Ballnacht in Colston Hall

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Eine Begegnung mit Folgen: Die betörende Lydia verzaubert Ralph Latimer, Earl of Blackwater, auf den ersten Blick. Er kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen, und ist überglücklich, sie beim Eröffnungstanz des prächtigen Balls auf Colston Hall in seinen Armen wiegen zu dürfen. Lydias Augen strahlen wie Diamanten - und Ralph ist endgültig verloren. Doch dann muss er erfahren: Sie ist längst einem anderen versprochen!


  • Erscheinungstag 12.03.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502429
  • Seitenanzahl 224
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Im Jahre 1753

In dem weiträumigen alten Pfarrhaus herrschte eine beinahe unheimliche Stille. Aber schließlich war es ja auch erst fünf Uhr am Morgen, als die achtjährige Lydia verstohlen aus dem Fenster blickte. Ein blasser rosiger Schimmer am Horizont über dem Moor zeigte an, dass die Morgendämmerung nicht mehr fern war. Jetzt jedoch bedeckte noch dichter grauer Nebel den Boden, sodass die Kronen der Bäume zur Linken stammlos in der Luft zu schweben schienen und die Dächer des Kirchdorfes Colston auf der rechten Seite in einem milchigen See schwammen. Nur der Stall und der Schuppen neben dem Haus standen bereits sichtbar auf festem, wenn auch noch feuchtem Grund und zeichneten sich mit dem Heraufkommen des Tageslichtes immer deutlicher ab.

Vielleicht geht Freddie doch nicht, dachte das Mädchen angstvoll. Vielleicht hatte die Verbundenheit zwischen dem geliebten Bruder und seinem langjährigen Freund, Lord Ralph Latimer, zu guter Letzt doch noch gesiegt, und es würde nichts Schreckliches geschehen. Vielleicht hatten sie den Streit begraben und dachten gar nicht mehr daran, sich zu duellieren. Es war doch auch unvorstellbar, dass irgendetwas – und sei es noch so misslich – die beiden jungen Männer dazu gebracht haben könnte, sich derartig zu hassen. Und dennoch … Gestern Abend hatte sie Freddie dabei überrascht, wie er in der Bibliothek Vaters Pistolen reinigte, und als sie ihn fragte, was er denn damit anfangen wolle, war er ärgerlich, ja, fast zornig geworden.

„Es gibt Dinge, die muss man einfach tun. Aber du solltest längst im Bett liegen und schlafen.“

„Aber was musst du denn tun?“

„Nichts. Gehe endlich schlafen. Wenn Vater dich hier sieht, wird er sehr ungehalten sein.“

„Er wird noch viel ungehaltener sein, wenn er dich mit seinen Pistolen erwischt. Du weißt schließlich, dass er niemandem erlaubt, sie anzufassen.“

„Sie werden wieder in der Schatulle liegen, bevor er sie überhaupt vermisst hat.“ Der Bruder machte eine Pause und sah die jüngere Schwester eindringlich an. „Sofern du ihm nichts davon sagst.“

„Oh, nein, Freddie, das würde ich doch nie tun! Warum bist du nur so böse?“

„Ich bin nicht böse, zumindest nicht mit dir. Aber ich werde es sein, wenn du nicht augenblicklich in dein Zimmer gehst und vergisst, dass du mich hier gesehen hast.“

„Die Pistolen sind aber sehr gefährlich. Du könntest damit totgeschossen werden!“

„Nun, in diesem Falle wäre der Ehre Genüge getan.“

Bei diesen Worten hatte Lydia schlagartig begriffen, dass Freddie sich duellieren wollte. Mistress Grey, ihre verehrte Lehrerin, war eine begeisterte Leserin romantischer Romane, in denen diese Art Zweikämpfe häufig vorkamen, und sie ließ die Bücher unbekümmert überall liegen. Lydia, deren Leselust geradezu unersättlich war, hatte sie alle verschlungen. Manchmal jedoch stand sogar in den Zeitungen etwas über Duelle. Zwar hatten die Eltern ihr verboten, die Zeitung zu lesen. Aber ein Verbot war für Lydia gleichbedeutend mit einer Aufforderung, und so studierte sie das örtliche Tageblatt im Verborgenen, sobald es in der Küche abgelegt worden war, um beim Feuermachen Verwendung zu finden.

„Aber wer hat denn deine Ehre verletzt?“, wollte Lydia wissen.

„Ralph“, erwiderte Freddie mürrisch.

„Ralph ist doch dein bester Freund! Ihr seid immer unzertrennlich gewesen. Sogar die Universität in Cambridge habt ihr zusammen besucht. Wie kannst du dich mit ihm schlagen?“

„Ich habe keine Wahl. Er hat mich beleidigt. Und …“ Freddie hielt inne, so als sei ihm eben erst eingefallen, dass seine Zuhörerin ja nur ein Kind von acht Jahren war. „Jetzt gehe aber ins Bett, und kein Wort zu irgendjemandem, oder ich ziehe dir das Fell über die Ohren!“, sagte er streng und fügte, als er das Lächeln der Kleinen über diese leere Drohung bemerkte, zornig hinzu: „Ich meine es ernst! Das ist kein Spaß.“

Erschrocken hatte Lydia die Bibliothek verlassen, war in ihr Zimmer gegangen und neben der fünfjährigen Annabelle unter die Decke gekrochen, nachdem sie sich lautlos ausgezogen hatte. Sie konnte indes keinen Schlaf finden, denn sie wusste nur zu gut, dass der ältere Bruder impulsiv und dickköpfig sein konnte – genauso wie sie selbst, was Mistress Grey ihr oft genug vorgehalten hatte. Aber könnte er deshalb sein Leben aufs Spiel setzen oder gar Ralph erschießen? Ralph war der Sohn des Earl of Blackwater, und es würde einen riesigen Aufschrei geben, wenn ihm etwas zustieße. Dass Freddie derjenige sein könnte, der die Angelegenheit mit dem Leben bezahlte, wagte sie erst gar nicht zu denken. Und außerdem waren Duelle seit einiger Zeit streng verboten. Sie musste also unbedingt irgendetwas tun. Aber was? Der Bruder hatte ihr strikt untersagt, den Vater davon zu unterrichten, und überdies würde sie auch nie etwas tun, was dem geliebten Papa Kummer bereiten würde. Freilich, sie könnte mit Susan und Margaret, den älteren Schwestern, darüber reden, aber die würden ja doch nur spornstreichs zur Mutter laufen. Irgendwie mussten die beiden jungen Männer indes zur Vernunft gebracht werden, wenn man ihnen nur das Törichte ihrer Handlungen richtig vor Augen führte. Und es schien nach reiflichem Nachdenken niemand anderes dafür infrage zu kommen als sie selbst.

Als Lydia bei ihren Überlegungen an dieser Stelle angelangt war, stand sie leise wieder auf, zog das Baumwollkleidchen über, das sie am Tag zuvor getragen hatte, schlang ein Band um das dichte braune Haar und setzte sich auf das niedrige Fensterbrett, um zu beobachten, was Freddie tun würde. Sie betete zwar inbrünstig um einen guten Ausgang dieser schrecklichen Sache, fürchtete aber dennoch das Schlimmste.

Ein Geräusch auf dem Weg ließ sie zusammenschrecken. Vorsichtig spähte sie hinunter und erblickte Robert Dent, einen anderen Freund des Bruders, der auf seinem Braunen unter Freddies Fenster angehalten hatte und nun eine Handvoll Kieselsteine gegen die Scheiben warf. Sofort erschien der Kopf des Bruders im Fensterspalt, und ein unwilliges Zischen ertönte. „Ich bin sofort unten. Reite zum Stall hinüber“, flüsterte Freddie.

