Ein Earl für Aschenbrödel

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Einmal charmant umworben werden: Dieser Wunsch geht für die arme Waise Lizzie einen Ball lang in Erfüllung, als sie mit ihrer reichen Cousine die Rollen tauscht! In den starken Armen des schneidigen Earl of Burwell klopft ihr Herz rasend schnell – aber tanzt er nur mit Lizzie, weil er sie für vermögend hält?


  • Erscheinungstag 12.06.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751507271
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Lizzie schaute aus dem Fenster der Kutsche und atmete tief durch, um ihr wild pochendes Herz zu beruhigen. Vor Aufregung konnte sie kaum stillsitzen. London war geradezu beängstigend lebendig. Laut und voller Menschen. Alles war anders als in Indien, und es gab niemanden in der Stadt, den sie kannte. Nie zuvor hatte sie sich so allein gefühlt.

Ehe sie in Indien das Schiff bestieg, das sie und ihre Cousine nach London bringen sollte, hatte sie sich auf die fremde Stadt gefreut. Jetzt hätte sie alles darum gegeben, wieder auf dem Land in der Nähe von Bombay zu leben.

Eigentlich interessierte sie sich für alles Neue. Allerdings hielt sie sich gern im Hintergrund. Deshalb machte es ihr Angst, dass sie nun für voraussichtlich zwei Wochen die Rolle ihrer Cousine spielen sollte. Aus der mittellosen Waise Elizabeth Eastway würde Miss Amelia Eastway werden, die verwöhnte Tochter eines wohlhabenden Mannes, eine selbstbewusste junge Frau mit einer großen Mitgift.

Niemand außer ihrer Cousine hätte sie zu einer solchen Maskerade überreden können. Noch vor Kurzem hätte Lizzie jeden ausgelacht, der behauptet hätte, sie würde deren Identität annehmen, damit Amelia sich in ein gefährliches Abenteuer stürzen konnte.

Obwohl sie einander so nahe standen wie Schwestern, waren sie und Amelia grundverschieden. Lizzie hatte ihre Eltern früh verloren und war in der Familie ihrer Cousine aufgewachsen. Sie war schüchtern, konnte sich stundenlang in ein Buch vertiefen und wünschte sich oft, unsichtbar zu sein. Die temperamentvolle Amelia hingegen liebte alles, was aufregend war. Aber sie hatte auch ein großes Herz und sie von jeher beschützt.

Sie war dankbar für Amelias Zuneigung, zumal es ihr nie gelungen war, andere Freundinnen zu finden. Deshalb hatte Lizzie sich nach langem Hin und Her mit dem schlecht durchdachten Plan ihrer Cousine einverstanden erklärt. Es entsprach Amelias Wesen, voller Begeisterung etwas zu beginnen, ohne sich Gedanken über das mögliche Ende zu machen. Sie war schön, besaß eine beachtliche Mitgift und konnte auf ein großes Erbe hoffen. Schon deshalb würden die Menschen ihr vergeben. Sie selbst hingegen, die weder Reichtümer noch eine Familie hatte, würde gesellschaftlich ruiniert sein.

Wenn Amelia sich das vor Augen geführt hätte, wäre sie wohl so besorgt um sie gewesen, dass sie sie nicht bedrängt hätte, in ihre Rolle zu schlüpfen. Doch tatsächlich war Amelia so begeistert von ihrem Plan gewesen, dass sie keines ihrer Gegenargumente hatte gelten lassen. Zu guter Letzt hatte Lizzie nachgegeben. Schließlich hatte sie sich nie falsche Hoffnungen gemacht. Ruiniert zu werden, war kein allzu großes Opfer, wenn man nicht damit rechnete, jemals einen Platz in der guten Gesellschaft einzunehmen.

Die Kutsche kam zum Stehen. Und Lizzie holte tief Luft. Würde es ihr gelingen, Amelias sonniges Lächeln nachzuahmen? Sie musste sich fröhlich und selbstbewusst geben, sonst flog der ganze Schwindel gleich zu Anfang auf – was nicht nur ihr, sondern auch Amelia schaden würde.

Ein Diener öffnete den Schlag und reichte ihr die Hand, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.

Lizzie kletterte aus der Kutsche und blieb unsicher am Straßenrand stehen.

„Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Miss!“, meinte der Diener. Er deutet auf das beeindruckende Hunter’sche Haus auf der anderen Straßenseite.

Gehorsam trat Lizzie auf die Straße.

Im gleichen Moment hörte sie den zornigen Ruf eines Mannes. Ein Pferd schnaubte. Lizzie zuckte zusammen und machte einen Schritt rückwärts. Doch das Tier hatte sie fast schon erreicht. Durch einen Ruck an den Zügeln zurückgehalten, bäumte es sich auf.

Einen Schreckensschrei ausstoßend wollte Lizzie sich aus der Reichweite der Vorderhufe bringen, die plötzlich direkt vor ihrem Gesicht waren. Sie stolperte, verlor das Gleichgewicht und landete im Straßenstaub. Unfähig, die Augen zu schließen, starrte sie den Hengst an, dessen Hufe sie jeden Moment treffen würden. Sie bemerkte, wie der Reiter mit dem Tier kämpfte, um es unter Kontrolle zu bringen.

Zu spät, fuhr es ihr durch den Kopf, ich werde sterben.

Da warf sich der Mann vom Pferd, ohne die Zügel loszulassen. Der Schwung genügte, um das Tier ein Stück zur Seite zu reißen. Die Vorderhufe berührten den Boden direkt neben ihrem Kopf. Dann war es ein paar Augenblicke lang ganz still, fast so, als sei die Zeit stehengeblieben.

Das Wiehern des Pferdes brach den Zauber. Ein halbes Dutzend Menschen stürzte herbei, um zu helfen. Doch der Besitzer des Hengstes hielt sie zurück. Langsam stand er auf, trat vorsichtig einen Schritt auf sein Pferd zu, das nervös tänzelte, aber zum Glück nicht durchgegangen war. Behutsam streckte er die Hand aus, tätschelte beruhigend den Hals des Tiers. Schließlich reichte er die Zügel einem jungen Mann und wandte sich Lizzie zu.

Sie musste all ihren Mut zusammennehmen, um den Blick des Fremden zu erwidern. Er war wütend, daran konnte kein Zweifel bestehen. Sie hingegen war noch immer schockiert und verängstigt. Am ganzen Körper zitternd hockte sie auf dem Kopfsteinpflaster.

Direkt vor ihr blieb der Mann – er war sehr groß und hatte beeindruckend breite Schultern – stehen. „Was haben Sie sich dabei gedacht?“, fragte er entrüstet.

Lizzie brachte kein Wort über die Lippen.

Er musterte sie kurz, hob die Brauen und streckte ihr die Hand hin, um ihr auf die Füße zu helfen. Ohne sich auch nur im Geringsten anzustrengen, zog er sie hoch.

Als sie nun vor ihm stand, fühlte sie sich ein bisschen besser. Allerdings nur ein sehr kleines bisschen. Der Fremde war nicht nur groß, sondern sah auch gut aus. Möglicherweise war er der bestaussehende Mann in ganz London. Und er hielt noch immer ihre Hand fest.

Stirnrunzelnd musterte er sie noch einmal von Kopf bis Fuß. Lizzie wusste, dass sie nicht besonders attraktiv war. Die Männer bevorzugten zierliche Blondinen mit rosigem Teint. Sie hingegen hatte braunes Haar und Sommersprossen. Und zierlich war sie auch nicht.

Oft genug hatte sie erlebt, wie unterschiedlich die Männer auf sie und ihre hübsche Cousine reagierten. Deshalb verstand sie genau, was in dem Fremden vorging. Er hatte bereits jedes Interesse an ihr verloren. „Sie sollten in Zukunft besser aufpassen“, ermahnte er sie.

Sie nickte. Dabei wünschte sie sich, sie könne so herablassend schauen wie Amelia. Und, ja, in diesem Moment wäre sie auch gern so zierlich und so blond gewesen wie ihre Cousine.

Der Fremde ging zu seinem Pferd, schwang sich in den Sattel und ritt davon, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

„Sind Sie verletzt, Miss?“, fragte der Diener, der vor Schreck noch immer weiß im Gesicht war.

„Nein, nur erschrocken.“ Lizzie, die ihn vollkommen vergessen hatte, zwang sich zu einem Lächeln. Gemeinsam überquerten sie die Straße.

Das Portal des Hauses stand offen, und der Diener bedeutete ihr, sie solle eintreten. Kaum hatte sie einen Fuß in die Eingangshalle gesetzt, da wurde sie von einer elegant gekleideten Dame in die Arme geschlossen. „Amelia, Liebes, was ist passiert?“

Das muss Mrs. Hunter, Amelias Tante Mathilda, sein. Und das selbstgefällig grinsende Mädchen neben ihr ist bestimmt Cousine Harriet.

Lizzie war im Begriff, eine Entschuldigung zu murmeln, als ihr einfiel, dass Amelia so etwas nie tun würde. Sanft befreite sie sich aus der Umarmung, legte die Finger an die Schläfen und klagte laut: „Es war schrecklich! Beinahe hätte ein Pferd mich überrannt.“

„Du Arme!“, rief Tante Mathilda. „Und das nach der langen, anstrengenden Reise!“

Der Blick, den Harriet ihr zuwarf, verriet Lizzie mehr als deutlich, dass sie alles beobachtet hatte und wusste, wie unachtsam sie sich benommen hatte. Doch statt auf den Unfall einzugehen, bemerkte Harriet: „Ich habe nie verstanden, warum es so anstrengend sein soll zu reisen. Schließlich arbeiten die Seeleute auf dem Schiff und nicht die Passagiere.“

Ein Schauer überlief Lizzie. Ihr war beinahe während der gesamten Überfahrt übel gewesen. Selbst jetzt, da sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, fühlte sie sich noch ein wenig krank.

„Hast du schon einmal eine lange Seereise unternommen?“, fragte sie.

Harriet schüttelte den Kopf.

„Das habe ich mir gedacht“, stellte Lizzie fest. Im gleichen Moment wurde ihr klar, dass sie einen Fehler begangen hatte. Mit einem einzigen Satz hatte sie sich Amelias Cousine Harriet, mit der sie in den nächsten Tagen doch irgendwie auskommen musste, zur Feindin gemacht.

Tante Mathilda schien nicht zu bemerken, wie wütend ihre Tochter war. „Als ich dich zuletzt gesehen habe, warst du ein kleiner Blondschopf von drei oder vier Jahren.“ Staunend musterte sie die vermeintliche Amelia. „Das war, ehe mein Bruder mit dir und deiner Mutter nach Indien ging.“

Lizzie kam nicht dazu, etwas zu antworten, denn schon fuhr Mrs. Hunter fort: „In den nächsten Tagen haben wir viel zu tun. Wir müssen dich neu einkleiden und dir ermöglichen, ein paar Bekanntschaften zu schließen. Denn in einer Woche sollst du in die Gesellschaft eingeführt werden.“

„So bald?“, entfuhr es Lizzie entsetzt. Sie hatte gehofft, das Theaterspiel würde ein Ende finden, ehe Tante Mathilda dazu kam, sie den Freunden und Bekannten der Familie als Amelia Eastway vorzustellen.

„Dein Vater wünscht, dass wir keine Zeit verlieren. Ihm liegt viel daran, dass du recht bald einen guten Ehemann findest.“

Natürlich, das passt zu Onkel Robert!

Allerdings hatte er gute Gründe, seine Tochter so bald wie möglich unter die Haube zu bringen. Denn Amelia hatte sich zu einer regelrechten Rebellin entwickelt.

Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Ich muss verhindern, dass man mich als Amelia Eastway in die Gesellschaft eingeführt! Eine vorgeschobene Krankheit könnte helfen. Oder soll ich lieber einen Todesfall in der Familie erfinden? Am besten wäre es natürlich, wenn Amelia bald auftauchen würde. Wenn ich nur wüsste, wie ich sie erreichen kann!

Doch das war leider unmöglich. Amelia hatte sich in Indien in einen jungen Offizier verliebt, der nach England zurückbeordert worden war. Und sie hatte sich in den Kopf gesetzt, den jungen Mann zu finden.

„Ehe wir uns in die Vorbereitungen für deine Einführung in die Gesellschaft stürzen, musst du dich von der Reise erholen“, fuhr Tante Mathilda fort. „Sally wird dir dein Zimmer zeigen. Und ich gebe in der Küche Bescheid, damit man dir ein Tablett mit einem Imbiss nach oben bringt.“

„Danke.“ Erst jetzt bemerkte Lizzie das Hausmädchen, das stumm im Hintergrund gewartet hatte.

Sally knickste und machte ein paar Schritte in Richtung der Treppe, während Tante Mathilda und Harriet im Salon verschwanden. Lizzie folgte dem Hausmädchen, blieb aber stehen, als sie hörte, wie Harriet sagte: „Gut, dass sie Geld hat.“

„Harriet, bitte!“, mahnte Tante Mathilda.

„Das denkst du doch auch“, ließ sich Harriet erneut vernehmen. „Sie ist nicht hübsch. Aber noch schlimmer finde ich, wie ungeschickt sie sich anstellt.“

„Wenn sich erst herumgesprochen hat, wie groß ihre Mitgift ist, werden die Gentlemen sich um sie reißen. Da wirst du dich anstrengen müssen, um auch eine gute Partie zu machen.“

„Das ist nicht fair!“ Harriets Stimme verriet ihren Zorn. „Sie wird sich einen Mann mit einem Titel angeln und ein Leben als große Dame führen. Das hat sie nicht verdient! Nicht nach allem, was ihr Vater uns angetan hat!“

„Miss?“ Sally, die schon einige Stufen hinaufgestiegen war, wandte sich um.

„Ich komme“, sagte Lizzie und schluckte. Es würde nicht leicht sein, mit Harriet unter einem Dach zu leben.

2. KAPITEL

Seine Laune war auf einem Tiefpunkt angekommen. Daniel bemühte sich, nicht aufzufallen, während er den Blick über die Gäste schweifen ließ, die im Ballsaal der Prestons versammelt waren. Doch schon waren sowohl die jungen Damen im heiratsfähigen Alter als auch deren ehrgeizige Mütter auf ihn aufmerksam geworden. Kein Wunder, denn seit Jahren vermied er es, an Bällen teilzunehmen. Dass er die Einladung angenommen hatte, wurde allgemein als Zeichen dafür gedeutet, dass er auf der Suche nach einer Gattin war.

Es ärgerte ihn, dass er am gesellschaftlichen Leben teilnehmen musste, weil seine finanzielle Situation sich tatsächlich so sehr zugespitzt hatte, dass nur die Heirat mit einer reichen Frau ihn retten würde. Ihm blieb keine Wahl. Obwohl es ihm gar nicht behagte, sein Junggesellenleben aufzugeben, musste er jede Chance nutzen, mögliche Ehekandidatinnen kennenzulernen.

„Was, zum Teufel, hat dich denn hierher geführt?“

Daniel wandte sich um, und zum ersten Mal an diesem Abend kam sein Lächeln von Herzen. „Fletcher, hallo! Ich dachte, meine Beweggründe seien offensichtlich.“

Sein Freund lachte. „Das stimmt. Ich bin erst seit fünf Minuten hier, habe aber deinen Namen schon mindestens ein Dutzend Mal gehört.“

Eigentlich hätte Daniel erfreut sein sollen. Schließlich würde er schwerlich eine Gattin finden, wenn niemand ihn beachtete. Trotzdem hielt seine Begeisterung sich in Grenzen.

„Du hast dich also entschlossen zu heiraten“, stellte Fletcher fest.

„Man hat mich also bereits durchschaut?“ Daniel hoffte, dass er nicht allzu verzweifelt klang.

Sein Freund betrachtete ihn amüsiert. „Es gibt nur drei Gründe, die einen Mann dazu bewegen können, einen Ball wie diesen zu besuchen. Entweder er ist verpflichtet, eine seiner weiblichen Verwandten zu begleiten. Du hast allerdings keine weiblichen Verwandten. Oder er versucht, Kontakte zu schließen, die ihm den gesellschaftlichen Aufstieg erleichtern. Du als Earl hast das nicht nötig. Bleibt also nur die dritte Möglichkeit: Der Mann sucht eine Gattin.“

„Stimmt“, murmelte Daniel, der selbst noch immer kaum glauben konnte, dass er unter die Mitgiftjäger gegangen war. Gestern noch war er ein glücklicher Junggeselle gewesen, der gern flirtete, sich aber nur mit Frauen einließ, denen nichts an einer dauerhaften Bindung lag. Dann hatte sein Verwalter ihn gebeten, einen Blick in die Bücher zu werfen. Und er hatte erkennen müssen, dass er kurz vor dem finanziellen Ruin stand.

Er brauchte Geld. Da es nur wenige Möglichkeiten gab, das zu beschaffen, würde er eine reiche Frau heiraten müssen. So war er über Nacht zum Mitgiftjäger geworden, zu einem Mann, für den die meisten Mitglieder der guten Gesellschaft nur Missbilligung und Verachtung aufbrachten.

Zum Teufel …

Vergeblich versuchte Daniel, sein Gewissen zu beruhigen, indem er sich sagte, dass seine zukünftige Gattin gesellschaftlich aufsteigen und als Countess of Burwell hohes Ansehen genießen würde. Natürlich würde er sie stets gut behandeln, obwohl er fest entschlossen war, ihr niemals sein Herz zu schenken. Er hatte geliebt und war enttäuscht worden. Noch heute litt er unter den Folgen. So etwas sollte ihm, das hatte er sich geschworen, nicht noch einmal passieren.

„Du brauchst wirklich nicht so deprimiert zu schauen“, meinte Fletcher. „Heute Abend wirst du mit den interessantesten und schönsten jungen Damen tanzen.“

Daniel runzelte die Stirn. Er wollte weder eine besonders schöne noch eine besonders interessante Braut. Seine zukünftige Gattin sollte gutherzig, großzügig und zurückhaltend sein, denn ihm lag viel daran, dass sie sich nicht in sein Leben einmischte. Außerdem musste sie natürlich über eine Menge Geld verfügen.

Genau das vertraute er seinem Freund an.

Fletcher hob die Brauen. „Das verkürzt die Liste der Kandidatinnen“, stellte er fest. „Es sind genau drei reiche Damen im heiratsfähigen Alter anwesend.“

„Woher weißt du das so genau?“

„Ich habe vier Schwestern. Wenn ich nicht erfahren wollte, was in Londons guter Gesellschaft vorgeht, müsste ich mir ständig die Ohren zuhalten.“

„Hm … Verrätst du mir, wer die drei sind?“ Er schämte sich ein wenig, weil er so direkt war. Aber einerseits brauchte er dringend Geld, und andererseits wollte er nicht noch wer weiß wie viele Bälle besuchen, um eine Frau kennenzulernen, die seiner Vorstellung entsprach.

„Dort drüben“, Fletcher zeigte diskret auf eine junge Dame, „siehst du Miss Priscilla Blake, die Tochter eines überaus erfolgreichen Bankiers.“

Miss Blake war hübsch und tanzte sehr anmutig. Dabei himmelte sie ihren eleganten Tanzpartner ungeniert an.

Sieht aus, als wäre sie vergeben!

„Dann ist da Miss Dumping“, fuhr Fletcher fort. „Niemand weiß genau, wie ihr Vater sein Vermögen erworben hat. Vermutlich waren nicht alle seiner Unternehmungen legal. Aber das stört niemanden, denn Miss Dumping ist über die Maßen attraktiv.“

Daniel schaute in die von Fletcher angedeutete Richtung und musterte Miss Dumping interessiert. Sie war eine umwerfende Schönheit – und bildete den Mittelpunkt einer Gruppe von Gentlemen, die offensichtlich von ihr hingerissenen waren.

Zu viel Konkurrenz … „Und die dritte?“

„Miss Amelia Eastway.“ Mit den Augen suchte Fletcher den Saal ab. „Sie ist erst vor Kurzem in London eingetroffen. Ihr Vater lebt in Indien, wo er zu Geld gekommen ist. Ihre Mitgift ist beachtlich. Und als einziges Kind wird sie den Papa natürlich beerben.“

Es würde sich vielleicht lohnen, sich dieser Miss Eastway vorstellen zu lassen.

„Komisch“, meinte Fletcher, „ich kann sie nirgends entdecken. Sie ist keine auffällige Schönheit. Nicht hässlich, sondern einfach … normal.“

Das hört sich wirklich gut an, dachte Daniel. Amelia Eastway könnte die perfekte Gattin für ihn sein. Reich, anscheinend nicht allzu umschwärmt und zudem eine Frau, derentwegen er nicht den Kopf verlieren würde. Gerade Letzteres war ihm wichtig. Nach den schmerzhaften Erfahrungen, die er gemacht hatte, sehnte Daniel sich nach einer freundschaftlichen Beziehung ohne Leidenschaft und große Gefühle. Er konnte sich gut vorstellen, dass eine Frau wie Miss Eastway ihn finanziell retten würde, ohne darauf zu bestehen, dass er sein Leben komplett umkrempelte.

„Ich fürchte“, seufzte Fletcher, „dass ich dich jetzt allein lassen muss, um meinen Pflichten nachzukommen.“ Er liebte seine Familie, aber selbst er empfand es manchmal als Last, wenn er sich um seine Schwestern kümmern musste.

Daniel nickte verständnisvoll, rührte sich jedoch nicht vom Fleck, als Fletcher sich einen Weg durch die Menge bahnte, um eine seiner Schwestern auf die Tanzfläche zu führen.

Wenn ich nicht aufpasse, dachte Daniel, werde ich mich auch auf der Tanzfläche wiederfinden. Einige junge Damen waren bekanntermaßen sehr geschickt darin, Männer zu manipulieren. Allerdings wollte er nicht tanzen. Er wollte Miss Eastway vorgestellt werden, ihr ein paar charmante Komplimente machen und sich dann mit einem Handkuss von ihr verabschieden. Das würde genügen, um ihm den Weg für weitere Aktivitäten zu ebnen. Es war nie klug, die Dinge zu überstürzen. Und trotz aller drängenden finanziellen Probleme blieb ihm noch etwas Zeit, seiner künftigen Gattin den Hof zu machen.

Seltsam, dass Fletcher Miss Eastway nicht hatte entdecken können. Eine Zeit lang hielt auch Daniel vergeblich nach einer unauffälligen jungen Dame Ausschau, die neu in London war. Dann fiel sein Blick auf die einen Spalt breit geöffnete Tür zum Garten. Bei Jupiter, Miss Eastway würde doch nicht so naiv sein, sich mit einem skrupellosen Mann im dunklen Garten zu treffen?

Wenn sie sich von irgendwem kompromittieren lässt, kann ich meine Pläne begraben, dachte er missmutig.

Daniel hatte es plötzlich sehr eilig, den Ballsaal zu verlassen. Zielstrebig steuerte er auf die Tür zum Garten zu – bis eine gut aussehende Dame sich ihm in den Weg stellte.

„Lord Burwell!“ Sie schaute mit einem koketten Lächeln zu ihm auf.

„Mrs. Winter!“ Daniel führte ihre Hand an die Lippen.

„Wir haben uns viel zu lange nicht gesehen.“

Daniel nickte. In den vergangenen Monaten hatte er hin und wieder ein wenig Zeit mit der attraktiven Witwe verbracht. Sie hatten geplaudert, ein Glas Wein getrunken und waren dann ihrer Wege gegangen, was Daniel nur recht gewesen war. Zwar hatte Mrs. Winter ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie bereit war, sich auf eine Affäre mit ihm einzulassen. Doch sie galt als eifersüchtig und besitzergreifend – Eigenschaften, die er überhaupt nicht schätzte.

„Unsere anregenden Gespräche habe mir gefehlt“, bemerkte die schöne Witwe und legte ihm die Hand auf den Arm.

Daniel ging langsam weiter.

„Außerdem ist mir ein Sie betreffendes, wirklich skandalöses Gerücht zu Ohren gekommen.“

„Sie wissen doch, meine liebe Mrs. Winter, dass die meisten Gerüchte jeglicher Grundlage entbehren.“

„Dann kennen Sie diese hübsche junge Schauspielerin, deren Name stets zusammen mit Ihrem genannt wird, überhaupt nicht?“

Daniel schwieg. Victoria Munroe besaß nicht nur schauspielerisches Talent. Sie war auch schön und leidenschaftlich. Sie schien seine Gesellschaft wirklich zu genießen, stellte jedoch nie irgendwelche Forderungen.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine gute Freundin Emily Highton falsch informiert ist“, fuhr Mrs. Winter fort. „Allerdings würde es mich kränken, wenn Sie der kleinen Victoria den Vorzug vor mir gäben.“

Eifersüchtig und besitzergreifend! Daniel war froh, dass er sich nicht auf eine Liaison mit Mrs. Winter eingelassen hatte. Dennoch sagte er mit einem charmanten Lächeln: „Wie könnte ich irgendwem den Vorzug vor Ihnen geben?“

Das schien sie ein wenig zu besänftigen. Daniel nutzte die Chance, das Gespräch zu beenden. Ihm war nicht nach einem Flirt zumute. Er musste die Bekanntschaft dieser reichen Erbin aus Indien machen.

Jetzt hatte er die Tür zum Garten erreicht. Er trat nach draußen und fand sich auf einer von Laternen nur schwach beleuchteten Terrasse wieder. Der Garten selbst lag im Dunkeln. Ja, hier gab es mehr als genug unbeleuchtete Ecken, in denen eine Frau ihren guten Ruf verlieren konnte. Allerdings war nirgends eine junge Dame zu sehen, auf die Fletchers Beschreibung von Miss Eastway passen mochte.

Da er beinahe sicher gewesen war, die reiche Erbin hier draußen zu entdecken, war er unschlüssig, wie er weiter vorgehen sollte. Er hatte vorgehabt, Miss Eastway zu retten, sofern sie sich in eine gefährliche Lage gebracht hatte. Aber hier gab es keine junge Dame in Bedrängnis. Sollte er also in den Ballsaal zurückkehren?

Er entschied sich dagegen, weil es irgendwie guttat, all den neugierigen Blicken zu entkommen. Zudem war die Luft hier draußen angenehm frisch. Aus dem Garten wehte ihm schwacher Blumenduft entgegen. Die Nacht war warm und erinnerte ihn an ähnliche Nächte, die er auf seinem Landsitz in Cambridgeshire erlebt hatte. Er beschloss, die Atmosphäre, die sich so wohltuend von der im Ballsaal unterschied, ein wenig zu genießen.

Von der Terrasse führte eine Treppe hinunter zum Garten, wo er sich auf einer Bank niederließ.

Muss ich wirklich an Bällen und anderen langweiligen Gesellschaften teilnehmen, um eine Gattin zu finden? Gibt es keinen anderen Weg zum Ziel?

Nun, alles Grübeln half nichts. Er musste in den Ballsaal zurückkehren, um dort nach Miss Eastway Ausschau zu halten.

Er wollte gerade aufstehen, als die Terrassentür geöffnet wurde. Musik, Lachen, Stimmengewirr erfüllten einen Moment lang die Luft. Dann wurde es wieder still. Daniel erwartete, verliebtes Flüstern zu hören. Sollte er sich irgendwie bemerkbar machen, um das Paar, das sich heimlich aus dem Haus geschlichen hatte, auf sich aufmerksam zu machen?

Doch da war kein Flüstern. Seide raschelte, als eine einzelne schattenhafte Gestalt am oberen Ende der Treppe sichtbar wurde, nur, um gleich darauf mit der Dunkelheit zu verschmelzen.

Daniel wollte die Dame nicht erschrecken. Aber noch weniger wollte er allein mit einer Frau im dunklen Garten überrascht werden. Also erhob er sich, hüstelte und ging ein paar Schritte in Richtung der Treppe. Da hörte er einen Schrei, und er sah, wie etwas sich ihm mit großer Geschwindigkeit näherte. Er wollte zur Seite ausweichen, war jedoch nicht schnell genug. Etwas Warmes und Weiches stieß so heftig mit ihm zusammen, dass er das Gleichgewicht verlor und auf dem Rücken landete. Alle Luft wich aus seinen Lungen, und im ersten Moment war er unfähig, sich zu rühren.

Etwas Schweres lag auf ihm. Gleich darauf wurde ihm klar, dass es sich um eine Frau handelte. Sie musste noch schockierter sein als er selbst. Anders ließ sich ihr Schweigen kaum erklären. Oder war sie womöglich ohnmächtig? Nun, zumindest atmete sie. Daniel konnte ihren Atem an seinem Hals spüren, wo er ein angenehmes Prickeln erzeugte. Jetzt fühlte er auch ihre Brüste, die sich an seinen Oberkörper drückten. Und ein schlankes Bein presste sich an seinen Schenkel.

Die Besitzerin dieses überwältigend weiblichen Körpers begann zu zittern.

Vorsichtig drehte Daniel sich so weit wie möglich auf die Seite. „Haben Sie sich wehgetan?“, fragte er leise. Dabei kam er sich ziemlich dumm vor. Niemand konnte so viele Stufen hinunterfallen, ohne sich zu verletzen.

„Ja … Nein … Ich weiß nicht.“

Gut, sie war also bei Bewusstsein. Vielleicht etwas benebelt … Ihre Stimme drückte Verwirrung aus.

Bezaubernd.

„Gestatten Sie mir, Sie zu untersuchen?“ Das war keine Frage, und die junge Frau widersprach nicht. Dass sie jung war, hatte Daniel inzwischen erkennen können, denn seine Augen hatten sich an das Halbdunkel gewöhnt.

Als er die Finger forschend über ihre Arme gleiten ließ, um festzustellen, ob etwas gebrochen war, hielt sie einen Moment lang den Atem an. Daniel lächelte und machte sich daran, ihre Beine abzutasten. Das schien sie zur Besinnung zu bringen. Mit einem Ruck entzog sie ihm ihren Fuß.

Schade, dachte Daniel. Das Ganze hatte gerade begonnen, ihm Spaß zu machen.

„Mir geht es gut“, behauptete die Unbekannte. „Aber was ist mit Ihnen?“

„Oh, ich bin daran gewöhnt, jungen Damen als Kissen zu dienen, wenn sie die Treppe hinabstürzen. Ehrlich gesagt, ich hätte mir keine angenehmere Art vorstellen können, um Sie kennenzulernen, Miss.“ Ob sie jetzt wohl rot wurde? „Gleich dort drüben ist eine Bank. Schaffen Sie es bis dorthin?“

„Hm …“

Er richtete sich auf und half ihr beim Aufstehen. Sie taumelte ein wenig und stützte sich auf ihn, als er sie zur Bank führte. Dass ihre Hüfte sich dabei an seiner rieb, fand er überraschend erregend. Aber natürlich war nicht daran zu denken, die Situation auszunutzen. Aus moralischen Erwägungen beschränkte Daniel sich seit Jahren darauf, erfahrene Witwen oder allenfalls vernachlässigte Ehefrauen zu erobern.

„Was ist passiert?“, erkundigte er sich, als sie auf der Bank Platz genommen hatten.

Die Unbekannte seufzte, meinte dann jedoch mit einem Funken Humor: „Sie werden mich für dumm halten.“

Fasziniert von ihrer Selbstironie lächelte Daniel.

„Ich musste weg. Wenn ich auch nur einen Moment länger in diesem Ballsaal geblieben wäre, hätte ich einen Schreikrampf bekommen.“

„Aber so schlimm, dass Sie sich von der Treppe stürzen mussten, kann es nicht gewesen sein!“

Seine Bemerkung schien sie zu amüsieren. „Nicht so schlimm, dass es den Ruin Ihrer“, sie unterbrach sich, „Ihrer Kleidung rechtfertigt. Was tragen Gentlemen auf einem Ball?“

Daniel beugte sich etwas näher zu ihr. Zu gern hätte er das Geheimnis dieser Frau ergründet. Aber im Halbdunkel konnte er nicht viel erkennen. Er wusste lediglich, dass sie ziemlich groß war und sehr reizvolle weibliche Rundungen hatte.

„Als Sie husteten, bin ich vor Schreck gestolpert“, erklärte sie.

„Eigentlich wollte ich Ihnen nur zu verstehen geben, dass Sie nicht allein waren.“ Daniel fühlte sich immer heftiger zu ihr hingezogen. Er brachte es einfach nicht über sich, sie zu verlassen – obwohl es das einzig Richtige gewesen wäre. Stattdessen setzte er das Gespräch fort. „Was hat Sie an dem Ball denn so gestört? Eine hübsche junge Frau wie Sie dürfte sich doch nicht langweilen.“

„Langweilen? Ich kam mir vor wie eine Antiquität, die versteigert werden soll!“

Daniel lachte laut auf.

„Wenn man sich wenigstens für mich interessieren würde und nicht für mein Geld!“, fuhr die Unbekannte fort.

„Oh …“ Mit einem Mal fühlte er sich schuldig. Schließlich gehörte er seit Kurzem auch zu den Mitgiftjägern. Bisher hatte er allerdings keinen Gedanken daran verschwendet, wie die betreffende Frau sich fühlen mochte. Immerhin, beruhigte er sich, werde ich meine Gattin stets gut behandeln.

Aber weil sein Gewissen geweckt worden war, schlug er vor, in den Ballsaal zurückzukehren. „Es wäre nicht gut, wenn man Sie vermissen würde.“ Damit erhob er sich.

Sie stand so schwungvoll auf, dass ihr Gesicht plötzlich kaum zwei Zoll von seinem entfernt war. Daniel konnte ihre vollen Lippen erkennen. Und zu seinem eigenen Erstaunen überkam ihn der unwiderstehliche Wunsch, diese Lippen zu küssen.

Er gab dem Wunsch nach, ohne an die Konsequenzen zu denken.

Die junge Frau wehrte sich nicht. Einen Moment lang stand sie wie erstarrt. Dann schlang sie ihm die Arme um den Nacken und schmiegte sich an ihn.

Sie war bezaubernd. Hingebungsvoll und voller Neugier. Er war sich sicher, dass es ihr erster Kuss war. Und doch hätte er sich nichts Schöneres wünschen können.

Schade, dass ihr nach wenigen Augenblicken offensichtlich klar wurde, wie unakzeptabel ihr Verhalten war! Mit einem kleinen Seufzer wandte sie den Kopf zur Seite und trat einen Schritt zurück.

„Verzeihen Sie“, murmelte Daniel. „Ich hätte das nicht tun dürfen. Aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen.“

„Ich muss gehen.“ Unsicher entfernte sie sich einen Schritt von ihm.

„Bitte, darf ich Ihren Namen erfahren?“

Sie zögerte.

Würde sie ihm eine Lüge auftischen?

„Amelia … Amelia Eastway“, flüsterte sie und wandte sich zum Gehen.

Die Welt schien plötzlich kopfzustehen. Doch Daniel fasste sich rasch. „Darf ich Ihnen morgen meine Aufwartung machen?“, rief er Miss Eastway nach.

Es kam ihm vor, als nicke sie.

3. KAPITEL

Lizzie hatte kaum geschlafen. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, fühlte sie sich in den Garten der Prestons zurückversetzt, wo ein mysteriöser Gentleman sie geküsst hatte. Und sogleich erwachte wieder diese bisher unbekannte Sehnsucht in ihr. Die Sehnsucht nach weiteren Zärtlichkeiten …

Ob er sie tatsächlich besuchen würde? Sie wusste nicht einmal, ob sie es sich wünschte. Einerseits hätte sie ihn gern bei Tageslicht gesehen. Andererseits gefiel ihr die Vorstellung, bis in alle Ewigkeit von den erregenden Minuten mit einem Unbekannten träumen zu können.

Wenn er die Gelegenheit bekam, sie anzuschauen, dessen war sie sich ziemlich sicher, würde er zu dem Schluss kommen, dass es ein Fehler gewesen war, sie zu küssen. Es würde wehtun, die Enttäuschung in seinen Augen zu sehen.

„Sieh nur, Amelia“, sagte Tante Mathilda, die gerade ins Zimmer trat, „jemand hat dir Blumen geschickt.“

Der Strauß war riesig und wurde von einem roten Band zusammengehalten. Lizzie lächelte. War dies ein Gruß von ihrem mysteriösen namenlosen Gentleman?

Tante Mathilda reichte ihr die Visitenkarte, die zusammen mit den Blumen eingetroffen war.

„Mr. Anthony Green?“ Lizzie erschauerte. Sie war vielen Männern vorgestellt worden. Die meisten waren ledig gewesen und einige von Adel. Manche hatten gut und andere weniger gut ausgesehen. Ein paar waren jung gewesen und ein paar alt. Alle hatten Lizzie alias Amelia höflich behandelt, was sie mehr auf ihre vermeintlich große Mitgift als auf ihre eigene Attraktivität geschoben hatte. Mr. Green allerdings hatte sich anders benommen. Er hatte ihre Hand zu lange festgehalten, hatte auf ihr Dekolleté geschielt und sich erdreistet, immer wieder ihren Arm zu berühren. Aber beinahe noch schlimmer war gewesen, dass er unbedingt mehr über das Vermögen ihres Vaters hatte wissen wollen.

Unterdessen hatte Tante Mathilda die Blumen in einer Vase arrangiert. „Hübsch“, murmelte sie. „Ich denke, im Laufe des Tages werden noch mehr Sträuße für dich eintreffen. Und ich hoffe sehr, dass der eine oder andere Gentleman bei uns vorsprechen wird.“

Harriet, die sich zu ihnen gesellt hatte, verzog das Gesicht. Offensichtlich gefiel ihr die Vorstellung nicht, dass ihre Cousine Erfolg bei den Herren gehabt haben könne. „Du bist bestimmt froh, Amelia, dass deine Kopfschmerzen sich rechtzeitig vor dem Ball verflüchtigt haben“, sagte sie spöttisch. „Es wäre doch traurig gewesen, wenn du dein gesellschaftliches Debüt hättest verschieben müssen.“

Tatsächlich hatte Lizzie versucht, sich vor dem Ball der Prestons zu drücken, indem sie vorgab, sich krank zu fühlen. Sie hatte nicht nur über Kopfschmerzen geklagt, sondern war so weit gegangen, sich die heiße Teekanne an die Stirn zu halten, ehe Tante Mathilda kam, um zu überprüfen, ob die arme Amelia Fieber hatte. Doch ihre Tricks hatten nicht funktioniert. Tante Mathilda kannte sich gut genug mit nervösen jungen Damen aus und hatte erklärt, das Unwohlsein sei nur eine Folge des Lampenfiebers, unter dem praktisch jede Debütantin litt, die zum ersten Mal einen Ball besuchen sollte. Sie hatte darauf bestanden, dass Amelia ihr neues wunderschönes Abendkleid anzog und wenig später zusammen mit ihr und Harriet in die Kutsche stieg.

Jetzt musterte Harriet den Strauß, während Lizzie schon wieder in Erinnerungen an den mysteriösen Unbekannten versunken war. Sie wurde aus ihren Träumen gerissen, als der Butler klopfte, um einen Besucher zu melden. „Seine Lordschaft, der Earl of Burwell, möchte Miss Amelia Eastway seine Aufwartung machen“, verkündete er.

Die drei Frauen wandten sich alle gleichzeitig zur Tür. Sie hatten mit dem Besuch des einen oder anderen Gentleman gerechnet. Doch dass als Erster ein Earl auftauchte, war eine echte Überraschung.

Tante Mathilda bekam rote Wangen. „Du bist dem Earl of Burwell vorgestellt worden?“, flüsterte sie Lizzie zu.

Selbst Harriet sah beeindruckt aus.

Lizzie wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie einen Earl kennengelernt hatte. Es sei denn … Jetzt stieg auch ihr das Blut in die Wangen. Was sollte sie tun, wenn sich herausstellte, dass es der Earl gewesen war, der sie geküsst hatte? Der Unbekannte hatte so sympathisch gewirkt, so normal, so gar nicht hochnäsig oder herablassend. Oh Gott, dachte sie, soll ich vorsichtshalber in Ohnmacht fallen?

In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und der Earl trat ein. Aus Gewohnheit senkte Lizzie den Blick und knickste. Dann zwang sie sich, den Besucher anzuschauen. Handelte es sich wirklich um den mysteriösen Mann, der sie geküsst hatte?

„Sie?“, entfuhr es ihr. Wen auch immer sie zu sehen erwartet hatte, mit ihm hatte sie nicht gerechnet!

Offenbar war der Earl mindestens ebenso überrascht wie sie.

Tante Mathilda ließ den Blick von einem zum anderen wandern. Irgendetwas ging hier vor. Aber sie hatte keine Ahnung, worum es sich handelte. Also besann sie sich auf ihre Pflichten als Gastgeberin und forderte den Besucher höflich auf, Platz zu nehmen.

„Es ist mir eine Freude, Sie wiederzusehen, Miss Eastway“, sagte der Earl, nachdem er die Hausherrin begrüßt hatte. Es war ihm rasch gelungen, sich zu fassen.

Lizzie hingegen war unfähig, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. Sie begriff nicht, wie sie so dumm hatte sein können. Sie hätte doch die Stimme des Mannes wiedererkennen müssen! Denn der Earl of Burwell war nicht nur der Mann, der sie im Garten der Prestons geküsst hatte. Er war auch derjenige, von dessen Pferd sie beinahe überrannt worden wäre. Damals hatte er sie kurz gemustert und sie sogleich als uninteressant abgetan.

Ich wünschte, die Erde täte sich auf und würde mich verschlingen!

Immerhin ließ der Earl sich nichts anmerken, falls er enttäuscht darüber war, wen er im Dunkeln geküsst hatte.

Die für die spannungsgeladene Atmosphäre empfängliche Mrs. Hunter brach das Schweigen, indem sie eine Bemerkung über das Wetter machte.

Höflich stimmte der Earl ihr zu.

„Wie haben Sie meine Cousine kennengelernt?“, mischte Harriet sich ein. Sie hatte die dramatischen Geschehnisse am Tag von Lizzies Ankunft in London beobachtet und ahnte wohl, wer der Reiter gewesen war.

Der Earl wandte sich Harriet zu und musterte sie. Sein Ausdruck war plötzlich so herablassend, dass sie errötete. „Wir sind einander gestern auf Lady Prestons Ball vorgestellt worden“, sagte Burwell.

Obwohl das nicht wirklich der Wahrheit entsprach, wäre Harriet nie auf die Idee gekommen, Zweifel an den Worten eines Earls zu äußern. Lizzie atmete erleichtert auf.

Tante Mathilda lächelte den Besucher gewinnend an und meinte dann zu ihrer Tochter gewandt: „Harriet, wie du weißt, wollte ich dir eben etwas zeigen. Ich möchte das nicht länger aufschieben.“

Harriet sah verwirrt drein, widersprach aber nicht, als ihre Mutter sie mit sich aus dem Zimmer zog. Die Tür ließ Mrs. Hunter offen, womit den Regeln des Anstands Genüge getan war.

Lizzie blieb allein mit dem Earl zurück. Allerdings wäre sie an beinahe jedem Ort auf der Welt lieber gewesen. Sie wollte nicht sehen, wie die Enttäuschung darüber, wen er geküsst hatte, sich auf der Miene Lord Burwells abzeichnete. Sie wollte nicht hören, wie er irgendeine lahme Entschuldigung vorbrachte. Im Garten der Prestons konnte er unmöglich gewusst haben, wer da auf ihn gestürzt war. Die magischen Minuten, die sie gemeinsam verbracht hatten, mussten für ihn längst ihren Glanz verloren haben. