Dr. Knight - Retten Sie mein Herz!

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Die schöne Professorin Jennifer Allen und der Arzt Guy Knight sind nach einem Flugzeugabsturz ganz auf sich gestellt. Als sie in der Wildnis endlich eine Hütte finden, ist ihre Freude so groß, dass sie einander in die Arme fallen. Plötzlich erwacht das Begehren ...


  • Erscheinungstag 26.08.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718305
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Mayday … Mayday …”

„Cessna Bravo Papa Tango … Three zero niner … Motorversagen …“

„Mayday Mayday …“

Für einen Notfall hört sich der Pilot viel zu ruhig an, dachte Jennifer Allen. Aber wahrscheinlich klang sie genauso emotionslos, wenn sie in einem letzten verzweifelten Versuch, das Leben eines Patienten zu retten, Skalpell und Rippenspreizer verlangte.

Obwohl der Eingriff eigentlich völlig sinnlos und das Ende nicht aufzuhalten war.

Vielleicht war der Funknotruf eines kleinen Flugzeugs, das gegen einen Berg zu prallen drohte, auch nur eine Formalität. Teil eines vorgeschriebenen Ablaufs. Etwas, um zu demonstrieren, dass wirklich alles Menschenmögliche getan worden und jede echte Hoffnung vergeblich war.

„Mayday Mayday …“

Hinter Jennifer schrie eine Frau. Felsen und Geröllhänge waren so nah, dass man eine einzelne Blume pflücken könnte. Eine Mount Cook Lily, die nur in Neuseelands Bergen wuchs. Für einen winzigen Augenblick waren deutlich die einzelnen weißen Blütenblätter und die goldene Mitte zu erkennen, die wie ein pochiertes Ei aussah. Das Bild brannte sich in Jennifers Netzhaut, während sie plötzlich ins … Nichts stürzten.

Warum war alles stockfinster? Und wieso war es so verdammt kalt? Jennifer wollte die Bettdecke höher ziehen, doch es gelang ihr nicht. Sie schlief noch immer tief und fest, gefangen in diesem merkwürdigen Traum, der wie ein Katastrophenfilm ablief. Sie versuchte sich zu drehen, aber ihr Arm wollte nicht mitmachen, und der restliche Körper fühlte sich bleischwer an. Ein Fuß war eingeschlafen und prickelte wie von tausend Nadeln gestochen. Oder war ihr ganzer Körper eingeschlafen? Verwirrend. Viel schöner wäre es, sich noch einmal die Blume anzusehen, aber die war verschwunden.

Das Gewicht, das auf ihr lastete, war für eine Bettdecke viel zu schwer. Jennifer hatte keinen Hund, und sie schlief schon seit Jahren allein. Die Last wurde schmerzhaft, und sie bemühte sich, aus dem Traum aufzutauchen … aufzuwachen, die Augen zu öffnen, das schwere Ding auf ihr wegzuschieben.

Irgendwas stimmte hier nicht.

Jennifer konnte sich nicht bewegen. Und was sie nur wenige Zentimeter vor ihren Augen sah, musste ein Trugbild sein. Sie träumte noch immer … Die Hand, die dicht über dem Boden baumelte, gehörte einer Frau. Einer älteren Frau, an deren Ringfinger ein wunderschöner Ring mit Diamanten und Saphiren steckte.

Der Ring kam ihr seltsam bekannt vor, und sie runzelte die Stirn. Und auch die Hand kannte sie. Ein älterer Mann mit dichtem grauen Haar hatte sie gehalten, als er der Frau beim Einsteigen in das kleine Flugzeug half. Jennifer saß bereits angeschnallt auf einem der schmalen Plätze der fünfsitzigen Maschine und sah zu, wie die anderen Passagiere einstiegen.

„Mayday Mayday …“

Die Erkenntnis, dass der Traum brutale Wirklichkeit war, traf sie wie ein Schlag in den Magen. Auch die Kälte hatte sie sich nicht eingebildet. Sie waren oberhalb der Baumgrenze übers Gebirge geflogen. Es war ein wundervoller, sonniger Frühsommertag gewesen, aber in dieser Höhe lag das ganze Jahr hindurch Schnee.

