Der verwegene Plan der Küchenmagd

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Frankreich, 1297: Biedeluue ist fest entschlossen, ihre Schwester zu retten, die von Ian von Warstone auf seiner Festung gefangen gehalten wird. Sie gibt sich als Küchenmagd aus und verschafft sich so Eintritt zur Burg. Doch sie ist nicht die Einzige mit einem Geheimnis: Auch Louve von Mei Solis hat sich als Diener getarnt, um eine legendäre Schatzkarte aufzuspüren. Als beide erkennen, dass sie einen gemeinsamen Feind haben, beschließen sie, sich zu verbünden. Je mehr Zeit sie hinter den dunklen Burgmauern miteinander verbringen, desto höher schlagen die Flammen der Leidenschaft. Doch werden sich ihre Wege wieder trennen, sobald beide ihr Ziel erreicht haben?


  • Erscheinungstag 18.04.2023
  • Bandnummer 385
  • ISBN / Artikelnummer 9783751515955
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Frankreich – 1297

Biedeluue wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und konzentrierte sich auf die Trinkkelche, die sich in einer großen Pyramide auf dem abgewetzten Tisch vor ihr stapelten. Die feixende Menge um sie herum und ihr Herausforderer rückten immer näher, um einen besseren Blick auf das Geschehen werfen zu können, doch Biedeluue drängte die Leute wieder zurück.

„Ich schwinge meine Hüften für niemanden hier!“, rief sie laut und schwenkte dabei den Kelch in ihrer Hand, woraufhin die Menge lachend zur Seite wich.

„Dann schwinge ich deine Hüften!“

Galen zwinkerte erst mit dem einen Auge, dann wesentlich langsamer mit dem anderen. Ah nein, eigentlich war es kein Zwinkern – so wie sie selbst versuchte er, den Biernebel zu vertreiben und den Blick zu schärfen.

„So betrunken, wie du bist, solltest du so etwas gar nicht erst versuchen, Galen! Du wirst dir damit nur Ärger einhandeln.“ Vage deutete sie in die Nähe seiner eigenen Kelch-Pyramide. „Lass mal sehen, wie du mit kleineren … Kelchen zurechtkommst.“

„Als wenn er damit umgehen könnte!“, brüllte Tess vom Backofen herüber.

Irgendjemand klatschte in die Hände, und alle – vom Kellermeister bis zum Mundschenk – johlten und pfiffen durch die Zähne. In der Küche ging es immer geschäftig zu, doch in diesem Moment platzte sie aus allen Nähten. Auch wenn sie so groß wie ein halbes Königreich schien, so war in diesem Moment dennoch ein lautes Poltern zu hören. Etliche Köpfe drehten sich in Richtung des Lärms, doch Biedeluue konzentrierte sich ganz auf ihre Aufgabe. Schnelle Bewegungen waren dabei fehl am Platz. Wie viel Bier hatte sie jetzt getrunken? Nach der zwanzigsten Schöpfkelle hatte sie aufgehört zu zählen. Diejenigen in der Menge, die Wetten abgeschlossen hatten, würden das Spektakel zweifelsohne genau verfolgen.

Jedes Mal, wenn sie die Schöpfkelle angesetzt hatte, musste sie einen weiteren Kelch auf die Pyramide setzen. Sie verengte die Augen, um klarer zu sehen. Wie oft hatte sie nun schon getrunken? Zwanzigmal? Vermutlich eher fünfundzwanzigmal.

Was auch bedeutete, dass Galen, ihr Herausforderer, genauso viel getrunken hatte … Nein, gerade hatte er eine weitere Kelle Bier in sich hineingeschüttet und nach einem Kelch gegriffen, um ihn auf die Spitze seiner Pyramide zu setzen.

Verdammt sollte er mit seiner Größe und diesen Armen sein, die zweimal so lang waren wie ihre … noch dazu schien er doppelt so viele davon zu besitzen. Vier Arme? Das war doch ein ganz ungerechter Vorteil!

„Keine Hilfe!“, rief sie sofort, als sie sah, wie Galen rückwärtstaumelte und Henry ihn mit einer Hand stützte.

Daraufhin hob Henry beide Hände in die Höhe. Biedeluue nickte befriedigt. Ein Fehler, wie sich herausstellte, denn in ihrem Kopf drehte sich plötzlich alles. Rasch stellte sie sich breitbeiniger hin, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

Wenn Galen zu Boden ging, hatte sie gewonnen. Wenn Galen seine Kelche als Erster zum Einstürzen brachte, hatte sie auch gewonnen. Und wenn sie gewann, dann würde sie … Sie würde …

Himmel, sie musste gewinnen! Hier stand noch so viel mehr auf dem Spiel als ein paar Trinkkelche.

Nicht nur ihre Gedanken verdüsterten sich, auch eine Welle der Übelkeit stieg in ihr hoch. Sie blinzelte heftig, während sie die grölende Menge betrachtete und die Kelche, die sie viel zu hoch aufgetürmt hatte. Jetzt musste sie einen weiteren auf die Spitze setzen.

Eine leichte Aufgabe. Das Ganze war ein Kinderspiel. Sie musste nur die Kelche aufeinandersetzen, das Bier trinken und den Brauer Galen schlagen, der angeblich kein Trinkspiel mehr verloren hatte, seit er ein kleiner Junge gewesen war.

Die Wette würde sie mit links gewinnen, denn auch sie hatte kein Trinkspiel mehr verloren, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, und sie war älter als Galen. Genau genommen war sie älter als die meisten Bediensteten in der Küche von Warstone. Die Einzigen, die älter waren als sie, waren diejenigen, die bereits Kinder hatten und außerhalb der Festung im Dorf wohnten.

Sie selbst war alt genug, um einen Ehemann und Kinder zu haben, doch das hatte sie bislang bewusst vermieden, weil sie genug schlechte Erfahrungen mit den Männern aus ihrem Dorf gemacht hatte. Die Kerle genossen es, ein Mädchen zu manipulieren, dessen Vater sie, ihre vier Geschwister und die schwächliche Mutter im Stich gelassen hatte.

Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, eine eigene Familie zu gründen, so würde sie alles für diejenige tun, in die sie geboren worden war. Seit sie zurückdenken konnte, hatte Biedeluue auf dem Feld gearbeitet, ihrer Mutter beim Kochen und Putzen geholfen und die Kratzer und Wunden ihrer Geschwister versorgt. Als das nicht mehr ausreichte, war sie fortgegangen, um sich eine Anstellung zu suchen. Sie kehrte immer nur zu ihrer Familie zurück, um ihr das ersparte Geld zu bringen und so die Nöte ihrer Verwandten zu lindern.

Mit Ausnahme einer Schwester lebten all ihre Geschwister noch in dem Dorf bei Lyon. Und auch wenn sie selbst durchs Land reiste, um zu arbeiten, so ließ ihre Familie sie nie in Ruhe. Noch immer waren sie auf sie angewiesen. Biedeluue tat, was sie konnte.

War es da ein Wunder, dass sie sofort zu Hilfe geeilt war, als Margery, ihre jüngste Schwester und diejenige, die nicht mehr zu Hause lebte, ihr eine Nachricht sandte, dass sie in Gefahr sei und Biedeluue ihre Brüder zu ihr schicken solle? Nein, sie hatte sofort alles stehen und liegen gelassen, wie sie das immer tat.