Einen Augenblick später wurde eine Tür leise geöffnet und lautlos wieder geschlossen. Lydia schlich zur Zimmertür, legte die Hand auf die Klinke, und als ein gedämpftes Klappen des Haustores ertönte, riss sie einen Umhang vom Haken und eilte die Treppe hinunter. Sie musste sich beeilen, denn sie hatte doch keine Ahnung, wo das Duell stattfinden sollte, und durfte deshalb Freddie und seinen Begleiter nicht aus dem Blick verlieren. Hoffentlich ritten sie nicht zu schnell, damit sie mit ihrem Pony Schritt halten konnte.

In ihrer Aufregung stolperte sie jedoch über den handfesten Spazierstock, den der Vater im Flur an die Wand gelehnt hatte und der nun klappernd zu Boden fiel. Hastig stellte sie ihn wieder an seinen Platz und wollte gerade zur Tür hinaus, als hinter ihr eine wohlbekannte Stimme ertönte.

„Lydia! Wo um alles in der Welt willst du hin?“

Entsetzt wandte sich das Mädchen um und erblickte den Vater, der in Hausmantel und Pantoffeln die Treppe herunterkam. „Ich … ich dachte“, stotterte sie. „Ich … ich glaube, der Fuchs ist im Hühnerstall.“

„Davon habe ich nichts gehört“, erwiderte der Vater ärgerlich. „Und weshalb bist du dann völlig angekleidet?“ Er packte Lydias Arm und zog sie daran näher zu sich. „Du wirst mir jetzt auf der Stelle sagen, was das alles zu bedeuten hat.“

„Aber das kann ich nicht“, jammerte sie. „Es ist ein Geheimnis.“

„Aha, dann muss es sich also um Freddie handeln. Nur Frederick kann so verantwortungslos sein, dich in eine seiner Schwierigkeiten hineinzuziehen.“

„Er hat mich nicht hineingezogen …“

„Wo ist er?“

Lydia ließ den Kopf hängen und schwieg.

„Er hat das Haus verlassen, nicht wahr? Es war mir doch, als hätte ich das Geräusch von Pferdehufen gehört. Wo ist er hin? Es ist doch gerade erst fünf Uhr vorbei.“

Dicke Tränen schimmerten in Lydias Augen, als sie zu ihrem Vater empor sah. „Papa, ich muss zu ihm … ich muss unbedingt. Aber frage mich bitte nicht, warum.“

Wortlos schob der Pfarrer sein Töchterchen in die dämmerdunkle Bibliothek und sah sich dann ratlos um, so als könnten ihm die zahllosen Buchrücken in den deckenhohen Regalen eine Erklärung für das beunruhigende Verhalten der kleinen Lydia geben. Im selben Moment hatte das Mädchen jedoch bemerkt, dass Freddie die Tür des Schrankes offen gelassen hatte, in welchem die Pistolen aufbewahrt wurden, und sie versuchte vorsichtig, sich der Schranktür zu nähern, um sie unbemerkt schließen zu können. Aber ach, es war bereits zu spät dafür. Auch der Vater hatte nun den geöffneten Schrank entdeckt.

„Großer Gott, was führt dieser törichte Junge im Schilde?“, rief der Pfarrer außer sich. „Du weißt es, Lydia! Du weißt, wohin er gegangen ist, nicht wahr?“

Angstvoll wich sie vor dem zornigen Blitzen seiner Augen zurück. „Nein, Papa, ich weiß es nicht. Deswegen wollte ich ihm ja so schnell nachlaufen – um ihn aufzuhalten. Aber nun ist es zu spät. Jetzt ist er fort. Oh, Papa, er will sich mit Ralph Latimer duellieren“, schluchzte Lydia.

„Zurück ins Bett!“, befahl der Vater. „Ich werde mich darum kümmern.“

„Aber du weißt doch auch nicht, wo er ist.“

„Ich kann es mir aber denken. Und nun marsch ins Bett. Wir reden darüber, wenn ich wieder zurück bin.“

Bedrückt verließ Lydia das düstere Zimmer, denn sie war sich bewusst, dass der Vater nicht nur darüber reden, sondern sie kräftig ausschelten und vielleicht sogar bestrafen würde. Ihr verehrter Papa konnte sehr unnachsichtig sein, wenn er es für angebracht hielt. Aber es war wohl dennoch kein Vergleich zu dem Gewitter, das über Freddie hereinbrechen würde. Der Vater nahm ohnehin ständig Anstoß an dem Benehmen des Bruders und drohte, ihn von der Universität weg zu holen und zur Armee zu schicken, „um einen Mann aus ihm zu machen“, wie er zu sagen pflegte. Bis jetzt hatte Mama ihn immer wieder davon abhalten können. Aber nun … Es war unvorstellbar für Lydia, den geliebten großen Bruder nicht mehr in der Nähe haben zu können.

Traurig rollte sie sich neben der schlafenden Annabelle zusammen und harrte der Dinge, die da kommen sollten.

Irgendwann musste sie dann doch eingeschlafen sein, denn es war heller Tag, als sie erwachte, und die kleine Schwester war verschwunden. Im Hause herrschte Grabesstille. Nicht einmal die Geräusche der Dienstboten waren zu hören, und Janet, die Kinderfrau, hatte auch kein warmes Waschwasser gebracht, wie sie es sonst immer tat.

Lydia kroch aus dem Bett und ging zum Fenster. Die Sonne stand hoch am Himmel, und Partridge, der Stallknecht, der gelegentlich auch das Amt des Kutschers versah, führte gerade den grauen Wallach des Pfarrers in den Stall. Freddies Pferd stand, noch gesattelt, neben dem Zaun.

Rasch kleidete sich Lydia an und sprang vergnügt die Treppe hinunter. An der Tür zum Frühstückszimmer blieb sie jedoch betroffen stehen. Die Mutter und die beiden älteren Schwestern saßen eng beieinander und blickten zu Freddie auf. Die Mädchen schluchzten laut, und Freddie sah aus, als sei ihm ein Höllenspuk begegnet. Seine Wangen waren so blass, dass sie fast durchsichtig wirkten, und in seinen sonst so strahlenden blauen Augen schien alles Leben erloschen zu sein. Doch als Lydia nun den Blick zu ihrer Mutter wandern ließ, erstarrte sie vor Schreck. Die Mutter starrte den Bruder an, als erkenne sie ihren eigenen Sohn nicht mehr. Ihr Gesicht war kreideweiß mit zwei hektischen roten Flecken auf den Wangen, und ihre rechte Hand umkrampfte ein feuchtes Spitzentaschentuch.

„Was ist denn geschehen?“, fragte Lydia angstvoll.

