Dem siebten Himmel so nah

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Tausend Pläne hat Serena, was ihre Zukunft angeht. Da würde eine feste Bindung nur stören! Aber das heißt nicht, dass sie nicht mal flirten kann. Zum Beispiel mit diesem gut aussehenden Piloten Pete Bennett, der ihr auf einer griechischen Insel über den Weg läuft. Vielleicht ist Pete sogar ein bisschen zu perfekt für eine Sommerromanze: Mit ihm fühlt Serena sich dem Himmel der Liebe so nah wie nie. Doch Pete scheint auch nicht mehr als eine kurze Affäre zu wollen. Bis er ihr plötzlich einen Heiratsantrag macht! Andere Frauen wären überglücklich, doch- Serena ist entsetzt …...


  • Erscheinungstag 26.03.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733755836
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Viele Menschen würden sonst was dafür geben, den ganzen Tag auf einer kleinen griechischen Insel am Strand zu sitzen und auf das blaue Meer zu schauen. Aber Serena Comino tat seit fünf Monaten nichts anderes, und deshalb hatte diese Art von Freizeitgestaltung für sie absolut keinen Reiz mehr. So fantastisch der Blick auf das blaue Meer auch war, es sah immer gleich aus.

Den lieben langen Tag saß sie unter ihrem blau-weiß gestreiften Sonnenschirm neben dem Vespa-Schuppen und wartete auf Touristen. Zwar wechselten die Gesichter der Touristen mit jeder ankommenden Fähre, das war aber auch die einzige Abwechslung. Ansonsten wollten alle dasselbe: schwimmen, am Strand liegen, essen gehen, eine Vespa mieten …

Fünf Monate. Noch ein Monat, dann würde sie wieder zurück nach Australien gehen, wo der griechisch-australische Zweig ihrer Familie zu Hause war. Aber sie würde nicht wirklich zu ihrer Familie zurückkehren.

Serena lehnte sich in ihrem Segeltuchstuhl weit zurück. Die Augen von der Sonnenbrille geschützt, blickte sie in den strahlend blauen Himmel.

Irgendwie sah der plötzlich interessanter aus – zogen da etwa Wolken auf, oder war es ein Vogel oder ein Flugzeug, das die Sonne verdunkelte?

Gehörte der Schatten vielleicht Superman?

„Wie kann man nur auf so eine blöde Idee kommen?“, murmelte sie.

„Redest du mit dir selbst?“, kam von hinten eine amüsierte Stimme.

Sie drehte sich halb um und sah Nico hinter sich, der offenbar gerade den Ziegenpfad heruntergekommen war. Der Pfad schlängelte sich vom Dorfrand ausgehend den Hügel hinauf, am weiß getünchten Haus ihrer Großeltern vorbei, bis zu der Straße oberhalb.

Nico war ihr Cousin väterlicherseits, gehörte also zum griechischen Zweig ihrer Familie. Aber solche Details waren hier unwichtig. Sie gehörten zur selben Familie, und nur das zählte. Und deshalb waren sie und Nico jetzt an der Reihe, sich um ihre über achtzigjährigen Großeltern zu kümmern. Nicht, dass ihre Großeltern besonders pflegebedürftig gewesen wären, sie erfreuten sich im Gegenteil erstaunlich guter Gesundheit. In Wahrheit ging es darum, dass sie und Nico sich um die diversen kleinen Unternehmen von Pappou kümmern sollten, nur weil dieser absolut nicht aufgeben wollte.

Nicos Arbeitstag begann morgens um vier Uhr, wenn er mit dem Fischerboot hinausfuhr, und endete um die Mittagszeit. Serena arbeitete zwischen neun und fünf. Das war ihr auf jeden Fall lieber, als morgens so früh aufzustehen. „Haben wir schon Mittag?“

„Wenn du eine Uhr tragen würdest, wüsstest du das.“

„Bloß das nicht! Damals, als ich noch viel auf Reisen war und eine richtige Aufgabe hatte, brauchte ich eine Uhr. Jetzt würde es mich nur deprimieren. Was gibt‘s denn zum Mittagessen?“

„Griechischen Salat, Calamares und Gigias Pistazienbaklava.“

Es hatte auch seine Vorteile, auf einer griechischen Insel zu leben. Serena drehte sich ganz herum, weil sie sich wunderte, wieso Nico sich nicht wie üblich neben sie setzte.