Die Hand hing leblos herab. Keine Bewegung ließ erkennen, dass die Frau noch atmete.

Panik schnürte Jennifer die Kehle zu. Sie hatte den Absturz überlebt, und nun war sie eingeklemmt unter einem Körper, der bestimmt doppelt so viel wog wie sie. Wie lange war der Absturz her? Jennifer hatte keine Erinnerung an den Moment des Aufpralls, und vielleicht war sie nur kurze Zeit bewusstlos gewesen.

Kleine Flugzeuge trugen eine Menge Treibstoff in den Flügeln. Dieser konnte sich jeden Augenblick entzünden und explodieren.

Jennifer war nicht bereit, einen Absturz zu überleben und dann bei lebendigem Leib zu verbrennen, gefangen im Heck einer winzigen Maschine. Sie wand sich und versuchte, Halt für ihre Füße zu finden.

„Au!“ Frustration, Schmerz und Angst ließ sie aufstöhnen.

„Wer ist das?“

Jennifer stockte der Atem. Es hat noch jemand überlebt, dachte sie erleichtert und voller Hoffnung.

„Ich bin Jennifer Allen!“, rief sie zurück. Der Körper auf ihr versperrte ihr jede Sicht. „Und wer sind Sie?“

„Guy Knight.“

Guy Knight war der gut gebaute jüngere Mann, der neben dem Piloten gesessen hatte. Sie hatte ihn davor schon einmal gesehen und auch seinen Namen gehört. Er war einer von rund zweihundert Landärzten gewesen, die an ihrem Wochenendseminar über Notfallmedizin teilgenommen hatten. Sie erinnerte sich, wie er am Ende ihres Vortrags über Herztamponade aufgestanden war und eine recht kluge Frage gestellt hatte.

„Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen.“ Jennifers Stimme klang aus Furcht schärfer als gewollt. „Auf mir liegt eine Tote, und ich kann mich nicht bewegen.“

„Sind Sie verletzt?“

„Das kann ich erst beurteilen, wenn ich hier raus bin. Ich habe das Gefühl, als würde ein Elefant auf mir hocken.“

„Shirley hatte schon immer ein bisschen mit ihrem Gewicht zu kämpfen.“

Beinahe hätte sie hysterisch aufgelacht und dem Mann erklärt, dass sie jetzt damit zu kämpfen hätte, aber der Name erinnerte sie daran, dass die drückende Last ein Mensch war. Trotzdem wollte sie das Mitgefühl nicht. Es lenkte sie ab, sich auf das eigene Überleben zu konzentrieren. Und wie sollte sie anderen helfen, wenn sie selbst verletzt war?

„Bill, kannst du mich hören? Bill?“

Seine Stimme klang ganz nahe, und Jennifer fiel ein, wie eng die Kabine eigentlich war. Wenn das Wrack Feuer fing, würden sie alle innerhalb kurzer Zeit ersticken. Oder verbrennen.

„Wer zum Teufel ist Bill?“

„Shirleys Mann. Er ist Allgemeinmediziner in Te Anau. Ist immer gern geflogen. Jede Gelegenheit hat er genutzt, um in die Luft zu kommen. Ich schaffe es nicht vorbei an diesem … Verdammt!“

Das Gewicht auf Jennifers Brust hob sich leicht, als die Cessna sich zur Seite neigte. Deutlich hörte sie das Kratzen der Felsen am Metall, als sie zu rutschen begann.

Nur weil ein Möchtegernheld versuchte, irgendeinen Bill zu erreichen, würden sie womöglich alle zusammen den steilen Geröllhang hinabrauschen und vielleicht in eine abgrundtiefe Gletscherspalte stürzen!

Jennifer war stolz darauf, dass sie noch einen Funken Selbstbeherrschung besaß, um nicht in panischer Angst zu schreien. Stattdessen fluchte sie laut und erklärte Dr. Guy Knight ungeschminkt, was sie von ihm und seinen idiotischen Aktionen hielt.