Die Mutter wandte ihr den Kopf zu und streckte die Hand aus. „Komm her, mein Kind.“ Hastig lief Lydia zu ihr, hockte sich neben sie und lehnte den Kopf an ihr Knie. „Du musst jetzt sehr tapfer sein“, begann die Mutter zögernd. „Wir haben unsere Stütze verloren – den Mittelpunkt unseres Lebens – unseren liebsten, besten, treuesten …“ Sie hielt inne, als überlege sie, wie ein so fürchterliches Geschehnis in ertragbare Worte gekleidet werden könnte, und entschloss sich dann doch, den Schlag nicht zu mildern. „Lydia, unser armer Papa ist tot.“

Ruckartig hob Lydia den Kopf. „Das verstehe ich nicht. Wirklich nicht. Ich dachte, Lord Latimer …“ Sie sah den Bruder an. „Du hast doch gesagt …“

„Papa ist uns gefolgt“, murmelte Freddie. „Und Ralph hat ihn versehentlich erschossen.“

Wütend sprang Lydia auf. „Und warum hast du ihn dann nicht auch erschossen? Wenn du es nicht willst, werde ich es tun! Oh, Papa …“ Sie sank in sich zusammen wie ein Häufchen Unglück und weinte bitterlich. „Es ist meine Schuld. Ich habe es ihm erzählt, und er ist euch nachgegangen. Ich habe ihn gehen lassen.“

„Du hättest ihn nicht aufhalten können. Genauso wenig, wie du mich hättest aufhalten können.“

„Und das alles hat uns deine Gottlosigkeit eingebracht“, sagte die Mutter voller Bitternis. „Monate lang hast du dein wildes Leben fortgeführt, du und dieser junge Mann aus dem Kollegium, und das ist nun das Ergebnis. Ich darf gar nicht daran denken, was Seine Lordschaft dazu sagen wird …“

„Er hat überhaupt keinen Grund, sich zu beklagen“, fuhr Freddie auf. „Es war sein Sohn, der den Schuss abgefeuert hat, nicht ich. Und es ist auch nicht seine Familie, in welcher jetzt Trauer herrscht.“

„Wird man ihn vor Gericht stellen?“ Margaret hörte auf zu schluchzen und trocknete sich die Augen mit einem Taschentuch.

„Wer sollte ihn denn anklagen?“, erwiderte die Mutter verbittert. „Sein Vater ist der Gutsherr und außerdem Richter im Distrikt. Es wird als ein Unfall hingestellt werden, und das ist auch besser so, denn Duelle sind verboten, und Freddie ist ja auch nicht schuldlos an dieser Affäre.“

„Mama!“, protestierte Freddie.

Aber die Mutter war inzwischen schon wieder bei anderen Gedanken. „Was soll nur aus uns werden“, jammerte sie. „Ohne deinen Papa …“

„Mama, ich denke, du solltest dich jetzt hinlegen. Ich werde nach Doktor Dunsden schicken, damit er dir ein Beruhigungsmittel gibt und du ein wenig schlafen kannst.“ Susan als die älteste der Schwestern übernahm jetzt die Oberaufsicht. „Später werden wir dann über die weiteren Dispositionen nachdenken.“

In diesem Augenblick näherte sich dem Haus ein Pferd in raschem Galopp, und bald darauf erscholl ein lautes Klopfen an der Haustür. Eine der Mägde öffnete und kam dann ins Zimmer, um den Earl of Blackwater anzumelden.

„Er verliert wahrhaftig keine Zeit“, murmelte Freddie, während der Earl in einem Jagdrock, hirschledernen Reithosen und kniehohen glänzenden Stiefeln über die Schwelle trat. Er trug eine kurze braune Perücke, und man hätte glauben können, dass er auf seinem üblichen Morgenritt sei, wären da nicht die trüben Augen und die versteinerte Miene gewesen.

Mit einem raschen Blick erfasste er die Szene und blieb stehen. „Wir müssen miteinander reden, Anne“, sagte er ruhig.

„Ja“, erwiderte die Mutter teilnahmslos, während die anderen ihn wegen der vertraulichen Anrede verblüfft anstarrten. „Aber hat das nicht noch Zeit? Mein Gemahl ist doch kaum …“

„Ich weiß, und es tut mir leid. Aber schicke bitte die Mädchen hinaus. Es gibt Dinge zu regeln …“

„Ja, ja, unser Wohnrecht hier …“

„Großer Gott, hältst du mich für ein gefühlloses Monster? Das habe ich nicht gemeint, und du weißt es auch. Es geht um das Duell. Zweikämpfe sind verboten. Die Jungen haben das Gesetz gebrochen, und als Ergebnis davon wurde ein Mann getötet – ein völlig unbeteiligter Mann, was es ganz besonders unentschuldbar macht.“

„Glaubst du, ich bin mir darüber nicht im Klaren?“, rief die Mutter. „Wie kannst du überhaupt hierher kommen, nachdem dein Sohn mich meines Gatten beraubt hat …“ Sie gab ihre würdevolle Haltung auf, um die sie so hart gekämpft hatte, und begann hemmungslos zu weinen.

„Mama! Mama! Weine doch nicht so sehr!“ Lydia schlang schluchzend die Arme um den Hals der Mutter.

„Susan, bringe deine Schwestern hinaus“, befahl der Earl. „Deine Mutter, Freddie und ich werden entscheiden, was weiter geschehen soll.“

Susan zog Lydia sanft von der Mutter weg. „Komm, wir müssen uns um Annabelle und John kümmern. Wer weiß, was sie inzwischen für Unfug angestellt haben. Sie sind ja beide eigentlich noch zu jung, um alles zu verstehen. Aber wir müssen versuchen, es ihnen zu erklären.“ Sie nahm Lydia und Margaret bei der Hand und verließ mit ihnen das Zimmer.

Auch später dann hatte Lydia nie genau erfahren, was in jener Stunde im Frühstückszimmer gesprochen worden war. Das Einzige, was ihr für immer im Gedächtnis blieb, war die Tatsache, dass an dem Tag, da sie ihren Papa verlor, auch der geliebte ältere Bruder aus ihrem Leben verschwand. Er wartete nicht einmal die Beisetzung ab, sondern machte sich noch in derselben Nacht auf den Weg.

„Es war das Beste so“, erwiderte die Mutter, als Lydia danach fragte. „Seine Lordschaft konnte nicht über die Tatsache hinwegsehen, dass das Gesetz gebrochen wurde.“

„Ja, aber von seinem Sohn und nicht von Freddie“, widersprach Lydia.

„Sie haben beide Schuld auf sich geladen, und Ralph ist gleichfalls in die Verbannung geschickt worden. Seine Lordschaft hat seinen einzigen Sohn und Erben gezwungen, das Land zu verlassen. Und nun müssen wir beide zusehen, wie wir ohne unsere Söhne zurechtkommen.“

„Das klingt ja, als tue dir der Earl leid!“

„So ist es auch. Er kann doch nichts dafür.“ Die Mutter wollte Lydia an sich ziehen. Doch die Kleine sträubte sich dagegen, Trost von ihr anzunehmen.

„Aber es war Ralphs Schuld. Freddie wollte sich gar nicht mit ihm schlagen. Das weiß ich ganz genau.“

„Komm, Lydia“, sagte die Mutter geduldig, „wir wollen nun nicht mehr über den Fehler oder über die Schuld von irgendjemandem sprechen. Verstehst du das?“

Lydia nickte wortlos, obwohl sie es nicht verstand. Sie würde von jetzt an vor der Mutter kein Wort mehr darüber verlieren, aber sie würde Ralph Latimer nie verzeihen, was er getan hatte.

Nie. Nie. Nie.