Aha, er war nicht allein. Neben ihm stand ein attraktiver dunkelhaariger Mann. Sein Lächeln würde garantiert alle Frauen dahinschmelzen lassen.

Serena musterte ihn lange und eingehend. Nein, das war nicht Superman. Superman hatte ein eckiges Kinn, war tipptopp gepflegt und strotzte vor Vitalität. Dieser Mann sah eher aus wie Superman nach einem Abenteuertrip. „Fliegen Sie?“, fragte sie ihn.

„Ja.“

„Dachte ich mir. Frauen spüren so etwas.“

„Was meint sie denn damit?“, wollte der Mann von Nico wissen. Seine Stimme klang tief, gedehnt und leicht belustigt. Sehr australisch.

„Ist das so wichtig?“ Serena schenkte ihm ein Lächeln, von dem sie wusste, dass es Männer schwach machen konnte.

Daraufhin setzte der Mann seine Fliegerbrille ab. Seine Augen waren so blau wie der Himmel über ihr. Beeindruckend.

„Serena, das ist Pete Bennett. Pete, meine Cousine Serena. Sie hat ein gutes Herz, aber der Rest von ihr ist die reine Sünde. Sehr zum Leidwesen der Familie.“

„Hallo, Serena.“ Pete Bennett lächelte breit, und seine Augen blitzten amüsiert.

Ein Frauenkenner, stellte Serena fest. Der wusste garantiert, wie man mit Frauen umging. Ein großer Vorteil.

„Eine interessante Kombination“, sagte er.

Serena lachte. „Ja, das höre ich öfter.“

Seufzend schob Nico ihr die Lunchbox zu. Aber als er merkte, dass sie völlig von dem attraktiven Pete Bennett abgelenkt war, stellte er sich zwischen die beiden.

„Danke.“ Serena griff nach der Box.

„Bitte.“ Nicos ganze Haltung signalisierte ihr, dass sie sich vor einem Flirt mit gut aussehenden fremden Männern in Acht nehmen sollte, selbst vor einem, den er ihr gerade vorgestellt hatte.

Nico war Grieche und entsprechend besorgt um den Ruf der unverheirateten Frauen in seiner Familie.

Serena hingegen war in Melbourne geboren und aufgewachsen, und die überfürsorgliche Art ihres Cousins nervte sie ziemlich, auch wenn sie versuchte, das Ganze mit Humor zu nehmen. „So.“ Sie stellte die Lunchbox beiseite und stand auf. Da der Mann anscheinend nicht zu ihrer Unterhaltung hergekommen war, wollte er wohl einen Motorroller ausleihen. Andererseits sah er eher wie jemand aus, der etwas Schnelleres bevorzugte. „Falls Sie eine Vespa mieten wollen, die zweitschnellste Maschine auf der Insel ist gerade frei.“

„Und was ist mit der schnellsten?“

„Die gehört mir.“

„Er ist nicht wegen einer Vespa hier“, wandte Nico ein.

„Was will er dann?“

Diesmal antwortete Pete Bennett selbst. „Ich suche ein Zimmer.“

„Tomas‘ Zimmer“, fügte Nico hinzu.

Tomas war der mittlerweile in die Jahre gekommene Pilot des Charterhubschraubers, der die Touristen von Insel zu Insel flog. Normalerweise wohnte er in dem kleinen Anbau neben dem Haus ihrer Großeltern, wenn seine Kunden über Nacht auf der Insel bleiben wollten. „Tomas ist doch erst heute Morgen angekommen, und bis jetzt habe ich ihn nicht wegfliegen sehen“, gab sie zurück. Das wusste sie genau, denn schließlich starrte sie ständig in den Himmel. „Kann sein, dass er hier übernachten will.“

„Tomas liegt mit einem doppelten Beinbruch im Krankenhaus“, sagte Pete. „Ich vertrete ihn für eine Weile.“

„Oh.“ Serena lächelte. „Sie können ja wirklich fliegen. Zum Beispiel in fünfundvierzig Minuten nach Athen und in fünf Stunden nach Rom. Ich bin beeindruckt. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“

