Bianca Extra Band 13

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SARAHS GEHEIMNIS von THAYNE, RAEANNE
Er verwechselt sie! Eigentlich ist Sarah nur zu Ridge Bowman gefahren, um ihm ein schreckliches Familiengeheimnis zu gestehen … Soll sie ihn einfach im Glauben lassen, sie sei eine andere - und die Chance ergreifen, dem attraktiven Rancher ganz nah zu sein?

SÜßER ALS DIE POLIZEI ERLAUBT von MAJOR, MICHELLE
Wie weit geht Julia, um das Sorgerecht für ihr Kind zu behalten? Sie muss vor Gericht einen makellosen Lebenswandel nachweisen. Aber die Scheinverlobung mit Sam Callahan, dem sexy Polizeichef der Stadt, ist ein sehr hoher Preis für ihren kleinen Sonnenschein …

EIN, ZWEI DINGE ÜBER DIE LIEBE von PADE, VICTORIA
Mit blauen Flecken auf der Seele kehrt Issa nach Hause zurück. Nie wieder ein Mann! Doch dann klopft der attraktive Hausbesitzer Hutch Kincaid an ihre Tür. Zu spät versteckt Issa die Broschüre für Schwangere: Sein warmer Blicke sagt ihr, dass er für sie da ist - wenn sie will …

HABE HUND - SUCHE MANN! von MYERS, HELEN R.
Oh nein, Humphrey ist ausgebüxt! Der freche Basset-Hund ihrer Tante bringt Brooke noch um den Verstand. Los geht die nächtliche Suche - doch zum Glück ist Brooke nicht allein. Hundeflüsterer und Tierarzt Gage ist an ihrer Seite. Und ist es noch, als der Morgen graut …


  • Erscheinungstag 23.12.2014
  • Bandnummer 13
  • ISBN / Artikelnummer 9783733732387
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

RaeAnne Thayne, Michelle Major, Victoria Pade, Helen R. Myers

BIANCA EXTRA BAND 13

RAEANNE THAYNE

Sarahs Geheimnis

Die hübsche Sarah hat sich bei einem Sturz in seinem Haus verletzt: Selbstverständlich kümmert Ridge sich um sie. Ein Wintermärchen beginnt – bis der Rancher erfährt, mit wem er da eigentlich Weihnachten feiert …

MICHELLE MAJOR

Süßer als die Polizei erlaubt

Mit seiner guten Freundin Julia eine Scheinverlobung einzugehen, klingt für Sam vernünftig. Gerade, weil keine Gefühle involviert sind! Doch ein Kuss ändert alles von einem Herzschlag zum nächsten …

VICTORIA PADE

Ein, zwei Dinge über die Liebe

Ein, zwei Dinge kann ich ihr beibringen, denkt Hutch, als er erfährt, dass Issa schwanger ist. Denn der Single Dad weiß alles über das, was Issa offensichtlich große Angst macht …

HELEN R. MYERS

Habe Hund – suche Mann!

Gage Sullivan ist von der hübschen Brooke restlos begeistert. Und der smarte Tierarzt hat einen vierbeinigen Verbündeten, als es darum geht, Brookes Herz an die Leine zu legen …

1. KAPITEL

Die River Bow Ranch war ihm noch nie so verlassen vorgekommen.

Ridge Bowman trat sich nach getaner Arbeit auf der Fußmatte im Hauswirtschaftsraum den Schnee von den Stiefeln. Das Geräusch hallte hohl in dem leeren großen Blockhaus wider, in dem er fast sein ganzes Leben verbracht hatte.

Ridge war daran gewöhnt, beim Betreten des Hauses Lärm und Gelächter zu hören – Geschirrklappern, die Stimme seiner Schwester Caidy, die aus voller Kehle Radiosongs mitschmetterte, das Geräusch des Fernsehers oder seine Tochter am Telefon mit ihren Freundinnen.

Doch Caidy war mit Ben Caldwell in die Flitterwochen gefahren, und Destry schlief bei ihrer Cousine und besten Freundin Gabi. Zum ersten Mal, seit Ridge denken konnte, hatte er das große Haus ganz für sich.

Eine Erfahrung, auf die er ehrlich gesagt gut verzichten konnte.

Er schlüpfte aus seinen Stiefeln und ging in die Küche. Ein kurzes Kläffen erinnerte ihn daran, dass er doch nicht völlig allein war. Er passte nämlich auf Bens niedlichen Hund auf, einen dreibeinigen Chihuahua-Mischling mit dem passenden Namen Tripod. Die meisten Hunde auf der Ranch schliefen in der Scheune und lebten im Freien, doch Tri war zu klein, um mit den Großen zusammen zu sein.

Der Hund trottete in den Hauswirtschaftsraum, setzte sich vor die Hintertür und sah Ridge erwartungsvoll an.

„Musst du mal raus? Dir ist doch wohl klar, dass du im Schnee versinken wirst, oder? Und würdest du mir nächstes Mal übrigens bitte Bescheid sagen, bevor ich mir die Stiefel ausziehe?“

Ridge öffnete die Tür und beobachtete belustigt, wie der Hund zu der Stelle hüpfte, die Ridge extra für ihn freigeschaufelt hatte. Tri gefiel die Kälte offensichtlich auch nicht. Rasch erledigte er sein Geschäft, hüpfte zurück ins Haus und lief in die Küche.

Ridge folgte ihm hungrig. Mal sehen, was er sich noch von dem übrig gebliebenen Hochzeitsessen zusammenstellen konnte. Vielleicht einige von Jenna McRavens Spinatquiches, die er so gern mochte, und ein paar von den kleinen Schinken-Käse-Sandwiches. Schinken war schließlich fast dasselbe wie Speck, oder?

Als er nach einem Joghurt und einer Banane griff, vermisste er das üppige herzhafte Frühstück, das seine Schwester ihm sonst immer zubereitete – lockere Pfannkuchen, knusprigen Speck und goldgelbe Kartoffelpuffer. Damit war es jetzt allerdings nach Caidys Heirat vorbei. Von nun an würden er und Destry entweder allein zurechtkommen oder eine Haushälterin anstellen müssen.

Ridge freute sich trotzdem für seine jüngere Schwester, die in dem neuen Tierarzt von Pine Gulch einen tollen Mann gefunden hatte. Nachdem Melinda die Ranch verlassen hatte, war Caidy für sie eingesprungen und hatte viel zu lange auf ein eigenständiges Leben verzichtet. Da Ridge damals allein mit einem kleinen Baby gewesen war und nach dem Tod seiner Eltern den Ranchbetrieb umstrukturieren musste, war er dankbar für ihre Hilfe gewesen, doch inzwischen hatte er ein schlechtes Gewissen, sie so lange in Anspruch genommen zu haben.

Trotzdem war Caidy ihren Weg gegangen. Sie und Ben liebten einander sehr, und sie würde seinen Kindern Ava und Jack eine tolle Stiefmutter sein.

Inzwischen waren Ridges Geschwister alle glücklich verheiratet. Er war der letzte Single der Bowmans, aber das war ihm nur recht.

Als er in eine von Jennas köstliche Blätterteigpasteten biss, unterdrückte er ein Gähnen. Die täglichen Pflichten auf einer Ranch vertrugen sich nicht gut mit Hochzeitsfeiern und Tanz bis in die Morgenstunden.

Die Küche war der einzige ordentliche Raum des Hauses. Jennas Catering-Crew hatte zwar auch den Rest des Hauses aufräumen wollen, aber Ridge hatte sie weggeschickt, um bis zum Klingeln des Weckers zumindest noch drei Stunden Schlaf zu bekommen. Außerdem hatte Caidy für den Tag nach der Hochzeit schon eine Reinigungsfirma beauftragt.

Er nahm sein improvisiertes Frühstück, pfiff nach Tri und ging ins Arbeitszimmer, wobei er sich Mühe gab, das Chaos um sich herum zu ignorieren. Es war Samstag, aber unter der Woche blieb immer jede Menge Arbeit liegen, und die Zeit vor der Hochzeit seiner Schwester war ziemlich chaotisch gewesen. Er musste noch diverse E-Mails schreiben, den Viehhändler anrufen und die Buchhaltung erledigen.

Als Ridge sein letztes Schinkensandwich aufaß und einen Blick auf die Uhr warf, stellte er zu seinem Schrecken fest, dass bereits zwei Stunden vergangen waren.

Irritiert runzelte er die Stirn. Wo blieb die Putzfrau denn? Caidy hatte gesagt, sie würde um zehn kommen, und jetzt war es schon fast zwölf.

Wie auf ein Stichwort klingelte es an der Tür. Tri sprang auf, kläffte einmal und rannte zur Haustür, so schnell ihn seine kurzen drei Beine trugen.

Die Putzfrau wird einiges zu tun haben, dachte Ridge, als er dem Hund durchs Haus folgte. Hoffentlich würde sie vor Mitternacht fertig werden.

Tri wartete schon ungeduldig vor der Tür. Als Ridge öffnete, stand eine Frau vor ihm, die überhaupt nicht wie eine Putzfrau im Dienst aussah. Eine kleine zierliche Frau mit blauen Augen und rotem Haar, das ihn an die Farbe von herbstlichen Ahornblättern erinnerte.

Sie trug Jeans, einen kurzen schwarzen Mantel und ein kunstvoll um den Hals geschlungenes Tuch. Sie wirkte so zart und zerbrechlich, dass er sich unwillkürlich fragte, ob der Reinigungsjob sie nicht überfordern würde, verdrängte diesen Gedanken jedoch rasch.

Hatte Caidy einen Fehler begangen? Ridge schüttelte den Kopf. Seine Schwester wusste, was sie tat, und auf keinen Fall würde er dieses Chaos allein beseitigen können.

„Mr Bowman?“

„Ja?“

„Hallo. Mein Name ist Sarah Whitmore. Es tut mir leid, dass ich so …“

Ohne ihre Entschuldigung abzuwarten, öffnete Ridge die Tür noch ein Stück weiter. „Hauptsache, Sie sind jetzt da, das ist das Wichtigste. Kommen Sie rein.“

Die Besucherin musterte ihn für einen Moment verwirrt, bevor sie das Haus betrat.

„Ich habe schon vor zwei Stunden mit Ihnen gerechnet.“

„Sie haben mit mir gerechnet? Ich verstehe nicht ganz.“

Anscheinend hatte die Putzfrau sich in der Uhrzeit geirrt. Normalerweise legte Ridge großen Wert auf Pünktlichkeit, aber die Frau wirkte so durcheinander – vermutlich vom Anblick des Chaos vor ihr –, dass er auf eine Zurechtweisung verzichtete. „Solange Sie alles erledigen, wofür Sie bezahlt werden, sehe ich keinerlei Veranlassung, mich bei der Firma zu beschweren.“

„Firma?“ Errötend sah die Frau sich um und ließ den Blick über Krümel, zerknüllte Servietten und leere Champagnerflaschen gleiten. „Wow. Was ist denn hier passiert?“

Mann, er musste dringend mal mit Caidy über diese Reinigungsfirma reden! War die Frau denn überhaupt nicht informiert worden?

„Eine Hochzeitsfeier. Genauer gesagt, die Hochzeit meiner Schwester. Es war schon nach zwei Uhr, als die letzten Gäste gingen, und da ich heute früh aufstehen musste, habe ich alles so gelassen, wie es war.“

„Wow, was für ein Chaos!“

„Aber Sie werden doch damit fertig, oder?“

„Ich …“

„Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht“, versicherte Ridge ihr rasch. Er wollte hier wirklich nicht allein sauber machen. „Die Caterer haben die Küche schon aufgeräumt, da ist also nichts mehr zu tun. Bleiben noch dieser Hauptraum, ein paar Schlafzimmer, in denen die Gäste sich umgezogen haben, und die Gästebäder hier und im ersten Stock. In drei, vier Stunden müssten Sie das doch schaffen können, oder?“

Die junge Frau zog verwirrt die Augenbrauen zusammen und biss sich auf die Unterlippe.

Wie aus dem Nichts überwältigte Ridge das verrückte Verlangen, ihre hübsche Unterlippe zu küssen – ein Impuls, der ihn fast schockierte. Was zum Teufel war nur los mit ihm? Er hatte schon eine Ewigkeit nicht mehr so intensiv auf eine Frau reagiert, aber irgendetwas an ihrem schönen Gesicht, ihren sanften Augen und ihrem glänzenden roten Haar brachte anscheinend sein Blut in Wallung.

Er biss die Zähne zusammen und verdrängte seine völlig unangebrachte Reaktion. „Die Putzutensilien finden Sie im Schrank im Hauswirtschaftsraum gleich hinter der Küche. Dort befindet sich auch alles andere, was Sie brauchen. Ich bin in meinem Büro im Stall, falls Sie Fragen haben“, fügte er schon halb im Gehen hinzu, denn er hatte es auf einmal sehr eilig, von ihr wegzukommen.