1. KAPITEL

Im März 1763

Auf dem europäischen Kontinent war ein siebenjähriger Krieg zu Ende gegangen, den König Friedrich II. von Preußen im Bunde mit Großbritannien-Hannover gegen eine Allianz sämtlicher anderen Großmächte Europas um den Besitz Schlesiens geführt und siegreich beendet hatte. An seiner Seite gehörte nun Großbritannien ebenfalls zu den Siegern, und so fanden auch dort im ganzen Lande ausgelassene Siegesfeiern statt, obwohl sich viele Stimmen erhoben, die behaupteten, der Friede von Hubertusburg sei kein Sieg gewesen, sondern nur ein beschämender Kompromiss. Dessen ungeachtet rüstete sich der kleine Hafenort und Marktflecken Malden zu einem Siegesball, der das bedeutendste gesellschaftliche Ereignis der letzten Jahre werden sollte.

Die verwitwete Anne Fostyn hatte beschlossen, den Ball mit ihren beiden jüngsten Töchtern Lydia und Annabelle zu besuchen, obwohl die Beschaffung der dafür passenden Garderobe für alle drei zunächst ein kaum lösbares Problem erschien. Aber zu guter Letzt fand die Mutter auf dem Dachboden einen alten Koffer, der Kleider enthielt, die sie in den vergangenen besseren Tagen getragen hatte, und den sie nun vor den Augen der erwartungsvollen Mädchen auszupacken begann.

Als Erstes kam ein in einen Schutzbeutel verpacktes blassrosa Seidenkleid zum Vorschein, das aus zahllosen Ellen besten Materials bestand. „Diese Farbe wird Annabelle wunderbar kleiden“, sagte die Mutter und zog vorsichtig die dünne Baumwollhülle ab. „Und hier ist noch etwas, das wir passend machen können.“ Sie kramte in dem Koffer und brachte ein gelbes Brokatgewand ans Tageslicht, dessen eingewebte Muster einen Ton dunkler waren. Prüfend hielt sie es an Lydias schlanke Gestalt. „Ja, es ist genau das Richtige für deine dunklere Tönung. Ich habe es getragen, als ich in deinem Alter war und zum ersten Male euerm Papa begegnete. Es hat sich sehr gut gehalten, wenn es auch völlig unmodern ist. Aber wir werden beide Kleider ändern.“

„Und was ist mit dir, Mama?“, erkundigte sich Lydia.

„Oh, mein Graues mit den lila Streifen tut durchaus noch seine Dienste. Schließlich gehe ich ja nur zu eurer Begleitung mit, und in meinem Alter sollte man sich ohnehin nicht mehr so aufputzen wie ein Pfau, nicht wahr?“

Die Mutter war allerdings noch keineswegs alt und in Lydias Augen auch noch wunderschön. Sie hätte zweifellos noch einmal heiraten können, wenn sie nicht so mittellos gewesen wäre. Außerdem hatte sie, wie sie immer wieder betonte, überhaupt keine Lust auf eine zweite Ehe. „So wie ich bin, bin ich zufrieden“, pflegte sie zu erwidern, wenn irgendjemand diese Möglichkeit zur Sprache brachte. Lydia fragte sich zwar manches Mal, ob diese Behauptung wohl ehrlich gemeint sei. Doch sie unterließ es, danach zu fragen, sondern beschäftigte sich stattdessen lieber mit Überlegungen zur Umänderung der alten Kleider.

Annabelle konnte ihre Aufregung kaum noch zügeln und begann sofort, das für sie bestimmte Gewand aufzutrennen, während die Mutter sich auf der Suche nach einem passenden Schnitt in das Magazin für Damen vertiefte. „Ich freue mich ja so!“, erklärte die jüngste der Fostynschwestern mit strahlenden Augen. „Mein erster Ball! Ich kann es kaum erwarten.“

„Zweifellos gehst du davon aus, dass dir an diesem Abend jeder junge Mann zu Füßen liegen wird.“ Nachsichtig lächelnd machte sich nun auch Lydia an die Arbeit.

„Oh, glaubst du, das wäre möglich? Ach, wie herrlich wäre es doch, wenn wir beide auf diesem Ball einen Ehemann finden würden!“

„Nun, wir haben ja zum Heiraten noch sehr viel Zeit, und es ist zudem ziemlich unwahrscheinlich, dass wir an jenem Abend irgendjemanden von Bedeutung treffen werden. Der Ball findet schließlich nur im Versammlungssaal statt, und hier in der Gegend kennt doch sowieso jeder jeden.“

„Vielleicht gibt es doch Neue in der Stadt – ganz bestimmt sogar. Jetzt, da der Krieg vorüber ist, kommen ja die Offiziere alle wieder nach Hause.“

„Du musst nicht so ungeduldig sein, Annabelle“, mahnte Lydia. „Du bist schließlich erst fünfzehn.“

„Nächsten Monat werde ich schon sechzehn“, berichtigte die Schwester. „Und du bist achtzehn und könntest nun wirklich ans Heiraten denken, denn du solltest doch vor mir in den Ehestand treten.“

„Ach, ich habe keine Eile damit.“

„Das mag schon sein.“ Nachdenklich betrachtete die Mutter die beiden in emsiger Arbeit geneigten Köpfe ihrer Töchter. „Aber die meisten jungen Damen heiraten mit neunzehn. Längeres Warten erweckt leicht den Anschein, als sei man zu wählerisch oder es könne irgendetwas nicht in Ordnung sein. Und das möchte ich auf jeden Fall vermeiden. Du bist ansehnlich und intelligent, Lydia, und ich habe dich auf deine künftigen Pflichten als Ehefrau hin erzogen. Es ist wirklich Zeit, ernsthaft darüber nachzudenken, wen du wohl heiraten könntest.“

„Ich habe noch keinen Mann getroffen, der mir gefallen hat, Mama, und ich würde mir lieber meinen Lebensunterhalt selbst verdienen, als zu überstürzt eine eheliche Bindung einzugehen.“

„Deinen Lebensunterhalt verdienen! Großer Gott, ich habe noch nie so etwas Ausgefallenes gehört! Dein Großvater war ein Baronet, und er würde sich im Grabe umdrehen, wenn er das hören könnte. Wir gehören nicht zu der arbeitenden Klasse, Lydia, auch wenn wir arm sind …“

„Wir sind arm?“ Überrascht hob Lydia den Kopf.

Die Mutter seufzte. „Ich hatte gehofft, dass es nie so weit kommen würde, aber nun muss ich euch wohl doch reinen Wein einschenken.“

„Was ist geschehen, Mutter? Schau doch nicht so streng. Habe ich irgendetwas Falsches getan?“

„Nein, nein, Liebes, du trägst keine Schuld. Es ist nur … Wir haben seit dem plötzlichen Tod deines lieben Vaters von den Zinsen einer kleinen Kapitalanlage gelebt. Aber im letzten Jahr ist der Zinssatz stark gesunken, und ich war gezwungen, das Kapital anzugreifen. Es nimmt seitdem in alarmierender Schnelligkeit ab, sodass ich fürchte, dass ich dir keine Mitgift zukommen lassen kann. Du musst sehen, dich so gut wie möglich auch ohne Aussteuer zu verheiraten. Es ist natürlich nicht das, was ich mir für dich gewünscht hätte …“

Lydia war tief betroffen, denn sie hatte nicht geahnt, dass die Dinge so schlimm standen. Die Mutter hatte immer sparsam gewirtschaftet und jede Art von Verschwendung verabscheut. Kein Wunder, wenn so wenig Geld im Hause war! Aber sie hatte dennoch den Kindern nie etwas vorenthalten, das sie wirklich brauchten. Was für schwere innere Kämpfe mochte sie dabei ausgefochten haben.

