Der schottische Verführer

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Schottland, 1297. Die Tür zum Verließ öffnet sich, und Lady Isabel Adair blickt in die Augen eines Mönchs. Doch nein, hinter der Kutte versteckt sich Duncan MacGruder! Einst war der stolze Schotte ihr Verlobter - bis sie die Mätresse eines Engländers werden musste, um das Leben ihres Vaters zu retten. Die Verachtung in Duncans Blick schmerzt. Trotzdem ist er gekommen, um sie aus den Händen des Feindes zu befreien. Aber der Fluchtversuch misslingt: Duncan bleibt verletzt zurück, während Isabel sich verzweifelt durch die winterlichen Highlands kämpft, um Hilfe zu holen. Sonst ist alles verloren: Duncans Leben und jede Hoffnung auf eine neue Liebe …


  • Erscheinungstag 01.10.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733738068
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Südschottland, 1297

Für ihn war sie eine Hure.

Als wäre noch wichtig, was er von ihr dachte. Aber das war es. Auch nach drei Jahren hatte Lady Isabel Adairs Liebe zu Duncan MacGruder nichts von ihrer Kraft eingebüßt.

Versonnen schaute Isabel auf das gurgelnde Wasser des Flusses, der sich durch den dichten Wald schlängelte und an dessen Ufern sie und Duncan unzählige Male Zuflucht gefunden hatten. Hier hatte er sie einst in die Arme geschlossen und ihr, zitternd vor jugendlicher Unerfahrenheit, den ersten Kuss geraubt.

Tränen verschleierten ihren Blick. Nein, Duncan hatte ihr nicht vergeben oder auch nur das Geringste vergessen. So gnädig hatte sich das Schicksal nicht gezeigt. Doch seine Verachtung war nichts gegen die Vorwürfe, mit denen sie sich selbst quälte.

Hinter ihr knackte ein Zweig.

Isabels Herz pochte schnell, als sie herumfuhr. War Frasyer ihr etwa gefolgt? Oder einer seiner Ritter? Mit der Hand beschirmte sie ihre Augen und schaute in das Gewirr von Ulmen, Eschen und Tannen. Angestrengt versuchte sie, im Schatten des dichten Unterholzes jemanden zu entdecken.

Nichts.

Ein Windstoß erfasste sie; schon erfüllt von den Düften des beginnenden Frühlings trug er doch noch die Erinnerung an den Winter mit sich. Sie ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Da der Earl of Frasyer nur mit sich beschäftigt war, würde ihm nicht auffallen, dass sie Moncreiffe Castle verlassen hatte. Gemeinsam mit einem Trupp von Rittern war er kurz vor ihr aufgebrochen, um dem Gerücht nachzugehen, William Wallace, der schottische Rebellenführer, sei im Süden gesichtet worden.

Eine Lüge. Eine, von der Isabel dafür gesorgt hatte, dass sie ihm zu Ohren kam.

Sie brauchte diesen Nachmittag, um sich davonzustehlen und ihren Bruder Symon zu treffen. Bei Anbruch der Nacht dann würde sie behaglich in ihrem Bett liegen, während Frasyer ohne Ergebnis heimkehren würde.

Nachdem sie sich bekreuzigt hatte, warf sie noch einen letzten Blick auf den Fluss, den Schauplatz so vieler ihrer Träume, danach drehte sie sich um und eilte auf einem dicht bewachsenen Pfad durch den Wald. Beim Anblick der heruntergekommenen Pachthütte, die von den morschen Ästen einer umgestürzten Birke umgeben war, erzitterte sie.

Vor der Tür lagen Keramikscherben, Stofffetzen verdeckten die schiefen Fensterhöhlen, der nahe Stall glich einem Trümmerhaufen. Kein noch so dünner Rauchfaden kräuselte aus dem Schornstein der armseligen Hütte empor. Jeder, der vorbeikam, musste sie für verlassen halten.

Noch einmal blickte Isabel sich wachsam um, ehe sie an den Trümmern vorbei in den schummrigen, von Kerzen erleuchteten Raum trat. Ihr wurde warm vor Erleichterung, als sie ihren Bruder sah, der mit dem Rücken zu ihr ihrem Vater gegenüberstand.

„Symon.“

Stahl schabte über Leder, und im nächsten Moment war die kalte Spitze eines Claymore-Schwerts an Isabels Kehle.

Blitzschnell war der große vollbärtige Mann, der die Waffe führte, herumgewirbelt. Sein Ausdruck wirkte umso grimmiger, da sich tiefe Schatten in sein Gesicht gruben.

Doch im nächsten Moment umspielte ein Lächeln seinen Mund, so kurz wie zärtlich. Seine Haltung entspannte sich. „Isabel.“ Symon Adairs rote Haare fielen ihm über die Schultern, als er die Waffe zurück in die lederne Scheide auf dem Rücken gleiten ließ. Er eilte zu Isabel und umschloss sie in stürmischer Umarmung.

„Du darfst nicht hier sein. Es ist zu gefährlich.“

„Ich musste dich sehen.“ Isabel schaute zu ihrem Vater, der verlegen ein paar Schritte zurückgewichen war. „Als Vater erwähnte, dass du kommst …“

Symon bedachte den Älteren mit einem scharfen Blick. „Du hättest nichts von meinem Kommen sagen dürfen. Es ist schon gefährlich genug, wenn wir uns treffen, während ich Geld für die Rebellen eintreibe. Du weißt genau, dass jedem der Tod sicher ist, den man zusammen mit mir antrifft.“

Lord Angus Adair versteifte sich. „Verdammt, Junge, ich …“

„Ich habe ihn gedrängt“, unterbrach Isabel, der die gemeinsame Zeit zu schade war, um sie mit Streit zu verschwenden – und der drohte unvermeidlich, wenn Symon herausfand, dass ihr Vater wieder einmal betrunken gewesen war, als er es ihr erzählt hatte.

„Das ist keine Entschuldigung.“ Ihr Bruder umfasste ihr Kinn, um ihr Gesicht zu betrachten. „Du hast Ringe unter den Augen. Behandelt dich dieser elende Frasyer schlecht?“

Sie zuckte zusammen. „Symon …“

„Also?“

„Nein“, log sie, aus Angst, Symon würde sich selbst in Gefahr bringen, um ihre Ehre zu verteidigen, wenn er die Wahrheit erfuhr.

„Du hast etwas Besseres verdient. Duncan hätte …“

„Lass das Mädchen zufrieden“, polterte ihr Vater und trat zu ihnen, die buschigen Augenbrauen im seltsamen Widerspruch zum kahl werdenden Haupt.

Symon schaute ihn finster an. „Aye, es ist ja wohl kaum Isabels Schuld. Nur deiner Spielerei verdanken wir das Ganze.“

„Symon!“

Bei Isabels scharfem Tonfall blickte ihr Bruder schuldbewusst drein. „Ich weiß, ich kann nichts mehr daran ändern, dass er unseren Familiensitz bei einer Wette an Frasyer verloren hat. Genauso wenig wie an deiner Entscheidung, Frasyers Geliebte zu werden, um die Wettschulden zu begleichen.“

„Und das würde ich auch gar nicht wollen.“ Lügnerin. Wenn sie nur könnte, würde sie alles ändern. Sie würde die drei Jahre rückgängig machen, die sie nun schon in dieser Lüge lebte – in einer ganzen Reihe von Lügen –, und den verratenen Wünschen ihres Herzens folgen. Aber genauso gut konnte sie sich auf einen Feenhügel legen und ihre Hoffnungen dem Wind überantworten. Duncans Liebe war unwiederbringlich verloren. Und sie wollte nicht das Leben ihres Vaters oder ihres Bruders gefährden.

Symon strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. „Ich wollte dir nicht zu nahetreten. Ich liebe dich doch, Kleine. Hinter meinen Worten steckt allein die Angst um dich.“

„Ich weiß.“

„Wenn Frasyer dich nicht deinem Stand gemäß behandelt, sagst du es mir, ja?“

Aye, mein lieber Bruder. Du würdest es als Erster erfahren.“ Mit gespielter Fröhlichkeit küsste Isabel ihn auf die Wange, dann wandte sie sich ihrem Vater zu und umarmte ihn. „Es ist schön, dich wiederzusehen, Vater.“

Er erwiderte ihre Umarmung, Freude verdrängte den müden Ausdruck aus seinen braunen Augen. „Auch für mich, meine Tochter.“

Isabel zog einen abgenutzten Lederbeutel unter ihrem Umhang hervor. „Hier sind der Sand-Thymian und die Kamille, die ich dir versprochen habe. Mach dir davon am Morgen einen Teeaufguss, das wird gegen deine Kopfschmerzen helfen.“ Schmerzen, die ihn nicht quälen würden, wenn er nur weniger trinken würde.