„Habe ich doch.“ Er wandte sich an Nico. „Wie lange ist sie denn schon hier?“

„Zu lange.“ Nico betrachtete seine Cousine mit zusammengekniffenen Augen. „Und sie bleibt nicht immer im Schatten.“

Um Pete Bennetts Mundwinkel zuckte es, und Serena sah die beiden Männer mit schmalen Augen an. „Hier ist ungefähr so viel Schatten, wie auf eine Briefmarke passt, und die ganze Insel ist so groß wie ein Briefumschlag. Sitz du mal fünf Monate hier herum, dann reden wir weiter.“

„Ich habe dir doch angeboten, hin und wieder zu tauschen“, erwiderte Nico. „Ab und zu ein Tag auf dem Boot, und ich würde mich dann hierher setzen, aber nein …“ Er schüttelte seufzend den Kopf. „Es ist nicht zu glauben, die Tochter von einem der größten Fischhändler von Melbourne mag keinen Fisch.“

„Essen Sie überhaupt keinen Fisch?“, fragte Pete Bennett.

„Doch, aber ich will keinen fangen und auch keinen zubereiten. Entschuppen, Innereien ausnehmen, entgräten, all das. Gegen das Essen habe ich nichts. Im Gegenteil, ich esse hier ganz viel Fisch. Aber zurück zum Geschäft. Sie wollen also dieselben Konditionen wie Tomas?“

„Ja, so haben wir uns das gedacht. Das heißt, wenn es auch für Sie in Ordnung ist. Nico wollte zuerst Sie fragen.“

„Ich habe nichts dagegen.“ Serena warf ihrem Cousin einen schrägen Blick zu. „Du hättest gar nicht zu fragen brauchen.“

„Na ja, immerhin ist er jünger als Tomas“, sagte Nico achselzuckend.

Wohl wahr.

„Und Single“, fügte Nico hinzu. „Da gibt es für die Leute viel zu tratschen. Wo unsere Großeltern nicht da sind und ich morgens immer früh los muss.“

So war das nun mal auf einer kleinen griechischen Insel. Serena ging das Getratsche der Leute zunehmend auf die Nerven. Seit sie hier war, hatte sie alles vermieden, was Aufsehen erregen konnte, und trotzdem wurde jeder Schritt von ihr argwöhnisch beobachtet. Gerade so, als würde sie jeden Moment anfangen, Amok zu laufen. „Sollen sie doch.“ Prüfend musterte sie Pete Bennett. „Allerdings mit einer Einschränkung, damit meine Tugend …“, sie sagte das in spöttischem Tonfall, „… nicht in Gefahr gerät. Normalerweise mache ich für Tomas das Bett, aber Sie sind jung genug und können das sicher selbst erledigen.“

„Wie grausam.“ Kopfschüttelnd wandte Pete Bennett sich an Nico. „Hast du nicht gesagt, sie wäre ein gutmütiger Mensch?“

„Das war eine Lüge“, murmelte Nico. „Frauen sind nie gutmütig, sondern grausam und unbarmherzig. So unbarmherzig wie das Meer und unglaublich nachtragend. Sie sind alle wie die Sirenen, die unschuldige Männer ins Verderben locken.“

Was waren das für ungewohnte Töne von Nico? Normalerweise fand er, dass man Frauen hofieren und beschützen musste. Sein Ruf als Herzensbrecher war unumstritten.

Nachdenklich betrachtete Serena ihren Cousin. Eigentlich sah er so aus wie immer. Freundliche braune Augen, ein markantes Gesicht und ein sehniger Körper. Aber die Traurigkeit in seinem Blick ging irgendwie tiefer als gewöhnlich. „Du hast dich wieder mit Chloe gestritten“, stellte sie fest. Chloe war die Besitzerin des größten Hotels auf der Insel und brachte Nicos ansonsten geruhsames Leben gehörig durcheinander.

„Habe ich auch nur die leiseste Andeutung gemacht, die auf einen Streit hinweisen könnte?“, fragte Nico Pete.

„Nein, hast du nicht.“ Pete schüttelte den Kopf.

„Hm, worüber habt ihr denn dann nicht gestritten?“, fragte Serena ironisch.

„Ach, das Übliche“, knurrte Nico.