„Oh, Mama, warum hast du uns nichts davon gesagt? Wir hätten noch besser haushalten können, billiger essen, weniger Bänder und Spitzen kaufen. Und es wäre auch ohne Kutsche gegangen.“

„So? Damit jeder mit dem Finger auf uns zeigt und deine Chance auf eine günstige Heirat für dich völlig verdorben wird? Seine Armut sollte man der Welt nie vor Augen führen.“

„Du meinst also, ich muss mich möglichst rasch nach einem Ehemann umsehen?“

„Ich fürchte, so ist es, mein Kind“, erwiderte die Mutter betrübt. „Einen Gentleman mit einem geachteten Beruf oder den jüngeren Sohn eines Gutsherrn oder jemand wie Sir Arthur Thomas-Smith. Er war schon einmal verheiratet und ist jetzt auf der Suche nach einer zweiten Frau. Er würde bestimmt nicht so viel Wert auf eine Mitgift legen.“

„Aber Mama!“, rief Lydia entsetzt. „Er ist doch so alt. Und so dick. Und er hat schon drei Töchter.“

„Aber er ist reich genug, um dir alles bieten zu können. Vielleicht lässt er sich auch dazu überreden, Annabelle eine Aussteuer zu geben und Johns Schule zu bezahlen …“

„Mama, so trostlos wird unsere Situation vielleicht doch noch nicht sein“, flehte Lydia.

Resigniert hob die Mutter die Schultern. „Ich fürchte, es beginnt langsam, besorgniserregend zu werden. Wenn wir nicht das Glück hätten, dass Seine Lordschaft uns erlaubt, hier kostenlos zu wohnen …“

Nach jener Tragödie im Morgengrauen war die vakant gewordene Pfründe an einen neuen Pfarrer vergeben worden, und der Earl hatte der Witwe und ihren Kindern, die das Pfarrhaus hatten räumen müssen, den seit dem Tode seiner Mutter leer stehenden Witwensitz zur Verfügung gestellt. Dieses Entgegenkommen hatte bei Lydia sehr widerstreitende Gefühle ausgelöst. Einerseits widerstrebte es ihr, Almosen von dem Vater des Mannes anzunehmen, der ihren Papa getötet hatte. Andererseits sagte sie sich, dass es nur recht und billig sei, wenn er in irgendeiner Form für den unersetzlichen Verlust bezahlte, den sie erlitten hatten. Er war ohnehin mit Geld nicht auszugleichen. Die Mutter sah das allerdings ganz anders. Sie war dankbar. Dankbar!

Lydias Hass war im Laufe der Jahre nicht geringer geworden, aber sie hatte gelernt, sich zu beherrschen. Sie konnte ein fröhliches Gesicht zur Schau tragen und nach wie vor in ihrem Heimatdorf leben, ohne jederzeit bei Nennung des Namens Blackwater einen Wutausbruch zu bekommen. Ja, sie konnte sogar den Anblick Seiner Lordschaft beim sonntäglichen Kirchgang ertragen. Der Earl war bei den Leuten wohlgelitten, und mancher bemitleidete ihn sogar wegen der Abwesenheit seines Sohnes und der lang andauernden Krankheit seiner Frau, die von jener Tragödie ausgelöst worden sein sollte, wie die Nachbarn erzählten.

Als wenn sein Verlust schwerer wäre als der ihre! Er konnte immerhin seinem Sohn jederzeit Geld schicken, damit er auch weiterhin in Luxus lebte. Sie aber hatte keinen Vater mehr, und ihr geliebter Bruder war vielleicht auch schon tot, denn die Nachrichten von ihm waren spärlich und wenig günstig. Zehn Jahre lang hatte Lydia ihn nicht mehr gesehen, und sie vermisste ihn nach wie vor sehr, ebenso wie die beiden älteren Schwestern.

Susan war beim Ableben des Vaters mit dem kürzlich in den Adelsstand erhobenen Sir Godfrey Mallard verlobt gewesen. Beide Väter hatten auch den Ehekontrakt bereits unterschrieben, sodass der junge Mann von der Heirat nicht mehr Abstand nehmen konnte. Doch die Besitztümer der Familie lagen in Lancashire, und da es ein weiter Weg von Essex bis dorthin war, drangen die Gerüchte um ein Duell zwischen den beiden jungen Männern nicht bis dorthin, und Sir Godfrey genehmigte die Eheschließung nach Ablauf des Trauerjahres ohne Widerstand. Allerdings gestattete er seiner Schwiegertochter nur die aus Gründen des Anstandes erforderlichen höchst seltenen Besuche in ihrer alten Heimat.

Margaret hatte sich ein paar Jahre später mit einem jungen Husarenoffizier verlobt, der gleich im ersten Kriegsjahr gefallen war. Daraufhin hatte sie für immer und ewig der Ehe entsagt und war als Hauslehrerin zu dem Duke of Grafton nach Hertfordshire gegangen. Eine Anstellung bei einem Herzog war in den Augen der Mutter die einzige akzeptable Tätigkeit für eine junge Dame aus gutem Hause. Seit die beiden großen Schwestern aus dem Hause waren, nahm Lydia nun den Platz der Ältesten ein, und da der Rest der Familie mittlerweile verarmt war, bedeutete es für sie, sich für die anderen durch eine reiche Heirat opfern zu müssen. Aber ausgerechnet Sir Arthur …!

„Er lebt noch nicht lange in unserer Gegend“, fuhr die Mutter fort, „und er kennt die Geschichten aus der Vergangenheit nicht.“

„Aber irgendjemand wird sie ihm schon erzählen, dessen kannst du sicher sein.“

„Nun, dann musst du so schnell wie möglich seine Aufmerksamkeit auf dich lenken und ihm die Vorteile einer Verbindung mit dir vor Augen führen, bevor er Zeit findet zuzuhören.“

„Oh, Mama, das ist doch aber hinterlistig.“

„Keineswegs, denn er wird dem Geschwätz keine Bedeutung beimessen, wenn er erst einmal erkannt hat, was für eine ausgezeichnete Ehefrau du sein wirst.“

„Ehefrau und Mutter“, fügte Lydia verdrossen hinzu. „Du vergisst seine Töchter.“

„Ach, Kind, es tut mir ja auch so leid, aber ich sehe keinen anderen Ausweg. Wenn dein Vater noch lebte oder wenigstens Freddie …“ Die Mutter brachte es nicht übers Herz weiterzureden. Die Abwesenheit ihres ältesten Sohnes schien ihr ein noch schwereres Los zu sein als der Verlust des Gatten.

„Kann ich nicht noch warten? Vielleicht ergibt sich doch etwas anderes.“

„Wenn du romantische Vorstellungen von Liebe haben solltest, Lydia, dann solltest du ihnen straffe Zügel anlegen. Das Leben ist nicht so – und ganz besonders nicht unser Leben.“

„Ja, damit magst du wohl recht haben.“ Lydia seufzte herzergreifend. Sie konnte der Mutter doch nicht sagen, dass der Zorn, die Verzweiflung, der glühende Hass – all die Gefühle, die sie tief in ihrem Innern vergraben hatte – bei diesen Worten in ihrem Herzen wieder lebendig geworden waren.

„Wenn du Sir Arthur nicht magst, dann ist da ja noch Robert Dent“, nahm die Mutter den Gesprächsfaden wieder auf. „Er ist nach wie vor unverheiratet und wird einmal das Vermögen seines Vaters erben.“

„Er ist ein Schürzenjäger und ein Spieler“, erkläre Lydia. „Und wenn ich mit ihm leben müsste, würde unaufhörlich ein Messer in eine nicht verheilte Wunde gestoßen, denn er hätte damals das Duell verhindern können, bevor Papa auf dem Plan erschien. Er hätte sich überhaupt weigern können, Freddies Sekundant zu sein.“

„Dann hätte Freddie irgendeinen anderen gefunden. Aber es stimmt, Robert Dents Ruf ist nicht der Beste, und ich möchte meine Tochter nicht durch einen zwar reichen, aber liederlichen Ehemann unglücklich machen.“

„Und es gibt ja auch noch den Comte of Carlemont“, kicherte Annabelle. „So ein Dandy! Aber sehr höflich. Ihn würde das Geschwätz bestimmt nicht stören. Jetzt, da der Krieg zu Ende ist, würde er dich mit an den französischen Hof nehmen, und vielleicht würde es dort für Mama und mich auch einen Platz geben.“

„Ich will aber nicht nach Frankreich gehen!“ Nach dieser entschiedenen Feststellung weigerte sich Lydia, noch ein weiteres Wort zu diesem Thema zu verlieren, und versuchte stattdessen, sich auf den Ball zu freuen so wie Annabelle und von einem Mann zu träumen, der ihren hohen Idealen von Liebe gerecht wurde. Er müsste hübsch und stark sein, aber vor allem freundlich und aufmerksam und dem Glücksspiel abhold. Er sollte sie hingebungsvoll lieben und nicht daran denken, sich eine Mätresse zu nehmen, da sie wunschlos glücklich miteinander wären. Und vielleicht könnte er sogar Freddie wieder …

Bei diesem letzten Gedanken biss sich Lydia auf die Lippe. Was sollten diese Träumereien? Sie hatten doch keine Ahnung, wo der Bruder sich aufhielt. Kurz nach seinem Weggang hatte er ein Mal geschrieben und mitgeteilt, dass er sich bei der Truppe hatte anwerben lassen. Seitdem wussten sie nicht einmal, ob er überhaupt noch unter den Lebenden weilte.

Als die beiden Mädchen gerade dabei waren, ihre Arbeit zusammenzupacken, weil es Zeit zum Abendessen war, erschien Janet mit der Meldung, dass ein Diener von Colston Hall mit einer Botschaft für Mistress Fostyn in der Küche warte. Lydia und Annabelle blickten sich verwundert an, während die Mutter sich erhob und wortlos in die Küche ging.

„Was mag er nur wollen“, überlegte Lydia, nachdem sich die Tür hinter der Mutter geschlossen hatte. „Ich begreife überhaupt nicht, warum Mutter immer noch einen Kniefall vor ihm macht.“

„Du meinst den Earl? Aber er hat doch nichts Unrechtes getan.“

„Was weißt du schon davon. Du warst schließlich nicht dabei.“

„Aber ich habe gehört, was geschehen ist. Jeder hat es gehört. Es war sein Sohn, der Papa erschossen hat, und nicht der Earl.“

„Er hat Freddie fortgeschickt. Und er hat uns unser Zuhause genommen.“

„Das musste er. Wir konnten doch nicht länger im Pfarrhaus wohnen bleiben, als ein neuer Vikar die Gemeinde übernommen hatte, nicht wahr? Und er hat uns hier eine angenehme Unterkunft geboten.“

„Das ist aber kein Grund dafür, dass Mama immer herbeigeeilt kommt, sobald die Countess unpässlich ist.“

In diesem Augenblick kehrte die Mutter ins Zimmer zurück. „Seine Lordschaft ist schwer gestürzt“, berichtete sie. „Man braucht mich im Herrenhaus.“

„Wieso das, Mama? Seine Lordschaft hat Diener in Hülle und Fülle, wenn er Pflege benötigt. Ich verstehe nicht, warum du auch noch hingehen sollst.“

„Ich muss, Lydia. Kümmere du dich um alles, solange ich fort bin, und wartet nicht mit dem Essen auf mich. Ich komme so schnell wie möglich zurück.“

Die Mutter legte sich einen Umhang über die Schultern, drückte sich eine Haube auf die Locken und verließ mit dem Diener des Earl das Haus.

Erst in der Morgendämmerung des nächsten Tages kehrte Mistress Fostyn nach Hause zurück. Lydia, die sehr unruhig geschlafen hatte, hörte ihre Schritte auf der Treppe und lief ihr im Nachthemd entgegen. Die Mutter sah blass und müde aus, und ihre Augen waren trüb von Tränen.

„Mama, was ist geschehen? Warum warst du so lange fort?“

„Er ist tot“, erwiderte die Mutter dumpf. „Der Earl of Blackwater ist tot.“

„Oh.“ Lydia brachte es nicht fertig zu behaupten, es tue ihr leid. „Wie ist es nur so schnell gegangen?“

„Ich erzähle es euch später. Jetzt bin ich müde und brauche Ruhe.“

„Natürlich. Ich wecke Janet, damit sie dir beim Auskleiden hilft.“

„Nein, nein, das schaffe ich schon allein. Gehe du auch wieder ins Bett, damit du die anderen nicht störst. Später reden wir über alles.“ Mit schweren Schritten ging die Mutter in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Lydia kam sich ausgeschlossen vor. Verletzt und ärgerlich kroch sie wieder ins Bett.

Es war schon fast Mittagszeit, als die Mutter endlich im Wohnzimmer erschien, aber sie glich nun wieder der vertrauten Erscheinung. Lächelnd betrachtete sie die beiden Mädchen, die aus dem Wunsche heraus, sich mit einer nützlichen Arbeit zu beschäftigen, eifrig an den neuen Ballkleidern stichelten. „Lasst mich einmal sehen, was ihr geschafft habt.“ Sie nahm Lydia den Rock, dessen Saum gekürzt werden musste, aus der Hand und musterte das Werk. „Sehr gut! Sehr gut!“, lobte sie, „obwohl ich nicht sicher bin, dass wir in der Lage sein werden teilzunehmen, nachdem der Earl …“

„Oh, Mama, wir werden doch nicht absagen, nur weil er gestorben ist!“, jammerte Annabelle. „Er ist ja kein Verwandter, und wir sind nicht verpflichtet, um ihn zu trauern.“

„Das ist richtig. Aber es kann sehr wohl sein, dass die Organisatoren den Ball gar nicht stattfinden lassen, weil der Earl einer der wichtigsten Geldgeber dafür war.“

„Oh, nein!“ Es schien Lydia, als komme alles Ungemach, das ihnen widerfuhr, stets aus der Richtung des Herrenhauses.

Nun, vielleicht wurde der Ball nicht gänzlich abgesagt, sondern nur aufgeschoben bis nach der Beerdigung. Dann konnte der Erbe Seiner Lordschaft entscheiden, ob das Siegesfest stattfinden sollte oder nicht. Der Erbe. Der neue Earl of Blackwater würde Ralph Latimer sein, obwohl wahrscheinlich niemand wusste, wo er sich zurzeit aufhielt.

„Ich hörte von dem Kammerdiener des Earl, dass es keinen Kontakt mehr zu Ralph gegeben hat, seit … seit jenem Geschehnis“, berichtete die Mutter. „Ich dachte immer, dass Seine Lordschaft mit seinem Sohn in Briefwechsel stand und er deshalb seinen Aufenthaltsort kannte. Wenn dem aber so gewesen sein sollte, dann hat er sein Geheimnis mit ins Grab genommen, und seine Anwälte werden sich nun darum kümmern müssen.“

„Wie ist denn Seine Lordschaft gestorben, Mama?“, erkundigte sich Lydia. „Ich hörte, es sei ein Unfall gewesen.“

„Er stürzte die Treppe hinunter.“ Die Mutter schluckte, biss sich auf die Lippe und fuhr dann fort: „Der Doktor sagte, er habe sich dabei das Rückgrat gebrochen.“

„Aber er war doch bei Bewusstsein? Er hat nach dir geschickt?“

„Ja.“

„Warum nach dir? Warum nicht nach seiner Frau?“

„Sie war unpässlich und … Ach, das ist alles so schwierig. Seine Frau hat sich so verändert, seit Ralph das Haus verlassen hat. Ich fürchte, sie war nicht mehr recht bei Sinnen. Sie hat oft getobt, und manchmal soll sie ihren Mann sogar angegriffen haben. Ich glaube, sie … Ihr müsst mir schwören, zu niemandem ein Sterbenswörtchen darüber verlauten zu lassen! Ja?“ Die Mädchen nickten schweigend. „Ich glaube, der Earl ist gestürzt, weil sie wieder einmal auf ihn losgegangen ist.“

„Meinst du, sie hat ihn die Treppe hinuntergestoßen?“

„Ich befürchte es.“

„Die Arme!“ Zum ersten Male spürte Lydia so etwas wie Sympathie für die Countess.

„Ihr seht also, dass sie für Seine Lordschaft nicht von Nutzen sein konnte.“

„Aber du konntest etwas für ihn tun?“

„Ja. Uns verbindet … uns verbindet ein gemeinsames Schicksal. Wir haben beide durch einen grausamen Schlag unser Liebstes verloren …“

„So siehst du es also? Wie kannst du nur so nachsichtig sein? Und wenn Ralph Latimer … ich meine, wenn der neue Earl nach Hause kommt, dann wirst du ihm wohl auch freundlich entgegentreten? Wirst knicksen und lächeln?“

„Ich weiß es nicht“, erwiderte die Mutter müde. „Wir müssen es abwarten.“

Da niemand wusste, ob der neue Earl von der Tragödie überhaupt in Kenntnis gesetzt wurde, konnte das Begräbnis nicht hinausgeschoben werden. Manche Leute im Ort glaubten gehört zu haben, er sei in den Tropen am Fieber gestorben. Wieder andere behaupteten, er habe als einfacher Soldat gedient und sei in einer Schlacht gefallen. Einige wenige nahmen zwar an, dass er noch am Leben sei, sich aber nie mehr in sein Elternhaus wagen würde. Und seine Anhänger sagten hinter vorgehaltener Hand, dass er die Fostyns sofort vor die Tür setzen werde, wenn er zurückkomme – und das sei nicht mehr, als sie verdienten.

Am Tage vor der feierlichen Beisetzung ereignete sich eine zweite Tragödie. Die Countess entkam der eigens für sie eingestellten Aufsichtsperson und sprang aus einem Fenster des oberen Stockwerkes. Kummer sei der Anlass dafür gewesen, sagte jeder im Ort – Kummer und die Tatsache, dass der Earl in seiner Sterbestunde nach Mrs. Fostyn geschickt habe und nicht nach seiner Frau.

Lydia war um ihrer Mutter willen wütend über das Gerede und wollte allen Leuten mitteilen, was sie vom Geisteszustand der Countess wusste. Die Mutter untersagte es ihr jedoch. Man solle doch dem Earl und seiner Gemahlin gestatten, in Frieden zu ruhen, meinte sie.

Und so gab es denn zwei Bestattungen, und auch danach hörten die Vermutungen und Gerüchte über den neuen Earl und das mögliche Schicksal des Herrenhauses, sofern der Erbe nicht gefunden würde, immer noch nicht auf. In keiner Familie wurde jedoch mehr darüber nachgedacht als bei den Fostyns, denn sie lebten ja nur durch die Gunst des Verstorbenen in dem Witwensitz. Wohin sollten sie gehen, wenn man sie hinauswarf? Und wovon sollten sie dann leben?

„Wir müssen den Kopf oben behalten und so tun, als sei alles in Ordnung“, pflegte Mrs. Fostyn dann immer zu sagen. Aber Lydia hegte berechtigte Zweifel, ob all das boshafte Geschwätz wirklich bis an die Ohren der Mutter gedrungen war. „Lasst uns die Kleider fertig machen“, waren dann meist die letzten Worte. „Wenn das Siegesfest abgesagt werden sollte, wird es bestimmt andere Bälle geben.“

Der immer noch in Aussicht stehende Ball war dann auch der Grund dafür, dass sich Lydia und Mrs. Fostyn einen Monat nach dem Leichenbegängnis auf den Weg nach Chelmsford gemacht hatten, um rosafarbenes Samtband für Annabelles Ballkleid und Zierborte für Lydias Brokat zu kaufen, derweil die Mutter in der Stadt ein paar gute alte Bekannte aufsuchen wollte.

Sie trennten sich auf der Hauptstraße, nachdem sie die öffentliche Leihbibliothek als Treffpunkt vereinbart hatten. „Schau du nur nach den Bändern“, hatte die Mutter gesagt. „Ich finde dich dann schon bei deinen geliebten Büchern.“

Bekümmert blickte Lydia der Mutter nach und wünschte sich dabei sehnlichst, ihr mehr Vertrauen schenken zu können. Aber seit jenem Gespräch über eine mögliche Heirat fühlte sie sich mit ihren Problemen nicht mehr richtig ernst genommen, und nach dem Tod des Earl hatte sich die Mutter in ihrer Sorge um die Zukunft der Familie gar gänzlich vor ihr verschlossen. Seufzend gestand sich Lydia ein, dass in der Tat die einzige Hilfe, die sie der Mutter dabei geben konnte, eine günstige Heirat war.

Doch dann schüttelte sie fürs Erste die trüben Gedanken ab und betrat ein winziges Kurzwarengeschäft, wo sie auch sofort das passende Band für Annabelle fand. Eine goldfarbene Zierborte war jedoch nicht am Lager. Lydia versuchte es noch in zwei anderen einschlägigen Läden, und als sie auch das letzte Geschäft ohne Ergebnis verließ, musste sie zu ihrer misslichen Überraschung feststellen, dass es begonnen hatte, heftig zu regnen.

Ratlos blieb sie in einem Eingangstor stehen, um ein Ende des Regenschauers abzuwarten. Kurz darauf gesellte sich ein junger Mann mit einem Regenschirm dazu. Der Torbogen erwies sich aber als zu schmal, um auf die Dauer vor der Nässe zu schützen, und schon bald fielen dicke Tropfen auf Lydias Schultern.

„Gestattet Ihr“, sagte der junge Mann und hielt den Schirm über sie. „Er ist groß genug für uns beide, wenn wir ein wenig zusammenrücken.“

„Besten Dank“, erwiderte Lydia steif, machte jedoch keine Anstalten, näher heranzutreten. Für die Bewahrung ihrer Gemütsruhe stand der Fremde ohnehin schon viel zu nahe bei ihr.

Der erste Eindruck, den sie von ihm hatte, war geprägt von seiner ungewöhnlichen Größe und der Breite seiner Schultern. Der zweite ging von der Eleganz seiner Kleidung aus. Er trug einen Rock aus feinem, mit roter Seide gefüttertem Tuch. Der Kragen und die Ärmelaufschläge waren ebenfalls mit Seide in derselben Farbe unterlegt und mit Gold- und Silberfäden bestickt. Es musste ein ziemlich teures Kleidungsstück sein, doch der junge Mann trug es mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit und kümmerte sich nicht darum, ob es Wasserflecke vom Regen bekam. Vorsichtig hob sie den Kopf, um sein Gesicht betrachten zu können, und war überrascht, dass auch der Fremde sie im selben Augenblick so eindringlich musterte, als wolle er jede Einzelheit im Gedächtnis behalten.