So viel hatte sie für ihre Familie schon erduldet, doch dass es ihr nicht gelungen war, Margery vor einem schlimmen Schicksal zu bewahren, machte ihr am meisten zu schaffen. Margery, die immer hatte beschützt werden müssen, wenn die Zeiten wirklich hart wurden. Schließlich hatten die Männer im Dorf nicht nur bei Biedeluue Halt gemacht.

Was geschah jetzt gerade mit Margery? Ihre Botschaft. Hastig hingekrakelt, sodass Biedeluue sie kaum lesen konnte. Sie war nicht einmal unterzeichnet gewesen, doch Biedeluue hatte sie zweifelsfrei erkannt, weil ihre Schwester manche Buchstaben mit einem sehr charakteristischen, wunderschönen Schwung versah. Den behielt sie selbst dann bei, wenn der Inhalt der Nachricht mehr als furchteinflößend war.

Obwohl sie hier eine Anstellung gefunden und das Vertrauen der anderen Bediensteten gewonnen hatte, wusste Biedeluue nicht weiter. Wie sollte sie Margery, die in der Festung von Warstone gefangen saß, nur helfen? Seit zwei Wochen arbeitete Biedeluue nun schon hier, doch ihre Schwester hatte sie in dem ganzen Zeitraum weder gesehen noch gesprochen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Margery sich wirklich hier aufhielt, denn niemand wusste irgendetwas über eine Frau diesen Namens. Niemand …

Was, wenn sie gar nicht hier war? Nein, das konnte nicht sein. Sie musste hier sein! Dies war die persönliche Festung von Ian von Warstone. Jeder Stein und jedes Bodenbrett verwies auf seinen Reichtum, seine Macht und Bösartigkeit. Den Mann, dessen Aufmerksamkeit ihre Schwester so begeistert auf sich gezogen hatte, hatte Biedeluue nie gesehen, doch alles, was Margery in ihrer Botschaft geschrieben hatte, bereitete ihr eine Gänsehaut, und das nicht im positiven Sinne.

Nein, nein, nein, ihre Schwester musste einfach hier sein! Das Kammermädchen hatte ihr verraten, dass sich die Mätresse des Burgherrn ständig die Augen aus dem Kopf heulte. Dann reichte auch noch so viel kaltes Wasser nicht aus, um die geschwollenen Lavendel-Augen wieder zum Strahlen zu bringen.

Lavendelblaue Augen. Margery war die Einzige ihrer Geschwister, die diese Augenfarbe besaß. Ihre Schwester. Eingesperrt und verängstigt. So nah und doch … Nein, sie durfte sich jetzt nicht ihren düsteren Gedanken hingeben.

Biedeluue schluckte schwer. Sie schmeckte Bier und Sorgen.

„Wenn du speien willst“, sagte Henry, „dann hast du da einen Kelch in der Hand.“

„Oder auch ein paar vor dir“, bemerkte Galen und rülpste laut.

Sie verengte die Augen. Galen musste zu Boden gehen, und zwar bald. Nur dass … Als sie ihren Blick wieder auf die Pyramide vor ihr richtete, sah sie, dass die Kelche leider nicht weniger geworden waren. Mein Gott, waren das viele! Und sie hielt immer noch einen in der Hand.

Wo war der denn hergekommen?

„Ich bin ja schon auf viele Missionen geschickt worden“, sagte Louve von Mei Solis, „aber das hier ist mit Abstand die dümmste.“

„Wenigstens hast du dumm gesagt und nicht gefährlich“, erwiderte Balthus von Warstone. „Das gibt mir Hoffnung.“

Louve lockerte die Zügel, während das Pferd unter ihm mit den Hufen scharrte. Zweifellos spürte es das Unbehagen seines Reiters und dessen Männer. Es war das Warten, das an ihren Nerven zerrte. Und es war die Aussicht, dass einige getötet werden würden, sobald sie ihr Ziel erreichten.

Dabei war dies noch einer der angenehmeren Tage. Sie waren hart geritten. Es hatte länger gedauert, Männer und Proviant zu sammeln als erwartet. Kein Wunder also, dass sie von Regen und Frost geplagt wurden, als sie endlich in der Gegend ankamen, die sie auskundschaften wollten. Die Aufgabe, die vor ihnen lag, sah folgendermaßen aus: in eine unbezwingbare Festung eindringen und entweder an eine bestimmte Information, die Kriege beenden konnte, gelangen oder den Mann gefangen nehmen, der von diesem wichtigen Geheimnis Kenntnis hatte.

Angesichts der Tatsache, dass sowohl die Festung als auch der besagte Mann von Hunderten gut ausgebildeter Krieger umgeben waren, keine gerade einfache Aufgabe.

„Wenn ich von dumm spreche, besagt das nicht auch, dass die Mission gefährlich ist?“, versetzte Louve.

Balthus zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich wissen, was du mit deinen vagen Andeutungen sagen willst? Wir kennen uns weniger als einen Monat, selbst das ist schon großzügig gerechnet.“

Louve ignorierte die Beleidigung. Gleich zu Beginn ihrer Reise von Troyes aus hatte Balthus deutlich gemacht, dass er keinen Wert auf Louves Gesellschaft legte. In dieser Hinsicht war er nicht anders als der Rest seiner Familie. „Mich vage auszudrücken habe ich von deinem Bruder Reynold gelernt.“

„Mit dem ich in meinem ganzen Leben weniger Zeit verbracht habe als mit dir“, konterte Balthus.

Louve hörte sowohl den Vorwurf als auch die Neugier heraus. Selbst wenn er eine ganze Lebensspanne Zeit gehabt hätte, wäre es ihm unmöglich gewesen, Reynold, einen der berüchtigten vier Warstone-Brüder und der Mann, der ihn als Söldner angeheuert hatte, zu beschreiben. Und das, obwohl Reynold im Laufe der Jahre zu seinem Freund geworden war – auch wenn Reynold das weiterhin leugnete.

Schon allein die Tatsache, dass er diesen Mann als Freund bezeichnete, barg eine gewisse Ironie, denn Reynold von Warstone war der Erzfeind seines einzigen anderen Freundes: Nicholas von Mei Solis. Hinzu kam, dass die Warstones insgeheim gegen den König von England arbeiteten, ein Umstand, den Louve nicht verstand, denn er war nicht von Adel und kannte sich mit den Intrigen bei Hofe nicht aus.

Intrigen, die ihn auf dieselbe Mission geführt hatten, die Reynold bereits sein ganzes Leben lang zu erfüllen versuchte: die Warstones davon abzuhalten, die Macht zu ergreifen, nach der sie so gierten. Ihr Reichtum und ihr Einfluss waren bereits so groß, dass sie Könige stürzen konnten, und dennoch waren sie nicht zufrieden. Was noch hinzukam: Sie waren … bösartig.

Ehemänner kämpften gegen ihre Ehefrauen und umgekehrt. Die Brüder wurden getrennt voneinander aufgezogen. Nur wenn es gegen einen gemeinsamen Feind ging, verbündeten sie sich. Doch dann tanzte Reynold aus der Reihe und wendete sich gegen alle anderen.

Und aus irgendeinem Grund hatte sich Louve, der kein blaues Blut in sich trug und sich besser mit Haushaltsbüchern als mit Messern auskannte, inmitten dieses Schlamassels wiedergefunden. Wie hatte es nur dazu kommen können, dass ein Mann, der von einem eigenen Stück Land und einer sanftmütigen Ehefrau träumte, in eine solche Verschwörung geriet? Letztlich, weil er genug Münzen verdienen wollte, um sich das ruhige Leben zu ermöglichen, nach dem er sich so sehnte.

Nur was machte das aus Balthus, Reynolds Bruder? Einen Freund? Nein, zumal Balthus auch gar nicht das Bedürfnis hatte, sein Freund zu sein. Dennoch wuchs ihm der jüngere Mann, warum auch immer, ans Herz, und das allein gab Anlass zur Sorge.

Denn der, den sie entweder bestehlen oder so lange foltern wollten, bis er sein Geheimnis preisgab, war der Letzte im Bunde der Brüder: Ian. Vier Brüder, einer bereits tot. Alle zu Feinden erzogen. Reynold und Balthus hatten sich schließlich gegen diesen Letzten verbündet, doch Ian war angeblich der teuflischste der vier.

Louves Ansicht nach ließ sich das allerdings über jeden der Warstones sagen. In der Zeit, die er mit den beiden Brüdern verbracht hatte, hatte er mehrere Gemeinsamkeiten zwischen ihnen entdeckt: Gier, Arroganz und eine bestechende Intelligenz. All das spürte er regelrecht, während Balthus an seiner Seite ritt.

„Beobachtest du mich etwa?“, fragte Louve.

„Du bist so merkwürdig still geworden und hast bewegungslos auf diesen kahlen Baum gestarrt“, entgegnete Balthus. „Wenn du das tust, frage ich mich, was der Grund dafür ist. Und ich mache mir Sorgen, denn ich vertraue dir mein Leben an.“

Louve überlegte, ob auch er allmählich verrückt wurde. Wenn er seine letzten Entscheidungen überdachte, lag die Vermutung nahe. Zuerst hatte er sein Zuhause verlassen, um sich Reynold als Söldner anzuschließen, und nun hatte er sich auf eine Mission mit einem Warstone begeben, den er überhaupt nicht kannte. Auch wenn er die Münzen brauchte und es am einfachsten war, sie sich als Söldner zu verdienen, so änderte das nichts an den möglicherweise negativen Folgen seiner Entscheidung … oder an seiner überaus schwierigen Lage.

Es war erst wenige Monate her, dass Balthus, der Jüngste der Brüder, sich an Reynold gewandt hatte, um ein Bündnis gegen Ian zu schmieden. Louve war von Anfang an dabei gewesen, wusste, was auf dem Spiel stand, und akzeptierte die Konsequenzen. Bündnisse zwischen Verrückten waren keine sichere Angelegenheit.

In der Hoffnung, dadurch Frieden für sein eigenes Leben finden zu können, versuchte Louve jedoch, die beiden Brüder bei Laune zu halten. Warstones. Der Name sagte alles. „Dein Bruder ist zu gerissen, um dumme Männer anzuheuern“, gab Louve zu bedenken.

„Woher soll ich wissen, was für ein Mensch mein Bruder ist, wenn du mir nichts erzählst?“, entgegnete Balthus.

„Du wirst nicht mehr erfahren, als er von sich aus preisgibt“, erwiderte Louve.

„Du warst jahrelang in seinen Diensten und willst mir nichts verraten?“

„Nicht, wenn ich meinen Kopf behalten will. Deinem Bruder würde es gar nicht gefallen, wenn ich über ihn rede. Wenn du so neugierig bist, dann frag ihn selbst“, riet Louve. Was ihn faszinierte, war diese eigenwillige Kombination von Charaktereigenschaften: Beide Brüder waren neugierig, lehnten aber jede Freundschaft ab. Dennoch besaßen sie ein gewisses Ehrgefühl, und bis zu einem bestimmten Punkt verhielten sie sich auch loyal.

„Der Teufel soll dich holen! Du wusstest ganz genau, dass ich neugierig sein würde“, versetzte Balthus.

„Deine Gedanken werden dich von unüberlegten Taten abhalten. Das ist gut und besser, als sich unbegründeten Hoffnungen hinzugeben. Für Hoffnung, daran will ich dich noch einmal erinnern, haben wir keinen Platz.“

Balthus zuckte erneut die Achseln. „Hoffnung ist besser als diese elende Warterei. Die Reise hierher hat mir Spaß gemacht, schließlich haben wir uns Rennen geliefert und Wetten ausgetragen. Aber jetzt ist mir nur noch kalt.“

„Ich dachte, die Wetten hättest du gehasst, weil du ständig gegen mich verloren hast“, spottete Louve.

„Gegen dich hat jeder verloren! Dieses Warten hasse ich.“

„Dir widerstrebt es einfach, Männer zu bezahlen, wenn du keinen Profit aus ihnen herausschlagen kannst.“

„Das ginge jedem so! Es hat ohnehin viel zu lange gedauert, sie aufzutreiben.“

„Reynolds Männer konnten wir nicht nehmen, und deinen eigenen vertraust du nicht genug. Wir brauchten eben viele neue Söldner“, erinnerte Louve ihn.

„Ja, und jetzt sind meine Taschen leer. Wenn wir erst zu diesem Anwesen hätten reiten können …“

„Mei Solis“, half Louve nach.

„Diesen merkwürdigen Namen kann ich mir nie merken“, erwiderte Balthus. „Wenn wir dort zuerst hätten Halt machen können, dann hätte ich jetzt auch noch Münzen.“

Louve besaß selbst eine kleine Kiste voll davon, doch Balthus war ganz andere Summen gewöhnt. Summen, die sich in den großen Truhen von Mei Solis befanden. Ein Besitz, der nicht nur mehrere Wochen entfernt lag, sondern auch noch in einem anderen Land. Balthus würde sich daran gewöhnen müssen, arm zu sein – was Louve beinahe vergnüglich fand.

„Du wirst einfach mit dem auskommen müssen, was du hast“, sagte er. „Die Botschaft deines Bruders war eindeutig: Wir sollten hierherkommen. Pläne ändern sich nun mal.“

„Diese Botschaft haben wir kaum einen Tag, nachdem wir Troyes verlassen hatten, erhalten. Ich bin immer noch nicht völlig davon überzeugt, dass Reynold die richtige Information zugespielt wurde. Vielleicht war er auch nur zu feige, uns das persönlich zu sagen.“

Louve konnte es Balthus nicht verdenken, dass er versuchte, eine Antwort aus ihm herauszuholen, aber seine Taktik war zu offensichtlich.

„Bist du immer noch nicht bereit, mir mehr zu verraten?“, seufzte Balthus. „In Troyes hast du dich anders verhalten. Du hast geredet – ich glaube, du hast sogar gelächelt.“

Ja, in Troyes hatte er sich anders verhalten, in Mei Solis auch. Doch je mehr Risiken er für jemand anderen einging, desto weniger war ihm zum Lachen zumute. Sein Schwur, Balthus von Warstone zu beschützen, war kein leichter gewesen. Sich dieser dunklen Festung des Todes zu stellen, konnte auch sein eigener Untergang sein.

„Wenn du dir um deine Geldmittel Sorgen machst“, bemerkte Louve, „solltest du daran denken, dass sich wahrscheinlich ein Großteil deines eigenen Vermögens in dieser Festung befindet.“ Mit dem Kinn deutete er in Richtung der imposanten Burg. „Du könntest durch das Tor spazieren und deinen Bruder begrüßen. Immerhin bist du ein Warstone.“

„Ja, aber einer, den Ian versucht hat umzubringen. Also nein danke zu diesem Vorschlag.“

„Ian weiß aber nicht, dass du von seinem Verrat Kenntnis hast.“

„Dennoch: Warum sollte ich dort auftauchen und ihn daran erinnern, dass ich lebe?“

„Womit wir wieder beim ursprünglichen Plan wären.“

„Dem ich nicht zugestimmt habe“, erinnerte ihn Balthus.