„Herrgott noch mal!“, herrschte er sie schließlich an. „Halten Sie endlich den Mund!“

Sie schwieg.

„Wir haben uns höchstens fünfzehn Zentimeter bewegt“, fuhr er fort. „Das Heck wird von einem Felsen gebremst, der sich für mindestens eine Million Jahre nicht vom Fleck rühren wird.“

Er hat recht, erkannte Jennifer. Das Flugzeug lag still da. Ihr Herz allerdings raste noch immer wie verrückt, und Luft bekam sie auch kaum. Das Vernünftigste war wohl wirklich, den Mund zu halten.

Guy Knight schien anderer Meinung zu sein, attackierte das Wrack, ruckte und rüttelte.

„Bislang habe ich nur Digger herausschaffen können. Er sieht nicht allzu gut aus. Und Sie haben zwei Leute auf sich liegen. Wäre Bill nicht bewusstlos, könnte er mir jetzt helfen.“

Kein Wunder, dass sie das Gefühl hatte, langsam zerquetscht zu werden. Jennifer konzentrierte sich aufs Atmen. Langsam und tief, sagte sie sich immer wieder, nicht hyperventilieren.

„Aber er kann nicht helfen.“ Dr. Knight hörte sich jetzt gereizt an, und wieder schabte Metall an Stein. „Er ist tot.“

Da hob sich die Last ein wenig, und Jennifer konnte besser atmen. Der unglückliche Bill wurde von ihr gezerrt. Eigentlich sollte sie ihrem Retter für seine Anstrengungen dankbar sein, aber stattdessen ärgerte sie sich darüber, dass sie sich nicht selbst helfen konnte.

Über ihr hörte das Ziehen und Zerren auf. Einen Moment herrschte Stille. Dann hustete jemand schwach und stöhnte leise. Lebte Bill vielleicht doch noch? Oder war es der Pilot? Wieder erklang Guys Stimme, leise und beruhigend. Ganz anders, als er mit ihr gesprochen hatte. Danach wieder Schweigen. So lange, dass Jennifer beunruhigt war.

Warum kam er nicht zurück? Würde er überhaupt zurückkommen? Jennifer fiel ein, dass der Notfunksender durch den Aufprall aktiviert worden sein musste und wahrscheinlich schon Hilfe unterwegs war. Das beruhigte sie. Also war sie nicht ausschließlich von dem Mann abhängig, der da draußen rumorte.

Außerdem war es ihr egal, was er von ihr dachte. Sie konnte sich selbst befreien. Da jetzt nur noch ein Mensch auf ihr lag, müsste sie es schaffen, auch wenn es hier so eng wie in einer Sardinenbüchse war. Und um Hilfe zu betteln kam nicht infrage, das war klar.

Aber sie schaffte es nicht, sich zu drehen oder die Last beiseite zu drücken. Ihr Arm schmerzte höllisch. Außerdem fiel ihr das Atmen noch immer schwer. Für einen schrecklichen Moment lang war ihr danach zumute, aufzugeben und in Tränen auszubrechen.

„Ist mit Ihnen da drinnen noch alles in Ordnung?“

Er war zurück. Jennifer presste Lippen und Augen zusammen und unterdrückte mit aller Willenskraft die aufsteigenden Tränen, die ihre Schwäche verraten hätten.

„Hallo … Dr. Allen? Reden Sie mit mir.“

Es interessierte ihn also, ob sie noch lebte. Die Besorgnis in seiner Stimme war fast zu viel für sie, und sie hatte Angst, dass sie aufschluchzen oder sogar … um Hilfe flehen würde.

„Jennifer? Können Sie mich hören? Geht es Ihnen gut?“

„Das wird es … sobald ich, verdammt noch mal, hier raus bin.“ Noch immer kämpfte sie um Kontrolle. „Helfen Sie mir nun oder nicht?“

„Sofort, Ma’am“, kam die trockene, fast sarkastische Antwort. „Ich muss erst Shirleys Beine unter der Tür hervorziehen, beziehungsweise unter dem, was von der Tür übrig geblieben ist.“

Es dauerte unendlich lange. Das Wrack schaukelte leicht, angestrengtes Stöhnen war zu hören, gefolgt von lautem Hämmern. Und dann, endlich, wurde die Last von ihr gezogen, Zentimeter für Zentimeter. Jennifer konnte sich auf den Rücken drehen und mit Armen und Beinen mithelfen.