Sie hatten sich also wieder mal wegen Chloes Neffen Sam gestritten. Da schien es keine Einigung zu geben. „War es schlimm?“

Nico wandte sich ab und blickte aufs Meer. „Es kommt Wind auf. Wahrscheinlich fahre ich heute Nachmittag mal mit meinem Katamaran raus. Du brauchst nicht mit dem Abendessen auf mich zu warten.“

Schade. „Ich hebe dir etwas auf“, versprach Serena. „Aber iss es auch, wenn du zurückkommst.“

Nico sah sie an, und jetzt war wieder ein Lächeln in seinen Augen. „Morgen bringe ich dir einen neuen Sonnenschirm. Einen größeren.“

„Und was machen wir mit Pete, dem Flieger? Soll ich für ihn kochen oder ihn ins Dorf runterschicken?“ Tomas aß meistens mit ihnen. Aber Pete könnte ja andere Pläne haben.

„Ich vertraue ihm.“ Nico sah Pete warnend an. „Ein ehrenwerter Mann wird meine Gastfreundschaft nicht missbrauchen.“

„Sind Sie ein ehrenwerter Mann, Pete?“, fragte Serena.

„Wenn ich will“, gab er lächelnd zurück.

„Ich werde mich auf jeden Fall gesittet anziehen.“ Ob ehrenwert oder nicht, sie freute sich auf seine Gesellschaft am Abend.

„Das weiß ich zu schätzen.“

„Wir essen um sieben“, sagte sie knapp, denn gerade bog ein junges Paar um die Ecke, das aussah, als wolle es eine Vespa mieten. „Die Küchen liegt direkt gegenüber Ihrer Tür, auf der anderen Seite vom Hof. Wir essen draußen hinter dem Haus.“ Sie lächelte ihn an und wandte sich dann den Touristen zu. Zuerst versuchte sie immer zu erraten, wo sie herkamen. Den topaktuellen Qualitätssandalen und Luxusrucksäcken nach zu urteilen, war für sie die Sache klar. „Deutsche“, murmelte sie.

„Holländer“, korrigierte Superman noch leiser.

Na, mal sehen. „Yassou, Guten Tag, goede middag“, sagte sie fröhlich.

„Goede middag“, erwiderten die beiden mit einem breiten Zahnpastalächeln.

Der Abenteurer und Weltenbummler Pete Bennett richtete sich in seinem vorübergehenden Domizil häuslich ein, das heißt, er packte die wenigen Sachen aus, die er mithatte.

Im Moment hatte er kein festes Zuhause, auch wenn er Australien nach wie vor als seine Heimat betrachtete. Dort war er geboren und aufgewachsen und hatte seine Erfahrungen gemacht, gute und schlechte. Und nun wollte er ganz einfach neue Möglichkeiten für sich entdecken.

Unter einer tröpfelnden lauwarmen Dusche wusch Pete sich den Schmutz des Tages ab und zog eine leichte Khakihose und ein weißes T-Shirt an. Mehr hatte er auch gar nicht zum Wechseln dabei. Dann sah er auf die Uhr. Noch nicht ganz sieben. Er nahm sein feuchtes Handtuch und hängte es draußen über ein Seil, das als Wäscheleine diente.

Auf der angrenzenden Rasenfläche bewegte sich etwas, und dann entdeckte er einen kleinen Jungen mit schwarzem Haar, großen Augen und einem schmalen, spitzen Gesicht am Rand des Gartens. Es war derselbe Junge, den er heute Morgen mit Nico unten bei den Fischerbooten gesehen hatte, bevor besagte Chloe ihn mit wütend funkelnden Augen abholte. „Nico ist nicht da“, erklärte er dem Jungen.

„Das macht nichts“, erwiderte dieser achselzuckend und steckte die Hände in die tiefen Taschen seiner ausgeleierten Shorts. „Ich habe dich gesucht.“

Während Pete sein Handtuch festklammerte, überlegte er, was der Junge wohl von ihm wollte. „Und jetzt hast du mich ja gefunden.“

„Du hast doch mitgekriegt, was heute Morgen los war“, begann der Junge nach einer Verlegenheitspause. „Ich wollte dich fragen … vielleicht kannst du ja mal mit meiner Tante reden.“ Das Wort Tante stieß er mit Abscheu hervor. „Du weißt schon …“, fuhr der Kleine fort, als Pete nichts erwiderte, „… Chloe. Die stellt sich furchtbar an, nur weil ich auf einem Fischerboot arbeiten will. Sie soll lieber froh sein, dass ich mir ein bisschen Geld verdienen will.“

„Wie alt bist du denn?“

„Elf.“

Er war klein für sein Alter. Aber seine Augen wirkten älter. Pete dachte daran, wie wütend Chloe heute Morgen gewesen war, als sie den Jungen dabei erwischte, wie er Nico half.