„Wir haben aber keine andere Möglichkeit. Die Schichten der Burgwachen wechseln ständig. Wir wissen, dass sie unablässig trainieren. Selbst aus der Entfernung sieht man die Verletzungen, die sie sich dabei zufügen.“

„Irgendwann muss Ian seine großartige Festung mal verlassen. Immerhin halten sich seine Frau und seine beiden Söhne dort nicht auf.“

„Du meinst, dass er ein liebender Vater und Ehemann ist, der seine Familie vermisst? Angesichts eurer Familiengeschichte halte ich das für sehr unwahrscheinlich. Seit er den Boten vor Reynolds Tor umgebracht hat, wurde er nicht mehr gesehen. Könntest du mir vielleicht erklären, warum ihr Brüder so sehr darauf aus seid, euch umzubringen?“

„Reynold und ich wollen uns nicht umbringen“, versetzte Balthus.

„Reynold und du wollt euch im Moment nicht umbringen.“

„Ich werde ihm meine Aufrichtigkeit beweisen“, erklärte Balthus.

Louve hegte da so seine Zweifel, doch er misstraute vielen Menschen, sich selbst eingeschlossen. Das lag daran, dass sich nichts von dem, was er über viele Jahre gemacht hatte, richtig anfühlte. Eigentlich wollte er genug Geld verdienen, um sich ein Stück Land zu kaufen und eine Frau zu finden, die ihn wirklich akzeptierte – doch was tat er? Er schickte sich an, eine uneinnehmbare Festung auszukundschaften und ihren Besitzer zu vernichten.

„Im Herzen bin ich Reynolds Bruder, was ich ihm mit meinen Taten beweisen werde“, beteuerte Balthus noch einmal.

Louve warf einen langen Blick auf Balthus’ bandagierte Hand. „Reine Lippenbekenntnisse.“

Der Mann an seiner Seite hob die linke Hand. „Das bedeutet nichts.“

„Wenn dem so ist, warum ist die Hand dann verbunden? Warum zeigst du mir nicht, was deine Mutter getan hat?“

„Der Verband ist eine Mahnung, mehr nicht.“

Ein weiterer Grund, warum Balthus nicht wirklich zu trauen war. Allein der Schmerz aufgrund der Verletzung sollte Warnung genug sein. Balthus’ Mutter, eine Frau, die alles daransetzte, sich sowohl über ihren Gatten als auch den König zu erheben, verlangte regelmäßig von ihren Söhnen, dass die ihr ihre Loyalität bewiesen, indem sie ihre linke Hand über eine Flamme hielten.

Was eine Frage nach sich zog, die auch für Louve von einiger Bedeutung war. „Heilt es?“

„Wenn es zu einem Schwertkampf kommen sollte, spielt es keine Rolle, ob meine linke Hand heilt oder nicht“, entgegnete Balthus.

„Bis zu dem Tag, an dem du deinen Schwertarm nicht mehr benutzen kannst, denn dann bist du auch für mich nutzlos. Ich sorge mich sehr, wie gut du kämpfen kannst.“

„Sollen wir uns noch einmal messen, Louve? Beim letzten Mal habe ich bewusst nicht meine ganzen Fähigkeiten ausgespielt.“

„Wieder reine Worte. Alles, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass ich mich zurückgehalten habe“, widersprach Louve. „Zu deinen Fähigkeiten kann ich nichts sagen.“

„Ich habe dir gesagt …“

„Es ist nicht nur dein Schwertarm, um den ich mir Sorgen mache. Ich befürchte auch, dass du nicht in der Lage sein wirst, die Handsignale auszuführen“, erklärte er.

„Die sind nutzlos“, befand Balthus.

„Nicht, wenn wir uns in einem Gemach befinden, in dem wir nicht offen miteinander reden können. Bei einem Angriff müssen wir das Gemach aufteilen, und dabei ist es das Beste, wenn wir ganz genau wissen, was zu tun ist, ohne es gleichzeitig unserem Feind mitzuteilen.“

„Mit Feind meinst du meine Familie.“ Balthus seufzte laut. „Wie kommst du darauf, dass du es bis in Ians Festung schaffst?“

„Ehe dein Bruder mich angeheuert hat, war ich etwas anderes als ein Söldner.“

„Du meinst, du warst Nachlassverwalter“, spottete Balthus.

Nicht seinen eigenen Besitz hatte er verwaltet, sondern den eines Freundes aus Jugendtagen. Auch wenn er in den vergangenen Jahren einiges an Münzen verdient hatte, so reichte es noch nicht, um die Art Besitz erwerben zu können, die er sich für seine Familie vorstellte.

„Du kannst dich noch so sehr darüber lustig machen, aber meine Erfahrung wird diese verdammte Mission retten“, prognostizierte Louve. „Ich werde in der Festung nach Arbeit suchen. Und zwar nicht als Söldner. Auch wenn du das lächerlich findest, meine Fähigkeiten werden nützlich sein.“

Derzeit mochte er ein Söldner sein, doch in seinem vorigen Leben hatte er einen großen Besitz verwaltet. Jetzt wollte er sein eigenes Land haben. Wenn er sich an den Plan hielt, wenn er nie vergaß, warum er sich auf diese Intrige eingelassen hatte, dann konnte er das vielleicht erreichen.

„Deine Fähigkeiten werden dir nicht viel nützen, wenn sie dich töten“, wandte Balthus ein.

„Sie wissen ja nicht, wer ich bin.“

„O doch, das tun sie“, widersprach Balthus. „Das tun sie immer.“

Reynold hatte oft dasselbe behauptet. „Also schön. Sie wissen es. Entweder lassen sie mich zu ihrer Unterhaltung herein, oder sie töten mich. Aber welche andere Wahl habe ich? Keine. Du kannst nicht gehen, und der Rest der Männer weiß lediglich, wie man ein Schwert führt. Ich werde derjenige sein, der die Aufgabe erfüllt. Das war schon immer so.“

„Also gut, nehmen wir mal an, sie geben dir Arbeit und lassen dich herein. Was dann?“

„Ich werde alle Kammern und Gemächer nach diesem rätselhaften Pergament durchsuchen, von dem Reynold behauptet, dass Ian es besitzt.“

„Es wird nicht einfach offen irgendwo herumliegen. Und was passiert, wenn es gar nicht existiert?“

„Dann nehmen wir Ian gefangen, und du kannst ihn foltern, bis du die Information aus ihm herausgeprügelt hast.“

„Warum rede ich überhaupt mit dir? Du bist ein toter Mann …“, Balthus atmete lange aus, „… der sich keine Gedanken um irgendeinen Schatz machen sollte, von dem niemand außer Reynold etwas weiß.“

„Wir können nicht sicher sein, dass sonst niemand davon weiß. Ian mag es bereits erraten haben, wenn er wirklich das Pergament besitzt. Und vermutlich wissen auch deine Eltern davon.“ Louve zuckte die Achseln. „Wenn sie sowohl vom Juwel der Könige als auch von dem Pergament Kenntnis haben, dann können sie eins und eins zusammenzählen. Du willst doch wohl nicht, dass Ian oder deinen Eltern ein Schatz in die Hände fällt, der ganze Länder vernichten kann.“

„Es ist töricht, Schätzen hinterherzujagen“, entgegnete Balthus. „Es wäre viel wichtiger, uns die Legende zu eigen zu machen. Wir sollten den Dolch und den Edelstein suchen, nicht irgendwelche Informationen. Warum wollen weder mein Bruder noch du verstehen, dass das Wiederauftauchen des Juwels der Könige den ganzen Verlauf des Krieges mit Schottland ändern könnte?“

„Aus genau diesem Grund will deine Familie den Edelstein ja unbedingt haben – und der König von England ebenfalls. Die Legende wird aber nur dann fortbestehen, wenn es etwas gibt, das als Beweis dient. Daher der Schatz. Auch wenn König Edward das glauben mag, so ist der Edelstein nicht wirklich magisch wie das Schwert Excalibur.“

Louve konnte es eigentlich nicht fassen, dass sowohl die Geschicke der Welt als auch seine eigene Hoffnung auf ein friedvolles Leben an Legenden hingen, doch so war es. In den vergangenen Jahren waren Gerüchte über das Juwel der Könige – ein grüner Edelstein, der oft auf eine Stufe mit Excalibur gestellt wurde – im Zusammenhang mit den Intrigen der Warstones wiederaufgetaucht. Die Legende besagte, dass derjenige, der das Juwel besaß, auch Schottland in der Hand hatte. Ob das nun stimmte oder nicht, allein der Glaube daran reichte, dass ein Wettlauf begonnen hatte, um den rätselhaften Stein zu finden. Nicht nur König Edward jagte danach. Vor allem die Warstones strebten nach noch mehr Macht und setzten alles daran, den wertvollen Stein in die Finger zu bekommen.

Reynold jedoch hatte alles studiert, was mit dem Juwel, das in dem hohlen Griff eines Dolches versteckt sein sollte, zusammenhing. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass der Edelstein eine andere Bedeutung hatte. Dolch und Stein deuteten seiner Ansicht nach in Richtung eines solchen Reichtums, dass er alle Könige und Fürsten in die Knie zwingen konnte. Reynold wollte unbedingt verhindern, dass irgendjemand zu solcher Macht gelangte. In dieser Hinsicht stimmte Louve ihm zu.

„Wir sind hier, um das Juwel, den Dolch und alles, was zu der Legende oder dem anderen Schatz aufgeschrieben wurde, an uns zu nehmen. Zumindest das Pergament, das irgendwo in Ians Festung versteckt sein soll, müssen wir finden.“ Louve fasste die Zügel wieder fester. „Wir können nicht zulassen, dass deine Familie noch mehr Reichtum oder Macht erlangt.“

Balthus schnaubte. „Irgendeine dumme Legende, ein protziges Juwel, und hier sind wir und versuchen, wegen eines Stücks Pergament eine uneinnehmbare Festung zu bezwingen, ohne einen wirklichen Plan zu haben, wie wir wieder hinauskommen.“

„Ich werde als einfacher Diener hineingehen. Sind wir uns jetzt einig, was den Plan angeht?“, fragte Louve.

„Nein“, erwiderte Balthus, „aber wir sind fest entschlossen.“

2. KAPITEL

Biedeluue atmete einmal lange aus, dann ein weiteres Mal. Über vierzig Kelche türmten sich vor ihr auf. Über vierzig Kellen Bier.

Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie über ihre kurzen Arme und Beine nicht glücklich, ganz zu schweigen von ihren stolzen Brüsten. Brüste, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte und die ihr im Moment nur hinderlich waren. Sie war zwei Köpfe kleiner als Galen, der mit seinem blonden Haarschopf den Staub von der Decke wischen konnte, falls er das wollte. Und er war dünn wie eine Bohnenstange. Eigentlich müsste er das Bier längst merken.

Sie verengte die Augen und betrachtete ihn genau. Er hatte jetzt fünf Beine, die genauso stark wie alles andere an ihm zitterten. Es konnte nicht mehr lange dauern. Alles, was sie tun musste, war … hm.

Rasch schob sie ihre Brüste zur Seite. Wenn sie doch nur kleiner wären …

„Brauchst du Hilfe bei den beiden?“, rief ihr Henry keck ins Ohr. „Autsch!“

„Das hast du davon, jemanden so zu erschrecken“, entgegnete sie.

Henry rieb sich den Hinterkopf. So hart hatte sie ihn mit dem Kelch eigentlich gar nicht getroffen.

„Ich stand die ganze Zeit hier, Biedeluue“, verteidigte er sich.

„Und du bist viel zu dicht neben mir!“ Wenn er sie noch einmal anrempelte, würde sie ihm wirklich wehtun.

„Natürlich stehe ich dicht bei dir. Wie soll ich dir sonst helfen, die beiden Hübschen aus dem Weg zu schieben?“

Irgendjemand lachte laut.

Sie stieß Henry den Ellbogen in die Seite. „Vielleicht solltest du dir jemanden suchen, der zuerst deine eigenen Brüste wegschiebt!“

Die Menge johlte. Der pummelige Henry wich vorsichtig zurück. Biedeluue war sicher, dass er ihr die Beleidigung nicht lange krummnehmen würde. Aber sie hoffte, dass er sie nicht gerade in dem Moment heimzahlte, in dem sie gegen seinen engsten Freund antrat – jemanden, den sie erst seit Kurzem kannte.

Genau genommen kannte sie all diese Menschen erst seit Kurzem. Deshalb nahm sie an solchen Spielchen teil: um sich bei Leuten einzuschmeicheln, die sich bereits ihr ganzes Leben lang kannten. Sie musste sich diese Leute zu Freunden machen, sie brauchte deren bedingungsloses Vertrauen. Sie mussten sie für aufrichtig und unterhaltsam halten, denn sie benötigte dringend … Wegen ihrer Schwester, ihre Schwester war …

Kelche! Sie umklammerte den in ihrer Hand fester und betrachtete die schwankende Pyramide vor sich.

Dann kam ihr eine Idee. Vorsichtig näherte sie sich dem Tisch. Wenn sie sich ein wenig nach rechts neigte und den linken Arm im richtigen Winkel anhob, dann konnte es klappen. Biedeluue warf der Menge ein breites Grinsen zu, dann rief sie: „Sieh genau hin, Galen! Gleich wirst du weinen!“

Diesmal steigerte sich das Johlen der Menge zu ohrenbetäubendem Gebrüll.

Louve hatte nie zuvor in seinem Leben einen solchen Tumult gesehen, was schon einiges hieß. Immerhin hatte er als Söldner Jahre auf der Straße und in unzähligen Gasthäusern verbracht, hatte so viel getrunken, dass er am nächsten Morgen mit zwei Frauen im Bett aufgewacht war, nur um festzustellen, dass er die Besinnung verloren hatte, ehe irgendetwas zwischen ihnen passiert war.

Ein ganzes Jahr lang hatte er sich diese Geschichte von den anderen Söldnern vorhalten lassen müssen. Heilfroh war er gewesen, als deren Vertrag schließlich erfüllt war und sie entlassen wurden. Die Bekanntschaft mit den anderen Söldnern war meist nur von kurzer Dauer. Nur er selbst verblieb in den Diensten Reynolds von Warstone.

Mit Gaukelei und fröhlicher Belustigung kannte er sich aus, aber was sich hier vor seinen Augen abspielte, übertraf alles. Einen winzigen Augenblick lang gestattete er sich, das Spektakel zu genießen. Die gefährlich hoch aufgetürmten Kelche, das vergossene Bier. Die roten Wangen der Betrunkenen und die lachenden Gesichter der anderen.

Es hatte eine Zeit in seinem Leben gegeben, da hätte er sich sofort mitten in das wilde Treiben hineingestürzt. Doch jetzt, wo so viel auf dem Spiel stand, konnte diese Form der Unterhaltung tödlich gefährlich werden. Nachdem er jeden Schritt mit Sorgfalt geplant hatte, würde er nicht zulassen, dass seine Strategie von ein paar gedankenlosen Zechern zunichtegemacht wurde.

Immerhin hatte er es tatsächlich geschafft, Zugang zur Festung zu erhalten. Ohne eine einzige Waffe, nur mit gebeugten Schultern und in ärmlicher Kleidung. Als er sich den fünf Wachen am Tor näherte, sah er genauso aus wie irgendein Dorfbewohner.

Dem ersten Wachmann hatte er gesagt, dass er nach Arbeit in der Festung suche. Zuerst hatte er lautes Gelächter geerntet, doch der Mann zu seiner Rechten wurde viel zu schnell ernst, was Louve sofort in höchste Alarmbereitschaft versetzt hatte. Als er den Mann genauer betrachtete, entschied der offenbar, dies möge Louves Glückstag sein. Dann bedeutete er dem Torhüter, ihm Einlass in die Festung zu gewähren.

Mit einem raschen Blick auf die Wachen öffnete der Torhüter die kleine Seitenpforte und wies Louve an, sich beim Burgvogt zu melden. Als er den Mann schließlich ausfindig gemacht hatte, schien der beinahe Angst vor ihm zu haben. Daher hielt Louve den Blick gesenkt und schob die Schultern noch ein wenig mehr vor.

Seiner Erfahrung nach waren die Vögte häufig überheblicher als die Lords selbst. Aus gutem Grund, ihnen oblag die komplette Verwaltung des Besitzes, und sie hatten die volle finanzielle Verantwortung. Sie überwachten alles: von der Führung der Haushaltsbücher bis hinunter zur Lieferung der Zutaten, die die Brauer benötigten, um ihr Bier zu brauen.

Doch der Vogt vor ihm wollte sich einfach nicht entspannen. Louve konnte den Rücken schlecht noch mehr beugen oder seiner Stimme einen noch demütigeren Klang geben, während er die üblichen Fragen beantwortete. Vielleicht lag es an der sonderbaren Anspannung des Vogts, dass dieser geradezu übertrieben dankbar wirkte.

Es stimmte schon, dass Louve sich mit allen Aufgaben eines Vogts auskannte. Er konnte sowohl die Bücher führen als auch die Nahrungsvorräte verwalten, aber irgendetwas stimmte hier nicht. Dennoch schlug er sofort ein, als ihm die Position des Hofmeisters angeboten wurde. An dieser Mission war alles gefährlich – wenn dies hier eine Falle war, dann war sie dennoch zu aussichtsreich, um sie auszuschlagen.

Ein Hofmeister war für die Abläufe in der großen Halle zuständig. Er überwachte die Küche und die Speisenfolge und behielt die Vorräte immer im Auge. Zu den Truhen hatte er zwar keinen Zugang, aber ansonsten kam er in der Burg fast überallhin.

Er konnte Ian von Warstone vergiften oder gefangen nehmen, um ihn seinem Bruder Balthus zum Verhör auszuliefern. Wenn er sehr viel Glück hatte, konnte er Ians Privatgemächer durchsuchen und das Pergament finden, mit dem Reynold die Warstones besiegen wollte.

Wochenlang hatten sie Pläne geschmiedet und die Mission aus allen möglichen Blickwinkeln betrachtet. Von einer solchen Gelegenheit hatten sie fast nur träumen können, weshalb Louve nicht zulassen konnte, dass jetzt irgendetwas ihr Ziel gefährdete.

Als der Vogt ihn mit dem Hinweis in die Küche schickte, dass er bald nachkommen werde, betrachtete Louve den dortigen Tumult mit absoluter Selbstsicherheit. Dies war die Mission, die ihm die fehlenden Münzen einbringen würde, die er noch benötigte. Und nicht nur das. Er würde auch den gesellschaftlichen Rang und die Macht erlangen, die er brauchte, um seinen Besitz zu schützen.

Was auch bedeutete, dass er das Spektakel vor ihm nicht dulden konnte. Über dreißig Bedienstete, die am helllichten Morgen Bier tranken, johlten und feierten. Stühle lagen umgekippt auf dem Boden, teures Mehl war verschüttet worden. Und dann einer der Alpträume eines jeden Burgvogts: Auf zwei Tischen türmten sich kostbare Trinkkelche, die für Bankette bestimmt waren. Die Türme konnten jeden Moment umfallen und die Kelche zerbrechen.

Wenn der Vogt dieses Chaos sah, würde Louve auf dieser Festung gar nichts mehr überwachen – ganz im Gegenteil, man würde ihn hochkant auf denselben Weg hinauswerfen, auf dem er hineingekommen war.

„Sofort aufhören!“, donnerte eine Stimme hinter Biedeluue durch die Küche. Die Autorität, die darin lag, ließ alle Heiterkeit schlagartig verfliegen. Die Umstehenden zuckten erschrocken zusammen. Auch Biedeluue verlor die Konzentration, eine Konzentration, die sie dringend in der heiklen Position, in der sie sich befand, benötigte: mit einem Knie auf dem Tisch, das andere Bein frei in der Luft schwebend. Einen Arm hatte sie über die aufgetürmten Kelche ausgestreckt, den Oberkörper leicht verdreht, sodass ihre Brüste in die entgegengesetzte Richtung zeigten. Mit der anderen Hand umklammerte sie die Tischkante, drohte dort jedoch mit ihrer verschwitzten Handfläche abzurutschen.

Im Grunde hatte sie keine Chance, auch wenn sie wirklich alles versuchte. Der Großteil ihres Gewichts ruhte bereits auf dem Tisch. Instinkt und Selbsterhaltungstrieb verlangten, dass sie nach vorne fiel.

Aber die Kelche, die Kelche, die Kelche! Genauso gut konnte sie sich auf unbezahlbare Dolche fallen lassen. Also kreiste sie mit dem Arm, der den Kelch hielt, wie ein Propeller über dem Kopf und versuchte mit aller Kraft, in einer Rückwärtsbewegung auf den Boden zu stürzen.

Im selben Moment ging das Geschrei los. Die schneidende Stimme fluchte, Tess keifte, und auch Henrys Bariton war zu hören. Dann noch das Geräusch, wie Galen alles erbrach, was er zu sich genommen hatte.

Wann hatte er Zeit gehabt zu essen? Verräter!

All das nahm sie wahr, als passiere es einer anderen. Mit einem Mal lösten sich ihre Finger um den Kelch. Voller Entsetzen sah sie, in welche Richtung der Kelch flog. Blitzschnell tauchte Tess an ihrer Seite auf, streckte ihren Arm aus und stieß den fallenden Kelch in Richtung der Pyramide von Galen. Daraufhin schnellte sofort Henrys Arm vor und berührte das Geschoss. Mit den Fingerspitzen konnte er die Flugbahn ihres Kelchs so umleiten, dass der Kelch Galens Pyramide nur seitlich traf. Ein Kelch stürzte, zwei, drei … Als Nächstes geriet Henry in ihr Sichtfeld, der hektisch versuchte, weitere Kelche vor dem Sturz zu bewahren.

Irgendetwas stimmte nicht. Plötzlich blickte sie an die Decke. Sie sah die dicken Balken, rußgeschwärzt und voller Vogeldreck, den man mal entfernen …

Oh, mein Gott. Sie stürzte, und es würde wehtun. „Henry! Henry, du solltest hinter mir blei… hmpf!“

Ihr Kopf kollidierte mit einer Schulter. Zwei Arme legten sich um ihre Taille. Ihre Körpermitte sackte noch ab, fiel aber nicht mehr. Stattdessen wurde sie gegen einen Widerstand gepresst. Einen Widerstand, der ihrem Körper Halt gab, bis ihre Füße wieder fest auf dem Boden standen.

Ihre Landung war zwar sicher, aber ungelenk, was zum Teil an ihrer Trunkenheit lag, zum Großteil jedoch die Schuld des Mannes war, der sie festhielt.

Sie drehte sich in seinen Armen um, starrte auf einen Oberkörper, der absolut atemberaubend war, was auch die fadenscheinige Tunika nicht verbergen konnte, und tippte mit dem Finger darauf. „Wie könnt Ihr es wagen?“

Die Arme schlossen sich noch fester um sie, sodass ihre Brüste gegen den muskulösen Oberkörper gepresst wurden und ihre Hand zwischen ihren Körpern eingeklemmt war. Jetzt konnte sie jeden schwellenden Muskel fühlen. Oh ja, absolut atemberaubend.

„Könnt Ihr überhaupt stehen?“

Vorsichtig blickte sie auf ein unbekanntes Kinn. „Wo kommt Ihr denn her?“

„Bringt einen Stuhl!“, befahl er.

Diese Stimme! Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen seine Brust, aber er rührte sich kein bisschen. „Lasst mich los!“

„Einen Stuhl! Jetzt, sofort!“, rief der Mann. „Entfernt diesen Kerl aus der Küche und wischt die Sauerei weg, die er veranstaltet hat. Du und du, ihr bringt die Kelche zurück in die Geschirrkammer, und du, kümmere dich um das Bier. Du auch! Und an alle, denen gerade die Augen aus dem Kopf fallen: Wenn ihr nicht sofort den Boden säubert, und damit meine ich auch das verschüttete Mehl, dann wische ich den Boden selbst auf, und zwar mit euren Kadavern!“

Das Burggesinde stob auseinander. Sie beeilten sich so sehr, als hätte der Mann mit dem hinreißenden Oberkörper und dem starken Kinn irgendetwas zu sagen.

„Moment mal! Ihr habt hier keine Befugnis. Das ist eine … Privatangelegenheit. Wir sind mit wichtigen Dingen für den Lord beschäftigt. Ihr könnt hier nicht einfach hereinplatzen“, protestierte Biedeluue.

„Setzt Euch!“, befahl er.

Wo kommt denn nur der Stuhl her? „Setzt Ihr Euch doch“, erwiderte sie trotzig.

„Frau!“

Ooh, das klingt jetzt anders. Ganz anders. Seine Stimme donnerte nicht mehr, aber die Autorität war immer noch da. Vielleicht sogar noch deutlicher. Es brachte Biedeluue dazu, weiter nach oben zu schauen.

Hinreißend … einfach alles. Schwarze Wimpern und Augenbrauen, eine gerade Nase und eine kleine Narbe unter dem linken Auge, die förmlich danach schreit, geküsst zu werden. Und dann dieses Blau. Ein Blau so blau, dass der Himmel neidisch werden könnte. Und … so viele Augen. Warum hat er so viele Augen, wo alle anderen doch nur zwei besitzen? Wie ungerecht!

„Ihr seid schon gar nicht mehr in der Lage, den Stuhl zu benutzen, oder?“ Sein Blick wanderte durch die Küche. „Wer ist für diese Frau verantwortlich?“

„Jetzt, wo Ihr eingestellt seid, seid Ihr das“, erklang die dünne Stimme des Vogts.

Der Vogt, der über alles entschied, also auch über ihre Anstellung. Eine Position, die sie unbedingt behalten musste, wenn sie ihre Schwester retten wollte!

„Ich glaube, mir wird schlecht“, wisperte sie.

Louve hatte die Arme voller Schwierigkeiten. Es gab keine andere Umschreibung für die Frau, die die ganze Küche in ein heilloses Chaos verwandelt hatte. Auch wenn ihre Haut mittlerweile einen eher gräulichen Farbton angenommen hatte und das vorherige frische Rosa verschwunden war, so war sie dennoch atemberaubend attraktiv.

Wenn dem nicht so gewesen wäre, hätte sein Körper ganz anders reagiert. Er hätte sie aufgefangen und sofort abgestellt. Stattdessen hatte er sie fester an sich gepresst – wie ein grüner Junge, der das erste Mal die Brust einer Frau spüren konnte. Er hätte ihr auch nicht voller Fürsorge einen Stuhl besorgt, auf dem sie in ihrem betrunkenen Zustand wie auf einem Thron Platz nehmen konnte. Und ganz sicher würde er sie nicht weiterhin festhalten, während sich der Vogt, der ihn gerade erst probeweise eingestellt hatte, vor ihnen aufbaute und die Augenbrauen hob.

Der Blick, den er ihnen zuwarf, war seiner Stellung angemessen, doch Louve hätte ihn gern mit einer schnellen Bewegung …

Nein, halt, ich bin hier kein Krieger! Gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich daran, die Schultern zu krümmen. Das sorgte dafür, dass die Frau seinem Griff langsam entglitt. Er hatte die Wahl. Er konnte sie weiter festhalten und die wahre Stärke seines Körpers demonstrieren, die er sich in jahrelangem Schwertkampf antrainiert hatte, oder …

Louve ließ die Frau fallen.

3. KAPITEL

Biedeluue wollte dem Fremden am liebsten eine runterhauen. Sie beschloss, das ganz sicher zu tun, sobald sich ihr nicht mehr der Kopf drehte und ihr Gesäß nicht mehr schmerzte. Dann würde sie sich aufrichten, sich einen Kelch schnappen und ihm damit eine ordentliche Breitseite verpassen.

Gebrüll. Verschiedene Stimmen. Eine übertönte die andere. Die des Vogts war deutlich herauszuhören, dann die von Tess, die sie dummerweise verteidigte. Ihre Füße gehorchten ihr nicht. Sie fragte sich, warum sie in unterschiedliche Richtungen zeigten? Die Beine des Fremden wirkten dagegen bemerkenswert fest und stabil.

Der Mann stand da, völlig regungslos. Er sagte auch kein Wort. Dieser hinterhältige Bastard! Brachte sie und ihre Freundin in Schwierigkeiten. Ganz deutlich hatte sie gehört, wie er Befehle gebrüllt hatte, doch jetzt, wo der Burgvogt in der Küche war, blieb er stumm wie ein Fisch, während der Rest der Bediensteten betreten zu Boden blickte. Wenn sie endlich aufrecht stand, würde sie ihn schneller zu Boden schicken als einen betrunkenen Galen!

Sie brauchte unbedingt einen … Stuhl! Biedeluue kroch darauf zu.

„Bleibt unten!“, zischte der Fremde.

Den Teufel werde ich tun!, dachte sie.

„Nun hört gut zu, Hofmeister“, begann der Vogt. „Ich werde nicht … oh Gott!“

Der dumpfe Aufprall eines Körpers, der quietschende Protest der Tischbeine und das unheilvolle Gepolter von Kelchen – vielen, vielen Kelchen.

Der Fremde fluchte, gab ihr einen Schubs und beugte sich schützend über sie. Um sie herum stürzten die Kelche zu Boden. Das Geräusch war so schrecklich, dass Biedeluue die Augen fest zusammenkniff. Sie konnte die Hand des Fremden, die jedes Mal zusammenzuckte, wenn er von einem Kelch getroffen wurde, auf ihrem Rücken fühlen.

Ein schreiender Burgvogt und das Getrampel von Füßen. Dann eine verdächtige Stille. Eine Stille, die nichts Gutes verhieß.

Der Fremde richtete sich auf. Noch ehe sie sich hinsetzen konnte, war der Vogt bei ihnen, und sie starrte auf seine Knie. Ihr Herz pochte wie verrückt. Wenn sie die Augen zusammenkniff, waren es vier Kniescheiben.

Davonzukriechen war keine Option, denn der Weg zum Stuhl war abgeschnitten. Außerdem würde sie sich sicher übergeben müssen, wenn sie sich bewegte. Als sie die Worte hörte, die irgendwo hoch über ihr gesprochen wurden, wurde ihr noch mehr übel.

„Ja, ich muss mich …“, begann der Vogt, dann verstummte er jedoch abrupt.

„Was müsst Ihr?“, fragte der Fremde nach. Seine Stimme klang jetzt bei Weitem nicht mehr so autoritär wie zuvor, geradezu devot klang sie nun. Das passte jedoch nicht zu diesen starken Beinen, die sich nach wie vor wie zwei Felsen in der Brandung vor ihren Augen zeigten. War das ein Trick, um sie minderwertiger erscheinen zu lassen? Dieser verdammte Bastard!

„Wartet“, sagte sie. „Er ist …“

„Wie auch immer“, unterbrach der Vogt sie übermäßig laut. „Ich werde … Oh ja, das ist die perfekte Lösung! Ich werde das Unheil, das hier angerichtet wurde, wieder in Ordnung bringen.“

„Bin ich … aus Euren Diensten entlassen, Burgvogt?“, fragte der Fremde in überaus beschwichtigendem Ton. Was für eine Schwindelei, schoss es ihr durch den Kopf. Wer so starke Beine hatte, der entschuldigte sich für nichts. Solche Beine liefen über Schlachtfelder und erklommen Burgmauern. Sie musste irgendjemanden warnen.

„Er ist nicht …“, begann sie von Neuem.

„Ganz im Gegenteil“, entgegnete der Vogt. „Ihr … Ja, Ihr erhaltet noch mehr Befugnisse und könnt Euch hier so frei bewegen, wie Ihr wollt. Doch ich muss mich jetzt auf den Weg machen, um neue Kelche zu kaufen.“

Es entstand eine bedeutungsvolle Pause. Biedeluue hielt genauso den Atem an wie alle anderen. Hatte der Vogt gerade gesagt, dass er abreisen würde?

„Ihr habt keine Töpfer hier?“, murmelte der Fremde erstaunt.

„Nur einen“, erwiderte der Vogt. „Aber der kann solche Kelche, wie der Lord sie am liebsten mag, nicht herstellen. Nein, dazu ist er nicht in der Lage. Diese besonderen Kelche bekomme ich nur an einem Ort, der sehr weit von hier entfernt liegt, weshalb ich eine ganze Weile fort sein werde.“

Der Fremde schwieg.

Biedeluue ausnahmsweise auch. Der Vogt verließ sie, während der Lord sich in der Burg aufhielt und die Küche ein einziges Chaos war? Sie konnte es kaum glauben. Normalerweise tobte der Mann bereits, wenn nach einer Mahlzeit nur ein Getreidekörnchen auf dem Tisch liegen blieb.

„Wie gut, dass Ihr ausgerechnet heute hier angekommen seid“, bemerkte der Vogt beinahe fröhlich. Biedeluue schwirrte der Kopf. All die Kniescheiben um sie herum … sie verstand gar nichts mehr. Es klang beinahe so, als freue sich der Vogt darüber, dass all die Kelche zu Bruch gegangen waren.

„Ich soll meinen Dienst verrichten?“

Hatte der Fremde diese Frage nicht bereits gestellt? Sie hatte zwar Unmengen von Bier getrunken, doch sie meinte, sich an die eindeutige Antwort erinnern zu können. Andererseits: Vielleicht entging ihr ja die wahre Bedeutung der Worte, die da über ihrem Kopf ausgetauscht wurden. Immer wieder verlor sie den Faden.

„Ganz unbedingt“, antwortete der Vogt. „Insbesondere jetzt, wo ich wegreiten muss.“

„Sir, wollt Ihr mich nicht in die Abläufe einweisen und mich dem Gesinde vorstellen? Mir vielleicht die Schlüssel übergeben, die meiner Stellung entsprechen, damit ich Zugang zu bestimmten Kammern habe?“

„Oh nein, nein, nein, Hofmeister! Ihr habt mir Eure Referenzen bereits genannt. Ihr seid mehr als geeignet, hier die Stellung zu halten. Ich dagegen muss mich sofort auf den Weg machen. Jetzt, wo Ihr hier seid, sollte ich unverzüglich aufbrechen. Ich habe mir bereits die Frage gestellt, wie ich das anstellen soll, jetzt wo Ihr …“ Der Vogt verstummte, räusperte sich. „Ich meinte, ich sollte nicht länger hierbleiben, wo doch all diese wertvollen Kelche zerbrochen sind. Ich muss so schnell wie möglich für Ersatz sorgen. In der Zwischenzeit serviert dem Lord das Bier in den verbliebenen Kelchen, in keinen anderen. Und kümmert Euch um das da!“

Mit einem knochigen Finger zeigte er auf Biedeluue, dann drehte er sich um und verschwand.

Seine sich entfernenden Schritte hallten noch lange nach. Ja, tatsächlich hielt die Stille nach seinem Abgang so lange an, dass Biedeluue schon glaubte, eingeschlafen zu sein, bis sie hörte, wie der Fremde erst ausatmete und dann flüsterte: „Hier stimmt etwas nicht!“

Recht hatte er, dachte sie. Der Vogt war sonst nie erfreut, wenn etwas zu Bruch ging. Selbst bei einer armseligen alten Schale, die vollständig leer gewesen und in zwei saubere Teile zerbrochen war und dabei niemandem wehgetan hatte, hatte er einen riesigen Aufstand gemacht. Tagelang hatte er Biedeluue an ihre Ungeschicklichkeit erinnert.

Und wer hatte je etwas von besonderen Kelchen gehört? Warum hatte ihr niemand gesagt, wie kostbar die Gefäße waren und dass sie nur weit entfernt hergestellt wurden? Vielleicht … hatte Henry etwas gesagt? Oh, ihr Kopf schmerzte so furchtbar! All das wäre nicht passiert, wenn der Fremde nicht in die Küche geplatzt wäre!

„Steht sofort auf!“, befahl der Fremde. „Jetzt! Ich weigere mich, länger für das verantwortlich zu sein, was auch immer Ihr seid.“

Autor

Nicole Locke

Nicole Locke las ihren ersten Liebesroman als Kind im Wandschrank ihrer Großmutter. Später siedelte sie dann mit ihrer Lektüre ins Wohnzimmer um. Und noch später fing sie an, selbst Liebesromane zu schreiben. Sie lebt mit Mann und zwei Kindern in Seattle.

Foto: © David Garfield

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