Sie rollte sich zurück auf den Bauch, erstarrte aber, als eine große, kräftige Hand ihren nackten Oberschenkel berührte. Sehr weit oben.

„Vorsicht, hier ist ein scharfkantiges Metallstück! Weiter zurückbiegen kann ich es nicht.“

Jennifer versuchte, ihr Bein wegzuziehen, aber die Hand blieb, wo sie war.

„Stopp!“, befahl Guy. Sein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.

„Und jetzt?“ Wenn Shirley durch die Öffnung gepasst hatte, müsste Jennifer zweimal durchpassen.

„Irgendwo muss ein Erste-Hilfe-Set sein. Es hat unter Ihrem Sitz gelegen.“

„Hier ist nichts.“

„Es sieht aus wie eine große flache Sporttasche. Rot.“

Jennifer entdeckte etwas Rotes, dort, wo sie gerade noch mit dem Kopf gelegen hatte. Um es zu packen, musste sie wieder tiefer in das Wrack kriechen, aber sie wollte raus. Nur weg aus dieser schrecklich engen Höhle.

„Wir brauchen sie“, drängte Guy. „Und ich bin nicht sicher, ob ich hineinkriechen kann.“

Jennifer zögerte lange, biss schließlich die Zähne zusammen und bewegte sich auf die Tasche zu. Sie hakte die Finger in den roten Stoff und zog kräftig. Heißer Schmerz durchfuhr sie. Das Gefühl in ihrem Arm, als die Knochenstücke aneinanderrieben, war unmissverständlich. Sie hatte ihn sich beim Aufprall gebrochen.

Vorsichtig streckte und beugte sie die Finger. Wenigstens keine neurologischen Schäden. Es war zwar nur die linke Hand, aber sie brauchte sie im Beruf. Ihre rechte Hand fühlte sich gut an, und Jennifer zerrte an der Tasche.

„Weshalb dauert das so lange?“

„Sie steckt fest.“

„Versuchen Sie’s mit mehr Kraft.“

„Mehr habe ich nicht, verdammt!“ So etwas musste ihr keiner sagen. Wieder erwachte ihr Ärger, und Jennifer packte die Tasche erneut, diesmal mit beiden Händen. Der Zorn half ihr, den Schmerz zu ignorieren, und tatsächlich gelang es ihr, die Tasche einige Zentimeter unter dem zerquetschten Ledersitz hervorzuziehen.

„Okay, ich glaube, ich habe sie.“

„Braves Mädchen!“

Braves Mädchen? So war sie zuletzt als Kind gelobt worden! Mit ihren vierunddreißig Jahren erwartete sie Respekt und nicht, dass man ihr den Kopf tätschelte. Warum war sie dann so lächerlich stolz darauf, dass sie es geschafft hatte? Und wild entschlossen, diese blöde rote Tasche nicht wieder loszulassen?

Auf dem Weg in die Freiheit spürte sie Guy Knights Hände erst auf ihren Schenkeln und dann auf ihren Hüften, als er ihr half, sich durch die enge Öffnung zu zwängen. Endlich hatte sie festen Boden unter den Füßen.

Nun, nicht ganz. Ihre Beine schienen wie aus Gummi zu sein, und das helle Tageslicht trieb ihr die Tränen in die Augen. Reflexartig kniff sie sie zu, während sie sich Halt suchend an die Tasche klammerte.

Er half ihr, sich hinzusetzen. „Waren Sie bewusstlos?“ Kräftige Finger befühlten ihren Hals und Nacken.

