Das Mauerblümchen und der Marquess

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Normalerweise würde Miss Horatia Carmichael so schnell wie möglich von jedem Fest verschwinden. Heute aber muss das notorische Mauerblümchen über seinen Schatten springen. Um den Mörder ihres Bruders zu finden, muss sie Kontakt zu Nick Norrington aufnehmen, dem Marquess of Devizes. Leider stellt Nick sich als das genaue Gegenteil der sanften und schüchternen Horatia heraus. Dieser sture und arrogante Kerl treibt sie noch zur Weißglut! Wenn der verruchte Marquess nur nicht solch unangebrachte und aufregend neue Gefühle in ihr wecken würde …


  • Erscheinungstag 18.01.2022
  • Bandnummer 618
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511278
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Es half nichts. Horatia Carmichael würde zu drastischen Mitteln greifen müssen.

Sie ließ den Blick über die Kirchengemeinde schweifen. Gebetsbücher und Bibeln wurden zusammengesucht und eingepackt, während der betagte Kaplan des Duke of Theakstone den Gottesdienst vor sich hin murmelnd zu Ende brachte. Sie schluckte. Die private Kapelle des Dukes war voller Lords und Ladys. Vermutlich war niemand unterhalb des Ranges eines Viscounts eingeladen worden, die Woche vor der Hochzeit des Dukes auf Theakstone Court zu verbringen. Abgesehen von ihr. Weshalb sie sich ein bisschen so fühlte wie Aschenputtel auf dem Hofball, auf dem sich der Prinz seine Braut aussuchen soll. Oder so ähnlich. Sie hatte Märchen nie sonderlich große Aufmerksamkeit geschenkt. In Märchen ging es immer um schöne Menschen, die unglaubliche Belohnungen dafür bekamen, dass sie schön waren. Oder blaublütig. Horatia wäre um einiges beeindruckter gewesen, wenn zur Abwechslung einmal die Klugheit triumphiert hätte.

Aber wie auch immer, selbst wenn Aschenputtel zweifellos schön war, musste es doch ziemlich verunsichernd für sie gewesen sein, ein Schloss voller Adliger zu betreten. Und da ging es Horatia im Augenblick nicht anders.

Doch verzweifelte Zeiten verlangten nach verzweifelten Maßnahmen. Zwei Monate waren verstrichen, seit Herbert ermordet worden war. Zwei Monate, in denen sie mit wachsender Ungeduld darauf gewartet hatte, dass der Marquess of Devizes zu ihr kommen und ihr sein Beileid aussprechen würde, damit sie ihm die Information geben konnte, mit deren Hilfe sie möglicherweise Herberts Mörder finden würden.

Aber dieser … dieser … Sie suchte nach einem passenden Begriff, um den Charakter des Mannes zu beschreiben, der nicht nur der beste Freund ihres Bruders, sondern auch sein Mitstreiter in der Geheimarbeit gewesen war. Leider fiel ihr keine Bezeichnung ein, die in einer Kapelle vertretbar gewesen wäre. Selbst dann nicht, wenn man sie nur im Geist aussprach.

Wie auch immer, das Problem war, dass dieser … dieser … jetzt hatte sie es! Dieser aufgeblasene Pfau nicht einmal in ihre Nähe gekommen war. Und natürlich hatte sie nicht einfach zu ihm gehen können. Eine Frau konnte nicht einfach an der Tür eines ledigen Gentlemans klingeln, nicht, ohne dass es aufgefallen wäre. Ganz besonders nicht, wenn besagter Gentleman einen gewissen Ruf hatte. Der Marquess of Devizes gehörte zu jenen Männern, die sich jede Frau mit nichts als einem anzüglichen Lächeln in ihr Bett holen konnten. Und genau das tat er auch.

Darüber hinaus hätte sich Lord Devizes nicht über ihren Besuch gefreut, nicht einmal, nachdem er sich angehört hätte, was sie ihm zu sagen hatte. Wenn sie am helllichten Tag bis zu seiner Haustür marschiert wäre, hätte sie damit die Aufmerksamkeit genau jener Leute geweckt, die sie unbedingt im Ungewissen lassen mussten. Diese hätten daraufhin eins und eins zusammengezählt, und dann wäre es aus gewesen.

Was bedeutete, dass sie eine andere Möglichkeit finden musste, sich ihm zu nähern, ohne dabei Verdacht zu erregen.

Das Problem war nur, dass sie während ihrer Trauerzeit weder Bälle noch Feiern besuchen durfte, bei denen sie ihm einfach „zufällig“ begegnen könnte. Nicht, dass sie sonderlich oft an solchen Veranstaltungen teilgenommen hatte, auch schon vor Herberts Tod nicht. Damit hätte sie für ebenso viele missbilligende Blicke gesorgt, wie wenn sie in einer der Spielhöllen, bei einem Hahnenkampf oder in einer der Bergarbeiterkneipen aufgetaucht wäre, denen Lord Devizes und ihr Bruder hin und wieder einen Besuch abgestattet hatten. Auf Informationssuche, wenn man Herbert glauben wollte. Allerdings war er auch schon früher an solchen Orten zu finden gewesen, bevor er begonnen hatte, nach der Truppe von Verschwörern zu suchen, die sich bemühten, Unterstützer für den im Exil lebenden französischen Kaiser Bonaparte um sich zu scharen.

Es traf sich gut, dass Lord Devizes Halbbruder, der Duke of Theakstone, so plötzlich beschlossen hatte zu heiraten. Der Himmel wusste, zu welchen Kniffen sie andernfalls hätte greifen müssen. Glücklicherweise hatte eine Freundin von ihr, Lady Elizabeth Grey, eine Einladung zur Hochzeit erhalten, also hatte Horatia sie nur noch davon überzeugen müssen, sie mitzunehmen. Sie hatte angenommen, dass sie hier – zwischen Teestunden und Spaziergängen auf den Ländereien – irgendwann schon eine Möglichkeit finden würde, Lord Devizes ihre Übersetzung des verschlüsselten Briefes, den Herbert ihr gegeben hatte, zuzustecken. Herbert hatte sie an dem Abend, an dem er ermordet worden war, gebeten, den Brief zu entziffern.

Aber zum Teufel mit dem Kerl, nicht einmal hier bekam sie eine Chance, sich ihm zu nähern. Es gab einfach zu viele Frauen, die ihn ständig umflatterten wie geistlose Motten, die sich gegen eine leuchtende Laterne warfen. Oder vielleicht auch wie Tauben, die sich herausputzten und ihn gurrend anschmachteten. Nun ja, ganz gleich, wie sie sich aufführten, er jedenfalls benahm sich stets wie ein … Pascha. Umgeben von seinem ehrfürchtigen Harem. Als wäre weibliche Bewunderung etwas, auf das er ein Anrecht hatte. Er sog alles in sich auf und verteilte sein schiefes Grinsen wie eine Art Belohnung an jene, die ihn besonders amüsierten. Allerdings verliehen ihm seine schwerlidrigen Augen jederzeit den Ausdruck, als würde er gleich zu lachen beginnen. Als wäre das ganze Leben ein einziger Scherz.