Nico hatte sich ihre Tiraden mit stoischer Ruhe angehört und dabei dem Jungen, der ihn die ganze Zeit vertrauensvoll ansah, mit einem Blick zu verstehen gegeben, dass er Tante Chloe schon weich kriegen würde.

„Und wie kommst du darauf, dass deine Tante ausgerechnet auf mich hören würde? Sie kennt mich doch überhaupt nicht.“ Wieso kümmerte sich eigentlich die Tante um den Jungen und nicht seine Eltern?

Der Junge zuckte die Achseln. „Du kannst es ja mal versuchen.“

„Warum fragst du nicht Nico? Der kennt euch doch viel besser.“ Und außerdem wusste er, worum es bei dem Ganzen ging. „Ich nehme an, du willst gern auf Nicos Boot arbeiten, habe ich recht?“

„Auf Nico hört sie nicht. Mit dem streitet sie sich nur.“

Ja, das hatte Pete auch schon bemerkt.

„Aber du … mit dir hat sie noch keinen Krach. Dir hört sie garantiert zu, weil sie nicht wütend auf dich ist.“

Pete rieb sich den Nacken und blickte zum Himmel, als könne von dort eine Antwort kommen. Der Junge erinnerte ihn lebhaft an seinen jüngeren Bruder, der im selben Alter gewesen war, als ihre Mutter starb. Sein Bruder war genauso widerspenstig und gleichzeitig verletzlich gewesen. Plötzlich fühlte Pete sich schmerzlich an seine Vergangenheit erinnert. „So wie ich die Sache sehe, musst du noch ein paar Jährchen die Schulbank drücken, bevor du über dich selbst bestimmen kannst. Ich nehme doch an, dass dir das klar ist.“

Der Junge blickte trotzig zu Boden.

„Aber für deine Freizeit kannst du sicher mit deiner Tante eine Lösung aushandeln, oder nicht?“

Achselzucken.

„Versprich ihr einfach, dass du nächste Woche brav zur Schule gehst – ohne in der Pause heimlich abzuhauen und zu den Booten zu gehen – wenn sie dir erlaubt, Nico am Wochenende zu helfen. Aber sag deiner Tante auch, dass du ihn erst noch fragen musst, sonst denkt sie, ihr beiden hättet das schon ausgehandelt, und Nico kriegt wieder Ärger.“

„Okay.“

„Falls deine Tante dir nicht glaubt und meint, dass es Nicos Idee gewesen ist, darfst du dich nicht irritieren lassen. Sag ihr, sie soll Nico selbst fragen. Der wird sich dann schon verteidigen.“

Mit diesen Ratschlägen, fand Pete, hatte er genug getan. Er hatte keine Lust, sich noch mehr in die Sache verwickeln zu lassen.

Einen Moment stand der Junge zögernd da, dann murmelte er ein verlegenes Danke.

„Gern geschehen.“

Pete sah ihm hinterher, wie er mit großen Schritten den Abhang hinunterlief. „Hey, Kleiner …“ Der Junge kam rutschend zum Stehen und blickte mit einem so verletzlichen Gesichtsausdruck zu ihm zurück, dass Petes Herz sich zusammenzog. „Ich bleibe für ein paar Wochen hier. Erzähl mir mal, wie‘s gelaufen ist.“

Der Junge nickte kurz und verschwand hinter der nächsten Biegung.

Pete wollte gerade wieder zurück in seine kleine Wohnung gehen, als er einen Blick in seinem Rücken spürte. Er drehte sich um und sah Serena in der Küche stehen, halb verdeckt von dem Schnurvorhang. „Warum sind Sie nicht rausgekommen? Sie hätten uns Gesellschaft leisten können.“

„Um Sie bei Ihren guten Ratschlägen zu stören? Nein, nein.“ Lächelnd erschien sie in der Tür, und bei ihrem Anblick musste Pete schlucken.