Rasch versuchte sie, sich seine Züge einzuprägen. Seine Nase war lang und gerade, seine Haut wettergebräunt, und winzige Falten um die Mundwinkel zeigten, dass er anscheinend gern lachte. Er trug eine dunkle, aus der Stirn zurückgekämmte Perücke mit langen Locken an der Seite. Hinten dagegen wurde das Haar mit einem schmalen grauen Band zusammengehalten. In seinen dunklen Augen lag ein leicht spöttischer Ausdruck, der Lydia veranlasste, ihren Blick hastig abzuwenden.

Dafür kam ihr nun seine bestickte Brokatweste mit einer Reihe schwerer Silberknöpfe zu Gesicht sowie ein fast bis zu seiner Taille herabreichendes Spitzenjabot. Seine langen Beine steckten in engen Kniehosen und seine kräftigen Waden in glänzenden Stiefeln. Als sie an dieser Stelle angelangt war, richtete Lydia ihre Aufmerksamkeit ein wenig verwirrt nun doch lieber auf die regennasse Straße, auf der sich schon eine Reihe von Pfützen gebildet hatten.

„Ich hätte nie gedacht, dass mir so ein einfaches Gerät wie ein Regenschirm einmal so zustatten kommen würde“, sagte der junge Mann lächelnd. „Eigentlich wollte ich ihn heute gar nicht mitnehmen. Aber nun bin ich froh, dass ich es doch getan habe.“

Lydia spürte den versteckten Sinn hinter seinen Worten und errötete. „Ganz gewiss, Sir. Ihr wäret sonst ziemlich nass geworden. Aber ich fürchte, Eure Kleider sind auch so schon recht feucht. Haltet bitte den Schirm lieber über Euch. Ich habe ja noch meinen Umhang.“

„Ach, der Regen macht mir nichts aus. Ich bin daran gewöhnt. Wo ich herkomme, ist der Monsunregen tausendmal nasser.“

Unwillkürlich musste Lydia lachen. „Nass ist doch nass. Wie kann ein Regen nasser sein als der andere?“

„Oh, ich versichere Euch, das gibt es wirklich. Seid Ihr jemals in Indien gewesen? Nein, ich wette, Ihr kennt dieses Land noch nicht. Aber wenn Ihr es jemals besucht hättet, würdet Ihr wissen, was ich meine.“

Indien, überlegte Lydia. Dann war der Fremde wahrscheinlich eine Art Nabob – reich geworden durch den Handel und dementsprechend anmaßend. Das Merkwürdige daran war nur, dass sie sich nicht abgestoßen fühlte, wie sie es eigentlich hätte sein müssen. Sie fühlte sich vielmehr so stark angezogen, als bestehe ein unsichtbares Band zwischen ihnen. „Ich würde schon gern einmal auf Reisen gehen“, erwiderte sie. „Aber Ihr habt recht, ich habe England noch nie verlassen.“

„Ihr seid also noch nicht einmal in London gewesen?“

„Ein Mal schon, vor langer Zeit. Doch seit …“ Lydia hielt inne und fuhr dann rasch fort: „Doch seit meiner Kindheit nicht mehr.“

Dem jungen Mann fiel die Wehmut in ihrer Stimme auf, und er fragte sich nach dem Grund dafür. Wieder musterte er die junge Dame eingehend. Sie war schlank und reichte ihm gerade bis zur Schulter. Und dennoch ging eine innere Kraft, eine feste Entschlossenheit von ihr aus. Bestimmt war sie kein sanftes Veilchen. In ihren haselnussbraunen Augen, die ihn unerschrocken angeblickt hatten, schimmerten goldene Pünktchen, wenn sie lächelte, gleich den Irrlichtern über dem nachtdunklen Moor. Ihr Haar war dicht und von einem herrlichen Rotbraun. Der einfache graue Umhang, den sie über ihrem Kleid trug, entsprach zwar nicht der Garderobe einer jungen Dame aus vermögendem Hause, war indes auch nicht ärmlich.

„Ich hoffe, dass Euer Wunsch bald in Erfüllung geht, Mylady“, sagte der Fremde lächelnd.

„Ich danke Euch. Aber ich habe keinen Anspruch auf den Titel Lady.“

„Nun, so bleibt Ihr in meiner Erinnerung als das Mädchen ohne Namen.“

Lydia überhörte diesen Versuch, ihren Namen zu erfahren, geflissentlich und erklärte stattdessen: „Ich glaube, ich kann mich jetzt hinauswagen, denn der Regen lässt nach.“

„Müsst Ihr das wirklich? Ich fing gerade an, unseren Aufenthalt hier angenehm zu finden.“

„Ich bin mit meiner Mutter in der Leihbibliothek verabredet. Sie wird schon auf mich warten.“

„Dann gestattet mir wenigstens, Euch zu begleiten. Der Regen hat noch nicht völlig aufgehört, und Ihr werdet meinen Schirm brauchen.“

„Es ist nur ein kurzer Weg, Sir. Ich möchte Euch keine Ungelegenheiten …“

„Es ist ein Vergnügen für mich und keine Ungelegenheit“, fiel der Fremde ihr ins Wort und folgte ihr eiligst, den Schirm fürsorglich über sie haltend. „Kommt Ihr öfters nach Chelmsford?“

„Nur gelegentlich, wenn ich etwas brauche, das ich bei uns im Dorf nicht bekomme.“

„In welchem Dorf?“

„Oh, es ist nur ein winziger Flecken, und Ihr werdet seinen Namen bestimmt noch nicht gehört haben.“ Lydia war sich darüber im Klaren, dass der junge Mann versuchte, ihr den Hof zu machen, und dass sie eigentlich überhaupt nicht mit ihm reden sollte. Doch da sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach nie wieder begegnen würden, musste sie deshalb wohl nicht gar so sehr auf Anstand bedacht sein. Ja, sie fand es sogar vergnüglich, seine Vermutungen noch ein wenig anzureizen. Vor der Bibliothek blieb sie stehen. „Da sind wir schon. Ich habe Euch ja gesagt, dass es nur ein kurzer Weg ist. Ich bedanke mich für Eure Begleitung, Sir.“

Der Fremde machte eine Verbeugung, was mit einem aufgespannten Schirm in der Hand ein so komischer Anblick war, dass Lydia lachen musste. „Ihr solltet immer lachen“, sagte der junge Mann bewundernd. „Wenn Ihr lacht, leuchten Eure Augen und werden ganz lebendig.“

„Sir, Ihr seid ein wenig zu keck.“

„Ach ja, das ist ein alter Fehler von mir.“ Der Fremde seufzte. „Aber muss man nicht die Gelegenheiten ergreifen, die sich einem bieten? Den Stier bei den Hörnern packen, heißt es doch. Werden wir uns wiedersehen?“

„Das, Sir, liegt in der Hand der Vorsehung.“

Autor

Mary Nichols

Mary Nichols wurde in Singapur geboren, zog aber schon als kleines Mädchen nach England. Ihr Vater vermittelte ihr die Freude zur Sprache und zum Lesen – mit dem Schreiben sollte es aber noch ein wenig dauern, denn mit achtzehn heiratete Mary Nichols. Erst als ihre Kinder in der Schule waren,...

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