„Ja, ich glaube schon. Ich weiß noch, wie ich aufgewacht bin.“

„Können Sie sich noch erinnern, welchen Tag wir heute haben?“

„Sonntag. Und es muss so gegen fünf Uhr nachmittags sein.“ Bis auf leichte Kopfschmerzen hatte die Bewusstlosigkeit anscheinend keine Auswirkungen gehabt. „Um vier haben wir das Flugzeug bestiegen, und der Pilot meinte, es würde ungefähr eine Stunde dauern, bis wir die Gegend um den Fox-Gletscher erreichen.“

„Es ist jetzt kurz nach fünf. Haben Sie Beschwerden beim Atmen?“

„Nicht mehr.“

„Können Sie die Augen öffnen?“

Jennifer versuchte es, blinzelte gegen das gleißende Sonnenlicht. Sein Gesicht war jetzt dicht vor ihrem. Sie sah schwarze Haare und dunkle, mit dichten Wimpern besetzte Augen, die sie kritisch musterten. Er hatte eine Wunde an der Stirn, die aber nicht mehr blutete. Wangen und Nase waren mit Blut und Schmutz verschmiert. Ein entschlossenes Gesicht, dachte Jennifer geistesabwesend. Und nicht besonders freundlich.

„Tut Ihnen etwas weh?“

Jennifer fühlte sich, als wäre sie von einem Zug überrollt worden. Alles an ihr schmerzte, aber es ließ sich aushalten. Selbst der gebrochene Unterarm, jetzt, da sie ihn nicht bewegte. Der Mann vor ihr sah schlimmer aus. Eine hässliche Abschürfung verlief über einen Arm, und sein weißes Hemd und die Jeans waren blutgetränkt.

„Nein, alles okay.“ Jennifer starrte auf seine Beine. „Wessen Blut ist das?“

„Wahrscheinlich Bills.“ Guy nickte kurz. „Sie sehen einigermaßen unversehrt aus.“ Er streckte die Hand aus. „Geben Sie mir die Tasche. Digger braucht Hilfe.“

„Wer ist Digger?“

„Der Pilot.“

„Oh!“

„Es war nicht seine Schuld“, antwortete er scharf. „Er war erfahren und mutig genug, diese Bruchlandung zu wagen. Ohne ihn wären wir jetzt alle tot.“ Abrupt wandte er sich ab.

Jennifer erhob sich mühevoll, froh darüber, dass ihre Beine sie wieder trugen. Sie stand zwischen einem abgebrochenen Flügel und dem Rumpf der Cessna. Die Propeller waren verbogen, die Frontscheibe und das Dach weggerissen, die großen schwarzen Buchstaben verzerrt. B … P … L. Nein. Wie ein Echo hallte die Stimme des Piloten durch ihren Kopf. Bravo … Papa … Tango. Der letzte Buchstabe war ein T.

Ihr Blick glitt zu den reglosen Gestalten am Boden. Den beiden konnte niemand mehr helfen. Jennifer folgte Guy über Felsen und Geröll zu dem Mann mit dem grauen Haar, der vor einem geborstenen Flügel lag. Guy hockte neben ihm.

„Digger, kannst du mich hören, Kumpel?“

Welch eine Ironie des Schicksals. Sie war einmal quer durch Neuseeland gereist, um Allgemeinmedizinern beizubringen, wie sie sich in solchen Notsituationen verhalten sollten. Nun würde sie am eigenen Leib erfahren, was es hieß, mit eingeschränkten medizinischen Mitteln und mangelndem Personal arbeiten zu müssen. Unwillkürlich lauschte sie auf den typischen Klang eines Hubschraubers, der sie aus dieser Einöde herausholen würde.

Es war nichts zu hören, und sie blickte zum Horizont. Nicht dass es sie beruhigen könnte, den blauen Himmel nach Hilfe abzusuchen, aber was sie sah, raubte ihr den Atem.

So weit das Auge reichte, erstreckten sich vor ihr die gezackten Gipfel der Neuseeländischen Alpen, die sich auf der Südinsel Neuseelands entlangzogen. Die Schneeflächen zwischen den öden grauen Geröllhalden reflektierten grelles Sonnenlicht. Weiter unten waren die Hänge voller Büsche und Sträucher, eine dichte grüne Decke in verschiedenen Schattierungen, die dem zerklüfteten Gelände sanfte Formen verlieh.

Kein Wunder, dass hier oben Menschen – und Flugzeuge – für immer verloren gehen, dachte sie. Selbst mit einem Notfunksender war nicht sicher, wie lange es dauern würde, ehe sie entdeckt wurden. Vielleicht mussten die Retter erst den Sendebereich erreichen, und das bedeutete, Tausende von Quadratmeilen abzufliegen.

Sie war allein.

Nein. Sie waren allein.

Da bemerkte sie Guys prüfenden Blick.

„Wenn Sie die Gegend genug bewundert haben, könnte ich Ihre Hilfe gebrauchen.“

2. KAPITEL

Jennifer reagierte automatisch. Sie wurde gebraucht, und das half ihr, die Verzweiflung einzudämmen. Erleichtert machte sie sich daran, zu tun, was sie am besten konnte. Es gab ihr das Gefühl, inmitten der Katastrophe die Kontrolle zurückzugewinnen.

„Luftwege?“

„Frei.“ Guy Knight öffnete die rote Tasche. Jennifer sah die ordentlich aufgerollten Binden und Schienen aus festem Karton darin. Sobald sich eine Gelegenheit ergab, würde sie ihren gebrochenen Arm schienen. Aber im Moment tat er nicht so weh. Sie konnte die Finger bewegen und sogar eine Faust machen, ohne dass es unerträglich wurde. Im Vergleich zu dem Mann am Boden hatte sie nur leichte Verletzungen.

„War er die ganze Zeit bewusstlos?“ Jennifer ging um Guy herum auf die andere Seite des Patienten.

„Er ist aus eigener Kraft aus dem Wrack gekrochen, hat aber nur schwer Luft bekommen und klagte über starke Rippenschmerzen. Nachdem ich Bill herausgeholt hatte und nach ihm sehen wollte, war er kaum noch ansprechbar.“

Dennoch ist er zurückgegangen, um mir zu helfen, dachte Jennifer. Nun war es an ihr zu helfen, so gut sie konnte.

„Sein Name?“

„Jim Spade. Aber er wollte nur Digger genannt werden, solange ich ihn kenne.“

Jennifer beugte sich über den älteren Mann und rieb mit dem Handknöchel über sein Brustbein. „Digger! Können Sie mich hören? Öffnen Sie bitte die Augen.“

Der Mann stöhnte und schlug kurz die Augen auf. Dabei riss er den Kopf ruckartig herum und machte eine Handbewegung. Sprechen schien zu mühevoll zu sein.

„Seine Atmung ist eingeschränkt“, bemerkte Jennifer. „Haben Sie eine Sauerstoffflasche in der Tasche?“

„Nein.“

„Beatmungsbeutel?“

„Nein.“

„Stethoskop?“

„Ja.“

„Gut.“ Sie nahm es ihm ab und zog die Lederjacke auf Diggers Brust beiseite. Erst jetzt verstand sie, warum Guy bei diesen niedrigen Temperaturen nur mit einem T-Shirt bekleidet war. Er hatte die Lederjacke noch angehabt, als er an Bord ging, und musste sie vorhin dem Piloten gegeben haben. Digger trug ein kariertes Flanellhemd.

„Ist eine Schere dabei?“, fragte sie.

„Ich glaube nicht.“

„Das Hemd muss weg. So kann ich nichts sehen.“

Guy beugte sich über Digger, packte das Hemd am Ausschnitt und riss es mit einem Ruck auf, als wäre es aus dünner Baumwolle.

„Tut mir leid, Digger. Es wird sowieso Zeit, dass du dir ein hübsches neues Hemd leistest.“

Beide starrten einen Moment lang auf die magere Brust. Diggers Atem ging schnell und flach.