Er kannte viele Frauen, schöne, fröhliche, intelligente, aber nicht eine von ihnen konnte der jungen Frau, die jetzt vor ihm stand, auch nur annähernd das Wasser reichen. Vom Kopf mit den langen dunklen Locken bis zu den nackten Füßen erschien sie ihm wie der Inbegriff von Sinnlichkeit. Sie trug einen weißen Rüschenrock und ein ärmelloses hellrosa Top, das ihre gebräunte Haut zauberhaft zur Geltung brachte, und ihre dunklen Augen leuchteten.

Mit anmutigen Schritten schlenderte sie zu dem Wasserhahn im Garten und füllte den darunter stehenden Eimer mit Wasser. Dabei warf sie ihm einen Seitenblick zu. „Er heißt Sam.“

„Hat er keine Eltern?“

„Auf seiner Geburtsurkunde steht ‚Vater unbekannt‘, und seine Mutter ist vor einem Jahr in Athen an Gelbsucht gestorben. Anscheinend war Sam der Einzige, der sich um sie gekümmert hat.“

Das ist hart für einen kleinen Jungen, dachte Pete. „Ist diese Chloe, die heute Morgen am Bootshafen war, seine richtige Tante?“

„Ja.“

„Und wo war sie dann, als ihre Schwester krank wurde?“

„Das hört sich ziemlich vorwurfsvoll an.“

„Mag sein, aber genau so empfinde ich es.“

„Ich mag Männer, die über ihre Gefühle reden können.“

„Bleiben wir beim Thema.“

Serena drehte den Wasserhahn zu und trug den Eimer zu den großen Kräuterkübeln neben der Küchentür. „Chloe war hier auf der Insel und hat sich um ihr Hotel gekümmert. Sie hatte seit anderthalb Jahren nichts von ihrer Schwester gehört.“

„Enge Familienbande.“

„Das klingt schon wieder abwertend.“

„Mhm.“

„Aber ich mag Ihre Offenheit.“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Wo war ich stehen geblieben?“

„Bei Tante Chloe.“

„Ja, richtig. Chloe hat mir erzählt, dass ihre Schwester mit sechzehn nach Athen abgehauen ist. Sie war im dritten Monat schwanger und hatte sich völlig mit ihren Eltern zerstritten. Chloe war damals dreizehn. Sie hat alles versucht, um Frieden zwischen ihren Eltern und ihrer Schwester zu stiften, aber ohne Erfolg. Ihre Eltern ließen sich nicht zur Einsicht bewegen, und ihre Schwester war zu stolz, um nachzugeben. Sie wollte Chloes Mitgefühl nicht und auch nicht ihre Ersparnisse, die sie nach Athen schickte.“

„Und wie kam der Junge dann hierher?“

„Chloes Schwester hatte sie als nächste Verwandte angegeben.“ Serena zuckte mit den Achseln. „Chloe liebt Sam, aber sie wird nicht mit ihm fertig. Sam hat in seinem kurzen Leben so viele bittere Erfahrungen gemacht, dass er jede Menge Trotz und Wut in sich aufgestaut hat. Weil er als kleines Kind schon viel Verantwortung übernehmen musste, lässt er sich jetzt natürlich nichts sagen. Und Chloe ist überfürsorglich. Sie will alles richtig machen, und so geraten die beiden ständig aneinander.

„Und was hat Nico damit zu tun?“

Während sie an jede Kräuterpflanze einen Schwall Wasser kippte, antwortete Serena lachend: „Der sitzt zwischen allen Stühlen. Er mag den Jungen und will ihm helfen, aber er ist auch wahnsinnig in Chloe verliebt.“

Pete schüttelte sich. „Kein Wunder, dass er zum Segeln rausgefahren ist.“

„Sie unterschätzen meinen Cousin. Ich wette, Nico bekommt die beiden in den Griff, noch bevor der Sommer zu Ende ist.“

„Eine schöne Vorstellung.“ Während er das sagte, betrachtete er sie bewundernd. „Sagen Sie mal“, begann er mit gedehnter Stimme. „Was hätten Sie eigentlich angezogen, wenn es heute Abend nicht gesittet zugehen würde?“

„Zuallererst hätte ich Lippenstift benutzt.“

Den hatte sie nun wirklich nicht nötig.

