nun alles daransetzte, ihn zu töten. Aelias Körper aber wusste, dass es stimmte.
Es war lächerlich.
Mathieu träumte nachts nie, aber er fand, dass es ihm eigentlich ganz gut gefallen würde, wenn alle Träume so aufregend wären wie der, den er gerade gehabt hatte. Zweifellos war die englische Frau, die die ganze Nacht neben ihm gelegen hatte, dafür verantwortlich. Eingehüllt in ein Wirrwarr weicher Arme und Beine und den Duft weiblicher Erregung war er aufgewacht.
Was auch immer er geträumt hatte, es war nur ein Streich, den sein Verstand ihm spielte. Wenn sie überhaupt erregt gewesen war, dann vor schierer Mordlust, sonst nichts.
Das Mädchen schlief noch und sah dabei überraschend unschuldig aus. Aber Mathieu würde es nicht darauf ankommen lassen. Er hatte keinerlei Zweifel, dass sie ihn bei der nächsten Gelegenheit töten würde.
Ohne sie aufzuwecken, griff er nach ihrem Messer und schnitt das Seil durch, das sie verband. Ihre Augenlider zuckten, aber sie wachte nicht auf, als er vom gemeinsamen Lager aufstand.
Es hätte nicht besser kommen können. Dass Lady Aelia ihm so passenderweise in die Hände gefallen war, musste ein Geschenk Gottes sein. Es war klar, dass die Angelsachsen nicht kämpfen würden, solange das Leben ihrer Herrin auf dem Spiel stand. Ingelwald würde König William gehören, bevor sich die Morgensonne über den Baumwipfeln östlich der Palisade zeigen würde.
Gut gelaunt riss sich Mathieu seine Bruoch, die Unterhose, in der er geschlafen hatte, vom Körper. Während er in seiner Truhe nach frischer Kleidung suchte, überlegte er, wie er die Einnahme Ingelwalds am besten angehen sollte. Wenn er mit seiner Armee im Schlepptau hinreiten würde, käme es zu einer ausgewachsenen Schlacht. Niemand würde bemerken, dass er Lady Aelia dabeihatte. Die Bogenschützen Ingelwalds standen sicher schon parat, so wie gestern auch.
Vielleicht wäre es das Beste, einfach nur mit einem Boten und einem kleinen Trupp an seiner Seite einzureiten. Oder er würde das Mädchen an ein Pferd binden und sie zuerst hineinschicken, sodass …
Ein scharfes Atemgeräusch hinter ihm ließ ihn sich umdrehen.
„Wie kannst du es wagen!“, rief sie empört.
Er stand vor ihr, nackt und ungeniert, aber ihre Überheblichkeit verärgerte ihn. Es war schließlich sein Zelt, und sie war der Eindringling. „Demoiselle, Ihr vergesst, dass ich Euch nicht hergebeten habe.“
„Der Anstand …“
„… hätte Euch davon abhalten sollen, mit Mordabsichten in mein Zelt einzudringen.“
Ein tiefes Rot flammte auf ihren Wangen auf; sie drehte sich abrupt um und wandte ihm den Rücken zu. Ihre Bewegungen wirkten ungeschickt, eingeschränkt durch den Strick, mit dem sie noch gefesselt war. Es war schwer zu glauben, dass das ebenjene Frau sein sollte, die sich in der Nacht so weich und warm an ihn geschmiegt hatte. Heute Morgen war sie kratzbürstig und unterstrich ihre Sturheit noch mit ihrer steifen Haltung.
Mathieu zog eine neue Bruoch an, setzte sich auf die Truhe und streifte die Beinlinge über, immer die Angelsächsin im Auge behaltend.
„Ich will meinen Bruder sehen, Normanne.“
Mathieu hatte nicht die Absicht, sie mit dem Jungen zusammenzubringen, wenn es nicht seinen eigenen Zwecken diente. Er kleidete sich weiter an, schlüpfte in eine saubere Tunika, und als er sein Kettenhemd anlegen wollte, drehte sich die Frau wieder zu ihm um.
Im Licht des frühen Morgens konnte er sehen, dass ihre Augen grün waren und vor Wut funkelten. Oder vor Verzweiflung. Mathieu rieb sich den Nacken, um das seltsame Gefühl, das ihn bei ihrem Anblick erfasste, zu vertreiben, und schaute ihr zu, wie sie sich hinkniete.
„Lass mich frei, und ich gehe zu Selwyn.“
„Ihr beleidigt meine Intelligenz, Demoiselle.“ Mathieu steckte ihr Messer in seinen Gürtel und nahm sein Schwert. Dann ging er zur Zeltklappe, um sie zu öffnen.
„Ich kann ihn überreden, sich zu ergeben.“
„Wer ist Selwyn?“
„Er ist mein Verlobter … Er wird die Herrschaft über Ingelwald übernommen haben, seit ich weg bin.“
„Und warum würdet Ihr euch jetzt ergeben wollen?“
Sie senkte den Blick. „Wegen meiner Leute … Ich will keinen von ihnen mehr um meinetwillen sterben sehen“, sagte sie, aber da hatte er das Zelt schon verlassen.
Die normannischen Soldaten grüßten ihren Anführer, als er vorbeiging, und Fitz Autier gab ihnen Anweisungen. Aelia war dankbar, dass Vater Ambrosius ihr die Sprache der Normannen beigebracht hatte, auch wenn sie nun nichts hörte, was ihr irgendwie hätte nützen können.
Sie stand auf und folgte ihm nach draußen, nur um von einer Wand aus Kettenhemden aufgehalten zu werden. Sie verlor das Gleichgewicht, aber der stämmige Wachposten vor Fitz Autiers Zelt packte sie am Arm und fing sie auf; es war eine zweckdienliche, keine nette Geste. Sein Gesichtsausdruck war hart und verschlossen.
Er war größer und breiter als Fitz Autier, aber sein Haar war viel heller, fast schon weiß. Er hatte ein zerfurchtes Gesicht, Furcht einflößend mit all den Narben und einer leeren Augenhöhle, aber Aelia ließ sich nicht einschüchtern.
Er ließ sie los und trat auf die Seite, damit ein kleinerer Mann, der mehrere Gefäße vor sich her balancierte, an ihnen vorbeigehen konnte. Er brachte alles in Fitz Autiers Zelt, nahm dessen Helm und wollte gehen.
„Etwas zu essen und zu trinken“, sagte er.
„Ich bin weder hungrig noch durstig“, erwiderte sie stolz und hätte gern die Arme vor der Brust verschränkt, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Aber Gott sei’s geklagt, ihre Handgelenke waren noch immer gefesselt. „Ich muss …“ Sie ließ den Blick über das Lager und die Wälder dahinter schweifen, „… einen Moment allein sein.“
Der große Blonde stieß sie ins Zelt zurück, als der andere verschwand. „Ihr kommt hier nicht weg. Baron Fitz Autier hat alles herbringen lassen, was Ihr braucht.“
Aelia sah ein Tongefäß, eine Schüssel Wasser, ein Stück Brot und einen Becher Ale, die dort für sie abgestellt worden waren. Umständlich hob sie mit den gefesselten Händen das Tongefäß und wuchtete es gegen die Zeltwand, wofür sie ein lautes Scheppern und eine Lachsalve des Mannes draußen erntete.
Auf ihren Wangen brannten das Gefühl der Demütigung und das Bewusstsein, das ihre Situation sich im Lauf des Vormittags nur noch verschlechtern konnte.
Aber sie hätte lieber ihre eigene Seele der ewigen Verdammnis überantwortet, als einen dieser Normannen zu bitten, ihr die Fesseln durchzuschneiden. Sie zerrte daran, rieb die Handgelenke aneinander und benutzte schließlich die Zähne.
„Ihr verschmäht Eure magere Ration, Demoiselle?“
Aelia riss den Kopf hoch, als sie Fitz Autiers Stimme hörte, und blickte ihm in die himmelblauen Augen.
Er hatte schon ohne Kleidung sehr eindrucksvoll ausgesehen. Ihr Mund wurde ganz trocken beim bloßen Gedanken an seinen muskulösen Körper und seine so schamlos zur Schau gestellte Männlichkeit. Aber in seiner Rüstung wirkte er einfach überwältigend.
Aelia entschied, dass sie ebenso einschüchternd sein konnte. Sie war schließlich die Tochter eines Earls. Im Haus ihres Vaters hatten sie schon alle möglichen Adligen zu Gast gehabt, einschließlich Königen und Königinnen. Ein normannischer Ritter war es dagegen kaum wert, von ihr beachtet zu werden.
Sie hielt ihre gebundenen Hände vor sich. „Es ist helllichter Tag. Sicher fürchtest du nun nicht mehr, dass ich flüchten könnte, bei all den Wachleuten um dieses Zelt herum.“
Er zog ihr Messer aus seinem Gürtel und ließ die Klinge zwischen ihre Hände gleiten.
Aelia spürte seinen Blick auf ihrem Gesicht, aber sie sah ihn nicht an. Sie konzentrierte sich auf den Strick. Mit einem Schnitt war sie frei, aber da man sie bewachte, konnte sie mit ihrer Freiheit nichts anfangen.
Fitz Autier trat beiseite und spielte mit ihrem Messer, bevor er es in den Gürtel zurücksteckte. Er verspottete sie, indem er demonstrierte, wer hier die Macht hatte.
„Werde ich heute Morgen meinen Bruder zu sehen bekommen?“