„Aber, Sir!“, rief sie ihm hinterher, eine Spur Panik in der Stimme. „Mr Bowman, ich fürchte …“

In diesem Moment klingelte zu seiner Erleichterung das Telefon in seinem Arbeitszimmer. Er hatte absolut keine Lust, mit dieser Frau zu diskutieren. Sie wurde schließlich für ihren Job bezahlt. „Ich muss da rangehen“, sagte er, und das war noch nicht mal gelogen. Vermutlich rief der Futterlieferant zurück, den er vorhin zu erreichen versucht hatte. „Danke schon mal im Voraus. Sie haben keine Ahnung, was für eine große Hilfe Sie mir sind. Sagen Sie einfach Bescheid, wenn Sie etwas brauchen.“

Ridge wandte sich von der Frau ab, die mit leicht geöffnetem Mund und irritiertem Gesichtsausdruck vor ihm stand, und lief davon wie ein Zwölfjähriger, den sein Schwarm gerade bei einer Schulparty gefragt hat, ob er mit ihr tanzen will. Aus reinem Selbstschutz.

Die letzte Frau, zu der er sich spontan so hingezogen gefühlt hatte, hatte er geheiratet – und wie das ausgegangen war, wusste man ja.

Gut, dass diese Unbekannte nur für ein paar Stunden bleiben würde.

Sarah verstand inzwischen die Bedeutung des Wortes „perplex“.

Nachdem Ridge Bowman – zumindest nahm sie an, dass es sich um ihn handelte – sie so plötzlich mit dem seltsam aussehenden dreibeinigen Hund allein gelassen hatte, stand sie ratlos in dem großen Hauptraum des River Bow-Ranchhauses und versuchte zu begreifen, was passiert war.

Okay, das hier war nicht so gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Zumindest hätte sie nie damit gerechnet, dass Ridge Bowman sie mit jemand anderem verwechseln würde.

Unschlüssig schob sie die Hände in die Jeanstaschen und sah den kleinen Hund an, der erwartungsvoll zu ihr hochblickte, als fragte er sich, was sie jetzt vorhatte. „Das wüsste ich selbst gern“, sagte sie, woraufhin der Hund den Kopf schief legte und sie noch eingehender musterte.

Sarahs Angst, die sie seit dem Betreten jenes Lagerraums verfolgte, wurde stärker. Sie musste Ridge Bowman sagen, dass er sich irrte und sie nicht von einer Reinigungsfirma kam, sondern aus Kalifornien angereist war, um mit ihm und seinen Geschwistern zu reden … obwohl sie sich in diesem Moment nur zu gern davor drücken wollte.

Sie holte tief Luft und ballte die Hände zu Fäusten. Na los, geh schon. Sag es ihm.

Die nervtötende Stimme ihres schlechten Gewissens drängte sie in die Richtung, in die der attraktive Rancher verschwunden war, doch sie stand da wie versteinert, den Blick auf die gerahmten Familienfotos an der Wand gerichtet, in dessen Mitte ein lächelndes älteres Paar zu sehen war, das die Arme umeinandergeschlungen hatte.

Sarah schloss für einen Moment gequält die Augen, riss den Blick dann von den Fotos los und ließ ihn über die drei riesigen Sofas und die Lampen aus Geweihen gleiten.

Ridge Bowman brauchte wirklich dringend Hilfe. Im Haus herrschte ein absolutes Chaos. Die Leute mussten wild gefeiert haben, so wie es hier aussah.

Was spricht eigentlich dagegen, ihm zu helfen?

Hm, eigentlich keine schlechte Idee. Sarah hatte Ridge Bowman zwar nur flüchtig gesehen, aber er wirkte ziemlich streng und kompromisslos. Wenn sie ihm dabei half, das Chaos in seinem Haus zu beseitigen, war er vielleicht eher geneigt, ihr zuzuhören, ohne gleich die Beherrschung zu verlieren. Außerdem war sie als Grundschullehrerin ans Aufräumen gewöhnt.

Abgesehen davon hatte sie es gerade nicht besonders eilig, mit ihm zu reden. Je länger sie es hinauszögern konnte, ihm von ihrem Fund in jenem Lagerraum zu erzählen, desto besser. Irgendwie machte er ihr nämlich Angst, so ungern sie sich das auch eingestand. Er war so groß, fast eins neunzig, sehr muskulös, und sein Gesicht war wie in Granit gemeißelt. Er sah toll aus, wirkte aber absolut unnahbar.

Während ihrer kurzen Unterhaltung hatte er nicht ein einziges Mal gelächelt – obwohl Sarah ihm daraus keinen Vorwurf machen konnte. Er hielt sie für eine Putzfrau, die zu spät gekommen war. Nicht auszudenken, wie er reagieren würde, wenn sie ihm sagte, warum sie wirklich zur River Bow Ranch gekommen war.

Okay, es sprach sicher nichts dagegen, dem Mann für ein oder zwei Stunden beim Aufräumen unter die Arme zu greifen. Hinterher würden sie vielleicht herzhaft über sein Missverständnis lachen. Und wer weiß? Vielleicht war er dann ja milder gestimmt.

Sarah versuchte sich einzureden, dass sie keineswegs feige, sondern nur hilfsbereit war, als sie sich ihren Mantel aufknöpfte und ihn an die Hakenleiste in der Diele hängte. Sie zog ihren Pullover aus, schob die Ärmel ihres T-Shirts hoch und ging durch die Küche, um die Putzutensilien zu holen. Sie fand sie in einem Schrank in einer Plastiktüte und trug sie in den Hauptraum. Zuerst würde sie sich um den Müll kümmern und dann die Oberflächen abwischen und die Bäder putzen.

Während sie den Müll einsammelte, musste sie über die Bowman-Familie nachdenken. Einige Details hatte sie nach dem Fund im Lagerraum im Internet herausgefunden, und der junge Collegestudent am Tresen des Cold Creek Inn hatte ihr nach ihrer Ankunft in Pine Gulch gestern Abend mehr erzählt. Zum Beispiel, dass das charmante Inn zufällig der Frau von Taft gehörte, einem der Bowman-Brüder.

Von dem Angestellten hatte sie auch erfahren, dass es insgesamt vier Bowman-Geschwister gab. Ridge, der unnahbare Rancher, dem sie gerade begegnet war, war der Älteste. Danach kamen die Zwillinge Taft und Trace, die Feuerwehr- und Polizeichef von Pine Gulch waren, und die Jüngste war die Tochter Caidy, die am Tag zuvor geheiratet hatte.

Dem guten Zustand der Ranch nach zu urteilen war die Familie ziemlich wohlhabend. Sämtliche Gebäude waren frisch gestrichen, und das komfortable Blockhaus war riesig. Schon allein der fünf Meter hohe, vom Fuß bis zur Spitze mit Bändern, Girlanden und glitzerndem Schmuck geschmückte Weihnachtsbaum war beeindruckend.

Offensichtlich war das hier ein in Ehren gehaltenes und geliebtes Zuhause.

Als Sarah die Treppe hochstieg, um benutzte Servietten von einem Konsolentisch zu nehmen, unterdrückte sie einen Anflug von Neid. Unwillkürlich verglich sie das repräsentative River Bow-Ranchhaus mit den kleinen trostlosen Wohnungen, in denen sie nach der Scheidung mit ihrer Mutter gelebt hatte.

Wie gern wäre sie hier aufgewachsen. Als Kind wäre sie das Treppengeländer heruntergerutscht, hätte auf den Pferden geritten, die sie auf den schneebedeckten Weiden gesehen hatte, und die Berge durch die großen Fenster betrachtet.

Doch als ihr einfiel, was später passiert war, runzelte sie die Stirn. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Oh Gott!

Sie wusste nämlich viel mehr über Ridge Bowman als nur die Anzahl und Namen seiner Geschwister. Zum Beispiel, dass sie vor über zehn Jahren eine unfassbare Tragödie erlebt hatten – die Ermordung ihrer Eltern bei einem Raubüberfall in ihrem eigenen Haus.

Eine Tragödie, die bestimmt Spuren hinterlassen hatte.

Die Angst, die Sarah seit dem Betreten jenes Lagerraums quälte, schnürte ihr wieder die Kehle zu. Sie musste es ihm sagen. Auf keinen Fall durfte sie das Gespräch noch länger hinauszögern, zumal sie ja extra deswegen aus Südkalifornien gekommen war. Ihr jetziges Verhalten war absolut lächerlich!

Entschlossen nahm sie den inzwischen vollen Müllsack und stieg wieder die Treppe hinunter.

An das, was dann passierte, konnte sie sich hinterher nur undeutlich erinnern. Entweder blieb sie mit einem Absatz an einer Kante hängen oder wurde vom schweren Müllbeutel aus dem Gleichgewicht gebracht, denn sie rutschte ab und kam ins Straucheln. Hilflos ruderte sie mit den Armen. Dann stieß sie einen Schrei aus, ließ den Müllbeutel fallen und versuchte noch krampfhaft, sich am Geländer festzuhalten, griff jedoch ins Leere und stürzte die Treppe hinunter.

Schmerzhaft prellte sie sich die Hüften, einen Ellbogen und den Kopf, bevor sie am Fuß der Treppe mit einem unheilvollen Knacken ihres Arms auf dem Boden landete.

2. KAPITEL

Als Ridge erst einen heiseren Schrei und dann einen gedämpften Aufprall hörte, schob er hastig seinen Stuhl zurück. Er erkannte einen Schmerzensschrei, wenn er einen hörte.

Was zum Teufel ist da los?

Er sprang auf und rannte aus dem Arbeitszimmer. Im Hauptraum sah er ein zusammengekrümmtes Bündel am Fuß der Treppe liegen, um sich herum den Müll aus einer offenen Mülltüte verstreut. Seine Besucherin.

Tripod leckte ihr winselnd das Gesicht.

„Aus, Tri!“

Der kleine Hund humpelte widerstrebend zur Seite, sodass Ridge sich neben die Frau hocken konnte. Sie hatte die Augen geschlossen. Der Arm unter ihr war völlig verdreht.

Wie hieß sie noch mal? Sarah sowieso … Whitmore, das war’s! „Sarah? Miss Whitmore? Hey, wachen Sie auf.”

Sie stöhnte, hatte die Augen jedoch noch immer geschlossen. Als Ridge sich ihren Arm genauer ansah, stieß er einen leisen Fluch aus. Vielleicht war es besser, wenn sie nicht aufwachte. Sie musste höllische Schmerzen haben. Er hatte sich schon öfter einen Arm gebrochen und wusste daher, wie sehr das schmerzte.

Die Frau hatte schon vorhin zart ausgesehen, zu zart, um das Chaos von der Hochzeit allein zu bewältigen, aber jetzt wirkte sie geradezu zerbrechlich. Auf einer blassen Wange bildete sich ein Bluterguss, und an einer Schläfe bekam sie eine Beule.

Ridge blickte die Treppe hoch und stellte fest, dass der Müll fast bis obenhin verstreut war. Sarah musste also fast die ganze Treppe hinuntergestürzt sein.

Sein erster Impuls war, ihr weitere Schmerzen zu ersparen, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als sie zu wecken. Sie musste bei Bewusstsein sein, wenn er einen Eindruck von ihrem Zustand bekommen wollte.

Jeder, der auf einer Ranch in Idaho aufwuchs, kannte sich mit Erster Hilfe aus. Er und seine Geschwister hatten so ziemlich alle Verletzungen gehabt, die man nur bekommen konnte. Ridge vermutete deshalb, dass die Fremde eine Gehirnerschütterung hatte. Je länger sie ohne Bewusstsein war, desto größer wurde die Gefahr von Komplikationen. „Ma’am? Sarah? Können Sie mich hören?“

Ihre Lider flackerten kurz, doch ihre Augen blieben geschlossen. Vorsichtig tastete Ridge sie nach weiteren Verletzungen ab. Auf den ersten Blick war nichts festzustellen. Er griff nach seinem Handy und tippte rasch 911 ein. Er würde zwar schneller mit ihr in der Klinik sein als jeder freiwillige Feuerwehrmann, aber er wollte sie nicht bewegen, falls sie innere Verletzungen hatte.

Als er der Notrufzentrale die wichtigsten Informationen durchgab, flatterten wieder ihre Lider. Kurz darauf schlug sie die Augen auf, deren Farbe ihn an einen Sommerhimmel erinnerte.

Als er die Verwirrung und den Schmerz in ihrem Blick sah, bekam er ein schlechtes Gewissen. Sie war beim Reinigen seines Hauses gestürzt. Irgendwie fühlte er sich dafür verantwortlich. „Ganz ruhig, alles ist gut.“

Sie sah ihn für einen Moment ganz benommen an, bevor sie ihn zu erkennen schien. „Mr … Bowman.“

„Gut. Sie wissen also meinen Namen. Und wie heißen Sie?“

Sie blinzelte, als sei die Anstrengung zu viel für sie. „Sarah. Sarah Ma… äh, Whitmore.“

Er runzelte die Stirn, als er sie über ihren Nachnamen stolpern hörte, vergaß das Ganze jedoch, als sie versuchte, sich zu bewegen, und einen herzzerreißenden Schrei ausstieß.

„Ganz ruhig“, murmelte er mit derselben sanften Stimme, mit der er scheuende Pferde beruhigte. „Bleiben Sie liegen.“

„Es tut so weh“, stöhnte sie.

„Ich weiß. Tut mir leid, aber Sie haben sich bei dem Sturz vermutlich einen Arm gebrochen. Ich habe schon den Krankenwagen gerufen, er müsste gleich hier sein. Wir fahren Sie zur Klinik in Pine Gulch. Dr. Dalton wird Sie wieder hinkriegen.“

Ihr ohnehin schon blasses Gesicht wurde noch bleicher. „Ich brauche keinen Krankenwagen.“

„Ich widerspreche einer Lady ja nur ungern, aber ich bin anderer Meinung. Sie haben einen schlimmen Sturz hinter sich. Wissen Sie noch, wie das passiert ist?“

Sie blickte zur Treppe und riss erschrocken die Augen auf.

Für einen Moment fürchtete Ridge schon, dass sie wieder das Bewusstsein verlieren würde.

„Ich wollte mit Ihnen reden, und … ich glaube, ich bin gestolpert. Ich weiß nicht genau. Alles ist so verschwommen.“

„Worüber wollten Sie mit mir reden?“

Zwei rote Flecken erschienen auf ihren Wagen. „Ich … weiß es nicht mehr.“

Ridge hatte den Eindruck, dass sie log, aber vielleicht stand sie auch nur unter Schock.

Sie versuchte wieder, den Kopf zu heben, ließ ihn jedoch rasch sinken. „Mein Kopf tut so weh.“

„Kann ich mir vorstellen. Ich bin kein Arzt, aber ich glaube, Sie haben eine Gehirnerschütterung. Hatten Sie schon mal eine?“

„Nicht, dass ich wüsste.“ Sie unterdrückte ein Stöhnen.

„Halten Sie durch. Bewegen Sie sich möglichst nicht. Ich wünschte, ich könnte Ihnen ein Kissen oder etwas anderes holen. Es ist nicht sehr bequem auf dem Fußboden, aber ich halte es für besser, wenn Sie liegen bleiben, bis der Notarzt kommt und sich einen Eindruck von Ihrem Zustand verschaffen kann. Können Sie mir sagen, was Ihnen wehtut?“

„Alles“, stieß sie hervor. „Es wäre leichter, Ihnen zu sagen, was mir nicht wehtut. Ich glaube, meine linken Wimpern sind heil geblieben. Obwohl, nein, sie tun auch weh.“

Ridge musste lächeln. Sie war wirklich bewundernswert tapfer. Insgeheim war er erleichtert, dass sie trotz ihrer Schmerzen noch scherzen konnte. Vielleicht war ihr Zustand doch nicht so alarmierend. „Soll ich jemanden für Sie anrufen? Einen Ehemann? Einen Freund? Familie?“

Blinzelnd sah sie ihn an. „Nein. Ich habe … niemanden. Zumindest niemanden in der Gegend, den Sie anrufen könnten.“

Sie war ganz allein? Das fand Ridge noch deprimierender als die Tatsache, dass sie verletzt am Fuß seiner Treppe lag. Seine Geschwister trieben ihn zwar manchmal in den Wahnsinn, aber wenigstens waren sie immer für ihn da. „Sind Sie sicher? Keine Freunde? Keine Familie? Ich muss zumindest Ihre Firma darüber informieren, was passiert ist.“

Dann würden sie wenigstens jemand anderen schicken, um den Job zu erledigen. Mit einem gebrochenen Arm würde Sarah so schnell keinen Besen mehr schwingen können.

„Ich bin keine …“, begann sie, doch bevor sie den Satz vollenden konnte, ging die Haustür auf, und mehrere Rettungssanitäter betraten das Haus. Ridge war nicht überrascht, seinen Bruder Taft zu sehen, der nicht nur Rettungsassistent war, sondern auch Feuerwehrchef.

Als Taft die Frau auf dem Fußboden sah, drehte er sich irritiert zu Ridge um. „Himmel, ich habe fast einen Herzinfarkt bekommen, als man mir von deinem Anruf erzählt hat! Ich dachte schon, es handelt sich um Destry!“

„Nein, das hier ist Sarah Whitmore. Sie ist beim Saubermachen die Treppe hinuntergestürzt. Sarah, das ist mein Bruder Taft.“

„Hi“, murmelte sie schwach.

„Hi, Sarah.“ Taft kniete sich neben sie und tastete nach ihrem Puls. „Können Sie mir sagen, wie das passiert ist?“

„Ich … bin mir nicht sicher. Ich bin gestürzt.“

„Dem Müll auf der Treppe nach zu urteilen ist sie vermutlich fast die ganze Treppe hinuntergefallen“, erklärte Ridge. „Sie war vielleicht zwei oder drei Minuten ohnmächtig und ist seitdem meistens bei Bewusstsein. Meine Diagnose lautet, dass sie einen gebrochenen Arm und vielleicht eine Gehirnerschütterung hat.“

„Danke, Dr. Bowman“, sagte Taft trocken. Rasch erteilte er den anderen Sanitätern Anweisungen.

Ridge war immer ein bisschen überrascht, wenn er seine beiden jüngeren Brüder in Aktion sah. Für ihn waren sie nach wie vor ungezähmte Teenager, die zu schnell fuhren und die Bäume des Bürgermeisters mit Toilettenpapier schmückten. Aber Taft war inzwischen ein angesehener Feuerwehrchef von Pine Gulch, während sein Zwillingsbruder Trace Polizeichef war. Beide waren kompromisslos gut in ihren Jobs.

Ridges Respekt für seinen Bruder wuchs, als er beobachtete, wie er Sarah geduldig und kompetent befragte und den anderen Rettungssanitätern mit ruhiger Autorität Anweisungen gab, als sie Sarah so behutsam wie möglich auf die Trage legten und zur Tür rollten.

Ridge griff nach seinem Mantel und den Autoschlüsseln und folgte ihnen.

„Was machst du da?“, fragte Taft ihn überrascht.

„Ich kann sie doch nicht einfach allein ins Krankenhaus fahren lassen. Ich fahre ebenfalls hin und treffe euch dort.“

Taft sah ihn verblüfft an. „Warum?“

„Sarah hat keine Freunde oder Familie in der Gegend. Außerdem wurde sie auf meiner Ranch verletzt. Insofern fühle ich mich für sie verantwortlich.“

Taft schüttelte den Kopf, widersprach jedoch nicht. Die Trage war schon fast an der Tür, als Sarah eine Hand hob. „Warten Sie. Halt!“

Sie hob den Kopf und sah Ridge bittend an.

Er trat näher. „Sie werden wieder gesund“, sagte er beruhigend. „Mein Bruder und die anderen werden sich um Sie kümmern, das verspreche ich Ihnen, und Doc Dalton ist ein ausgezeichneter Arzt.“

Sie schien ihn kaum zu hören. Taft hatte ihr ein Schmerzmittel gegeben, das sie etwas benommen zu machen schien. „Können Sie … auf dem … Rücksitz meines Wagens ist ein Koffer. Würden Sie ihn reinbringen? Ich hätte ihn nicht … so lange in der Kälte lassen sollen. Der Autoschlüssel ist … in meinem Mantel.“

„Klar. Kein Problem.“

„Sie müssen den Koffer irgendwo … sicher verstauen.“ Erschöpft schloss sie die Augen.

Ridge hob eine Augenbraue und sah Taft fragend an, doch der zuckte nur die Achseln.

„Es scheint ihr wichtig zu sein“, sagte er. „Mach es einfach.“

„Okay. Wir sehen uns gleich in der Klinik. Ich bringe Sarahs Mantel mit. Vielleicht finde ich in ihrem Wagen ja eine Handtasche mit einem Hinweis auf ihre Krankenversicherung.“

Sie hatte keine Handtasche dabeigehabt, als sie vor seiner Tür stand.

Ridge fand Sarahs Mantel und zog einen einzelnen Schlüssel aus der Tasche. An ihm war ein Plastikring mit dem Logo eines Autoverleihers befestigt. Verwirrt runzelte er die Stirn. Ein Mietwagen? Merkwürdig.

Er ging nach draußen zu ihrem Wagen, einer unauffälligen silbernen Limousine. Auf dem Beifahrersitz befand sich eine geblümte Stofftasche, doch Ridge widerstand der Versuchung, sie zu durchsuchen. Er würde ihr die Tasche mitbringen und Sarah selbst nach ihren Versicherungsunterlagen suchen lassen.

Auf dem Rücksitz lag der Koffer, von dem sie gesprochen hatte. Er war flach und größer als erwartet, etwa sechzig mal fünfundsiebzig Zentimeter. Wieder musste Ridge den Impuls unterdrücken, ihn zu öffnen. Er trug ihn ins Haus, stellte ihn in einen abschließbaren Schrank in seinem Arbeitszimmer und verschloss die Zimmertür, bevor er zum Krankenhaus fuhr, um einer Frau Gesellschaft zu leisten, die akeleiblaue Augen und das schönste Haar hatte, das er je gesehen hatte.

Was für ein verrückter Tag!

Sarah hatte von Kopf bis Fuß Schmerzen.

„Alles in allem sind Sie mit einem blauen Auge davongekommen. Die Gehirnerschütterung scheint nur leicht zu sein, und der Bruch ist sauber“, erklärte ein Mann mit Stethoskop lächelnd. Er trug keinen weißen Kittel, hatte dafür aber strahlend weiße Zähne. Er sah gut aus. Richtig gut. Wenn sie nicht solche Schmerzen hätte, würde sie ihm das auch sagen.

„Mit einem blauen Auge?“, murmelte sie verwirrt.

Der Arzt lächelte. „Es hätte schlimmer kommen können, glauben Sie mir. Ich habe die Treppe gesehen. Sie muss mindestens sechs Meter hoch sein. Sie können von Glück sagen, dass Sie sich nur einen Arm gebrochen haben.“

Sarah hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach. Welche Treppe?

„Gut, dass Ridge Sie nach dem Sturz nicht bewegt hat. Deshalb brauchten Sie nicht operiert zu werden. Ich konnte Ihren Arm gleich eingipsen.“

„Danke“, sagte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel. Sie wollte nur noch schlafen, am liebsten drei oder vier Jahre lang. Warum ließ man sie nicht einfach in Ruhe? „Kann ich jetzt nach Hause?“ Sie wollte in ihr Himmelbett mit der hellblauen Decke und den dazu passenden Vorhängen.

„Wo genau ist Ihr Zuhause?“

Sie nannte ihm ihre Adresse.

„Ist das in Idaho Falls?“

„Nein! In San Diego natürlich.“

Ridge blinzelte überrascht. „Wow. Sie sind ja weit gereist, um einen Putzjob anzunehmen.“

Sarah runzelte verwirrt die Stirn. Putzjob? Was für ein Putzjob? Plötzlich tauchte das Bild eines aufgegangenen Müllbeutels und verstreuten Pappbechern und Servietten vor ihr auf.

Sie hatte also irgendwo sauber gemacht. Aber warum? Und wo? War sie dabei gestürzt? Ihre Erinnerungen waren verschwommen. Sie konnte sich nur noch an einen Flug und einen wichtigen Koffer erinnern. Und ein Inn … „Ich wohne im Cold Creek Inn“, sagte sie.

Anscheinend hatte man ihr Schmerzmittel verabreicht. Kein Wunder, dass sie so benebelt war. Sie vertrug Schmerzmittel nämlich nicht gut. Wie viel hatte man ihr gegeben? Und wie hatte sie sich den Arm gebrochen?

„Im Cold Creek Inn?“ Der nette Arzt mit den weißen Zähnen sah sie verblüfft an.

„Ja. Mein Zimmer hat blaue Vorhänge mit Blümchenmuster. Sie sind hübsch.“

Er blinzelte. „Gut zu wissen. Okay.“

Mann, war sie müde. Warum ließ man sie nicht schlafen?

Sarah schloss die Augen, doch dann fiel ihr etwas Wichtiges ein. Sie schreckte hoch. „Wo ist mein Wagen?“, fragte sie panisch. „Haben Sie meinen Wagen? Ich muss ihn bis Montagmittag zum Flughafen zurückbringen, sonst nimmt der Verleiher mir ein Vermögen ab.“

„Er steht wohl noch auf der Ranch.“

„Ich muss ihn unbedingt zurückbringen.“

Der Wagen war wichtig, aber etwas anderes war noch wichtiger. Etwas in dem Wagen. Aber was? „Ich habe Kopfschmerzen“, stöhnte sie.

„Das liegt an der Gehirnerschütterung. Schließen Sie einfach die Augen und versuchen Sie, sich zu entspannen. Wir kümmern uns darum, dass der Mietwagen zurückgebracht wird, versprochen.“

„Montagmittag.“

Sarah hatte das Gefühl, irgendetwas vergessen zu haben … etwas aus dem Wagen …

Als sie die Augen schloss, sah sie plötzlich den schwarzen Koffer vor sich.

Oh Gott!

Ridge Bowman! Sie hatte ihn gebeten, den Koffer vom Rücksitz zu nehmen, weil es draußen zu kalt war. Er hatte sich bestimmt darum gekümmert.

Sarah wusste selbst nicht, wie es kam, aber plötzlich wurde sie von einem tiefen Gefühl der Erleichterung erfüllt, und ihre Panik löste sich in Luft auf.

„Im Cold Creek Inn? Wirklich?“ Ridge starrte Jake Dalton verblüfft an.