„Und wahrscheinlich ein Kleid.“

„Mit dünnen Trägern?“

„Vielleicht.“

„Kurz?“

„Nein, schon etwas seriöser. Knielang. Ein Kleid für das erste Date.“

„Welche Farbe?“

„Für Sie? Blau. Damit Sie, wenn Sie mich ansehen, an etwas denken, was Sie mögen. Den Himmel.“

„Sie sind eine bemerkenswerte Frau.“

„Ja, das bin ich.“ Sie lächelte schelmisch. „Und jetzt Sie. Wenn das kein gesittetes Abendessen wäre, wo hätten Sie mich hingeführt?“

Da musste er nicht lange überlegen. „Zum Trevi-Brunnen in Rom. Ich würde Ihnen ein Eis spendieren und Ihnen einen blanken Penny in die Hand drücken. Den müssten Sie dann in den Brunnen werfen und sich dabei etwas wünschen. Und dann würden wir durch die Stadt gehen, wo immer unsere Füße uns hinführen – in eine Trattoria in einer versteckten Seitengasse oder in ein großes, lärmendes Restaurant – und alle Männer, ich eingeschlossen, würden Sie und Ihr himmelblaues Kleid mit den Augen verschlingen.“

„Das haben Sie sehr schön gesagt.“

„Danke. Ich fühle mich geschmeichelt.“

„Davon bin ich überzeugt.“ Sie stellte den leeren Eimer wieder unter den Wasserhahn. „Sie gefallen mir. Da ist nur eine Sache, die ich nicht ganz verstehe. Etwas, was so gar nicht zu Ihrem lässigen und attraktiven Äußeren passt.“ Bei ihrem Blick wurde ihm ganz heiß. „Was Sie vorhin zu Sam gesagt haben … So, wie sie ihm zugehört und ihm geholfen haben …“ Mit einem sinnlichen Hüftschwung drehte sie sich um und rief über die Schulter: „Das fand ich sehr nett.“ Dann verschwand sie in der Küche.

2. KAPITEL

Sehr nett? Wenn eine Frau so etwas zu ihm sagte, konnte es gefährlich für ihn werden. Da musste er aufpassen, dass sie ihn nicht plötzlich für einfühlsam oder gar liebevoll hielt. Also besser gleich gar nicht damit anfangen, sich irgendwelche Fantasien über diese Inselschönheit auszumalen.

Noch leicht benebelt von dem Zauber, der von Serena ausging, streckte Pete die Schultern und überquerte den Hof.

Die Küche war einfach, aber gemütlich eingerichtet, und es hatte den Anschein, als würde hier gut und gern gekocht. Es gab ein großes steinernes Spülbecken, in der Mitte stand ein einfacher Holztisch, und in einem Regal waren Geschirr und alle Lebensmittel untergebracht, die nicht in den Kühlschrank gehörten.

Es duftete verführerisch.

Ein Hähnchen mit Knoblauch und Oregano brutzelte zusammen mit halbierten Kartoffeln im Backofen. Auf dem Tisch stand eine große Schüssel mit frischem Salat, daneben lag ein knuspriges Brot.

In Serenas Familie gab es einige Chefköche und Restaurantbesitzer, und alle legten großen Wert auf gutes Essen. Für ein schlecht zubereitetes Essen gab es keine Entschuldigung. Auch Serena kochte gern und gut, obgleich es vielleicht andere Dinge gab, die sie lieber tat.

Pete blieb in der Türöffnung stehen. „Ich will ja nicht neugierig sein, aber wenn das Vermieten von Vespas nicht gerade Ihr Lebenstraum ist, warum tun Sie es dann?“

Autor

Kelly Hunter

Obwohl sie von Beruf Naturwissenschaftlerin ist, hatte Kelly Hunter schon immer eine Schwäche für Märchen und Fantasiewelten und findet nichts herrlicher, als sich in einem guten Buch zu verlieren. Sie ist glücklich verheiratet, hat zwei Kinder und drückt sich gerne davor, zu kochen und zu putzen. Trotz intensiver Bemühungen ihrer...

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