„Sehen Sie?“

„Mmh.“ Jennifer zeigte nicht, wie beeindruckt sie war, dass er die lebensbedrohliche Lage des älteren Mannes sofort erkannt hatte. „Paradoxe Atmung.“

Beim Einatmen hob sich Diggers Brustkorb zwar, aber auf der linken Seite sank er gleichzeitig ein. Beim Ausatmen wölbte er sich an der Stelle nach außen. Ein deutliches Zeichen für eine Rippenserienfraktur. Der Brustkorb konnte sich nicht wie gewohnt ausdehnen, es kam zur Schonatmung.

„Wir brauchen ein paar Handtücher oder Sandsäcke oder ein Kissen. Und eine breite Bandage.“ Jennifer blickte auf. Guy sah sie mit hochgezogener Augenbraue nachsichtig an. Na schön, sie war hier nicht in ihrer Notaufnahme, wo alles bereitstand. Sie würde trotzdem zurechtkommen. „Dann benutzen wir eben seinen Arm als Schiene. Verbandszeug haben Sie doch, oder?“

Dass Diggers Arm dicht an den Brustkorb gebunden war, erschwerte die Untersuchung, aber seine Atmung verbesserte sich langsam. Sein Gesicht bekam wieder Farbe. Digger öffnete schließlich die Augen und versuchte zu husten, brach aber sofort wieder mit einem Stöhnen ab.

„Legen wir ihn auf die verletzte Seite.“ Jennifer nahm das Stethoskop von Diggers Brust. „Wir wollen den intakten Lungenflügel so wenig wie möglich belasten.“ Sie seufzte. „Ich wünschte, wir hätten Sauerstoff. Oder zumindest einen Beatmungsbeutel.“

„Willkommen an vorderster Front der Notfallversorgung“, sagte Guy sanft, schob vorsichtig einen Arm unter Digger und drehte ihn auf die linke Seite. Digger stöhnte. „Tut mir leid, Kumpel … Wir versuchen nur, dir zu helfen. Sobald wir können, bekommst du etwas gegen die Schmerzen.“

„Haben Sie Morphin?“ Jennifer war angenehm überrascht.

„Nur ein paar Ampullen, aber sie dürften für eine Weile reichen.“

„Das ist mehr als genug.“ Jennifer nickte. „Wie lange wird es dauern, bis der Rettungshubschrauber hier ist?“

Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern prüfte noch einmal Diggers Puls. Stirnrunzelnd legte sie die Finger auf eine andere Stelle am Handgelenk. „Kaum zu spüren. Haben Sie ein Blutdruckmessgerät dabei?“

„Nein. Einen Defibrillator oder ein EKG kann ich Ihnen auch nicht anbieten.“ Guy zog die Lederjacke wieder über Diggers nackte Brust. „Ich fürchte, Sie müssen sich mit altmodischen Schätzungen begnügen. Wenn der Puls tastbar ist, liegt die Systole bei mindestens achtzig, und das heißt, die Nieren werden ausreichend durchblutet.“

„Aber es reicht nicht, um Morphin zu geben!“, entgegnete sie scharf. „Meine Frage war durchaus angebracht. Blutdruckmesser kosten nicht die Welt und passen in jede Erste-Hilfe-Tasche. Ich hatte angenommen, dass Sie den Wert eines solchen Hilfsmittels zu schätzen gelernt haben, um es auch in einer Landarztpraxis zu benutzen!“

„Meine Erste-Hilfe-Tasche liegt in meinem Jeep und ist hervorragend ausgestattet, vielen Dank. Da ich schon oft mit Digger geflogen bin, hatte ich zur Sicherheit eine Mindestausstattung im Flugzeug deponiert. Das Morphin dürfte eigentlich nicht so frei zugänglich sein, aber weil wir es schon einmal brauchten und nicht dabeihatten, haben wir das Gesetz etwas großzügig ausgelegt und führen es seitdem an Bord.“

„Oh.“ Eigentlich hätte sie sich entschuldigen müssen, doch sie tat es nicht. „Er ist also ein Freund von Ihnen?“

Er lächelte flüchtig. „So könnte man sagen.“

Autor

Alison Roberts
<p>Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde. Sie fand eine...
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Alison Roberts
<p>Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde. Sie fand eine...
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