Natürlich, das wilde Pochen in seinem Kopf kam vom Alkohol. Doch es war die Scham, dass seine Tochter Frasyers Geliebte war, weil er ihr Zuhause verspielt hatte, die ihn in nur drei Jahren um mindestens zehn Jahre hatte altern lassen.

Tiefe Furchen durchzogen sein glatt rasiertes Gesicht. Zu viele Sorgen lasteten auf seinem einst unbeschwerten Ausdruck. Und sein früher volles und ungebändigtes bernsteinfarbenes Haar, das Isabels so ähnlich war, wich zunehmender Kahlheit; allein ein weißer Haarkranz bedeckte noch sein Haupt.

„Danke, Liebes.“ Mit einem Kopfnicken nahm ihr Vater den Beutel entgegen und schob die Kräuter in seine Tasche.

Sie blickte zu ihrem Bruder. Strenge Linien hatten sich in sein hübsches Gesicht eingegraben. „Du und der Rest der Rebellen, ihr habt euch vermutlich aus dem Selkirk Forest zurückgezogen.“

Symon strich sich über den Bart. „Aye. Der verdammte Langbein will den Kopf von Wallace aufgespießt sehen, wie auch den von jedem anderen, der sich seinem Anspruch auf Schottland entgegenstellt. Wir haben uns in die Sümpfe im Westen verzogen.“ Seine Augen blitzten übermütig. „Ich weiß nicht, wer sich mehr davor fürchtet, die Gegend zu betreten: die verdammten Engländer oder die Spürhunde.“

Isabel musste kichern, als ihr Bruder den englischen König Edward bei seinem Spitznamen nannte, den dieser seiner Körpergröße verdankte. Unschwer konnte sie sich das ohrenbetäubende Fluchen der königlichen Ritter vorstellen, während sie sich einen Weg durch das morastige Gebiet bahnten, nur um am Ende doch mit leeren Händen dazustehen.

„Ich bin sicher, ihr führt sie ganz schön in die Irre“, sagte sie. „Wenn ich irgendetwas tun kann …“

Symons blaue Augen verdunkelten sich. „Kannst du nicht.“

Sie seufzte unterdrückt auf, dann zog sie das Geschenk hervor, das sie unter ihrem Umhang verborgen hatte, und überreichte es Symon.

„Was ist das?“

„Mach es auf, dann wirst du schon sehen.“

Schnell breitete ihr Bruder das Tuch aus. „Wallaces Wappenzeichen“, murmelte er ehrfürchtig. Er nahm den feinen Stoffstreifen hoch und strich ihn in der Hand glatt; mit dem Finger zeichnete er die Konturen des aufgestickten silbernen Löwen nach, der auf tiefrotem Grund ruhte.

Isabel griff nach ihrer Halskette, an der versteckt das sorgfältig gearbeitete Gegenstück dazu hing. „Sieh, dasselbe Motiv.“

Vor Freude glätteten sich seine harten Gesichtszüge. „Du bist sehr geschickt“, meinte er leise, „wie unsere Mutter.“

Tränen stiegen in ihr auf. Kein anderes Kompliment hätte sie so im Innersten berührt. „Ich wollte es dir schon vor zwei Monaten geben. Aber heute … heute sehe ich dich das erste Mal, seit ich es fertig habe.“

Vorsichtig faltete er das Tuch mit der feinen Stickerei darin zusammen. „Es ist schön. Und wäre dir gefährlich geworden, wenn man dich bei der Arbeit daran erwischt hätte.“

„Du bist jedes Risiko wert.“

Symon zog sie zärtlich zu sich heran. „Vielen Dank.“

Isabel schmiegte sich an ihn und genoss den Augenblick.

Plötzlich war von draußen das Scharren von Stiefeln zu hören.

Isabel schreckte in den Armen ihres Bruders auf und wirbelte zum Eingang herum. Bitte, Gott, mach, dass es nicht wahr ist!

Die Tür flog auf. Mit gezücktem Schwert verstellten Ritter jeden Fluchtweg, während sich ihr Anführer vor ihnen aufbaute.

Frasyer!

Symon zog sein Claymore und stellte sich schützend vor Isabel.

Fluchend griff auch ihr Vater nach seinem Schwert und rückte eng neben seinen Sohn.

Der Earl schob sich die wollene Kapuze aus dem Gesicht. Die streng hinter dem Kopf zusammengebundenen braunen Haare betonten noch seine grauen Augen, kalt wie ein beißender Wintersturm. Er wandte sich Symon zu, und seine Nasenflügel bebten vor bösartiger Befriedigung.

Isabel stürmte nach vorn. „Nein!“

Doch Symon griff nach ihrem Arm und drängte sie wieder hinter sich. „Bleib zurück!“ Er erhob das Claymore gegen den Earl.

„Wie rührend! Anscheinend störe ich bei einem Familientreffen.“ Frasyer sprach gedehnt, während sich die Ritter in dem engen Raum hinter ihm verteilten. Er presste die Kiefer aufeinander und musterte Isabel kalt. „Und du. Wie kannst du es wagen, meine Befehle zu missachten, um dich mit diesem Rebellen zu treffen?“

„Symon gehört zu meiner Familie.“

„Dein Bruder ist ein Verräter, und so soll er behandelt werden.“ Frasyer nickte in Richtung ihres Vaters. „Wie auch Lord Caelin.“

„Lasst sie gehen, Mylord. Bitte.“ Sie bemühte sich, keine Nervosität zu zeigen, aber ihre Stimme zitterte vor Angst.

Frasyer wies zur Tür. „Kehr zurück nach Burg Moncreiffe. Deinem Verrat widme ich mich später.“

Sie kannte diesen ruhigen Ton, den er immer dann anschlug, wenn seine Wut am stärksten war. In der Vergangenheit hatte sie stets Gott gedankt, dass er nicht sie gemeint hatte. Doch jetzt zweifelte sie, ob selbst Gott ihr würde helfen können.

„Und Ihr“, sagte Frasyer zu Symon, wobei der Zorn, der in seinen Augen loderte, seine ruhige Stimme Lügen strafte, „Ihr werdet mir sagen, wo Wallace sich versteckt, dann werde ich vielleicht Euer wertloses Leben verschonen.“

Symon spuckte auf den Boden. „Eher sterbe ich, als dass ich Ungeziefer wie Euch etwas verrate.“

Wütend verfärbten sich Frasyers Wangen, schneidend fiel sein Blick auf Isabel. „Sei nicht ungehorsam. Geh schon!“

Sie schluckte schwer. „Damit Ihr sie töten könnt?“

Frasyer schaute sie eindringlich an und schien zu begreifen. Ein gemeines Lächeln umspielte seinen Mund. „Du weißt, wo Wallace sich versteckt.“

„Sag diesem Hund nichts“, knurrte Symon.

Angst schnürte ihr die Kehle zu. Warum nur hielt ihr Bruder sich nicht zurück? Jetzt konnte sie sagen, was sie wollte: Frasyer würde ihr nicht glauben, wenn sie beteuerte, nicht zu wissen, wo sich der Kopf der Rebellen versteckte.

Sie berührte den Dolch, den sie in den Falten ihres Umhangs verborgen hielt. Wenn sie sich Frasyer weit genug nähern konnte, vielleicht könnte sie ihn dann überraschen und so ihrem Vater und ihrem Bruder Gelegenheit zur Flucht verschaffen.

„Kann ich Euch alleine sprechen, Mylord?“

Frasyer zog die Augenbrauen hoch. „Sprich!“

Sie versuchte, sich seitwärts zwischen Vater und Bruder hindurchzuschieben, doch die beiden bewegten sich nicht von der Stelle. „Lasst mich durch!“

„Frasyer wird sich nicht mit dir zufriedengeben“, meinte Symon.

Der Blick des Earls richtete sich dorthin, wo sie ihre Waffe griffbereit versteckt hielt. „Sei nicht so dumm, mich anzugreifen, Isabel. Ich bin in Begleitung von zweiundzwanzig meiner besten Ritter.“ Als sie nichts erwiderte, verzerrten sich seine Gesichtszüge zu einer bösartigen Grimasse. „Wie ich sehe, hast du dich entschieden. Ein törichter Entschluss, für den auch dein Vater zahlen muss. Dieses Mal nicht mit eurem Familiensitz. Sondern mit seinem Leben!“

„Nein!“ Sie stemmte sich gegen Symons Schulter, doch er gab nicht nach; gleichzeitig rückten Frasyer und seine Männer vor.

Frasyers Schwertmeister führte einen Schlag aus, den Symon unter metallenem Klirren parierte. Isabels Vater hingegen war machtlos gegen zwei Ritter, die ihn ergriffen und brutal gegen die Wand stießen. Ein harter Schlag mit dem Schwertgriff erschütterte seinen Kopf.

Isabel zog ihren Dolch, als sie ihren Vater zu Boden taumeln sah; Blut sickerte ihm aus einer schmalen Kopfwunde. „Vater!“

Zugleich drang aus Symons Richtung ein erstickter Fluch zu ihr. Sie sah, wie Frasyer ihm das Schwert tief zwischen die Rippen stieß, und alle Kraft ihrer Lungen explodierte in einem Schrei: „Symon!“

Erbarmungslos zog Frasyer die Klinge wieder heraus.

Isabels Bruder umklammerte seinen Leib, sein Gesicht wurde bleich, dann fiel er zu Boden. Sein Claymore landete klirrend neben ihm.

Der Raum schien sich um Isabel zu drehen. Benommen sank sie neben ihrem Bruder nieder und zog ihn in die Arme. „Oh, Symon!“

„Isa…“ Qualvoll hustete er.

„Sag nichts“, flüsterte sie. Entsetzt bemerkte sie das leuchtende Rot, das sich auf seinem Körper ausbreitete. Bitte, Gott, lass ihn nicht sterben! Nicht Symon. Nur wegen ihm war sie trotz aller Schicksalsschläge noch nicht verrückt geworden. Egal was es war, er war für sie da. Immer.

Er durfte nicht sterben.

Frasyer packte ihre Schulter und zog sie hoch. „Wo ist Wallace?“

„Der Teufel soll Euch holen!“ Isabel stieß ihm gegen die Brust und riss sich los. Verzweifelt richtete sie den Dolch auf ihn.

Frasyer bekam ihr Handgelenk zu fassen und drückte zu. Die Schmerzen lähmten ihren Arm, und die Klinge fiel scheppernd zu Boden.

„Was für ein Dummkopf du bist“, donnerte der Earl wütend.

Direkt neben ihnen rang Symon um jeden Atemzug. In seiner linken Hand sah man die wundervolle Stickerei mit dem Wappen von Wallace.

„Lasst mich zu ihm“, flehte Isabel. „Symon braucht mich.“

Frasyers Finger bohrten sich ihr noch tiefer ins Fleisch. Aus seinem Gesicht sprach grausame Entschlossenheit. „Sag es mir!“

„Nein!“, schrie ihr Vater.

Wie ein Wolf, der Beute wittert, richtete Frasyer den Blick auf den Lord, der noch immer am Boden kauerte. „Vielleicht weiß er es.“

Angst strömte durch Isabels Adern, sie zitterte am ganzen Körper. „Nein!“ Bei Frasyers Verhörmethoden wäre ihr Vater danach ein Krüppel. Und auch ihren Bruder, ihren geliebten Bruder, der im Sterben lag, musste sie beschützen. „Mein Vater weiß nichts. Das schwöre ich.“

Voller Verachtung sah Frasyer zu Lord Caelin.

Isabel wand sich unter seinem Griff. „Er ist keine Bedrohung für Euch.“

„Nein?“ Frasyer beobachtete sie, seine Miene wirkte berechnend. „Er hat sich mit einem bekannten Gesetzlosen getroffen.“

Dieser Schuft. „Er hat seinen Sohn getroffen.“

„Ich, der Earl of Frasyer, dem in diesem Landstrich die Gerichtsgewalt übertragen ist, bewerte seine Anwesenheit hier anders.“ Mit geringschätziger Miene zerrte er sie an sich. „Verrate mir, was ich wissen will, sonst klage ich deinen Vater wegen Unterstützung der Rebellen an, und er wird gehängt.“

Verzweifelt starrte sie auf den Mann, dem sie bereits die Seele hatte verkaufen müssen; sie verachtete ihn mehr, als sie jemals geglaubt hätte, einen anderen Menschen verachten zu können.

„Er weiß nichts“, murmelte sie. „Wie Euch wohlbekannt ist. In seinem Kopf ist nur Platz für Alkohol und Glückspiel.“ Innerlich erschauderte Isabel ob dieser Wahrheit, aber sofern es ihren Vater rettete, würde sie vor keinem Bekenntnis zurückschrecken.

„Ist das so?“ Frasyer beugte sich zu ihr, bis ihre Gesichter sich fast berührten. „Da bin ich mir nicht so sicher. Lord Caelins fragwürdige Bekanntschaften, wie ich sie nennen möchte, sind allgemein bekannt.“

Ein erneutes Aufstöhnen von Symon nahm Isabels ganze Aufmerksamkeit gefangen. Sie musste sich um ihn kümmern. „Bitte, Mylord, lasst uns in Frieden.“

„Alles, was jetzt geschieht, hängt nur von deiner Entscheidung ab. Willst du, dass dein Vater weiterlebt – oder soll er sterben?“

„Mein Bruder …“

„Für ihn ist es zu spät. Wir reden jetzt vom Leben deines Vaters.“

Würgende Angst befiel sie. Verzweifelt suchte sie nach einem anderen Weg, ihren Vater zu retten; da sah sie den Dolch liegen. Mit einem Ruck befreite sie sich und bückte sich nach der Waffe.

Empört schnaubend stellte Frasyer einen Stiefel auf die Waffe und sah auf Isabel hinab. „Du bist vielleicht nicht in die Pläne der Rebellen eingeweiht, aber ich wette, du kennst ihr Versteck.“ Er beugte sich nach unten und schnappte sich den Dolch. „Ich brauche vierzehn Tage, um die Anklage mit den verdächtigen Aktivitäten deines Vaters fertigzustellen und an Lord Monceaux, König Edwards Berater für Schottland, zu übermitteln.“ Seine Stimme wurde ganz sanft. „Wenn du mir bis dahin nicht verraten hast, wo sich Wallace versteckt, wird man deinen Vater als Verschwörer gegen England verurteilen und hängen. Und anschließend werde ich mich um dich kümmern … ich allein.“

Isabel öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen. Vergebens: Ihr fiel nichts ein.

„Die Bibel“, keuchte Lord Caelin schwer.

Isabel kroch näher zu ihrem Vater, um ihn zu verstehen.

Er hob den Kopf. „Die Bibel deiner Mutter. Dort findest du die Lösung.“

Als sie sah, wie sich ein wissendes Lächeln auf Frasyers Gesicht ausbreitete, erstarrte sie. Er hatte mitgehört!

Der Earl wies auf ihren Vater und befahl seinem Schwertkampfmeister: „Bringt ihn nach Burg Rothfield zu Lord Monceaux und teilt diesem mit, dass Lord Caelin wegen Verrats an der Krone angeklagt werden soll und dass ich baldmöglichst ein Schriftstück mit seinen Vergehen übersenden werde. König Edward wird nur zu gern Lord Caelins Kopf öffentlich zur Schau stellen, damit alle sehen, welche Strafe ihnen droht, sollten sie wagen, ihn zu verraten.“

„Jawohl, mein Herr.“ Der Meister gesellte sich zu einigen Rittern, und gemeinsam drängten sie Isabels Vater aus dem Haus.

„Vater!“ Isabel sprang auf, aber Frasyer hielt sie zurück.

Ohne seinen Blick von ihr zu lösen, nickte der Earl einem weiteren Ritter zu. „Ihr brecht auf zu Lord Caelins Wohnsitz und holt die Familienbibel. Sollte Euch jemand aufhalten, sagt Ihr, Isabel habe danach verlangt für ihre Gebete.“ Süffisant schaute er sie an: „Sie wird jedes einzelne davon bitter nötig haben.“

Der Ritter nickte entschlossen, dann ging er.

Isabel zitterten die Beine derart, dass sie unter ihr nachzugeben drohten. Wie hatte nur alles so furchtbar schiefgehen können? Sie war hierhergekommen, um Symon und ihren Vater zu treffen. Jetzt aber wurde ihr Vater nach England gebracht, wo ihm das Todesurteil sicher war. Und Symon, der liebe Symon … ihr Verstand drohte sie im Stich zu lassen, der Schmerz zerriss sie, als sie Symons rasselnden Atem hörte.

Frasyer zwang sie zu sich. „Du weißt, wie du deinen Vater frei bekommst.“

Der Anblick ihres Bruders, der zusammengekrümmt auf dem Boden lag, war so unerträglich, dass sie Frasyers Drohung kaum wahrnahm. Symons Kräfte schwanden immer mehr.

„Isa … Isabel“, stöhnte er und hustete rau und dumpf.

Es brach ihr das Herz, wie ihr Bruder um jeden Atemzug kämpfte. Sein bleiches Gesicht glänzte schweißbedeckt.

„Bitte, Mylord, helft meinem Bruder“, flehte sie.

Frasyers schaute sie eindringlich an. „Sag mir, wo Wallace sich versteckt!“

Genau das, was ihn als Einziges interessierte, konnte sie ihm nicht sagen. Da Symon bereit war, sein Leben für Wallace zu opfern, durfte sie ihn einfach nicht verraten. Und auch nicht die Freiheit, für die Hunderte von Leuten – ihren Leuten – ihr Leben gegeben hatten.

Aber sie konnte auch nicht ihren Vater dem sicheren Tod ausliefern.

Aus den tief in ihrem Herzen klaffenden Wunden spürte sie einen unerbittlichen Willen aufsteigen, eine so unbedingte Entschiedenheit, dass es ihr fast den Atem verschlug. Diese Macht, der Wille, sich zu behaupten, überwältigte sie. Sie wusste jetzt, was sie zu tun hatte. Sobald Frasyer seine Besitztümer inspizierte, würde sie einen Weg finden, aus ihrem Zimmer zu schlüpfen und die Bibel an sich zu bringen. Sie konnte nur beten, in dem Familienstück Beweise für die Unschuld ihres Vaters zu finden.

Anschließend würde Lord Monceaux eine weise Entscheidung fällen. Sie konnte unmöglich glauben, dass er als Berater König Edwards einen Clanangehörigen hängen lassen würde, wenn unwiderlegbare Beweise für dessen Unschuld existierten.

Dies war ihre einzige Hoffnung, also musste sie es darauf ankommen lassen.

Isabel richtete ihren Blick auf Frasyer. „Ich werde Euch nichts sagen.“

Bitterer Abscheu lag in seiner Miene. „Dann verrotte da, wo du hingehörst.“ Er schubste sie in die Arme eines Wächters. „Sperrt sie ins Verlies!“

„Ins Verlies?“ Entsetzt versuchte sie, sich loszureißen. Sie hatte erwartet, dass man sie, wie bei adligen Gefangenen üblich, in ihrem Gemach unter Aufsicht stellte, nicht dass man sie in das abscheuliche unterirdische Gefängnis sperrte, das Frasyer hatte errichten lassen. Soweit sie wusste, war noch nie jemand von dort entkommen.

Zumindest nicht lebendig.

„Frasyer!“, flehte Isabel.

Weder hielt er auf seinem Weg nach draußen inne noch drehte er sich zu ihr um. Hufgetrappel erklang auf Erdboden und Steinen, als Frasyer an der Spitze seiner Männer vorbeiritt.

„Kommen Sie, Mylady.“ Der Wächter zerrte sie zur Tür.

Verzweifelt schaute sie zu ihrem Bruder. „Symon!“ Sie versuchte, dem Griff des Ritters zu entkommen, doch er packte noch fester zu und schleppte sie nach draußen.

Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne erfassten sie; rotgolden funkelten die Lichtstreifen am Himmel – in diesem Moment fiel Isabels Blick ein letztes Mal auf ihren leblosen Bruder.

Ihrer Seele entströmte eine finstere Totenklage. Symons Blut färbte in einer dunkelroten Lache den Boden. In der linken Hand hielt er die feine Stickerei von Wallaces Wappen, die sie ihm erst so kurz zuvor geschenkt hatte.

Duncan MacGruder lehnte an einem steinernen Wall. Sein Blick ruhte auf Alys, die in den rotgoldenen Schein des Sonnenuntergangs getaucht war. Ihr voller Mund wirkte wie eine Einladung, sie zu küssen, doch aus ihren Augen sprach Zurückhaltung.

Dennoch richtete er sich jetzt auf. Ihnen beiden war klar, warum er hier war. Oft genug schon hatten sie gemeinsam die höchsten Freuden erlebt. Sie beide genossen das Spiel, wenn sie sich wie ein unschuldiges Mädchen gab.

Eine Wolke schob sich vor die untergehende Sonne und ließ Alys’ Körper im Schatten versinken. Aus zusammengekniffenen Augen begegnete Duncan ihrem intensiven Blick. Ihre Haare nahmen die Farbe von Bernstein an.

Isabel.

Beim Gedanken an sie durchströmte ihn eine Mischung aus Verlangen und dem Gefühl von Verrat, die ihm den Atem zu nehmen drohte.

Die Wolke gab die letzten Sonnenstrahlen frei, und der Gedanke an Isabel verblasste.

Warum um alles in der Welt hatte er gerade an sie gedacht? Schon die Erinnerung reichte, um seine Stimmung zu trüben. Ob er sie je vergessen würde? Geschmeidig trat er vor Alys. Zum Teufel, er würde jede Erinnerung an Isabel aus seinem Körper, seinem Gedächtnis, seiner Seele tilgen.

„Bitte, nur einen Kuss!“ Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und brachte die Grübchen zur Geltung.

„Meine Mutter erwartet mich.“ Dennoch blieb Alys unverwandt stehen.

„Ich halte dich nicht zurück. Nur wird mein Herz brechen ohne einen Kuss von dir.“ Er legte eine Hand aufs Herz. „Und du wirst doch nicht einen Mann abweisen, der nicht mehr verlangt als einen kleinen Kuss?“

Für einen spielerischen Moment zögerte sie. „Gut, einen.“

Sein Körper bebte erwartungsvoll, als er begehrlich ihre seidige Haut unterm Kinn streichelte. Alys erschauerte. Mit der Hand folgte er der Rundung ihres Halses, liebkoste sie sanft im Nacken.

„Duncan?“

Zärtlich biss er ihr ins Kinn. „Aye?“

„Wolltest du mich nicht küssen?“

„Das werde ich auch.“ Als sie ihm die Arme um den Hals legte und sich noch enger an ihn schmiegte, zog er sie mit sich in den kühlen Schatten. Alys spürte im Rücken den Steinwall; warm drängte sich Duncan mit seinem ganzen Körper gegen sie.

Er hörte sie aufstöhnen, als er ihre zarten Brüste umfasste. Wie herrlich einfach! Ein weicher warmer Körper voller Hingabe, ohne dass die Liebe alles komplizierte.

Oder ein Verrat.

Aus der Ferne vernahm er das Donnern von Pferdehufen.

Er riss sich los und drehte sich in Richtung des Geräuschs. Ein Reiter näherte sich ihnen auf direktem Wege. Freund oder Feind? Unmöglich zu sagen, seit die Engländer das Land nach Wallace und Unterstützern der Aufständischen durchkämmten.

„Duncan?“

Er schaute zu Alys. Das Verlangen in ihrem Blick ließ ihn die Störung nur noch mehr verfluchen. Doch hatte er keine Wahl: „Verschwinde schnell!“

Sie zog einen Schmollmund. „Aber ich dachte …“

„Ich komme später zu dir nach Hause. Dann fangen wir noch einmal an. Ungestört.“

Der Lärm der Hufschläge wurde immer lauter.

Alys sah in Richtung des sich nähernden Reiters und runzelte die Stirn. Verschmitzt sagte sie zu Duncan: „Das hoffe ich.“ Errötend verschwand sie hinter dem Steinwall.

Dumpf trafen die Pferdehufe auf den grasbewachsenen Grund, und Duncan starrte in Richtung des Geräuschs, sein Körper noch erfüllt von rasendem Verlangen. Er umfasste den Griff seines Schwerts.

Der Reiter lag mehr im Sattel, als dass er saß. Doch sobald er in Sichtweite kam, vermeinte Duncan, ihn zu erkennen.

Symon?

Er stürzte zu seinem Freund.

Das Pferd galoppierte führungslos, die Zügel hingen lose über dem Sattel und flatterten im Wind.

Auf Symons Kleidung breiteten sich große dunkelrote Flecken aus.

Das Pferd scheute vor dem herantretenden Duncan.

„Ruhig, mein Junge!“ Er fasste nach dem Zaumzeug; ein durchdringender Geruch nach Blut stieg ihm in die Nase. „Symon?“

Sein Freund stöhnte, dann kippte er nach vorne.

Duncan fing ihn auf und ließ ihn so sanft wie möglich zu Boden gleiten. An Symons Seite klaffte eine hässliche, bösartige Wunde. Man brauchte Nadel und Faden, mehr noch aber ein Wunder, sonst gab es keine Hoffnung auf Rettung.

Warum war er nicht bei Wallace, versteckt in den Sümpfen westlich von Selkirk Forest? Warum hatte er sich derart in Gefahr gebracht? Duncan riss einen Streifen von seiner Tunika und presste ihn auf die Wunde. „Was ist geschehen?“

Symon öffnete mühsam die Augen. „Frasyer.“

Obwohl er den Namen nur flüsterte, führte dieser in Duncans Kopf zu einer Explosion, als habe man Öl ins Feuer geschüttet. „Dieser Hund. Ich werde …“

Als Symon aufkeuchte, rann ihm Blut aus dem Mund. „Rette Isabel.“

Isabel? Bei ihrem Namen raste Duncans Herz. Isabel war in Gefahr? „Wo ist sie?“

Der Körper seines Freundes zuckte, als würde er gefoltert. „Frasyer hat sie im Verlies eingesperrt.“ Jedes Wort kostete ihn gewaltige Anstrengung. „Befrei sie.“

„Das werde ich“, presste Duncan zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „nachdem ich ihn mit meinen bloßen Händen erwürgt habe.“

„Nein. Wegen deiner Verbindung zu Wallace würde Frasyer jeden Vorwand nutzen, um dich zu töten. Du musst unbemerkt hineinschleichen.“ Symon zerrte an der Tunika seines Freundes, vor Erschöpfung zitterte er. Seine verzweifelten Augen ließen das Blut in Duncans Adern gefrieren. „Versprich mir, dass du sie befreien wirst.“

Duncan hatte Isabel geliebt, aber sie hatte ihn hintergangen. Alles in ihm schrie: Halte dich fern von dieser Frau! Sie mag unschuldig scheinen, aber für dich ist sie Gift!

„Du brauchst einen Heiler“, sagte Duncan.

Symons Atmung setzte aus. Seine Hände fielen kraftlos hinab. „Es ist zu spät für mich.“

So war es. Seine Stimme war wenig mehr als ein heiseres Flüstern, seine Haut schimmerte matt wie Kalk.

„Symon …“

„Rette meine Schwester!“

Es zerriss Duncan das Herz. Er liebte Symon wie einen Bruder – und zugleich hasste er dessen Schwester, als wäre sie Satan selbst.

Symons lodernder Blick durchbohrte ihn fast. „Schwöre es!“

Duncan schloss die Hand zur Faust. Er verfluchte die Worte, und er verfluchte sich selbst. Aber er war es seinem Freund schuldig. „Ich schwöre.“

Ein Hauch von Frieden glättete Symons Züge. „Gib ihr dies.“ Seine Hand zitterte, als er ein Stück fein gewebten Stoffs mit Wallaces Wappen in Duncans Hand gleiten ließ. „Sag Isabel … sag ihr … dass ich sie liebe.“ Er atmete pfeifend aus. Ein letzter röchelnder Atemzug, dann sackte er zusammen. Tot.

2. KAPITEL

Duncan hing eingekeilt zwischen den kalten Steinwänden des Latrinenschachts von Moncreiffe Castle, ihm schmerzten alle Muskeln. Kraftvoll stieß er den Stiefel in einen rutschigen Spalt und schob sich nach oben. Bei jeder Bewegung verfluchte er die Frau, zu deren Befreiung er das auf sich nahm.

„Und wehe, du weißt es nicht zu schätzen“, murmelte er. Er zurrte das Tuch vor seiner Nase ein wenig fester und suchte weiteren Halt. Als ob er von Isabel etwas zu erwarten hatte. Sie würde ihn niemals erhören, denn er war weder reich noch von hohem Stand.

Nicht so wie Frasyer.

Bei dem Gedanken wurde ihm noch übler als ihm vom Gestank der Latrine ohnehin schon war.

Als er sich nach oben zog, verhakte sich der alte Wollsack, den er über der Schulter trug, an einem Stein. Leise vor sich hin fluchend löste er den Sack, in dem sich die Verkleidungen für ihn und Isabel befanden.

Mit sicherem Griff umfasste er den nächsten Stein. „Und was hat es dir gebracht, zur Bettgenossin eines Earls zu werden, meine Liebe?“ Seine Muskeln strafften sich, als er sich erneut ein kleines Stückchen hochhievte. „Das Verlies. Den Grund dafür werde ich hoffentlich erfahren, wenn ich es erst bis zu dir geschafft habe.“

Über ihm drangen schwache Lichtstrahlen der Abenddämmerung durch die Latrinenöffnung. Angeekelt verzog er die Nase. Welch eine Erniedrigung für ihn, diesen Schacht hochklettern zu müssen! Aber Frasyers Burg wurde gut bewacht. Zweimal hatte er sich bemüht, sich auf anderen Wegen hineinzustehlen, aber beide Versuche waren gescheitert. Um sein Versprechen gegenüber Symon zu erfüllen, hatte er schließlich keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als diesen finsteren Weg auf sich zu nehmen.

Duncan streckte sich nach dem nächsten Vorsprung, dabei glitten seine Finger auf der schleimigen Oberfläche aus. Angewidert wischte er die Hand an dem dünnen Tuch ab, das er sich um die Hüfte gebunden hatte, um seine Beinkleider zu schützen. Der abstoßende Geruch war weit schlimmer als der von faulendem Torfmoos.

In dem Dämmerlicht tastete er nach einem erneuten Halt. So sehr er Isabel auch verachtete, so sehr fürchtete er sich schon jetzt davor, ihr die Nachricht vom Tod ihres Bruders zu überbringen. Die Erinnerung an seinen Freund bedrückte ihn schwer. Zumindest hatte er ihn ordentlich bestatten lassen.

Doch wo war nur Symons Vater, Lord Caelin? Niemand von all den Bekannten, bei denen Duncan sich erkundigte, hatte es gewusst. Sobald er Isabel gerettet hatte, würde er weitersuchen. Er würde nicht eher aufgeben, bis er den Lord gefunden hatte. Als enger Freund der Familie war es seine Pflicht, dem Vater die traurige Mitteilung zu machen.

Ein letzter Klimmzug, dann war er endlich oben angekommen. Vorsichtig schaute er durch die steinerne Öffnung. Nur eine Fackel beleuchtete den kargen Raum. An den Wänden blühte der Schimmel. Quiekend rannten Ratten umher und wirbelten Staubwolken auf. In der gegenüberliegenden Ecke lag neben einer ärmlichen Schüssel ein Haufen alter Stofffetzen. Duncan schob sich bis zu den Schultern aus dem Schacht und rümpfte die Nase. Der Geruch in dem Raum überstrahlte noch den, der nach der Kletterpartie seiner Kleidung anhaftete.

„Zumindest ist niemand hier.“ Duncan verzog das Gesicht und zwängte sich ganz durch die Öffnung.

Auf der anderen Seite des offenen Raums, hinter einer Tür, erschallten Männerstimmen.

„Verdammt.“ Er warf den Sack neben sich auf den Boden und wandte sich mit gezücktem Schwert zur Tür.

Einige Augenblicke vergingen.

Unweit von ihm tropfte Wasser durch einen Riss in der Decke. Durch die Latrinenöffnung hörte er einen furchterregend heulenden Windstoß, der von der See heraufdröhnte. Zum Glück entfernten sich die Stimmen schon wieder.

Duncan entspannte sich und schob sein Schwert zurück in die Scheide. Dann riss er sich die schützenden Tücher von Gesicht und Kleidung, um mit ihnen die Spuren zu entfernen, die er beim Herausklettern verursacht hatte.

Voller Ekel stellte er fest, dass er die bräunlichen Flecke lediglich verwischte. Die schmutzigen Tücher warf er auf den Haufen in der Ecke, wo sie nicht weiter auffielen. Dass seine Kleider noch immer streng rochen, daran konnte er nichts ändern, hatte er doch alles getan, was ohne Wasser möglich war, um sich zu säubern.

Er griff in den Sack und holte kopfschüttelnd ein Priestergewand hervor. „Wahrhaft ein trauriger Tag, an dem ich mich als Mann Gottes verkleiden muss, um der Geliebten meines Feindes zu helfen.“ Aber er hatte Symon sein Versprechen gegeben – ein Versprechen, das er erfüllen würde. Danach aber wollte er nie wieder etwas mit Isabel zu tun haben; nie wieder wollte er ihrem glühenden Blick begegnen oder eine ihrer Lügen anhören müssen.

Er legte das Gewand an, zog die Kapuze über den Kopf, öffnete die Tür und eilte einen Gang entlang zur Treppe. Dort angelangt, hörte er von unten das Geräusch sich nähernder Stimmen.

Entschlossen eilte er die Wendeltreppe herab und hielt sich dabei im Schatten, den das sparsame Licht der Fackeln ließ. Zwei Ritter kamen ihm entgegen.

Angespannt ließ Duncan eine Hand in sein Gewand gleiten und griff vorsorglich nach seinem versteckten Dolch.

Die beiden Ritter grüßten ihn: „Vater.“

Er nickte ihnen zu. Mit der freien Hand schlug er das Kreuzzeichen.

Ehrerbietig rückten sie zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Sein Griff um den Dolch lockerte sich, doch nach wenigen Schritten rief ihn einer der Ritter:„Vater?“

Duncan blieb aufs Höchste angespannt stehen. Langsam wandte er sich zu den beiden um: „Mein Sohn?“

Der eine Ritter flüsterte dem anderen etwas zu, der daraufhin seinen Weg nach oben fortsetzte. Sobald er außer Sichtweite war, stieg der Ritter, der ihn gerufen hatte, wieder einige Stufen hinab. Einen Schritt vor Duncan blieb er stehen.

Duncan war erleichtert. Sollte es zu einer Auseinandersetzung kommen, hatte er zumindest nur einen Gegner vor sich.

„Es geht um eine Frau“, sagte der Ritter.

Duncan nickte, dabei hielt er den Dolch mit festem Griff. „Wir können darüber am Morgen in der Kapelle reden, wenn es dir recht ist, mein Sohn.“ Am Morgen aber, dachte er, würden er und Isabel schon viele Meilen entfernt sein.

Der Ritter räusperte sich. „Wenn Ihr Zeit habt, Vater, würde ich lieber jetzt mit Euch sprechen. Es wird nicht lange dauern.“

„Natürlich.“ Als bliebe ihm eine Wahl. In seiner Verkleidung als Mann Gottes würde er Verdacht erregen, wenn er den Ritter nicht anhörte.

Ein Windstoß ließ die Fackel aufflackern. In ihrem Widerschein erkannte Duncan, wie sein Gegenüber verlegen errötet war. „Ich habe zwei Schwestern gleichzeitig zu meinen Geliebten genommen und … jetzt haben die beiden davon erfahren.“ Seine Stimme klang schuldbewusst. „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Oder wie ich es den beiden erklären soll.“

Fast hätte Duncan losgelacht. Nur ein Dummkopf konnte sich parallel an zwei Schwestern heranmachen. Oder jemand, der redegewandt genug war, um sie davon zu überzeugen, zu dritt die Freuden der Lust zu genießen.

„Vater?“

Er holte tief Luft. „Du hast schwer gesündigt, eine Angelegenheit, die es sehr ernst zu nehmen gilt.“

Bekümmert senkte der Ritter den Kopf. „Aye. Und darum habe ich mich an Euch gewendet. Damit Ihr mir eine Buße auferlegt.“

„Du sollst zehn Vaterunser beten und dazu während der nächsten zwei Wochen den Boden der Kapelle fegen“, wies Duncan ihn an. „Deine Gebete werden deine Seele von den Sünden reinigen, und mit deiner Arbeit wirst du das heilige Haus von den alten Binsen befreien.“

„Danke, Vater!“

Duncan schlug das Kreuz. „So gehe dahin.“

Der Ritter verbeugte sich demütig und wandte sich schon zum Gehen, als er innehielt und schnupperte. „Riecht Ihr es auch?“

„Was denn?“ Duncan fluchte innerlich, denn dieser abscheuliche Gestank, den der Ritter wahrnahm, konnte nur von seinem Aufstieg durch den widerlichen Schacht stammen. „Aye, es wird meine Kutte sein. Einer der verdammten Hunde hat sie wer weiß womit verwechselt und sich darauf erleichtert.“ Voll Abscheu schüttelte er den Kopf. „Ich habe sie nun schon drei Nächte draußen zum Lüften aufgehängt, aber noch immer stinkt sie zum Himmel.“

Der Ritter zuckte die Achseln. „Ich habe dem Earl vorgeschlagen, die Viecher auszusperren, aber er meinte, sie gehörten in die Burg.“

„Er ist ein eigensinniger Mann“, sagte Duncan, „aber einer, dem ich mit Gottes Beistand stets zu Diensten bin.“ Er war überrascht, dass Gott ihn nicht auf der Stelle mit einem Blitz niederstreckte, als Strafe für diese himmelsschreiende Lüge. Oh nein, nicht einmal der Herr konnte Duncan dazu bewegen, Frasyer zu verzeihen, dass er ihm Isabel genommen hatte – oder es auch nur hinzunehmen.

Und als wäre das noch nicht genug, hatte Frasyer zudem Symon auf dem Gewissen.

„Gott segne Euch, Vater.“ Damit folgte der Ritter jenem, den er nach oben geschickt hatte.

Duncan setzte seinen Weg treppab fort. Wie er beim Blick durch eine Schießscharte sah, begann die abendliche Dämmerung bereits, die letzten Reste Tageslicht zu verdrängen. Nicht mehr lange und die Sonne ging unter. Er musste sich beeilen.

Zügig wollte er den großen Saal im Erdgeschoss der Burg durchqueren, jedoch versuchte man mehrmals, ihn aufzuhalten. Er murmelte entschuldigend, dass man ihn leider dringend in der Kapelle benötige, und eilte weiter. Am Eingang zum Verlies stahl er sich an einem Wächter vorbei, der ganz damit beschäftigt war, ein Dienstmädchen zu verführen. Offenbar befürchtete er keinerlei Gefahren mehr, da die Burg schon für die Nacht gesichert worden war.

Während Duncan zum Verlies hinabging, hörte er von unten das Tropfen von Wasser. Es war nicht das erste Mal, dass er diese Treppe nahm, denn einst, als sie noch Freunde waren, hatte Frasyer selbst ihm das Verlies gezeigt. Der Schein einer einsamen Fackel leuchtete vom Kopf der Treppe herab auf die Moosbüschel, die sich an der rauen Steinwand ausbreiteten; überall hingen dichte Spinnweben.

Vorsichtig nahm Duncan die letzte Biegung, hinter der ihn der bedrückende Geruch der verwahrlosten Zellen erwartete. Gott im Himmel! So schlimm hatte er es nicht in Erinnerung. Und hier also befand sich Isabel? Duncan war überzeugt, dass Symon von ihm verlangt hätte, Frasyer auf der Stelle zu töten, wenn er auch nur geahnt hätte, unter welchen Verhältnissen sie eingesperrt war.

Er kam zur ersten Tür und spähte durch das winzige Guckloch.

Leer.

Bei der nächsten Zelle hörte er ein gequältes Stöhnen, offensichtlich das eines Mannes. Und Duncan mochte sich noch so oft wiederholen, Isabel wäre ihm egal: Als er diese Laute hörte und dabei an sie dachte, gefror ihm das Blut in den Adern. Bitte, Gott, mach, dass sie nicht solche Qualen erleiden muss!

In die dritte Zelle drang durch die kleine schmale Fensteröffnung nur das schwache Licht des Mondes, in dem Duncan nicht erkennen konnte, ob sich jemand in der Zelle befand. Angestrengt lauschte er, bis er schließlich überzeugt war, dass sie leer war.

Entmutigt hastete er weiter. Der Gestank schien immer noch weiter zuzunehmen, wenn das überhaupt möglich war. Es fehlte nicht viel und er hätte sich übergeben. Aye, er und seine Brüder hatten auch Gefangene genommen, wie es in einer Schlacht nur allzu häufig vorkam. Aber sie hatten die Männer stets mit einem Mindestmaß an Anstand behandelt, während man diesen Unrat hier, die verfaulenden Essensreste und schäbigen Zellen, nicht einmal einer Schmeißfliege zumuten konnte.

Was auch immer Isabel getan hatte, um Frasyer gegen sich aufzubringen: Das hatte sie nicht verdient.

„Isabel, wo bist du?“ In sein Flüstern mischte sich das Stöhnen des Gefangenen aus der zweiten Zelle. Vielleicht war auch Isabel verletzt. Oder krank. Oder sie lag irgendwo hilflos auf dem Boden, ganz ohne Kraft, sich bemerkbar zu machen.

Er musste sie bald finden, solange noch ein wenig Licht hereindrang, sonst war es zu spät. Angst überkam Duncan, die er schnell verdrängen musste, um die nächste Zelle in Augenschein zu nehmen.

Er blickte hinein und sah, wie die schwachen Strahlen des letzten Tageslichts, die durch eine unsagbar kleine Fensterluke hereindrangen, auf eine weibliche Gestalt fielen, mit schlankem Körper und einem sanften Gesicht, dessen Wangen völlig bleich waren. Wilde bernsteinfarbene Locken schimmerten in der Dämmerung.

Isabel.

Er sah sie, und sogleich wurde die Vergangenheit wieder lebendig. Er hörte ihr herzliches, warmes Lachen. Stellte sich ihre bebenden Finger vor, die zart und aufgeregt über seine Brust strichen. Und spürte die explodierende Leidenschaft, als ihre Lippen zum ersten Kuss zusammenfanden.

Fluchend unterdrückte Duncan die Erinnerungen, so wütend machte es ihn, welche Gefühle Isabel noch immer in ihm auslöste, sobald er nur an sie dachte. Er entfernte den Balken, mit dem die Tür verriegelt war, und stieß sie auf.

Das Fackellicht fiel in den feuchten und kalten Raum.

Isabel hatte gehört, wie Metall über Holz schabte, und fuhr herum. Aus ihren braunen Augen schaute sie unsicher zu ihm und legte die Stirn fragend in Falten. „Vater?“

Überrascht blickte Duncan hinter sich, ob dort unbemerkt ein Priester aufgetaucht war, dann besann er sich und nahm die Kapuze ab. „Nay!“

Isabel erschrak. „Duncan?“

„Leise!“ Seine Stimme blieb ruhig. „Sonst verrätst du uns noch beide, wenn die Wachen auf ihrer Runde vorbeikommen.“ Er blickte zur Treppe, dann sprang er in die Zelle, wo er auf dem harten Bett aus fauligem Stroh landete. „Still!“

„Aber …“

Duncan umfasste ihren Arm.

Ein Fehler.

Er war ihr nah. Zu nah. Das Gefühl war ihm noch immer so vertraut, als habe er sie erst gestern das letzte Mal berührt. Als müsste er nur einmal blinzeln und die letzten drei Jahre würden sich wie ein Albtraum auflösen.

Ihre vollen Lippen hatten sich überrascht geöffnet. Alles, woran er in der Dunkelheit, die inzwischen herrschte, noch denken konnte, war das Gefühl ihrer Haut und wie sie damals willig seinen Berührungen entgegengekommen war. Jedoch hatte er sie nie gedrängt, nie hatte er verlangt, worauf er doch ein Anrecht hatte – nein, das hatte sie freiwillig seinem Feind geopfert. Noch schlimmer: seinem falschen Freund, denn als solcher hatte sich Frasyer erwiesen, als sie beide noch jung gewesen waren.

Duncan stieß Isabel von sich, als habe er sich an ihr verbrannt. Erschrocken stolperte sie, fing sich aber sogleich wieder.

„Warum trägst du ein Priestergewand?“, fragte sie und reckte das Kinn empor. „Hat Frasyer dich gesandt?“

„Frasyer? Nein. Ich bin hier, um dir bei der Flucht zu helfen.“

Sie schaute ihn eindringlich an, als wollte sie herausfinden, ob er die Wahrheit sagte. „Warum?“

Langsam wurde er ärgerlich. „Schau dich doch um. Willst du etwa in dem Dreckloch bleiben?“

Sie schüttelte den Kopf und atmete vorsichtig aus. Sein Blick fiel auf die Kleidung, die ihr um den Leib schlotterte. Offenbar ließ Frasyer sie hungern. Duncan fragte sich, auf welche Weise der Schuft sie wohl außerdem noch gequält hatte.

„Du solltest nicht hier sein“, sagte sie. „Du riskierst dein Leben.“

Empört schnaufte er und entgegnete: „Ausgerechnet du machst dir Sorgen um mich?“

„Bitte geh.“

Nein, ganz gewiss würde er ihrer verzweifelt vorgetragenen Bitte nicht entsprechen. Interessanter war es, warum sie ihn zum Gehen aufforderte. Nur einen Grund konnte Duncan sich vorstellen … Er griff ihre Handgelenke. „Ist dies eine Falle? Machst du etwa gemeinsame Sache mit Frasyer?“

Wütend verzog sie das Gesicht, und mit einem Ruck wollte sie ihre Hände befreien. „Wie kannst du so etwas nur denken? Das würde ich niemals machen.“

„Nein“, meinte er höhnisch, „so wie es auch niemals deine Absicht war, dein Verlöbnis mit mir zu brechen, um Frasyers Bettgenossin zu werden.“ Verdammt! Er hatte sie nicht zur Rede stellen wollen. Er wollte gar nicht wissen, was sie dazu zu sagen hatte. Stattdessen wollte er in sich das Gefühl des bitteren Verrats von damals aufrechterhalten – aber jetzt war es zu spät, die Bemerkung war heraus.

Isabel erstarrte. „Ich will nur nicht, dass dir ein Leid geschieht.“

Seltsamerweise glaubte er ihr. Soweit es die Dunkelheit erlaubte, blickte er sich in der trostlosen Zelle um. Außer der Bettstatt aus altem Stroh und einer mottenzerfressenen Wolldecke sowie einer halb leeren Schüssel, deren Inhalt er lieber nicht genauer wissen wollte, enthielt der Raum nichts.

„Wie ich sehe, macht Frasyer seiner Geliebten den Aufenthalt so bequem wie möglich.“

Sie errötete, doch wandte sie sich nicht ab, als sie ihn fragte: „Warum bist du gekommen?“

Er ließ sie frei. „Weil Symon mich darum gebeten hat.“

Als er den Namen ihres Bruders nannte, wich alles Blut aus ihrem Gesicht. Dann aber ließ die Hoffnung ihr Gesicht aufblühen wie der Frühling eine Rose.

„Symon?“ Sie zeigte ein vorsichtiges Lächeln und trat zu ihm. „Er lebt? Heilige Jungfrau, ich danke dir. Und ich war mir sicher, dass er tot ist.“ Sie legte Duncan die Hand auf den Arm. „Wo ist er? Ich muss …“

„Isabel.“ Als sie seine raue Stimme hörte, rutschte ihre Hand herunter. In Duncans Kopf begann es, dumpf zu pochen. Ein Missverständnis! Keinesfalls hatte er ihr Hoffnungen machen wollen, aber jetzt schaute sie ihn erwartungsvoll an.

„Duncan?“ In ihren goldbraunen Augen schimmerte immer noch so etwas wie Vertrauen. Da er nicht antwortete, ballte sie ihre zitternden Hände zusammen. „Wo ist Symon?“

Es fiel ihm schwer, ihr die Wahrheit zu sagen, und doch konnte er sich nicht davor drücken. Er reichte ihr die Stickerei. „Symon ist tot.“

„Tot?“ Isabel rang nach Atem, als sie das kostbare Stoffstück umklammerte. Sie hatte sich hinreißen lassen, hatte sich ausgemalt, er würde noch leben, einfach weil sie an das Unmögliche hatte glauben wollen. Die Zelle rund um sie verschwamm vor ihren Augen.

Symon.

Ihr Bruder, Vertrauter, Freund.

Tot.

Verloren in einem Nebel fühlte sie, wie Duncan sie stark und entschlossen an der Schulter fasste und an seinen tröstenden Körper zog, um sie zu stützen.

„Es tut mir leid.“

Sein geflüstertes Beileid drang langsam in ihr Bewusstsein. Wie hatte sie nur so dumm sein können, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen und anzunehmen, ihr Bruder würde noch leben? Alles, was sie jetzt noch wollte, war, sich ganz fest an Duncan zu schmiegen. Nur er konnte sie gegen diese furchtbare Wahrheit beschützen, die ihr das Herz zerriss. Konnte man nicht so tun, als hätte es die letzten drei Jahre nie gegeben? Als wäre Symon gesund und munter und als wäre Duncans Umarmung das Natürlichste von der Welt, nicht nur eine Geste, mit der er ihr kurz Trost schenkte?

Ein Schrei im Hof holte sie in die Realität zurück.

„Wir müssen aufbrechen, ehe die Wachen hier auftauchen“, sagte Duncan.

Benommen ließ sie sich von ihm zur Tür führen.

Von der Treppe hörten sie das entfernte Geräusch von Schritten.

Duncan machte sich fluchend frei und horchte. „Es sind mehrere Personen. Du bleibst hier. Ich komme zurück, sobald sie wieder fort sind.“ Einen kurzen Augenblick lang schien es, als wollte er noch etwas sagen, dann huschte er aus der Zelle. Er zog die Tür hinter sich zu und verriegelte sie. In der Zelle wurde es wieder dunkel, und Isabel hörte nur noch, wie er sich behutsam entfernte.

Sie sank gegen die kalten Steine und schlang schützend die Arme um ihren zitternden Leib, in der einen Hand die Stickerei, die sie Symon geschenkt hatte. Sie kämpfte gegen die Trauer, die dieser Schicksalsschlag in ihr auslöste. Nur ein Gedanke schenkte ihr ein wenig Zuspruch.

Duncan ist hier.

So oft hatte sie gebetet, er möge sie retten. In der leeren Zelle, in ihrer Einsamkeit, hatte sie ihn sich Tausende von Malen vorgestellt: sein lächelndes Gesicht und sein von der Sonne gebleichtes Haar – das Haar einer launischen Fee, so hatte sie ihn immer aufgezogen und sich daran gefreut, wie unnachahmlich ihm seine eigenwilligen Locken über die Schulter fielen.

Tränen reiner Freude waren jedes Mal in ihr aufgestiegen, wenn sie phantasiert hatte, wie er sie in die Arme schloss und seinen Mund fordernd auf ihren presste, zu einem Kuss, in dem die Entschlossenheit eines Mannes lag, der sie liebte und dessen Herz fähig war, ihr zu verzeihen. Eines Mannes, der verstand, dass sie nicht freiwillig Frasyers Geliebte geworden war.

Das Klirren von Schlüsseln am Ende des Gangs schreckte sie aus ihren Gedanken, die doch nichts als törichte Träume waren.

Symon würde sich nicht aus seinem Grab erheben.

Und Duncan würde ihr nicht vergeben, dass sie aus freiem Entschluss zu Frasyers Geliebten geworden war, wie er glaubte. Dabei hatte sie keine andere Möglichkeit gehabt – aber das konnte sie ihm noch nicht einmal erklären, hatte Frasyer doch gedroht, Duncan zu töten, sollte sie ihm von ihrem gegenseitigen Abkommen erzählen.

Genauso sehr wie Frasyers Drohung fürchtete sie allerdings Duncans Wut, wenn er die Wahrheit erfahren sollte. Er wäre zu allem fähig, darum durfte er es nicht erfahren. Er würde alles nur noch schlimmer machen.

Nun aber war Duncan hier, nicht weil er selbst es wollte, sondern weil er es Symon versprochen hatte.

Symon. Gott steh mir bei. Ihre Hand ballte sich um den Stoff mit der Stickerei. Tränen brannten ihr in den Augen. Nie wieder würde eine Umarmung ihres Bruders ihr Trost schenken, für immer hatte sie seine Stärke, sein Mitleid und seine klugen Ratschläge verloren. Stattdessen erinnerte sie sich daran, wie sehr er gelitten hatte, als sie ihm mitgeteilt hatte, Frasyers Geliebte zu werden.

Sie hatte gehofft, ihren Vater schützen und den Familiensitz retten zu können, indem sie Frasyers Bedingungen akzeptierte. Niemals hätte sie sich da vorstellen können, dass ihre Entscheidung eines Tages dazu beitragen würde, dass Symon sterben musste.

Genau das aber war geschehen.

Sie hätte ihn an jenem Tag nicht aufsuchen dürfen, vor allem nicht, da sie ihm nur ihr Geschenk hatte geben wollen. Das Wappenzeichen.

Und jetzt war er tot.

Isabel schluchzte auf, Tränen flossen ihr die Wange herab. Um sich abzulenken, wandte sie sich der Fensterhöhle zu und blickte in das kalte Schwarz der Nacht.

Sie musste hier raus und ihren Schmerz überwinden. Über die Trauer um Symon durfte sie nicht vergessen, welche Verantwortung sie für ihren Vater trug.

Sie musste die Bibel finden. Egal wie.

Als sie vor der Tür Schritte hörte, wirbelte sie herum und stopfte beim Geräusch eines Holzriegels schnell die Stickerei in die Tasche. Im Gang unterhielten sich mehrere Wächter. Plötzlich kam es zu einem Handgemenge, und wütende Schreie erklangen wie bei einer brutalen Auseinandersetzung.

Duncan! Isabel eilte zur Tür. Das Ohr gegen das Holz gepresst versuchte sie, etwas zu verstehen.

Augenblicke später herrschte wieder Stille, bis sie vor ihrer Tür das Schaben von Stiefeln vernahm.

Sie taumelte zurück.

Das Holz knirschte, als man den Riegel an ihrer Tür zurückschob. Von einem heftigen Stoß schwang die Tür auf. Gelbliches Fackellicht durchdrang blendend die Dunkelheit der Zelle, und einer der Wächter tauchte in der Türöffnung auf.

„Hier.“ Er hielt ihr einen halben Laib hartes Brot und einen Kanten Käse hin.

Es kostete sie Mühe, einen Schritt nach vorne zu machen und das Essen entgegenzunehmen, als wäre nichts geschehen. Offenbar hatten sie Duncan nicht entdeckt. Der Lärm musste von einem der anderen Gefangenen ausgegangen sein, der Widerstand geleistet hatte.

„Zurück“, befahl der Wächter.

Isabel folgte seinem Befehl wortlos.

Er zog die Tür zu.

In der Zelle wurde es erneut grauenerregend finster. Ein kalter Luftzug traf Isabel, und sie bekam eine Gänsehaut. Am Himmel grüßte nicht ein einziger Stern die hereinbrechende Nacht.

Als sie das widerwärtige Essen beiseitelegte, schauderte es ihr vor Ekel. Der Hunger war ihr hier schon lange vergangen. Anhand des Türenknallens, das die Verteilung der Speisen begleitete, konnte sie erkennen, wie die Wächter sich von Zelle zu Zelle bewegten.

Nach einiger Zeit schließlich legte sich eine drückende Stille auf das Verlies, nur gelegentlich unterbrochen von einem jammernden Windstoß oder dem leidenden Stöhnen eines Gefangenen.

Sie fühlte sich wie lebendig begraben.

Wo war Duncan? Mit jedem Moment, den er nicht zurückkehrte, wuchs ihre Furcht. Symon hatte man ihr bereits genommen, und auch das Leben ihres Vaters war in höchster Gefahr. Da durfte sie nicht noch ihn verlieren. Leise rief sie: „Wo bist du, Duncan?“

Augenblicke verstrichen.

Ihre Angst wurde immer verzweifelter.

Sie fürchtete schon, verrückt zu werden, als endlich der Türriegel knirschte. Sie fuhr herum. Knarrend öffnete sich die Tür, und Duncan stand in der Türöffnung. Im flackernden Schein einer fernen Fackel wirkte er wie ein stolzer Gott, der die Welt herausfordern wollte.

Stolz und unerreichbar.

Nach einem vorsichtigen Blick den Gang hinunter betrat er die Zelle und schloss die Tür. Dunkelheit umgab sie. „Isabel?“

Die angstvolle Spannung, mit der sie auf seine Rückkehr gewartet hatte, verflog, und sie vergaß ihren Entschluss, ihm nicht zu nahe zu kommen. Sobald sie seine besorgte Stimme hörte, eilte sie zu ihm, und er schloss sie in die Arme, ohne einen Augenblick zu zögern. Die vertraute Berührung rief in ihr einen tiefen Schmerz hervor, eine Sehnsucht nach ihm, die wohl nie nachlassen würde.

„Gott sei Dank ist dir nichts geschehen. Du warst so lange verschwunden. Ich glaubte schon, die Wächter hätten dich gefasst.“ Es überraschte sie, wie ruhig ihre Stimme war, während in ihr ein einziger Aufruhr herrschte.

Duncan löste sich von ihr. „Als ob das einen Unterschied machen würde.“

Autor

Diana Cosby

Diana Cosby ist eine internationale Bestsellerautorin. Ihre preisgekrönten historischen Liebesromane, die im mittelalterlichen Schottland spielen, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Bevor sie Autorin wurde, machte Diana Karriere bei der Navy, zog in dieser Zeit 34 Mal um und lernte auf diese Weise viele unterschiedliche Kulturen kennen. Ihre Zeit in Europa...

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