„Das hat sie zumindest gesagt.“

Der einzige Allgemeinmediziner von Pine Gulch hatte keinen Grund, sich irgendwelche verrückten Geschichten auszudenken, aber das Ganze ergab trotzdem keinen Sinn. „Das lässt sich leicht nachprüfen. Ich könnte Laura anrufen.“ Unter normalen Umständen würde Tafts Frau zwar keine Informationen über ihre Gäste herausgeben, doch das hier war eindeutig ein Notfall. „Mir ist nur aufgefallen, dass sie einen Mietwagen fährt.“

„Stimmt, und der muss bald zurückgebracht werden. Darauf hat sie nachdrücklich hingewiesen.“

„Was? Sie wohnt im Cold Creek Inn, fährt einen Mietwagen und taucht bei mir wegen eines Putzjobs auf? Das ergibt doch keinen Sinn.“

„Ich weiß nur, was sie mir erzählt hat, aber das ist nicht das Entscheidende. Sie hat tatsächlich keine Freunde oder Familie in der Gegend, und ich kann unsere geheimnisvolle Unbekannte auf keinen Fall allein in ihr Hotel zurückkehren lassen. Sie hat eine Gehirnerschütterung und braucht jemanden in der Nähe, falls irgendwelche Komplikationen auftauchen. Ich möchte sie nur ungern die Nacht allein verbringen lassen.“

Ridge wusste zwar nicht, warum eine Frau, die sich ein anständiges Hotelzimmer und einen Mietwagen leisten konnte, einen schlecht bezahlen Putzjob irgendwo in der Walachei annahm, aber er wusste, was sich gehörte. „Sie bleibt bei mir“, sagte er entschlossen. „Sie kann in Caidys Zimmer schlafen, dann braucht sie nicht die Treppe hinaufzusteigen. Destry und ich werden ein Auge auf sie haben.“

„Sind Sie sicher?“, fragte Jake überrascht. „Sie kennen die Frau schließlich gar nicht.“

Das stimmte. Ridge wusste nur, dass sie schön war, nach Vanille und Lavendel duftete und seine Beschützerinstinkte weckte. Aber das ging Jake Dalton nichts an. „Sie hat sich in meinem Haus verletzt, als sie dort gearbeitet hat. Insofern fühle ich mich für sie verantwortlich.“

„Na schön, Sie haben ja meine Handynummer. Rufen Sie mich an, falls Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches an ihr auffällt, eine Änderung ihres Geisteszustands oder Verwirrung zum Beispiel.“ Jake lachte plötzlich auf. „Ich muss Sie übrigens warnen. Sie ist ein bisschen … benebelt von den Schmerzmitteln, aber das ist kein Grund zur Besorgnis.“

Jakes Warnung weckte Ridges Neugier. Sarah war auf der Ranch so zurückhaltend und beherrscht gewesen. Sogar nach dem Unfall hatte sie sich zusammengerissen, trotz ihrer Schmerzen.

Er betrat das Behandlungszimmer.

Benebelt war noch stark untertrieben. Sarah Whitmore war higher als ein Fesselballon im Sturm. Bei seinem Anblick strahlte sie ihn an. „Hi! Hallo! Wir kennen uns doch, oder?“

Ridge warf einen Blick auf den Arzt, der ein Grinsen unterdrückte. „Ja. Ich bin Ridge Bowman. Sie sind vor zwei Stunden meine Treppe hinuntergefallen.“

„Oh. Stiiiiimmt!“ Ihr Lächeln wurde noch strahlender. „Wow, sind Sie ein attraktiver Cowboy! Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, wie toll Sie aussehen?“

Jake hustete, um ein Lachen zu unterdrücken. Ridge funkelte ihn genervt an, bevor er sich wieder zu Sarah umdrehte. „Nein, in letzter Zeit nicht.“

„Aber es stimmt, das können Sie mir glauben. Obwohl … was weiß ich schon? Ich kenne nicht viele attraktive Cowboys. Oder attraktive Nicht-Cowboys.“ Besorgt runzelte sie die Stirn. „Ich sollte wirklich öfter ausgehen.“

Jake, der sich nicht länger beherrschen konnte, brach in lautes Gelächter aus. Ridge warf ihm einen gereizten Blick zu. „Himmel, wie viel haben Sie ihr gegeben?“

„Sorry, die Dosis war absolut normal, aber anscheinend gehört sie zu den Menschen, die übersensibel auf bestimmte Narkotika reagieren.“

„Offensichtlich. Okay, Sarah, ich bringe Sie jetzt zurück zur Ranch.“

Sie wollte aufstehen, aber Jake legte ihr eine Hand auf eine Schulter, um sie zurückzuhalten. „Immer mit der Ruhe. Wir holen einen Rollstuhl, um Sie zum Wagen zu schieben. Joan, würden Sie bitte einen Rollstuhl bringen?“, rief er in den Flur hinaus.

Kurz darauf erschien eine der Krankenschwestern mit dem Stuhl, und Jake und Ridge halfen Sarah, sich hineinzusetzen.

Als sie ein paar Minuten später sicher in Ridges Wagen saß, drehte Ridge sich zu Jake um. „Was muss ich noch alles wissen?“

„Achten Sie darauf, dass sie genug trinkt, und geben Sie ihr regelmäßig Schmerzmittel, obwohl Sie die Dosis vielleicht reduzieren sollten. Und vergewissern Sie sich alle zwei Stunden, dass sie noch klar bei Verstand ist. Sollte ein Problem auftauchen, rufen Sie mich auf dem Handy an. Ich bin heute Abend zu Hause und kann jederzeit zu Ihnen kommen.“

Ridge schüttelte dem Arzt dankbar die Hand. „Danke für alles.“

„Fahren Sie vorsichtig. Ich glaube, der Schneesturm kommt schneller, als die Wettervorhersage angekündigt hat. Dieses Jahr wird es Pine Gulch zweifellos weiße Weihnachten geben.“

Ridge vergewisserte sich, dass sein Fahrgast sicher angeschnallt war, winkte Jake zum Abschied zu und fuhr durch das noch leichte Schneetreiben zur River Bow Ranch.

„Ihr Wagen riecht nach Weihnachten“, murmelte Sarah schläfrig.

Er zeigte auf einen grünen Duftbaum am Rückspiegel. „Das haben Sie meiner Tochter zu verdanken. Sie beschwert sich immer, dass es hier stinkt.“

„Sie haben eine Tochter?“

Ridge nickte. „Ja. Sie heißt Destry. Sie wird in zwei Monaten zwölf.“

„Wie in dem Film mit James Stewart.“

„Irgendwie schon.“

Seine Exfrau war fasziniert von dem alten Wildwestfilm „Destry Rides Again“ gewesen, wahrscheinlich, weil sie sich mit Marlene Dietrich identifiziert hatte. Der Name hatte ihr gefallen, und zu jenem Zeitpunkt hätte er alles getan, um ihre Ehe zu retten.

„Wo ist sie?“

„Wer?“

„Ihre Tochter. Destry.“

Ach so. Diese Frage war leicht zu beantworten. Zu erklären, dass seine Exfrau nur wenige Monate nach der Geburt ihrer Tochter für immer ausgezogen war, wäre erheblich schwieriger gewesen. „Sie übernachtet gerade bei ihrer Cousine.“

„Ich habe vierundzwanzig Kinder.“

Verblüfft starrte er sie an. „Vierundzwanzig?“

„Ja. Letztes Jahr waren es nur zweiundzwanzig und das Jahr davor fünfundzwanzig. Ich hatte die größte Grundschulklasse.“

„Sie sind also Lehrerin.“

Sarah nickte kaum merklich. Ihr klappten schon wieder die Augen zu. „Ja“, murmelte sie. „Ich unterrichte an der Sunny View Elementary School.“

„Ich dachte, Sie arbeiten für die Reinigungsfirma?“

Sie runzelte die Stirn und öffnete schläfrig die Augen. „Ich bin schrecklich müde. Mein Kopf schmerzt.“

Und dann schloss sie wieder die Augen und schlief ein. Einfach so.

„Sarah? Miss Whitmore?“

Keine Reaktion. Ridge fand sie immer faszinierender. Sie schlief im Inn, fuhr einen Mietwagen und unterrichtete offensichtlich Grundschüler. Ridge wusste, dass Lehrer zu schlecht bezahlt wurden. Vielleicht hatte sie während der Ferien einen Zusatzjob angenommen, aber das erklärte weder das Inn noch den Mietwagen.

Als er in die lange, gewundene Auffahrt zur Ranch bog, klingelte sein Handy. „Ridge Bowman“, meldete er sich.

„Ach, Mr Bowman!“, hörte er die Stimme einer aufgeregten Frau am anderen Ende der Leitung. „Hier ist Terri McCall von den Happy House Cleaners in Jackson. Wir hatten ein schreckliches Missverständnis. Es tut mir ja so leid, aber Sie können sich nicht vorstellen, was für einen Tag wir hinter uns haben!“

Ridge warf einen Blick auf die schlafende Frau neben sich. „Meiner war auch nicht gerade ein Spaziergang.“

„Es herrschte nur Chaos. Wir hatten über Nacht einen Stromausfall, der gerade erst wieder behoben wurde. Kein Computer hat funktioniert. Ich habe gerade Ihren Namen auf meiner Anrufliste gesehen und festgestellt, dass wir Ihren Termin aus Versehen für morgen eingetragen haben. Es tut mir schrecklich leid. Ich schicke sofort jemanden zu Ihnen. Sie müsste bald da sein, und dann ist es bei Ihnen im Nu sauber.“

„Moment mal! Was ist mit Sarah?“

Eine lange Pause folgte. „Die Frau, die ich zu Ihnen schicke, heißt Kelli Parker. Ich kenne keine Sarah.“

„Sarah Whitmore? Ich habe Ihnen eine Nachricht hinterlassen. Wir kommen gerade vom Krankenhaus zurück. Sie hat sich bei einem Sturz den Arm gebrochen und sich eine Gehirnerschütterung zugezogen.“

„Ach, das tut mir leid. Ich bin noch nicht dazu gekommen, meine Nachrichten abzuhören, so viel war hier los. Sollen wir ihr Haus auch reinigen?“

„Nein, sie arbeitet für Sie! Sie tauchte heute Morgen bei mir auf, um sauber zu machen. Dabei stolperte sie und stürzte meine Treppe hinunter.“

„Das ist ja seltsam. Wir haben keine Sarah beschäftigt, und wie schon gesagt, haben wir die Termine durcheinandergekriegt.“

„Sie haben also niemanden zu mir geschickt?“

„Doch, aber erst eben gerade“, erklärte die Frau geduldig. „Kelli Parker. Sie ist sehr tüchtig, eine unserer besten Reinigungsfrauen.“

„Wenn Sie heute Morgen niemanden geschickt haben, wer zum Teufel ist dann die Frau neben mir?“

„Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls nicht meine Angestellte, das kann ich Ihnen versichern. Aber warum sollte sich jemand dafür ausgeben? Vielleicht sollten Sie lieber die Polizei rufen.“

Ridge bremste vor dem Ranchhaus und blieb eine Weile nachdenklich im Wagen sitzen, das Handy noch ans Ohr gepresst. Er hatte keine Lust, die Polizei anzurufen. In Pine Gulch bedeutete das, es mit seinem Bruder Trace zu tun zu bekommen, und es war schon schlimm genug, dass Taft den Notruf beantwortet hatte. Die beiden würden ihn nur mit lästigen Fragen nerven.

„Okay, danke. Dann werde ich mal nach Ihrer richtigen Angestellten Ausschau halten.“

„Entschuldigen Sie nochmals das Durcheinander. Bitte denken Sie nicht, dass uns so etwas öfter passiert. Die Feiertage waren heftig. Alle Leute wollten blitzblanke Häuser für ihre Partys oder Übernachtungsgäste, und sechs Stunden ohne Strom oder Computer waren auch nicht gerade hilfreich.“

„Kein Problem. Danke.“

Ridge beendete das Gespräch und warf wieder einen Blick auf Sarah. Das rote Haar fiel ihr ins Gesicht und betonte ihre für seinen Geschmack viel zu blasse Haut.

Er würde herausfinden müssen, was zum Teufel hier los war, aber trotzdem war er noch nicht bereit, die Polizei zu rufen. Aus irgendeinem seltsamen Grund wollte er diese Frau beschützen.

Er konnte sie natürlich erst ins Haus bringen und heimlich ihre Tasche durchwühlen, während sie schlief, um einen Hinweis darauf zu finden, warum eine Frau, die angeblich an der Sunny View Elementary School unterrichtete, plötzlich beschloss, ein bisschen auf einer Ranch im entlegensten Idaho sauber zu machen.

Sarah wachte auch nicht auf, nachdem er den Motor ausgestellt und die Beifahrertür geöffnet hatte. „Wir sind da. Dann werden wir Sie mal ins Haus befördern. Können Sie laufen, oder muss ich Sie tragen?“

Sie schlug für einen Moment die Augen auf, aber nur so kurz, dass anscheinend keine andere Reaktion von ihr zu erwarten war. Seufzend hob er sie hoch, wobei ihm wieder auffiel, wie leicht und zart sie war. Sie wog kaum mehr als Destry.

Allerdings hatte sie eindeutig weibliche Rundungen. Mann, war es schon lange her, dass er eine so verführerisch duftende Frau in den Armen gehalten hatte! Er versuchte, ihre Kurven zu ignorieren, indem er sich ins Gedächtnis rief, dass sie eine geheimnisvolle Fremde war, die unter falschen Vorwand sein Haus betreten hatte.

Er trug Sarah die Stufen zum Hauswirtschaftsraum hoch und dann durch Küche und die Diele zu Caidys Zimmer im Erdgeschoss.

Sarah stöhnte leise auf, als er sie aufs Bett legte. Rasch schob er ihr eins von Caidys etwa hundert Kissen unter den Gipsarm. „Besser so?“

Sarahs Lider flatterten auf. Benommen sah sie sich um. „Das ist nicht mein Hotelzimmer“, sagte sie heiser.

„Nein. Sie bleiben vorübergehend auf der Ranch.“

„Ich muss mit den Bowmans reden“, sagte sie verschlafen. „Es ist wirklich wichtig.“

Das Ganze war doch wirklich zu seltsam. Worüber musste sie mit seiner Familie reden? Ratlos blickte Ridge auf sie hinunter, doch sie hatte schon wieder die Augen geschlossen. Nach kurzem Zögern zog er Sarah die Schuhe aus, nahm eine Decke vom Fußende und deckte sie damit zu, bevor er einen Schritt zurücktrat und sie erneut musterte.

Was für ein seltsamer Tag! Irgendwie konnte Ridge das unheimliche Gefühl nicht abschütteln, dass gerade etwas Bedeutendes passierte, was ihm überhaupt nicht gefiel.

Nach einer Weile drehte er sich um und verließ das Zimmer. Die Sonne ging gerade unter. In einer Stunde würde es dunkel sein, was hieß, dass Ridge sich mit seiner Arbeit beeilen musste. Als Rancher hatte er nicht den ganzen Tag Zeit, seinen geheimnisvollen Gast zu betrachten, ganz egal, wie schön sie auch war.

3. KAPITEL

Als Sarah aufwachte, war ihr Mund so trocken wie die Mojave-Wüste im August, und sie musste dringend auf die Toilette. Langsam öffnete sie die Augen und stellte fest, dass sie sich in fremder Umgebung befand. Eine Lampe brannte neben ihrem Bett und beleuchtete ein feminin eingerichtetes Zimmer.

Als sie sich aufsetzte, bekam sie sofort stechende Schmerzen. Ihr Kopf und ihr linker Arm schienen am schlimmsten betroffen zu sein.

Als sie wieder aus dem Bad humpelte, kehrten ein paar Erinnerungen zurück. Bruchstückhafte, ziemlich verstörende Erinnerungen.

Sie war auf der Ranch der Bowmans, wie die Holzwände verrieten. Beim Aufräumen war sie die Treppe hinuntergefallen. Aber warum war sie hier und nicht in ihrem Zimmer im Cold Creek Inn? Und wie war sie in diesem Bett gelandet?

Ridge musste sie hingelegt haben, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Bei dieser Erkenntnis machte ihr Herz einen Satz. Hatte er sie ins Haus getragen? Ihr die Schuhe ausgezogen und sie zugedeckt?

Sie musste dringend mit ihm reden, bevor die Situation noch komplizierter wurde. Sie würde sich gar nicht erst in dieser Situation befinden, wenn sie von Anfang an den Mut gehabt hätte, ihm gegenüber offen zu sein.

Wie lange sie wohl geschlafen hatte? Als sie einen Blick auf den Radiowecker neben dem Bett warf, stellte sie zu ihrem Schreck fest, dass es schon nach neun Uhr war. Sie musste Stunden im Bett gelegen haben.

Als sie sich gerade auf die Suche nach ihrem unfreiwilligen Gastgeber machen wollte, hörte sie ein leises Klopfen an der Tür.

„Miss Whitmore? Sind Sie wach?“

Sarah lief ein nervöser Schauer über den Rücken. „Ja. Kommen Sie rein.“

Ridge öffnete die Tür und stand in blauem Hemd und Jeans vor ihr.

Wow, sind Sie ein attraktiver Cowboy, hallte es in ihrer Erinnerung wider. Stirnrunzelnd fragte sie sich, wo sie das wohl gehört hatte. Nicht, dass es eine Rolle spielte, aber es traf zu. Ridge Bowman sah sogar noch besser aus als in ihrer Erinnerung, stark und männlich – und mit Schultern, die aussahen, als könnten sie locker alle Last der Welt tragen.

„Doc Dalton hat mich angewiesen, ein Auge auf Sie zu haben. Ich soll mich vergewissern, dass Sie keine Wahnvorstellungen entwickeln.“

Sarah musste an die verrückten Entscheidungen denken, die sie seit ihrem Auftauchen auf der Ranch heute Morgen getroffen hatte. Oh Gott! Sie hatte sein Haus aufgeräumt, um einem Gespräch mit ihm aus dem Weg zu gehen. Wie lächerlich war das denn? „Ich hatte halb gehofft, das hier sei nur ein Albtraum“, sagte sie. „Gilt das auch als Wahnvorstellung?“

Einer seiner Mundwinkel zuckte für den Bruchteil einer Sekunde belustigt. „Mal sehen. Wissen Sie Ihren Namen?“

„Ja. Sarah Whitmore.“

„Richtig. So steht es zumindest in Ihrem Führerschein.“ Er hielt ihre geblümte Stofftasche hoch, die in seiner großen Hand lächerlich feminin aussah.

„Sie haben meine Tasche durchsucht?“

„Ich habe versucht, ein Handy mit einer Notfallnummer zu finden, aber da war keins.“

Sarah ging ohne ihr Handy eigentlich nirgendwohin. Stirnrunzelnd versuchte sie, sich zu erinnern, wo sie es zuletzt benutzt hatte. „Haben Sie im Wagen nachgesehen? Vielleicht habe ich es auch im Hotel vergessen.“

„Ich sehe noch mal nach. Möglicherweise ist es auf den Boden gefallen. Ich kann auch Laura bitten, im Hotel nachzusehen.“

„Warum fahren Sie mich nicht einfach dorthin, und ich suche selbst danach?“

Ridge musterte sie streng. „Sie können heute Nacht nicht allein bleiben. Ärztliche Anordnung. Und so gut der Service im Cold Creek Inn inzwischen auch ist, Laura kann nicht alle zwei Stunden jemanden hochschicken, um nach Ihnen zu sehen. Ich fürchte, Sie stecken hier fest. Zumindest für heute Nacht.“

Sarah wollte protestieren, doch die Worte erstarben ihr auf den Lippen. Sie hatte plötzlich nicht nur Schmerzen, sondern auch Angst.

Ridge Bowman musste ihr angesehen haben, dass es ihr nicht gut ging, denn er griff nach einem Glas Wasser, das ihr bisher noch nicht aufgefallen war, und einem Fläschchen mit Tabletten.

„Sie müssen noch eine Schmerztablette nehmen. Tut mir leid. Ich hätte sie Ihnen schon vor einer Stunde geben müssen, aber ich hatte ein Problem im Stall und bin daher spät dran.“

Sarah widerstrebte es, die Tablette zu schlucken, aber sie konnte vor Schmerzen kaum noch einen klaren Gedanken fassen. „Vielleicht sollte ich vorsorglich nur eine halbe Pille nehmen. Manchmal werde ich ein bisschen … gaga von Schmerzmitteln.“

„Ach, wirklich?“

Wieder zuckte einer seiner Mundwinkel. War vorhin etwas passiert, an das sie sich nicht erinnern konnte?

Ridge brach eine Tablette in zwei Hälften und reichte ihr eine. Hastig schluckte Sarah sie hinunter und trank durstig das Glas leer. Sie reichte es ihm zurück. „Danke.“

„Wollen Sie etwas essen? Es ist noch jede Menge von der Hochzeit übrig, und Sie haben seit Stunden nichts zu sich genommen.“

„Ich habe keinen Appetit.“

„Ich bringe Ihnen trotzdem etwas. Sie werden das Schmerzmittel besser vertragen, wenn Sie etwas im Magen haben.“

Ridge blieb nur für ein paar Sekunden weg. Als er wieder zurückkehrte, hatte er einen Teller mit Sandwiches, Blätterteigpasteten und winzigen Kuchen dabei. In seiner Begleitung war der niedliche kleine Chihuahua auf drei Beinen.

„Ihr Hund ist wirklich süß.“

„Das ist nicht meiner. Destry und ich passen nur auf ihn auf. Tripod gehört meinem neuen Schwager und seinen Kindern.“

„Hi, Tripod“, begrüßte sie den Hund, der auf sie zusprang und sie begeistert begrüßte, obwohl er sich vermutlich mehr für das Essen auf ihrem Schoß als für sie interessierte.

Sie biss in ein Sandwich mit Geflügelsalat. „Hm, lecker!“

„Ja, wir haben einen tollen Caterer.“

Plötzlich fiel Sarah wieder ein, womit alles angefangen hatte. „Oje, ich habe ja gar nicht alles sauber gemacht.“

Er musterte sie eindringlich. „Happy House Cleaners und ich haben inzwischen alles geklärt. Die richtige Angestellte ist vor einer Stunde gegangen. Ich wundere mich, dass Sie den Staubsauger nicht gehört haben. Sie müssen wie ein Stein geschlafen haben.“

Okay, eine Erklärung konnte sie sich zumindest sparen, wenn er bereits wusste, dass sie nicht die Putzfrau war. „Ich habe ein ganz schönes Durcheinander angerichtet, oder?“

„Sie sind eine sehr rätselhafte Frau, das steht fest. Wer sind Sie wirklich, Miss Whitmore?“

Sie biss in ein zweites Sandwich. „Sie haben doch meine Tasche durchwühlt. Sagen Sie es mir.“

Lange sah er sie an. In seinem Blick entdeckte Sarah Neugier und etwas anderes … eine Spur von Interesse, auch wenn das nicht sein konnte. Nach einem Blick in den Spiegel wusste sie, dass sie schrecklich aussah. Das Haar klebte ihr auf einer Seite am Kopf, sie hatte zwei hässliche blaue Flecken im Gesicht und war total verquollen.

„Das hat mir ehrlich gesagt kaum Aufschlüsse gegeben, abgesehen davon, dass Sie Zimtbonbons mögen, im Cyprus-Grove-Komplex in San Diego wohnen, eine Schul-Identifikationskarte haben und am 14. März neunundzwanzig werden. Ich konnte keinen Hinweis darauf finden, warum Sie plötzlich auf meiner Ranch aufgetaucht sind, geschweige denn, warum Sie angefangen haben, bei mir aufzuräumen.“

Sarah spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. „Sie waren derjenige, der mich verwechselt hat. Ich wollte Ihnen erklären, dass Sie sich irren, aber Sie hatten es ja so eilig, in Ihr Arbeitszimmer zu kommen. Außerdem war es offensichtlich, dass Sie Hilfe brauchten.“

„Ja. Deshalb habe ich auch jemanden damit beauftragt“, erwiderte er. „Aber das waren nicht Sie. Warum haben Sie mich aufgesucht?“

Verunsichert biss Sarah sich auf die Unterlippe. Wie sollte sie ihm das nur erklären?

Plötzlich fiel ihr etwas Schreckliches ein. „Oje, ich habe einen Koffer in meinem Mietwagen liegen gelassen!“, rief sie panisch. „Ich muss ihn dringend vor der Kälte schützen. Wie habe ich ihn nur vergessen können?“

„Entspannen Sie sich. Sie haben ihn nicht vergessen. Ich habe ihn in meinem Arbeitszimmer eingeschlossen. Wissen Sie nicht mehr, dass Sie mich nach Ihrem Unfall gebeten haben, den Koffer ins Haus zu bringen?“

Sarah konnte sich vage daran erinnern. Erleichtert seufzte sie auf. „Gott sei Dank.“

„Dann ist dieser geheimnisvolle Koffer also der Grund Ihres Besuchs?“

Sarah bekam Herzklopfen vor nervöser Anspannung. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, ihn zu holen?“

Ridge löste sich vom Türrahmen und verließ nach kurzem Zögern das Zimmer.

Erschöpft schloss Sarah die Augen. Sie hatte schreckliche Angst vor dem bevorstehenden Gespräch.

Die letzten fünf Tage waren die reinste emotionale Achterbahnfahrt gewesen. Seit dem Augenblick, als sie im Nachlass ihres Vaters den Beleg für einen klimatisierten Lagerraum gefunden hatte, war ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt. Beim Anblick des Inhalts war ihr ein vager, aber schrecklicher Verdacht gekommen. Das Ganze kam ihr jedoch so unwirklich vor, dass sie sich innerlich noch immer dagegen sperrte.

Im Internet war sie daraufhin auf eine schreckliche Geschichte gestoßen, eine, die sie noch immer nicht ganz verdaut hatte. Sie weigerte sich nach wie vor, zu glauben, dass die tragischen Ereignisse etwas mit ihr oder ihrer Familie zu tun hatten. Daher hatte sie nur eins der Beweisstücke mitgenommen und es hierhergebracht, um vielleicht die Wahrheit herauszufinden.

Doch jetzt, wo sie hier war, fragte sie sich, was sie sich eigentlich davon versprochen hatte. Dass sich alles als schrecklicher Irrtum herausstellte?

Als Ridge kurz darauf ihr Zimmer betrat, hatte er den schwarzen unheilvollen Koffer dabei. „Hier.“

„Haben Sie einen Blick hineingeworfen, genauso wie in meine Tasche?“

Er schüttelte den Kopf. „Sorry, ich wollte Ihre Privatsphäre nicht verletzen, aber die Umstände haben mir keine andere Wahl gelassen.“

Mit der rechten Hand öffnete Sarah den Koffer und ließ den Inhalt auf das Bett gleiten – das Gemälde einer blassen lavendelblauen Akelei, die so echt aussah, dass man sie fast zu riechen glaubte. Ein kleines blondes, etwa drei Jahre altes Mädchen hielt sie in den Händen. Die Schönheit des Motivs verschlug ihr den Atem – genau wie beim ersten Mal.

Ridge Bowman erstarrte, als er das Kunstwerk sah. Er presste die Lippen zusammen. „Wo haben Sie das her?“, fragte er scharf.

Instinktiv zuckte Sarah beim Klang seines Tonfalls zusammen. Sie hasste Konflikte, nachdem sie als kleines Mädchen ständig die lautstarken Auseinandersetzungen ihrer Eltern mit angehört hatte. Sie schluckte. „Mein … Vater ist kürzlich verstorben, und ich habe das hier unter seinen Sachen gefunden.“

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Ridge nicht wütend, sondern bloß von seinen Gefühlen überwältigt war.

„Es ist noch schöner als in meiner Erinnerung“, sagte er fast andächtig und ließ einen Finger sacht über eins der Blütenblätter gleiten.

Sarah sah zu ihrer Betroffenheit, dass dieser große starke Rancher kurz davor war, zu weinen. Was war das für ein Mann, der so aussah, als könnte er mühelos einen Stier zu Boden zu ringen, dem jedoch beim Anblick des Gemäldes eines kleines Mädchens mit einer Blume die Tränen kamen?

„Es … gehörte also Ihrer Familie?“

Er sah sie so verwirrt an, als habe er für einen Moment ganz vergessen, dass sie da war. „Sind Sie deshalb zur Ranch gekommen?“

Sie nickte, eine Bewegung, die ihr jedoch wieder stechende Kopfschmerzen bereitete. „Nach dem Fund habe ich die Malerin im Internet recherchiert. Margaret Bowman.“

„Meine Mutter.“ Er hatte noch immer Tränen in den Augen.

Sarah wurde plötzlich von der Erschöpfung überwältigt. Sie hatte es satt, ständig die Last der Vergangenheit mit sich herumzuschleppen und gegen die Dämonen anzukämpfen, denen sie ja doch nie entfliehen konnte.

Sie hätte niemals zur Ranch fahren dürfen. Es war dumm und impulsiv von ihr gewesen. Wie war sie nur daraufgekommen, dass es eine gute Idee wäre, die Bowmans persönlich aufzusuchen? Wenn sie vorher ein bisschen nachgedacht hätte, hätte sie einfach eine E-Mail-Adresse in Erfahrung gebracht und den Bowmans ein Foto des Gemäldes mit ihren Fragen gemailt. Oder gleich ihren Anwalt damit beauftragt, die Bowmans zu kontaktieren.

Die einzige Erklärung für ihre spontane Entscheidung war ihre heftige Reaktion auf die Gemälde gewesen. Die Werke hatten sie sofort fasziniert, vor allem das mit dem Mädchen und der Blume. Die Liebe der Künstlerin zu dem kleinen Kind schlug einem förmlich entgegen. Wer schlichten Pigmenten auf einer Leinwand eine solche Wirkung entlocken konnte, musste unglaublich begabt sein.

„Haben Sie eine Ahnung, woher Ihr Vater das Gemälde hatte?“, fragte Ridge.

Das Wort ‚Verdacht‘ traf den Sachverhalt besser. Aber Beweise? Nein, die hatte sie nicht.

Sarah schüttelte den Kopf. „Das Gemälde bedeutet Ihnen viel, oder?“, fragte sie zaghaft.

„Wenn Sie wüssten. Ich hätte nie damit gerechnet, dass wir es jemals wieder zu Gesicht bekommen. Von allen Bildern habe ich dieses am meisten vermisst. Das kleine Mädchen ist meine Schwester Caidy. Diejenige, die gestern geheiratet hat.“

Sarah hatte so etwas schon vermutet. Irgendwie machte es das Ganze noch tragischer. „Sie war ein niedliches Kind“, sagte sie leise.

„Und sie ist zu einer wundervollen Frau herangewachsen.“ Ridge lächelte voller Zuneigung.

Sarah war plötzlich neidisch auf das herzliche Verhältnis zwischen Ridge Bowman und seinen Geschwistern. Trotz der Tragödie standen sie sich offensichtlich sehr nahe.

Unwillkürlich musste sie an ihren Halbbruder und ihre schwierige Beziehung zu ihm denken. Sie hatte ihn als Kind sehr geliebt, trotz des zehnjährigen Altersunterschiedes zwischen ihnen. Doch dann war er ihr immer fremder geworden …

„Wie viel verlangen Sie dafür?“, fragte Ridge abrupt. „Sagen Sie mir den Preis.“

„Was?“

„Deshalb sind Sie doch gekommen, oder?“ Er hob eine Augenbraue und sah sie herausfordernd an.

Sarah wurde zu ihrem Entsetzen bewusst, dass er ihr unterstellte, ihm Geld aus der Tasche ziehen zu wollen. Für einen Moment verschlug es ihr die Sprache.

Seinen nächsten Worten nach zu urteilen hielt er ihr Schweigen für reine Verhandlungstaktik. Verächtlich presste er die Lippen zusammen. „Vermutlich sollte ich jetzt so tun, als wollte ich das Gemälde gar nicht wirklich, um Sie ein bisschen herunterzuhandeln, aber dazu habe ich keine Lust. Ich will es. Nennen Sie Ihren Preis. Wenn er halbwegs realistisch ist, zahle ich ihn.“

Sarah schüttelte den Kopf. „Ich … ich will Ihr Geld nicht, Mr Bowman.“

„Nein?“

„Nein. Als ich im Internet die Artikel über Ihre Eltern gelesen habe und über deren …“ Sie verstummte.

„Ermordung?“, ergänzte er.

Sarah fröstelte. „Ja. Als ich herausfand, dass die Künstlerin dieses schönen Gemäldes tot ist, musste ich einfach herkommen. Das Gemälde gehört Ihnen. Ich will kein Geld dafür. Ich möchte es nur Ihnen und Ihrer Familie zurückgeben.“

„Sie wollen was?“ Offensichtlich glaubte Ridge ihr kein Wort.

„Ich habe keinen rechtlichen oder moralischen Anspruch darauf.“

Ridge runzelte die Stirn und starrte erst sie und dann das Gemälde an. „Und wo ist der Haken an der Sache?“

„Es gibt keinen. Das Gemälde gehört Ihnen“, wiederholte sie schlicht.

Den Rest verschwieg sie ihm. Noch. Irgendwann würde sie ihm alles erzählen, aber jetzt musste er erst mal den ersten Schock verdauen.

„Ich kann es noch immer kaum glauben. Es ist, als würde ich einen Teil von ihr zurückbekommen. Von meiner Mutter, meine ich.“

Die starke Zuneigung in seiner Stimme berührte etwas tief in Sarah. Sie musste an ihre Mutter denken, die so verbittert über ihr Schicksal gewesen war. Sie hatte Sarah allein großgezogen und zwei Jobs gehabt, weil sie kein Geld von ihrem Exmann annehmen wollte. Sarah hatte sie geliebt, wusste jedoch inzwischen, dass sie keine gute Mutter gewesen war. Barbara hatte in ihrem Herzen neben dem Hass auf Sarahs Vater keinen Platz mehr für ihre Tochter gehabt.

„Können Sie mir sagen, ob dieses Gemälde zu der … gestohlenen Sammlung gehört?“, fragte sie stockend.

Ridge nickte nach kurzem Zögern.

Sarah rutschte das Herz in die Hose. Sie brachte es nicht übers Herz, ihm zu erzählen, dass sie Dutzende von Kunstwerken in dem klimatisierten Lagerraum gefunden hatte.

Oder von ihrem Verdacht.

Plötzlich wurde sie todmüde. Sie wollte nur noch schlafen, um ihren schmerzenden Arm zu vergessen … und ihren noch schlimmeren seelischen Schmerz.

„Haben Sie eine Ahnung, wie Ihr Vater an dieses Gemälde gekommen ist?“, wiederholte Ridge. „Wir haben in all den Jahren nur drei der gestohlenen Gemälde gefunden. Die anderen scheinen sich in Luft aufgelöst zu haben. Die Spur zum Ursprungsverkäufer ließ sich nie zurückverfolgen. Das hier könnte genau der Durchbruch sein, den wir brauchen, um den Fall aufzuklären.“

Sarah brachte es einfach nicht fertig, ihm von ihrem Verdacht zu erzählen. In ihrem jetzigen Zustand hatte sie weder die Kraft noch den Mut dazu. Sie würde nach ihrer Heimkehr den Nachlassverwalter ihres Vaters damit beauftragen, so wie sie es von Anfang an hätte tun sollen. „Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Ich habe das Gemälde im Nachlass meines Vaters gefunden und wollte es Ihnen zurückgeben. Nehmen Sie es, Mr Bowman. Bitte. Betrachten Sie es von mir aus als Weihnachtsgeschenk.“

„Wahnsinn. Ich bin … überwältigt.“ Ridges lächelte so glücklich, dass der Anblick ihr den Atem verschlug. „Danke. Vielen Dank! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie begeistert Caidy, Taft und Trace darüber sein werden. Sie haben uns ein unbezahlbares Geschenk gemacht.“

„Das freut mich.“ Sarah zwang sich zu einem Lächeln. „Ich bin jetzt schrecklich müde und würde gern schlafen.“

„Ja, natürlich.“ Fast ehrfürchtig nahm Ridge das Gemälde vom Bett. „Caidy hat jede Menge Kleidungsstücke zurückgelassen. Soll ich Ihnen ein Nachthemd raussuchen, damit Sie es bequemer haben?“

„Nein, das mache ich selbst. Danke.“

„Sie brauchen sich für gar nichts zu bedanken. Nicht nach diesem Geschenk hier.“ Ridge zeigte auf das Gemälde. „Ich werde nachts öfter nach Ihnen sehen. Tut mir leid, falls ich Sie dann wecken muss.“

„Entschuldigung angenommen.“

Er ging zur Tür. „Falls Sie noch etwas brauchen, rufen Sie ruhig nach mir. Ich schlafe wahrscheinlich im Fernsehzimmer neben der Küche.“

Sarah hätte gern protestiert, aber sie war zu erschöpft, um zu widersprechen – zumal Ridge sowieso nicht auf sie hören würde.

4. KAPITEL

Ridge schloss mit einer Hand die Tür hinter sich, in der anderen hielt er das auf wundersame Art wiederaufgetauchte Gemälde. Mitten in der Diele blieb er stehen, um es erneut zu betrachten. Er konnte immer noch nicht fassen, dass er es wiederbekommen hatte. Es war ein Wunder.

Nicht nur, dass Sarah ihm dieses verloren geglaubte Gemälde zurückgegeben hatte, sondern dass er irgendwie eine Verbindung zwischen sich und Sarah spürte, ein unsichtbares Band. Aber vielleicht bildete er sich das ja auch nur ein.

Er brachte das Gemälde in sein Arbeitszimmer und stellte es auf die Konsole, damit er es besser ansehen konnte. Beim Anblick des niedlichen kleinen Mädchens mit der zarten Blume musste er an seine eigene Tochter denken, die ohne Mutterliebe aufgewachsen war. Na ja, das stimmte nicht ganz. Caidy hatte Melindas Stelle eingenommen und war immer für ihre Nichte da gewesen.

Stirnrunzelnd fragte Ridge sich, warum er heute eigentlich so oft an seine Exfrau denken musste. Er hatte schon seit Monaten nicht mehr an sie gedacht, nicht, seit er Anfang des Jahres einen Privatdetektiv damit beauftragt hatte, sie Destry zuliebe ausfindig zu machen. Der Mann hatte herausgefunden, dass Melinda ein Jahr nach ihrem Verschwinden mit ihrem neuen Freund bei einem Autounfall in Italien ums Leben gekommen war.

Ridge hatte nicht um sie getrauert, sondern nur ein paar Tage über seine damaligen Fehlentscheidungen nachgegrübelt und sich an die ungezähmte junge Frau erinnert, die niemals Mutter werden wollte.

Plötzlich vermisste er seine Tochter schmerzlich. Das Haus war ohne Destry viel zu still.

Aus einem Impuls heraus ging er zum Telefon und wählte Traces Nummer. Sein Bruder ging beim zweiten Freizeichen ran. „Na? Vermisst du Destry schon?“, fragte er belustigt.

„Na, hör mal.“ Ridge lehnte sich erschöpft in seinem Stuhl zurück. Der Tag war ganz schön aufwühlend gewesen. „Sie ist schließlich schon den ganzen Tag weg. Geht es den Mädchen gut?“

„Keine Ahnung, ich war bei der Arbeit. Ich weiß nur, dass sie irgendwelche geheimnisvollen Vorbereitungen für Weihnachten treffen.“

Ach ja, in drei Tagen war Weihnachten. Ridge mochte das Fest nicht besonders. Keiner der Bowmans legte Wert darauf, da ihre Eltern wenige Tage vor Weihnachten ermordet worden waren. Allerdings schienen Ridges Geschwister die Dämonen der Vergangenheit allmählich loszulassen, seit sie geheiratet hatten. Caidy hatte ihre Hochzeit sogar extra auf das Wochenende vor Weihnachten gelegt, um die Feiertage endlich mal wieder genießen zu können, anstatt zu trauern.

„Taft hat mir schon erzählt, was heute bei dir los war“, fuhr Trace fort. „Was hattest du vor? Wolltest du die Putzfrau umbringen?“

Ridge hatte keine Lust, seinem Bruder sämtliche Details zu erzählen, aber er wollte plötzlich dessen Meinung hören. „Sarah ist nicht die Putzfrau“, erklärte er. „Wie sich herausgestellt hat, war das ein Irrtum meinerseits. Aber als sie das Chaos im Haus sah, hat sie trotzdem mit angepackt, und dabei ist der Unfall passiert.“

„Moment mal. Sie war gar nicht von der Reinigungsfirma?“, unterbrach Trace ihn alarmiert.

„Nein. Die Firma hat den Termin durcheinandergekriegt, aber inzwischen ist alles geklärt. Sie haben heute Nachmittag jemand anderen geschickt.“

„Und wer ist diese verletzte Frau? Warum war sie eigentlich da?“

„Das ist eine lange Geschichte“, antwortete Ridge ausweichend. Er hatte keine Ahnung, wie er das Ganze erklären sollte. Es klang sogar in seinen Ohren unglaubwürdig.

„Ach ja?“

„Ja, es ist völlig verrückt.“ Ridge rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. „Sie hat uns eins der Gemälde zurückgebracht.“

Trace schwieg einen Moment. „Welches?“

„Eins von Mom. Das mit Caidy und der Akelei.“

Wieder folgte eine Gesprächspause. Als Trace schließlich antwortete, lag in seiner Stimme die gleiche Ehrfurcht, die Ridge empfand. „Das hat mir immer am besten gefallen.“

„Mir auch. Es ist sogar noch schöner als in meiner Erinnerung. Mom hatte wirklich ein unglaubliches Talent. Kein Wunder, dass ihre Gemälde inzwischen so hoch gehandelt werden.“ Für die wenigen Gemälde, die in Umlauf waren, wurden inzwischen Preise im fünfstelligen Bereich gezahlt.

„Noch mal langsam“, sagte Trace. „Diese Frau taucht also einfach so am Jahrestag der Ermordung unserer Eltern auf, hat eins der Gemälde dabei und angeblich einen Unfall, während sie sich für jemanden ausgibt, der sie nicht ist?“

Ridges erster Impuls war, Sarah zu verteidigen, auch wenn er die Bedenken seines Bruders nachvollziehen konnte. „Sie hat sich einen Arm gebrochen, Trace. Jake Dalton hat ihn geröntgt. Wenn sie eine Betrügerin wäre, würde sie bestimmt nicht so weit gehen, sich mit Absicht zu verletzen.“

„Ich sage ja nur, dass das Ganze ziemlich mysteriös klingt. Wo hat sie das Gemälde eigentlich her?“

„Ihr Vater ist vor Kurzem gestorben, und sie hat es in seinem Nachlass gefunden.“

„Wie praktisch.“

Ridge runzelte genervt die Stirn. „Glaub doch, was du willst, aber sie ist gekommen, um unserer Familie das Gemälde zurückzugeben. Sie sagt, dass es von Rechts wegen uns gehört und sie es nicht mit gutem Gewissen behalten kann. Sie ist dafür extra aus Kalifornien angereist.“

Er merkte, wie unglaubwürdig das klang. Allmählich kamen ihm selbst Zweifel. Verbarg Sarah vielleicht doch etwas vor ihnen? Nein, das konnte nicht sein! Das traute er ihr einfach nicht zu.

„Und wo steckt sie gerade?“

Ridge veränderte nervös seine Sitzposition. „Sie ist hier, in Caidys Zimmer, weil sie außerdem eine Gehirnerschütterung hat. Doc Dalton wollte nicht, dass sie über Nacht allein bleibt.“

Trace sagte nichts dazu, doch Ridge konnte seine Missbilligung spüren.

„Sei vorsichtig“, warnte ihn sein Bruder. „Mehr sage ich jetzt nicht dazu.“

„Danke für den Rat, Mom. Kann ich jetzt mit meiner Tochter sprechen?“

„Klar, ich hole sie.“

Ridge trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Schreibtischplatte, während er darauf wartete, dass Destry ans Telefon kam.

„Hey, Dad! Ich habe schon gehört, was passiert ist. Ist die Frau schwer verletzt?“

Ridge seufzte genervt. Anscheinend musste er die Geschichte heute immer wieder erzählen. Das Beste wäre vermutlich gewesen, eine Telefonkonferenz zu schalten. „Es geht ihr gut. Sie übernachtet heute in Caidys Zimmer. Wie genau das passiert ist, erzähle ich dir ein andermal.“

„Okay.“

Ridge musste über die bereitwillige Akzeptanz seiner Tochter grinsen. „Willst du wirklich noch eine Nacht bei Gabi bleiben? Ich kann dich gern abholen, wenn du willst.“

„Nein, wir bereiten gerade etwas für Weihnachten vor – aber mehr sage ich nicht, denn es soll eine Überraschung werden. Ich komme morgen zurück.“

„Okay, dann viel Spaß euch beiden.“ Als Ridge auflegte, vermisste er seine Tochter noch immer schmerzlich. Seine Ehe war von Anfang an ein Fehler gewesen, aber ihr hatte er Destry zu verdanken. Und dafür würde er diesen Fehler jederzeit wiederholen.

Melinda war weder für die Ehe noch für die Rolle einer Rancherfrau geschaffen gewesen. Seine Eltern hatten das von Anfang an gewusst und versucht, Ridge vor der überstürzten Hochzeit zu warnen, aber er war zu verliebt in die lebenslustige und schöne junge Frau gewesen, um auf die beiden zu hören.

Wieder fiel sein Blick auf das Gemälde. Die Erinnerungen an ihre damaligen Auseinandersetzungen quälten ihn immer noch. Noch am Abend vor der Ermordung seiner Eltern hatte er sich erbittert mit seinem Vater am Telefon gestritten. Er machte sich Vorwürfe, dass er nicht mehr rechtzeitig geschafft hatte, den Bruch zu kitten. Der Gedanke, dass sie im Streit auseinandergegangen waren, war schrecklich.

Unwillkürlich kehrten seine Gedanken zu seinem unfreiwilligen Gast zurück. Sarah kam wie Melinda aus Kalifornien und war ebenfalls schön. Er hätte gern geglaubt, dass das die einzigen Ähnlichkeiten zwischen den beiden Frauen war, aber er hatte seine Lektion inzwischen gelernt.

In seinem Leben gab es nur Platz für die Ranch und seine Familie. Für mehr hatte er keine Zeit, und er hatte auch nicht vor, etwas daran zu ändern.

Schon gar nicht wegen einer schönen Lehrerin mit großen blauen Augen und Geheimnissen, die sich in seinem Haus den Arm gebrochen hatte.

Als Sarah aus ihrem vom Schmerzmittel betäubten Schlummer erwachte, sah sie die dunkle Silhouette eines Mannes in ihrer Tür stehen. Für einen Moment stieg eine solche Panik in ihr auf, dass sie einen erstickten Angstschrei ausstieß.

„Ganz ruhig, Sarah. Ich bin’s nur, Ridge Bowman.“

Seine leise, vertraute Stimme war so beruhigend wie eine Tasse Kamillentee. „Oh. Hi.“

„Tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe, aber wie schon gesagt hat Doc Dalton mich damit beauftragt, regelmäßig nach Ihnen zu sehen.“

Sarah holte tief Luft. „Natürlich.“

„Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich das Licht anmache?“

„Nein, überhaupt nicht.“

Als er eine kleine Tischlampe anknipste, löste Sarahs Panik sich schlagartig in Luft auf.

„Da. Besser so?“

„Ja, danke. Tut mir leid, aber ich wusste im ersten Moment nicht, wo ich war, als ich aufgewacht bin.“

Ridge betrat das Zimmer. „Verständlich nach dem heutigen Tag. Ich soll mich vergewissern, dass Ihr Gehirn richtig funktioniert. Können Sie mir sagen, welcher Tag heute ist?“

Sarah schloss die Augen und dachte nach. „Hm, Samstag, oder? Drei Tage vor Weihnachten?“

„Streng genommen ist jetzt schon Sonntag, aber Sie sind auf der richtigen Spur. Und wie heißen Sie?“

„Sarah Whitmore“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.

Ridge nickte. „Wie geht es Ihrem Arm inzwischen? Brauchen Sie noch eine Schmerztablette?“

„Vielleicht nur etwas Ibuprofen. Mit dem stärkeren Medikament sollte ich mich zurückhalten. Mir wird immer ganz schwindlig davon.“

Ridge ging zu dem Krug Wasser, den er ihr aufmerksamerweise bereitgestellt hatte, schenkte ihr ein Glas ein und brachte es ihr zusammen mit zwei Tabletten. Für einen harten Rancher war er ganz schön fürsorglich. Lag das vielleicht daran, dass er sich allein um seine Tochter kümmern musste?

Was wohl mit der Mutter des Mädchens passiert war? War er geschieden oder verwitwet? Sarah hätte ihn das gern gefragt, wollte ihm jedoch nicht noch mehr auf die Nerven fallen als ohnehin schon. „Tut mir leid, dass Sie meinetwegen so viele Umstände haben. Aber ab morgen lasse ich Sie wieder in Ruhe.“ Auch wenn die Vorstellung, ihn und die Ranch zu verlassen, irgendwie schmerzlich war.

„Wann geht eigentlich Ihr Rückflug nach San Diego? Bei dem angekündigten Schneefall wird die Fahrt zum Flughafen kein Kinderspiel, schon gar nicht mit einem gebrochenen Arm.“

„Erst Ende der Woche. Ich wollte über Weihnachten in Pine Gulch bleiben.“

Ridge sah Sarah überrascht an. „Ich dachte, Sie haben hier keine Familie.“

„Habe ich auch nicht. Weder hier noch sonst irgendwo. Meine Mutter starb vor zwei Jahren – und mein Vater in diesem Jahr.“

„Sind Sie Einzelkind?“

Sarah zögerte einen Moment. „Nein. Ich hatte einen älteren Bruder, aber … er ist vor zwölf Jahren gestorben.“

Sie hatte das gar nicht verraten wollen. Nervös hielt Sarah die Luft an. Hoffentlich würde Ridge nicht auffallen, dass ihr Bruder fast zur gleichen Zeit wie seine Eltern ums Leben gekommen war. Obwohl sie inzwischen den Verdacht hatte, dass das gar kein Zufall war …

„Dann wollten Sie die Feiertage also allein verbringen?“

„Mir hat das Alleinsein noch nie etwas ausgemacht, Mr Bowman.“

„Mir auch nicht. Aber zu Weihnachten schon.“ Ridge musterte sie für einen Moment nachdenklich. „Feiern Sie doch hier mit Destry und mir.“

„Was?“ Sarah blinzelte schockiert.

„Das Inn hat viel Atmosphäre, verstehen Sie mich nicht falsch, aber es ist trotzdem nur ein unpersönliches Hotel. Destry und ich würden Sie gern einladen, und wie Sie gesehen haben, ist hier jede Menge Platz.“

Sarah wusste nicht, was sie sagen sollte, so gerührt war sie. „Ich … ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.“

„Sie brauchen sich ja nicht sofort zu entscheiden. Es ist mitten in der Nacht. Wir sollten jetzt schlafen. Gute Nacht.“ Er drehte sich um und ging zur Tür.

„Warum laden Sie mich ein?“, fragte sie. „Sie kennen mich doch gar nicht! Warum wollen Sie riskieren, dass eine Fremde Ihr Weihnachtsfest verdirbt?“

Ridge drehte sich wieder um. „Erstens würden Sie nichts verderben. Als wir klein waren, war das Haus über Weihnachten immer voller Menschen. Meine Eltern haben ihre Türen allen Menschen geöffnet, die ein bisschen Weihnachtsstimmung brauchten. In den letzten Jahren ist uns dieser Brauch irgendwie abhandengekommen.“

„Und zweitens?“

Er kratzte sich eine Wange. „Tja, Sie sind meine Treppe hinuntergestürzt und haben sich den Arm gebrochen. Da ist es ja wohl das Mindeste, Ihnen meine Gastfreundschaft anzubieten, bis Sie sich vollständig erholt haben.“

„Sie schulden mir gar nichts. Den Unfall habe ich nur meiner eigenen Ungeschicklichkeit zuzuschreiben.“

„Doch, ich schulde Ihnen etwas“, widersprach er. „Schon allein wegen des Gemäldes. Sie haben uns etwas zurückgebracht, das wir für immer verloren geglaubt haben. Caidy und meine Brüder werden sich dafür persönlich bei Ihnen bedanken wollen. Sie müssen damit leben, dass Sie in unserer Schuld stehen.“

„Ich …“

„Denken Sie in Ruhe darüber nach, Sarah. Ich sehe in ein paar Stunden noch mal nach Ihnen, bevor ich in den Stall gehe. Versuchen Sie, in der Zwischenzeit etwas Schlaf zu bekommen. Wir reden morgen früh weiter.“

Er lächelte schief, dieser große Cowboy, den sie so unglaublich anziehend fand, bevor er mit dem dreibeinigen Hund im Schlepptau das Zimmer verließ.

Als er gegangen war, saß Sarah noch eine Weile reglos da. Sie war völlig überwältigt von Ridges Gastfreundschaft, aber es wäre ein Fehler, seine Einladung anzunehmen, so verlockend die Vorstellung auch war. Sie hatte hier nichts zu suchen. Es war falsch gewesen, überhaupt hierherzukommen.

Nein, sie konnte sein Angebot unmöglich annehmen. Sie würde sich irgendeine Ausrede einfallen lassen und morgen ins Cold Creek Inn zurückkehren – ganz egal, wie deprimierend diese Vorstellung auch war.

Wie vorausgesagt, verwandelte sich der bislang leichte Schneefall über Nacht in einen ausgewachsenen Schneesturm. Nachdem Ridge früh am Morgen nach seinem tief schlafenden Gast gesehen hatte, legte er ihr eine Nachricht hin, zog sich warm an und ging hinaus in den eiskalten Wind.

In den letzten paar Stunden waren mindestens dreißig Zentimeter Schnee gefallen, und es sah nicht so aus, als würde das bald aufhören. Dazu kam der Sturm, der hohe Schneewehen auftürmte, die alles zudeckten, was nicht geschützt war – darunter auch Sarahs Mietwagen. Sarah würde vorerst gar nichts anderes übrig bleiben, als auf der Ranch zu bleiben.

Nachdem Ridge mehrere Stunden lang den Schnee aus der Auffahrt geräumt hatte, beschloss er, eine kurze Pause einzulegen, um sich zu stärken. Der Joghurt und der Kaffee von vorhin hatten nicht lange vorgehalten.

Die Wärme, die ihm nach dem eiskalten Wind draußen im Hauswirtschaftsraum entgegenschlug, war himmlisch – genauso wie der verlockende Duft von gebratenem Speck. Anscheinend hatte er vor lauter Hunger schon Aroma-Halluzinationen.

Doch als Ridge kurz darauf die Küche betrat, stellte er fest, dass er sich den Duft keineswegs eingebildet hatte.

Sarah stand am Herd, gekleidet in einen dunkelgrünen Bademantel, der Caidy gehören musste, und einer Schürze, die sie vermutlich in der Speisekammer gefunden hatte.

„Was ist denn hier los?“, fragte er überrascht.

Sie wendete einen Streifen brutzelnden Speck in der Pfanne. „Gutes Timing, würde ich sagen. Als ich aufwachte, habe ich Sie durchs Fenster beim Schneeräumen gesehen. Die Küche machte nicht den Eindruck, als hätten Sie schon gefrühstückt. Deshalb habe ich mir die Freiheit genommen, etwas zuzubereiten. Und gleich im nächsten Moment sind Sie da. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus?“

Er lachte. „Was für eine überflüssige Frage bei einem Cowboy. Ich hatte mich schon damit abgefunden, mich mit einer Schüssel Müsli zufriedengeben zu müssen. Eine Frage nur: Wie haben Sie das alles mit einem gebrochenen Flügel geschafft?“

„Ich würde ja gern behaupten, dass das kein Problem war, aber das wäre gelogen. Das Schwierigste war, die Packung mit Speck aufzureißen.“

Ihr schiefes Lächeln verzauberte ihn – als wäre das Frühstück allein nicht schon Geschenk genug.

Sie legte mehrere Scheiben knusprigen Speck auf einen Teller und schob ihn über die Kücheninsel, gefolgt von lockerem Rührei und mehreren Scheiben Toast. Sich selbst füllte sie eine viel kleinere Portion auf.

Ridge nahm den Orangensaft aus dem Kühlschrank, schenkte zwei Gläser ein und setzte sich Sarah gegenüber an die Kücheninsel. Plötzlich hatte er einen Bärenhunger. „Wow, schmeckt das lecker“, sagte er anerkennend, nachdem er von dem Rührei probiert hatte. „Danke.“

Sarah schien sich über das Kompliment zu freuen. „Keine Ursache. Ich koche gern, sogar einhändig, wenn es sein muss. Ich habe nur nicht oft Gelegenheit, für jemanden zu kochen.“

„Ich koche auch gern, wenn ich mal Zeit dafür finde, aber das ist fast nie der Fall. Und solange Caidy hier gewohnt hat, war das auch nicht nötig.“

„Zieht Ihre Schwester weit weg?“

„Nein, nur ein paar Meilen. Sicher wird sie uns auch in Zukunft aus lauter Mitleid ab und zu eine Mahlzeit zubereiten, obwohl sie zwei Stiefkinder und einen beschäftigten Tierarzt im Haus hat.“

Sarah musterte ihn über den Rand ihres Glases hinweg. „Sie beide stehen einander sehr nahe, oder?“

Ridge musste daran denken, wie glücklich seine Schwester bei ihrer Hochzeit ausgesehen hatte. Plötzlich wurde er ganz melancholisch. All seine Geschwister hatten inzwischen ein Privatleben, während er noch immer dieselbe Auffahrt von Schnee befreite und dasselbe verdammte Stalldach reparierte wie jedes Jahr. „Ja. Caidy hat sich um Destry gekümmert, seit sie in den Windeln lag. Ohne sie wären wir völlig aufgeschmissen gewesen, nachdem meine Frau verschwunden war.“

Warum zum Teufel hatte er das Sarah nur erzählt?

Plötzlich hatte Ridge keinen Appetit mehr und legte seine Gabel hin. Normalerweise sprach er nie über Melinda.

„Ihre Schwester muss ein toller Mensch sein“, murmelte Sarah.

Zu seiner Überraschung belustigte ihn ihre Antwort. „Wollen Sie mich gar nicht fragen, warum meine Frau verschwunden ist? Das würde den meisten Frauen doch als Erstes auf der Zunge liegen.“

Sarah zuckte die Achseln, so gut es mit dem Gipsarm ging. „Das hätten Sie mir schon von allein erzählt, wenn Sie gewollt hätten. ‚Ohne sie wären wir völlig aufgeschmissen gewesen, nachdem meine Frau mit einem Schwertschlucker durchgebrannt ist. Nachdem meine Frau Tänzerin bei der Radio City Music Hall wurde. Nachdem sie sich den Kopf kahlrasiert hat und einer Sekte beigetreten ist.‘ So ungefähr.“

Sein lautes Gelächter überraschte ihn genauso wie sie. Vergeblich versuchte Ridge, sich Melinda mit kahlem Kopf vorzustellen. „Diese Antworten wären jedenfalls interessanter als die schnöde Wahrheit. Ihr gefiel das Leben auf der Ranch einfach nicht. Sie hasste den Wind, die Fliegen und den Dreck.“ Und mich, hätte er fast hinzugefügt. Als Melinda gegangen war, hatte sie Ridge gehasst, weil er sich weigerte, die Ranch zu verlassen. Sie hatte ihm vorgeworfen, River Bow mehr zu lieben als sie.

Und zum damaligen Zeitpunkt war das auch der Fall gewesen.

„Und deshalb hat sie ihre Tochter im Stich gelassen? Ihre Tochter und … den Mann, den sie geliebt hat?“

Ridge hätte gern geglaubt, dass Melinda ihn mal geliebt hatte, aber da war er sich inzwischen nicht mehr so sicher. „Wir haben von Anfang an nicht besonders gut zusammengepasst. Manche Menschen treffen leider Entscheidungen, die sie später bereuen. Jahrelang dachte ich auch, dass sie unsere Tochter im Stich gelassen hat, aber dieses Jahr habe ich endlich einen Privatdetektiv eingeschaltet und herausgefunden, dass sie ein Jahr nach ihrem Auszug gestorben ist. Ich nehme an, sie hätte früher oder später mit Des Kontakt aufgenommen, aber genau weiß ich es natürlich nicht.“

„Das muss sehr hart für Ihre Tochter gewesen sein.“

Ridge rührte Sarahs Mitgefühl für ein Mädchen, das sie noch nicht mal kannte. „Wissen Sie, sie ist ein sehr selbstbewusstes Mädchen. Caidy, meinen Brüdern und mir ist es ziemlich gut gelungen, ihr all die Liebe zu geben, die sie braucht, auch ohne Mutter.“

„Sie kann sich glücklich schätzen, so eine tolle Familie zu haben“, sagte Sarah leise.

„Wir haben alle Glück. Meine Brüder und ihre Familien kommen immer noch jeden Sonntag zum Essen vorbei. Bei der nächsten Gelegenheit können Sie sie alle kennenlernen.“

„Also, was das angeht …“

Ridge spürte, dass Sarah nach einem Vorwand suchte, seine Einladung von letzter Nacht abzulehnen. „Sie werden sich sehr über das Gemälde freuen. Ich habe meinem Bruder Trace schon gestern Abend am Telefon davon erzählt. Wir fragen uns beide, wie Ihr Vater an das Gemälde gekommen ist.“

In ihren Augen flackerte so etwas wie Angst auf, doch sie senkte den Blick rasch zu ihrem Teller. „Ich … bin mir nicht sicher. Ehrlich gesagt kannte ich meinen Vater nicht gut. Wir waren entfremdet.“

„Ach ja?“

Sarah seufzte tief. „Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich fünf war, und er übernahm das Sorgerecht für meinen Bruder, der viel älter war als ich. Sie wohnten die meiste Zeit in Las Vegas und kamen nur selten an die Küste. Ich habe ihn gerade mal zwei Wochen im Jahr gesehen, wenn überhaupt. Nach meinem achtzehnten Geburtstag brach ich den Kontakt zu ihm so gut wie ganz ab.“

„Scheidungen können sehr hart für Kinder sein.“

Ridge hatte den Eindruck, dass sie nicht gern über ihre Kindheit sprach. Es berührte ihn daher, dass sie ihm davon erzählte. Anscheinend erzeugten der ums Haus heulende Wind, das Schneetreiben draußen und das gemütliche Frühstück eine intime Atmosphäre, die zu Vertraulichkeiten einlud.

„Das sehe ich auch bei meinen Schülern“, bestätigte sie. „Die meisten Kinder fühlen sich für die Trennung ihrer Eltern verantwortlich. Und wenn Eltern die Kinder unter sich aufteilen, kann das wirklich schlimme psychische Konsequenzen haben. Ich habe mich auch lange gefragt, was ich falsch gemacht habe, weil mein Vater Joey mitgenommen hat und nicht mich. Meine Mutter war … verbittert wegen der Scheidung und der Gründe, die dazu führten. Sie hasste meinen Vater, und dieser Hass saß immer mit uns am Tisch. Sie hat immer gesagt …“

Sarah verstummte und biss sich verlegen auf die Unterlippe. „Sorry. Ich habe keine Ahnung, warum ich Ihnen das überhaupt erzähle. Meine langweilige kaputte Familie interessiert Sie bestimmt nicht. Wollen Sie noch etwas Speck?“ Sie sprang auf, bewegte sich in ihrer Verlegenheit jedoch etwas zu hastig und kam ins Schwanken. Sofort stand Ridge auf, um sie an den Oberarmen festzuhalten, bevor sie womöglich noch hinfiel.

Wie erstarrt blieben sie in dieser Position. Sarah blickte aus großen Augen zu ihm auf. Er sah an ihrem Hals, dass sie schluckte, und hätte schwören können, dass ihr Blick zu seinem Mund wanderte.

Schlagartig wurde ihm heiß, und er empfand ein überwältigendes Verlangen, sie zu küssen – so schmerzhaft intensiv, dass er schon fast schockiert war. Sie fühlte sich so herrlich anschmiegsam und warm in seinen Armen an. Es war völlig verrückt, aber ihre unglaublich sinnlichen Lippen zogen ihn magisch an …

Autor

RaeAnne Thayne

RaeAnne Thayne hat als Redakteurin bei einer Tageszeitung gearbeitet, bevor sie anfing, sich ganz dem Schreiben ihrer berührenden Geschichten zu widmen. Inspiration findet sie in der Schönheit der Berge im Norden Utahs, wo sie mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern lebt.

Foto: © Mary Grace Long

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Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...

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Die USA-Today-Bestsellerautorin Michelle Major liebt Geschichten über Neuanfänge, zweite Chancen - und natürlich mit Happy End. Als passionierte Bergsteigerin lebt sie im Schatten der Rocky Mountains, zusammen mit ihrem Mann, zwei Teenagern und einer bunten Mischung an verwöhnten Haustieren. Mehr über Michelle Major auf www.michellemajor.com.

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