Wofür sie ihm am liebsten den Hals umgedreht oder gegen das Schienbein getreten hätte. Oder etwas ähnlich Gewalttätiges. Denn während er umherschlenderte und mit jeder weiblichen Person unter fünfzig kokettierte, wurde die Spur, die möglicherweise zu Herberts Mörder führte, immer kälter.

Links von ihr erhob sich ihre Freundin, die den Part der guten Fee in ihrer Aschenputtelgeschichte spielte. Was bedeutete, dass Horatia ebenfalls aufstehen musste, um Elizabeth dann unterwürfig zurück zum Haupthaus zu folgen, wo Erfrischungen gereicht wurden. Sie brauchte sich gar nicht erst einzureden, dass es ihr vielleicht während der Teestunde gelingen würde, sich ihm zu nähern. Wahrscheinlich würde sie sich dort nur wieder vollkommen fehl am Platz fühlen, sich in irgendeine Ecke zurückziehen und dort kauern wie eine kleine schwarze Krähe, während die prunkhafteren Vögel Lord Devizes umschwärmten.

Also jetzt oder nie. Sie schob sich ihre Brille ein Stück den Nasenrücken hinauf, erhob sich und ging bis zum Ende der Bankreihe. Dort angekommen öffnete sie ihr Retikül und nahm ihr Taschentuch heraus. Hinter ihr schnaubte Lady Elizabeths Mutter, die Dowager Marchioness of Tewkesbury, vernehmlich durch die Nase. Etwas, das sie gewohnheitsmäßig tat, wann immer ihr Blick auf Horatia fiel. Die Dowager machte kein Geheimnis daraus, dass es ihr missfiel, wie gut sich ihre Tochter mit einer einfachen Miss verstand. Tatsächlich hätte sie ihrer Tochter vermutlich verboten, Horatia mitzubringen, wenn Mutter und Tochter nicht gerade beschlossen hätten, nur noch das Nötigste miteinander zu reden.

Wie auch immer, hier war sie nun. Und Lord Devizes würde gleich an ihrer Bankreihe vorbeikommen.

Sie putzte sich die Nase und warf ihr Taschentuch zurück in das Retikül. Ihr Herz pochte wie wild. Sie musste nicht darauf hoffen, dass er stehen bleiben und ihr einen guten Morgen wünschen würde. Seit ihrer Ankunft auf Theakstone Court hatte er reichlich Gelegenheit dazu gehabt, doch jedes Mal hatte er einfach durch sie hindurchgeschaut. Als wäre sie seiner Aufmerksamkeit nicht würdig. Als würde er sie nicht einmal erkennen.

Aber warum sollte er auch? Herbert hatte sie zwar miteinander bekannt gemacht – während ihrer einzigen Saison, als Herbert verkündet hatte, er werde sie schon „herausputzen“ –, doch Lord Devizes war eindeutig unbeeindruckt geblieben von der plumpen, schäbigen kleinen Schwester seines Freundes. Er hatte nur einmal mit ihr getanzt, und das ohne Frage nur aus Höflichkeit seinem Freund gegenüber. Lord Devizes hatte kaum ein Wort mit ihr gewechselt und kein Fünkchen seines berühmt berüchtigten Charmes an sie verschwendet. Ganz zu schweigen davon, dass er mit ihr kokettiert hätte.

Doch darum ging es jetzt nicht. Nun war nicht die Zeit, in altem Groll zu schwelgen, vor allem, weil er sie auch nicht schlechter behandelt hatte als alle anderen sogenannten Gentlemen, die dazu überredet worden waren, sich aus Mitleid eines so altmodischen Mauerblümchens anzunehmen. Er kam näher. Nur noch ein paar Schritte, und sie würde die Hand ausstrecken und ihn am Ärmel zupfen können.

Wie eine Bettlerin, die um Almosen bat.

Also, nein, das war nicht der richtige Weg. Es musste wie eine zufällige Begegnung wirken, sonst würde man merken, dass sie unbedingt mit ihm sprechen wollte. Was nicht geschehen durfte.

Als er fast bei ihr war, griff sie rasch nach ihrer Bibel, die neben ihr auf der Bank lag, und warf sie ihm vor die Füße, in der Hoffnung, dass es so aussah, als hätte sie das Buch versehentlich fallen gelassen.

Er blieb stehen. Blickte auf die Bibel hinab. Sah sie an. Stützte eine Hand in die Hüfte und hob einen Mundwinkel zu einem … einem spöttischen Grinsen.

Ihr Gesicht wurde heiß. Dieser … dieser schlimme Fluch. Dieser grässliche Ausdruck. Er schaffte es, den Eindruck zu erwecken, sie hätte absichtlich etwas vor seinen Füßen fallen lassen, wie es Frauen vor Jahrhunderten getan hatten, um die Beachtung eines Mannes zu erregen, den sie einfach nicht anders auf sich hatten aufmerksam machen können. Und genauso war es ja auch. Aber nicht, weil sie liebestoll war. Er konnte doch nicht wirklich so dumm sein, wie er aussah? Er musste doch begreifen, dass sie Herberts Schwester war und unbedingt mit ihm sprechen musste! Über Herbert? Und seine Arbeit?

Selbst wenn er tatsächlich so dumm war, hatte er dann kein Quäntchen Anstand? Es wäre doch sicher nicht zu viel der guten Manieren, wenn er sich bücken und ihr die Bibel aufheben würde.

Offensichtlich doch. Er stand einfach da, dieses spöttische Lächeln im Gesicht, und sah sie unverhohlen an, während ihre Wangen vor lauter aufgestauter Wut auf diesen nervtötenden Mann brannten.

„Nicht zu fassen“, murmelte sie, trat vor und bückte sich, um nach ihrer Bibel zu greifen. „Nicht zu fassen, dass Herbert so große Stücke auf Sie gehalten hat, obwohl Sie nicht einmal einen Wink verstehen. Machen Sie sich keine Umstände …“

… wegen meiner Bibel, hatte sie noch sagen wollen, doch leider hatte er sich in ebenjenem Moment endlich auch danach gebückt.

Mit dem Ergebnis, dass ihr Kopf gegen seinen ausgestreckten Arm stieß. Und da sie sich wütend und sehr schwungvoll gebückt hatte und sein Arm die Beschaffenheit einer Eisenstange aufwies, prallte sie zurück, stolperte gegen das Ende der Bankreihe und landete schließlich mit dem Hintern auf dem kalten, harten Kapellenboden.

Sie hörte gedämpftes Kichern.

„Unglaublich“, sagte die Dowager Marchioness of Tewkesbury, vermutlich zu Lady Elizabeth, auch wenn Horatia vom Kapellenboden aus keine der beiden sehen konnte. „Dass du eine solche Person an einen Ort wie diesen mitgebracht hast, auch wenn du …“

„Mutter!“ Horatia hörte Lady Elizabeths Röcke rascheln, als sich diese schwungvoll in der Bankreihe zu ihrer Mutter umdrehte und sie vermutlich verärgert anfunkelte.

Während Horatia zum Verursacher ihres Missgeschicks hinaufstarrte, der nun sogar noch etwas breiter grinste, als müsste er sich ein Lachen verbeißen.

Dann streckte er ihr ach so hilfsbereit die Hand hin.

„Ich brauche Ihre Hilfe nicht“, fauchte sie, ignorierte seine Hand und zog sich an der äußeren Lehne der Bankreihe hoch, von der sie gerade eben abgeprallt war und die ihr guten Halt bot. „Nicht, um aufzustehen, und auch nicht, um Herberts Mör …“

„Sie sind Herberts Schwester?“ Er hob eine Braue, als würde ihn diese Tatsache verblüffen. Er ließ den Blick über ihre lädierte Erscheinung wandern. „Wer hätte das gedacht.“ Nicht viele. Herbert war so schön und elegant gewesen. Sogar Herbert hatte darüber gescherzt, dass sie allen Verstand und er dafür das gute Aussehen der Familie abbekommen hatte.

„Sie …“, stotterte Horatia. „Sie …“ Wieder einmal fehlte ihr das richtige Wort, mit dem sie ihn in einer Kapelle hätte beschimpfen können.

Er ließ den Arm sinken. „Lassen Sie sich Zeit, Miss Carmichael“, sagte er mit nervenaufreibender Ruhe. „Ich bin sicher, dass Ihnen noch eine passende Beleidigung einfällt, wenn Sie nur einmal tief Luft holen und bis zehn zählen.“

Das Kichern klang nun schon etwas weniger gedämpft, und das, obwohl es in Horatias Ohren so laut rauschte, dass es das Gelächter eigentlich hätte übertönen müssen.

Sie hasste ihn. Sie hasste ihn aus tiefstem Herzen. Es war schon schlimm genug gewesen, dass er ihr nicht wenigstens anstandshalber einen Kondolenzbesuch abgestattet hatte, in Anbetracht der Tatsache, wie eng Herbert und er zusammengearbeitet hatten. Doch dann auch noch so zu tun, als würde er sie nicht einmal erkennen, und sie zum Gespött zu machen …

„Da gibt es keine“, brachte sie zähneknirschend heraus und wandte sich abrupt ab, um ihm nicht die Genugtuung zu geben, die Zornestränen in ihren Augen zu sehen. Auf keinen Fall würde sie jetzt weinen, nicht vor einem solchen …

Sie stürmte den Mittelgang entlang und stieß die Kapellentüren auf. Als das Sonnenlicht auf ihren Hut fiel, ließ sie all die schlimmen Worte endlich hinaus. Auf Englisch, Französisch und Italienisch.

Es war nicht nur die Tatsache, dass er sie vor dem versammelten Adel gedemütigt hatte, sondern auch die Wut darüber, dass sie so viel Zeit und Mühe verschwendet hatte. Anstatt sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie sie mit dem Mann, den Herbert immer als Janus bezeichnet hatte, in Verbindung treten konnte, hätte sie den Mörder selbst jagen können.

Denn nun stand fest, dass Lord Devizes ihr keine Hilfe sein würde. Überhaupt keine.

Sie war auf sich allein gestellt.

Wie immer.

2. KAPITEL

Nachdem Herberts Schwester aus der Kapelle gestürmt war, hob Nick die liegen gelassene Bibel auf.

So eine Unvorsichtigkeit. Wenn er sie nicht absichtlich dazu gebracht hätte, die Fassung zu verlieren, dann hätte sie ihren Verdacht, was Herberts Tod betraf, einfach in die Welt hinausposaunt. Und das in einer hallenden Kapelle, in der ein Flüstern weiter trug, als es erlaubt sein dürfte.

Kein Wunder, dass Herbert sie immer so entschieden beschützt hatte. Kein Wunder, dass er mit allen Mittel versucht hatte, sie von der Wirklichkeit seiner Lebensumstände abzuschirmen. Sie hatte keine Ahnung, wie man verbarg, was man gerade dachte. Er hatte jeden einzelnen Gedanken, der ihr durch den Kopf geschossen war, an ihrer missbilligenden Miene ablesen können. Von dem Moment an, als sie in Theakstone Court angekommen war.

Außerdem hatte sie keine Kontrolle über ihr Mundwerk. Wenn sie auch nur die Hälfte dessen, was Herbert kürzlich herausgefunden hatte, ahnte, dann würde sie Gott weiß wo damit herausplatzen. Und Gott weiß vor wem.

Schlimmer noch, dem Stück Papier nach zu urteilen, das zwischen den Seiten ihrer Bibel steckte, hatte sie versucht, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. Eine Nachricht! Vor der versammelten Gemeinde.

Rasch warf er einen Blick darauf, bevor er das Blatt sorgfältig zurückschob, als hätte er keinerlei Interesse daran. Es kostete ihn seine gesamte Selbstbeherrschung, sich nichts anmerken zu lassen, als er erkannte, dass es keine geschriebene Notiz, sondern eine Zeichnung war. Eine Zeichnung des römischen Gottes Janus. Dessen Name zufällig auch sein Deckname war.

Ein „Herrgott“ konnte er sich nicht verkneifen. Was zum Teufel hatte sie vor? Wollte sie ihm auf so offensichtliche Weise zu verstehen geben, dass sie wusste, wer er war? Er tarnte seinen Schrecken mit einem schiefen Lächeln und drehte das Buch in seiner Hand, um einen Scherz aus der Situation zu machen.

„Was macht die kleine schwarze Krähe wohl ohne ihre Bibel, die sie uns armen Sündern jetzt nicht mehr über den Kopf ziehen kann?“

Seine Schwestern lachten. Genau wie die beiden halbseidenen Matronen an ihrer Seite, die ihm seit ihrer Ankunft hier einen Köder nach dem anderen zugeworfen hatten.

Lady Elizabeth Grey hingegen wandte sich von ihrer hitzigen Debatte mit ihrer Mutter ab und sah ihn finster an.

„Wie können Sie nur so unfreundlich sein? Gerade Sie müssen doch wissen, wie schwer sie der Tod ihres Bruders getroffen hat. Ist es da verwunderlich, dass sie sich in Gegenwart seiner Freunde ein wenig … ungeschickt verhält?“

„Das wirklich Verwunderliche“, entgegnete er – und schob sich die Bibel in die Tasche, was Miss Carmichaels aufgebrachter Freundin jedoch entging – „ist doch die Tatsache, dass sie während ihrer Trauerzeit eine so freudige Veranstaltung besucht.“ Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, eine kaum wahrnehmbar herablassende Betonung auf das Wort „freudige“ zu legen. Jeder der Anwesenden hier teilte mit Sicherheit seine Meinung über die lächerliche, übereilte Hochzeit seines erhabenen Halbbruders mit irgendeiner Unbekannten. Ganz besonders Lady Elizabeth, die selbst eine der Favoritinnen um die Stellung der Duchess of Theakstone gewesen war.

„Nein, das ist kein bisschen überraschend“, gab sie hitzig zurück. „Sie musste aus diesem düsteren kleinen Haus heraus, in dem sie lebt, und weg von ihrer albtraumhaften Vormundin, die ihr das Leben schon zum Jammertal gemacht hat, bevor sie auch noch ihren Bruder verlieren musste, der mit seinen täglichen Besuchen für die einzigen Lichtblicke in ihrem Dasein gesorgt hat“, fuhr sie fort, ohne auch nur einmal Luft zu holen.

Täglich? So oft war Herbert bei ihr gewesen? Hmm … Er hatte Herbert immer schon für einen außergewöhnlich treuen Bruder gehalten, nach dem zu urteilen, was er über Geschwisterbeziehungen wusste. Nicks eigene Schwestern schenkten ihm kaum mehr als ein Nicken, wenn sie ihm zufällig in London über den Weg liefen. Und er wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, sie in ihren pompösen Stadthäusern zu besuchen. Nicht ohne irgendeine formelle Einladung. Schon gar nicht jeden Tag.

Allerdings machten sie ein ziemliches Aufheben um ihn, seit sie alle nach Theakstone Court gekommen waren. Aber das hatte mehr damit zu tun, dass sie ihrem Halbbruder, dem derzeitigen Duke, zeigen wollten, wo sein Platz war. Dass sie seine Hochzeitseinladung zwar angenommen hatten, allerdings nur aus Achtung vor seinem Titel und nicht etwa deswegen, weil sie ihm verziehen hätten oder ihn als Teil der Familie betrachteten. Denn im Gegensatz zu ihrem herzlichen Verhalten Nick gegenüber blieben sie in Gegenwart des Dukes stets eiskalt.

Nick konnte es ihnen nicht verübeln. Auch er selbst konnte den Anblick des dunklen, mürrischen Rohlings kaum ertragen.

„Ohne diese Besuche, die ihren Gedanken eine positive Richtung gegeben haben, war sie in Gefahr, den Halt zu verlieren“, sprach Lady Elizabeth weiter. „Ich dachte, ein Ortswechsel könnte sie vielleicht etwas aufheitern. Oder ihr wenigstens über die schlimmste Trauer hinweghelfen. Der Tod ihres Bruders hat sie tief getroffen, wie Sie als einer seiner besten Freunde sicher wissen.“

Ja, daran hätte er wohl denken müssen. Allerdings waren in seiner Familie alle so wenig vertraut miteinander, dass er sich nur schwer vorstellen konnte, es würde irgendjemanden tief treffen, wenn ihm etwas zustieß. Seine Schwestern würden ihr Bedauern zum Ausdruck bringen und eine Weile schwarze Handschuhe tragen, aber ein Großteil dieses Bedauerns würde wohl daher rühren, dass sie vielen ihrer Lieblingsbeschäftigungen während der angemessenen Trauerzeit nicht mehr würden nachgehen können.

Außerdem, wann immer er an Herberts Schwester gedacht und sich gefragt hatte, wie es ihr wohl ging, war er zu dem Schluss gekommen, dass das Beste, was er für sie tun konnte, war, ihr fernzubleiben. Ihr schien diese schillernde, spröde Hülle zu fehlen, die jede Frau wie eine Rüstung überstreifte, wenn sie sich in die Öffentlichkeit wagte. Herberts Schwester war offen und ungekünstelt. Was ihm irgendwie das unangenehme Gefühl gab, er könnte sie nur allzu leicht beschmutzen.

Oder … hatte Herbert vielleicht mehr getan, als sie nur zu besuchen? Hatte er sie vielleicht auch unterstützt? Finanziell? Nun, da er darüber nachdachte, hatte Herbert einmal etwas in dieser Richtung erwähnt, kurz nachdem er den Versuch, sie in die Gesellschaft einzuführen, wieder aufgegeben hatte. Irgendetwas darüber, dass ihre beiden Vermögen miteinander verknüpft waren.

Was einen gewaltigen Unterschied machte.

Wenn ein anderer Agent im Einsatz gestorben wäre, dann wäre Nick sofort bei seiner Familie vorstellig geworden, um sicherzustellen, dass es ihnen in Geldangelegenheiten an nichts fehlte. Er hatte Zugang zu ausreichend Mitteln, um dafür Sorge zu tragen.

„Aber Männer wie Sie bringen es ja nie fertig, weiter zu blicken als bis zu ihrer eigenen Nasenspitze!“ Damit stieß Lady Elizabeth ihre eigene Nasenspitze in die Luft und marschierte davon.

Woraus er ihr kaum einen Vorwurf machen konnte. Er hatte einfach angenommen, dass Miss Carmichael selbst über ein Einkommen verfügte. Er hatte es angenommen, ohne sich davon zu überzeugen.

Das war ein Schnitzer gewesen. Vielleicht sogar ein schlimmer.

Er hätte sie besuchen und sich vergewissern sollen, dass sie versorgt war, das begriff er nun. Nur … war sie aus guter Familie. Und ein Mann mit dem Ruf, den er kultivierte, konnte nicht einfach vor der Tür einer Frau aus guter Familie auftauchen. Nicht ohne damit missbilligende Blicke zu riskieren. Nicht einmal dann, wenn ihr Bruder sein engster Freund gewesen war.

Hätte ein Besuch ihr denn wirklich etwas genutzt? Für die Witwe eines Verstorbenen konnte er leicht eine Pension arrangieren. Aber einer Frau von Miss Carmichaels Stand konnte er nicht einfach seine Unterstützung anbieten. Wenn herauskäme, dass er ihr finanziell unter die Arme griff, hätte es sie ruiniert.

„Ich hoffe, Sie können meiner Tochter ihre Respektlosigkeit verzeihen“, meldete sich die Dowager Marchioness of Tewkesbury zu Wort und schob sich aus der Bankreihe in den Mittelgang. „Diese Woche ist furchtbar schwer für sie in Anbetracht der Hoffnungen, die wir hatten …“ Den Rest ließ sie ungesagt, doch ihr Kopfschütteln drückte aus, wie enttäuscht sie darüber war, dass der Duke of Theakstone ihre Tochter übergangen und stattdessen eine einfache Miss zur Duchess gemacht hatte.

„Da gibt es nichts zu verzeihen“, versicherte er und schenkte ihr jenes Lächeln, das er für Frauen ihres Alters und Standes bereithielt. „Es spricht nur für Ihre Tochter, dass sie ihre Freundin mit einer solchen … Loyalität verteidigt. Und mit einer solchen Vehemenz.“

Die Dowager Marchioness verengte die Augen zu Schlitzen, um in seiner Aussage irgendeine Spur von Kritik zu erkennen. Aber sein Lächeln blieb, wie es war, und er blickte ihr mit so viel Unschuld, wie er nur aufbringen konnte, direkt in die Augen. Was im Grunde nicht weiter schwer war. Denn tatsächlich bewunderte er Lady Elizabeth für ihre Treue. Nicht viele Menschen hätten laut eine Meinung geäußert, die nicht der allgemeinen Einschätzung entsprach. Sie dagegen hatte es getan und dabei seinen Blick auch noch auf eine Facette der Angelegenheit gelenkt, die er übersehen hatte. Er war ihr dankbar dafür, dass sie ihn aus seiner eigenen Trübsal gerissen und ihn daran erinnert hatte, dass es noch jemanden gab, der Herbert genauso vermisste wie er. Aus welchem Grund auch immer.

„Wie großzügig von dir, Devizes“, trällerte seine Schwester Mary. „Über ein so ungebührliches Verhalten einfach hinwegzusehen.“ Träge legte sie ihm eine Hand auf den Arm. „Und damit meine ich natürlich nicht Lady Elizabeths Verhalten.“ Mit hochgezogener Braue warf sie der Dowager einen Blick zu, denn alle wussten, dass ihre Töchter ein recht zänkisches Wesen hatten. Genau aus diesem Grund war Nick ziemlich überrascht gewesen, als sein Halbbruder Lady Elizabeth auf die Liste der möglichen zukünftigen Duchesses gesetzt hatte. Und kein bisschen überrascht, als er ihren Namen rasch wieder gestrichen hatte.

„Ich meine damit ihre seltsame kleine Begleiterin“, fuhr Mary fort. „Einfach so davonzustürmen!“

Er konnte Miss Carmichaels Verhalten inzwischen verstehen, wenn sie tatsächlich in einer heiklen Lage steckte.

Vielleicht hing das, was sie über Herbert hatte sagen wollen, damit zusammen, dass er sie unterstützt hatte. Vielleicht reichten ihre Geldmittel einfach nicht aus.

Er würde sie fragen, wenn er ihr die Bibel zurückbrachte.

Und er würde herausfinden, warum sie zwischen den Seiten des Buches eine Zeichnung von Janus versteckt hatte. War Herbert doch nicht so verschwiegen gewesen, wie er behauptet hatte? War er seiner Schwester so nahe gewesen, dass er ihr das eine oder andere Geheimnis verraten hatte?

Oder war sie nur zufällig über das Bild gestolpert, während sie Herberts persönliche Besitztümer geordnet hatte? Nick war der Meinung gewesen, er hätte Herberts Haus gründlich von allen verräterischen Spuren gesäubert, aber vielleicht war die Zeichnung ja an einem Ort verborgen gewesen, den nur sie kannte.

Was alles änderte. Er war entschlossen gewesen, sie vor jenen Menschen zu schützen, die ihren Bruder umgebracht hatten, indem er keinen Zweifel daran ließ, dass er keinerlei Interesse an ihr hatte. Und auch keinerlei Verbindung zu ihr, nun, da Herbert tot war.

Wenn Herbert ihr jedoch etwas gesagt hatte …

Er musste sie warnen. Falls irgendjemand auf die Idee kam, sie hätte Informationen, egal welcher Art, die mit Herberts Arbeit in Verbindung standen, dann wäre sie in Gefahr. Verdammt, irgendjemand hatte ihren Bruder umgebracht, um zu verhindern, dass ans Licht kam, was auch immer er an diesem Abend herausgefunden hatte.

Herbert würde es ihm nie verzeihen, wenn Horatia die Nächste auf der Liste des Mörders werden würde.

Verflucht, er würde es sich selbst niemals verzeihen.

3. KAPITEL

Horatia hatte den befestigten Bereich um die Kapelle und die zahlreichen Denkmäler mehrerer Generationen von dahingeschiedenen Norringtons, der Familie des derzeitigen Dukes, bereits hinter sich gelassen, als sie eilige Schritte hinter sich auf dem Kiesweg knirschen hörte.

Vorangetrieben von einer gefährlichen Mischung aus Wut, Scham und Entschlossenheit, es ihnen allen zu zeigen – wer auch immer „alle“ sein mochten –, war sie so schnell gelaufen, dass die Person hinter ihr schon sehr entschlossen sein musste, um sie einzuholen.

Sie wappnete sich für eventuelle Anschuldigungen und Vorwürfe, denen sie sich möglicherweise würde stellen müssen – und seufzte erleichtert auf, als sie nach einem Blick über die Schulter feststellte, dass es Lady Elizabeth war, die auf sie zukam.

„Tja“, sagte Lady Elizabeth und verlangsamte ihre Schritte, um neben Horatia hergehen zu können. „Du weißt jedenfalls, wie man einen gekonnten Abgang inszeniert.“

Horatia nahm einen deutlichen Anflug von Belustigung in der Stimme ihrer Freundin wahr und wusste, dass sie Lady Elizabeth also nicht tödlich beschämt hatte. Trotzdem schuldete sie ihrer Freundin eine Entschuldigung. „Es tut mir so leid wegen meines … Ausbruchs“, sagte sie. „Ich habe dir meine bescheidene Unterstützung versprochen in den Tagen vor der Hochzeit des Dukes. Und jetzt habe ich deiner Mutter stattdessen nur noch mehr Grund gegeben, dir eine Predigt zu halten.“

„Solange sie sich über dein Benehmen beschwert, schimpft sie wenigstens nicht über meines“, erklärte Lady Elizabeth mit einem schiefen Lächeln.

„Als ob es deine Schuld wäre, dass sich der Duke in Miss Underwood verliebt hat.“ Horatia stieß ein abfälliges Schnauben aus. „Jeder, der die beiden zusammen sieht, muss doch erkennen, dass sie nur Augen füreinander haben“, fügte sie mit einem Nicken in Richtung des Paares hinzu, das Arm in Arm einen weiteren Kiesweg zum Haupthaus entlangschlenderte. Horatia begriff, dass sie unabsichtlich einen Umweg genommen hatte.

„Ach, aber wenn ich mich nur ein wenig mehr angestrengt hätte“, sagte Lady Elizabeth in genau dem frostigen Tonfall ihrer Mutter, „dann hätte ich sie ausstechen können.“

Horatia gab ein sehr undamenhaftes Geräusch von sich – teilweise durch die Nase –, um zu demonstrieren, was sie von diesem besonderen Argument hielt.

„Man kann einen Mann nicht dazu bringen, sich in einen zu verlieben oder einen auch nur zur Kenntnis zu nehmen, wenn er sich nicht selbst dazu entscheidet“, sagte Horatia verdrossen und blieb stehen. Ob sie wohl einfach quer über den Rasen zu dem Weg gehen konnte, den der Duke und seine Angebetete gerade entlangschritten? Oder würde sie damit nur noch mehr Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, wie aufgebracht sie aus der Kapelle gestürmt war und dass sie ihre Füße nicht einmal in die richtige Richtung hatte lenken können?

„Mir … ist aufgefallen, wie, ähm, fasziniert du von Lord Devizes zu sein scheinst“, fuhr Lady Elizabeth fort, die ebenfalls stehen geblieben war. „Ich wollte nichts sagen, aber …“

„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich ‚zarte Gefühle‘ für ihn hege?“ Horatia starrte sie an. „Oder dass ich mich ihm in diesem Fall so an den Hals werfen würde, wie es diese Paradiesvögel tun?“

„Nein, weder noch“, erwiderte Lady Elizabeth fest. „Genau das ist es ja, weshalb …“ Sie senkte den Blick und zeichnete mit der Spitze ihres Sonnenschirms einen Wirbel in den Kies vor ihr. „Nein, ich will nicht neugierig sein. In meinem Leben gibt es genug Leute, die mir sagen, was falsch und richtig ist, ich weiß also, wie grässlich das ist. Nur …“ Sie hielt inne, als müsste sie ihre Worte mit Bedacht wählen. „Ich mache mir Sorgen. Du kommst mir so …“

Horatia drehte den Kopf weg von ihrer Freundin und blickte stattdessen den Weg entlang, auf dem sie sich befanden. Ein Stück weiter gab es eine Abzweigung nach links, die zurück zum Haus führte, während es geradeaus zu den Gärten weiterging. Damit wäre ihr drängendstes Problem im Augenblick gelöst. Allerdings wusste sie trotzdem nicht, ob sie sich Lady Elizabeth anvertrauen und ihr sagen sollte, warum sie wirklich hergekommen war. Sie bezeichneten einander zwar als Freundinnen, aber sie hatten erst die Gesellschaft der jeweils anderen zu suchen begonnen, nachdem sie sich gegenseitig dabei ertappt hatten, wie sie über eine besonders alberne Bemerkung eines äußerst pompösen Parlamentsabgeordneten bei einer Veranstaltung der „Damengesellschaft für wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn“ die Augen verdreht hatten. Bei der anschließenden Teestunde hatten sie einander kennengelernt und von da an auch bei anderen Treffen, die sie beide besuchten, Ausschau nach der jeweils anderen gehalten. Erst nach Herberts Tod hatte Lady Elizabeth sie auch zu Hause besucht und ihr so viel Trost gespendet, wie sie nur konnte. Doch da Tante Matilda sich weigerte, sich von Horatias Besuchern aus ihrem eigenen Salon „vertreiben“ zu lassen, hatte sie nie eine Gelegenheit gehabt, Lady Elizabeth davon zu erzählen, dass sie mit ziemlicher Sicherheit davon ausging, dass ihr Bruder vorsätzlich ermordet und nicht bei einem Raubüberfall ums Leben gekommen war.

Vielleicht war es nun an der Zeit dafür. Sie schuldete ihrer Freundin jedenfalls eine Erklärung für den Wutausbruch, den sie soeben an den Tag gelegt hatte. Und da sonst niemand diesen Weg zu nehmen schien, konnte sie frei sprechen, ohne Angst, dabei belauscht zu werden.

„Herbert wurde ermordet“, sagte sie und ging weiter.

„Ja, ich weiß“, antwortete Lady Elizabeth und lief neben ihr her. „Und ich weiß auch, wie tief dich das getroffen hat. Genau wie jeden anderen, der ihn gekannt hat. Es ist schrecklich, dass ein Mann nicht einmal sicher nach Hause gehen kann … auch wenn es ein solcher Ort … Ich meine …“

„Du meinst die Spielhölle, die er besucht haben muss“, half Horatia ihrer Freundin. Da war vermutlich etwas dran. Aber Herbert war nicht bei einem Raubüberfall getötet worden. Das wusste sie einfach. „Und ja, er hat sich in einem der ärmeren Stadtteile Londons aufgehalten. Aber das war kein …“ Kein Unfall, hatte sie sagen wollen, brachte es jedoch nicht über die Lippen. Herbert hatte felsenfest darauf bestanden, dass niemand über ihre Verwicklung in seine Arbeit Bescheid wissen durfte. Dass es sie in Gefahr bringen könnte. Wenn sie also Lady Elizabeth davon erzählte … würde es dann auch sie in Gefahr bringen? „Das war kein Grund, sterben zu müssen“, beendete sie ihren Satz etwas lahm. „Oder?“

„Natürlich nicht.“

„Tja, dann“, fuhr sie fort und dachte fieberhaft über ein Argument nach, das sie bedenkenlos äußern konnte. „Meinst du nicht, dass jemand versuchen sollte, herauszufinden, wer ihn getötet hat? Aber das tut niemand! Sie sind gekommen, haben im Salon meiner Tante gestanden und darüber schwadroniert, dass es in den Straßen Londons bei Nacht bedauerlicherweise gewisse Gefahren gebe und dass man dagegen nichts tun könne. Dass Gentlemen, die sich in solche Gegenden wagten, eben mit so etwas rechnen müssten, dass …“ Sie brach ab, als der Abscheu darüber, wie diese Männer mit ihr gesprochen hatten, wieder in ihr hochkochte. Als wäre sie dumm.

„Und du dachtest, dass Lord Devizes … was genau tun könnte?“ Ein Hauch von Verachtung lag in Lady Elizabeths Stimme, als sie seinen Namen aussprach. „Immerhin ist es ja nicht so, dass ein Mann wie er sich auf Verbrecherjagd machen würde, oder?“

Oh, wenn sie wüsste! Dem zufolge, was Herbert ihr erzählt hatte, war Lord Devizes bereits an der Aufklärung mehrerer Komplotte gegen die Regierung beteiligt gewesen und hatte diverse Kriminelle vor Gericht gebracht. Dank seines Ranges und seiner wohlbekannten Neigung zu unschicklichen Zeitvertreiben konnte er sich mit Leichtigkeit sowohl auf den Bällen der vornehmsten Gesellschaft als auch in den zwielichtigsten Spielhöllen aufhalten, ohne aufzufallen. Darüber hinaus betrachtete man ihn in der vornehmen Gesellschaft als, nun ja, genau das, wofür ihn auch Lady Elizabeth hielt. Einen nutzlosen reichen Wüstling. Die ernsthaftere Seite seines Charakters bekamen sie nie zu Gesicht, weil er sie gut versteckte. Aus der amüsierten, trägen Miene, die er im Allgemeinen aufsetzte, konnte niemand herauslesen, was er wirklich dachte. Oder ob er überhaupt sonderlich viel dachte.

Und genauso wollte er es.

Sie warf einen Blick über das Rasendreieck zu dem anderen Weg hinüber, den alle übrigen Gäste des Dukes entlanggingen. Den auch er entlangging, mit einer Dame an jedem Arm. Lächelnd, als hätte er nicht eine einzige Sorge auf der Welt. Obwohl die Verräter, denen Herbert und er auf der Spur gewesen waren – die Verräter, die für Herberts Tod verantwortlich waren –, ganz in der Nähe sein konnten.

Der Angreifer stammte fraglos aus der vornehmen Gesellschaft. Oder er hatte Verbindungen zu jemandem, der Zugang zu Staatsgeheimnissen hatte, wie zum Beispiel der Duke of Theakstone.

Also … war vielleicht das der Grund, warum er den Eindruck erweckte, er würde nicht weiterdenken als bis zu seiner nächsten ach so geistreichen Bemerkung. Er musste sicherstellen, dass niemand ihm zutraute, etwas so Strapaziöses wie die Überführung eines Verräters und Mörders zustande zu bringen.

Was bedeutete, dass auch sie nichts tun durfte, was seine Arbeit gefährdete. Auch nicht, Lady Elizabeth ins Vertrauen ziehen.

„Er war Herberts engster Freund“, sagte sie, löste den Blick von Lord Devizes und heftete ihn auf ihre Füße. „Ich dachte, er würde mir wenigstens zuhören.“

„Aber manche Menschen wollen eben nichts Unangenehmes zu hören bekommen, nicht wahr?“, antwortete Lady Elizabeth bissig, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren. „Sie meiden diejenigen, die in Schwierigkeiten stecken, lieber ganz, als über Dinge zu sprechen, die ihnen zu schaffen machen könnten.“

Horatia zuckte leicht zusammen bei dieser Erinnerung daran, dass nicht nur sie eine sehr schwere Zeit durchmachte. Wahrscheinlich waren es Lady Elizabeths eigene Probleme, die sie dazu befähigten, solches Mitgefühl mit Horatia und ihrem Verlust zu zeigen. „Ja, du weißt selbst, wie … unfreundlich die Menschen sein können, nicht wahr? Menschen, die du für deine Freunde gehalten hast.“

„Ja. Aber man weiß eben nie, wer seine wahren Freunde sind, bis es schwierig wird, richtig? Vor Papas Tod war ich die Zierde jeder Feier. Man hat mich überall eingeladen. Und dann … puff! Sind sie einfach alle verschwunden, wie … wie … tja …“ Bitter lachte sie auf. „Genau wie unser Vermögen. Nur sehr wenige haben mich danach noch genauso behandelt wie vor dieser … Schmach. Was auch der Grund dafür ist …“ Sie hakte sich bei Horatia unter und drückte ihren Arm. „Na ja, ich glaube, ich muss dir nicht erst sagen, dass ich dich als eine meiner engsten Freundinnen betrachte. Ganz gleich, was Mama sagt.“

„Und ich betrachte dich als eine meiner engsten Freundinnen“, antwortete Horatia und schluckte einen Kloß des Schuldbewusstseins hinunter. Denn obwohl sie einander gerade ihrer Freundschaft versicherten, verschwieg sie Lady Elizabeth doch so vieles. Nicht nur über Herberts Arbeit und die Umstände seines Todes. Es sagte sich leicht, dass sie Lady Elizabeth nur einfach nicht in Gefahr bringen wollte, doch es steckte mehr dahinter als das. Sie wusste nicht, ob sie ihrer Freundin wirklich vertrauen konnte.

„Ich war so wütend auf Lord Devizes und auf Mama“, erzählte Lady Elizabeth ein wenig zerknirscht. „Weil sie so über dich geredet haben. Da habe ich selbst etwas die Beherrschung verloren, nachdem du weg warst.“

„Ich wünschte, ich hätte das schwierige Verhältnis zwischen dir und deiner Mutter nicht auch noch weiter belastet.“ Horatias schlechtes Gewissen wurde immer größer. „Besonders weil das, was sie über mich sagt, ja nur die Wahrheit ist. Ich bin nicht adlig. Also bin ich im Grunde auch kein angemessener Umgang für dich, nicht wenn du tun willst, was schicklich ist.“

„Aber das will ich nicht. Tun, was schicklich ist, meine ich. Gerade du müsstest das doch wissen.“

„Ja. Ich muss zugeben, dass ich diesen Teil der Trauerzeit tatsächlich genießen kann. Es ist so eine Erleichterung, nicht mehr darüber nachgrübeln zu müssen, welche Farben zu welchen Anlässen passen. Wenn man ohnehin nur Schwarz trägt, muss man sich morgens fast keine Gedanken mehr darüber machen, was man anziehen soll. Das gilt natürlich auch für den Rest des Tages.“

„Nein.“ Lady Elizabeth schlug sich eine Hand vor den Mund. „Ich wollte damit nicht andeuten, dass du unmodisch bist …“

„Aber es stimmt doch. Ich habe noch nie begriffen, warum in der Natur braune Baumstämme“ – sie deutete auf ein Wäldchen auf einem Hügel – „und grünes Gras mit bunten Blumentupfen vorkommen können“ – sie zeigte auf die üppige Blumenpracht, die sich aus den Töpfen auf den Stufen ergoss, die zur Terrasse des Herrenhauses hinaufführten –, „und das alles überspannt von einem blauen Himmel. Das sieht hübsch aus. Aber wenn ich dieselben Farbtöne und Muster zusammenstelle und anziehe …“ Sie zuckte mit den Schultern und schnitt eine Grimasse.

„Sobald deine Trauerzeit vorbei ist, gehe ich mit dir einkaufen. Ich bin sicher …“

„Nein, bitte mach dir keine Mühe. Herbert hat auch versucht, meine Kleiderwahl zu überwachen, nachdem ich in die Gesellschaft eingeführt wurde. Er war immer so elegant, weißt du, und er war davon überzeugt, dass er auch mich hübsch herausputzen könnte.“ Das war vermutlich einer der Gründe, warum der Marquess und er sich von Anfang an so gut verstanden hatten. Sie waren beide schöne, modische junge Männer mit einem Hang zum Unfug gewesen.

„Warum hat es nicht funktioniert?“

„Tja, weißt du, er hat mir dieses Angebot bei einem Theaterbesuch gemacht, kurz nachdem einer seiner modischen Freunde mir arrogant die kalte Schulter gezeigt hat, weil … na ja, weil ich vielleicht ein bisschen unfreundlich zu ihm war. Aber er war so ein Trottel. Wie auch immer, zufällig war gerade eine dieser Artistinnen auf der Bühne, die ihre Beine hinter dem Kopf verknoten können, und ich hatte das Gefühl, dass er mich dazu drängen will, wie sie zu werden. Dass ich mich verbiegen sollte, um den Erwartungen der Gesellschaft zu entsprechen,“

„Das kann ich nur allzu gut verstehen“, meinte Lady Elizabeth nachdrücklich. „Sie erwarten einfach, dass man sich zu etwas macht, das man nicht ist, um ihre Anerkennung zu gewinnen.“

„Das gilt besonders für Männer, die nach einer Braut Ausschau halten. Keiner von ihnen möchte wissen, wie du wirklich bist. Sie wollen, dass man zu dem wird, was sie sich vorstellen. Wenn man eine Meinung äußert, die ihrer eigenen widerspricht, dann nennen sie dich einen Blaustrumpf. Wenn man es dann auch noch tatsächlich wagt, ihnen klarzumachen, dass ihre eigene Meinung auf einem Irrtum beruht, dann bist du ein Drache.“

„Oder eine zänkische Ziege.“ Lady Elizabeth schürzte die Lippen. „Mein gesellschaftlicher Stand ist der einzige Grund, aus dem man mich überhaupt noch einlädt.“

„Wenigstens muss ich nicht mehr irgendwo hingehen, wohin ich nicht möchte“, schloss Horatia zufrieden. „Nicht mehr, seit Tante Matilda es aufgegeben hat, mich respektabel verheiraten zu wollen.“ Die Entscheidung, dass sie sich nicht mehr verbiegen würde, um irgendwo dazu zu passen, war der erste Schritt auf einem Weg gewesen, der ihr eine gewisse Freiheit ermöglichte. „Heute besuche ich nur noch Veranstaltungen, bei denen ich mit ziemlicher Sicherheit auf Gleichgesinnte treffe.“

„Abgesehen von dieser Hochzeit“, warf Lady Elizabeth ein. „Eigentlich war ich der Meinung, dass du nur mir zuliebe zugestimmt hast, mich zu begleiten, weil du ja weißt, wie schwierig es hier für mich sein wird. Stattdessen …“

„Ähm, ja. Ich muss zugeben, dass das nicht mein einziger Grund war …“

Sie hatten die Weggabelung erreicht, von der aus sie direkt zum Haus zurückkehren konnten. Als sie abbogen, ließ Horatia den Blick über den Rasen zu der kunstvoll gestalteten Fassade des Anwesens schweifen. Sie fragte sich, warum die Ahnen des Dukes diesen Herrschaftssitz nicht „Theakstone Palace“ genannt hatten. Der Größe und der Pracht nach wäre dieser Name durchaus angemessen gewesen.

„Wenigstens können wir uns so eine Zimmerflucht teilen, und ich bin nicht mehr der Gnade meiner Mutter ausgeliefert. Als wir das letzte Mal hier waren, wurden uns Räumlichkeiten im Hauptteil des Hauses zugewiesen, wie du sicher weißt.“ Lady Elizabeth deutete auf den Mittelteil des Gebäudes, der das Ausmaß einer Kathedrale hatte. „Jetzt bin ich in einem der Gästeflügel untergebracht“, fügte sie mit angewiderter Miene hinzu.

Horatia kaute ein, zwei Momente auf ihrer Unterlippe herum. Die Zimmerflucht, die sie mit Lady Elizabeth teilte, kam ihr im Vergleich zu dem, was sie gewohnt war, durchaus großzügig vor. Offenbar bestand der einzige Vorzug der Räumlichkeiten für Lady Elizabeth jedoch darin, dass sie ihr ein gewisses Maß an Schutz vor ihrer Mutter boten.

„Bringt dich das wirklich so auf?“, fragte Horatia zögerlich.

„Dass sich der Duke für eine andere entschieden hat, meinst du?“

Das hatte sie eigentlich nicht gemeint, aber statt zu widersprechen, versuchte sie es mit einem anderen Ansatz. „Ich weiß, dass es einige deiner Probleme gelöst hätte …“

„Diesen Mann zu heiraten?“ Lady Elizabeth warf den Kopf in den Nacken. „Ich hätte es aus Pflichtgefühl meiner Familie gegenüber getan. Er mag zwar reich sein, aber er ist so …“ Sie schauderte. „Wenn man es nicht mit Sicherheit wüsste, würde man niemals glauben, dass er mit dem Marquess of Devizes verwandt ist. Der eine so dunkel und teuflisch und der andere so hell und charmant …“

„Tja, nur können auch teuflische Wesen hell und charmant sein, jedenfalls der Bibel nach.“ Diesen Kommentar konnte sich Horatia nicht verkneifen. „Man nennt sie Engel. Sie haben es darauf abgesehen, die Menschen mit ihrem Charme in die Irre zu führen, oder nicht? Beim Duke weiß man wenigstens, woran man ist.“

„Stimmt“, gab Lady Elizabeth säuerlich zurück, während sie die ersten Stufen zur Terrasse erklommen, die über die gesamte Länge des Hauses verlief. „Man weiß genau, wann man nicht mehr in den Hauptteil dieses Palastes gehört.“

„Das ist doch etwas Gutes. Weil du dir doch jetzt keine Zimmer mehr mit deiner Mutter teilen musst.“

Touché!“, rief Lady Elizabeth belustigt. „Gut, dass du mich daran erinnerst, wie dankbar ich dafür sein sollte, dass ihr eigenes Befinden ihr wichtiger ist als der Wunsch, auf mich aufzupassen.“

„Wie bitte? Aber sie …“

„Wenn du glaubst, dass sie auf mich aufpasst, nur weil sie sich sofort auf mich stürzt, sobald ich auch nur einen Zeh aus unseren Räumlichkeiten strecke, dann irrst du dich. Du hast ja keine Ahnung. Oh. Es tut mir leid.“ Lady Elizabeth wirkte zutiefst zerknirscht. „Natürlich hast du keine Ahnung …“

„Elizabeth, ich kann mich an meine eigene Mutter kaum noch erinnern, wenn du dich also gerade dafür entschuldigen möchtest, taktlos gewesen zu sein, weil ich eine Waise bin, dann, bitte, tu es nicht.“

„Wenn du mir mit meiner Mutter zusiehst, sehnst du dich ganz bestimmt nicht danach, selbst eine Mutter zu haben, nicht wahr? Gott, ich wünschte, ich wäre …“ Sie verstummte. „Es ist nur …“, fuhr sie fort und senkte die Stimme, weil sie sich der Menschentraube näherten, die vor der Terassentür darauf wartete, das Haus betreten zu können. „Wenn ich eine Waise ohne Titel wäre, dann würde es niemanden kümmern, wenn ich mich in einen Mann verliebe, der außer seiner Klugheit nichts vorzuweisen hat. Niemand kann dich davon abhalten, deinem Herzen zu folgen.“

Etwas in Horatia schmerzte, als ihre Freundin davon sprach, sie könne einfach ihrem Herzen folgen. „Dabei vergisst du allerdings, dass sich selbst kluge Männer davon leiten lassen, was sie sehen. Sie verlieben sich nicht in ein ungeschicktes Mauerblümchen ohne jeden Sinn für Mode.“ Was bedeutete, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, auf so etwas zu hoffen. „Sie verlieben sich in hübsche, geistreiche blonde Mädchen“, beendete sie ihren Satz und warf ihrer Freundin einen vielsagenden Blick zu.

„Trotzdem nützt es nichts.“ Elizabeth seufzte und blieb ein Stück entfernt von den anderen Kirchengängern stehen. „Theakstone hat angeordnet, dass Mr. Brown nach Leipzig geht. Das mag für seine Karriere zwar von großem Vorteil sein, aber genauso gut hätte man ihn auf den Mond schicken können. Wir werden einander nie wiedersehen, und …“ Ihr Satz endete in einem Hicksen, das verdächtig nach einem unterdrückten Schluchzen klang. „Mama wird ihren Willen wohl bekommen. Ich werde irgendeinen Mann mit so viel Geld und einem so hohen Rang heiraten müssen, dass es die Schande, die Papa über unsere Familie gebracht hat, wieder ausmerzt.“

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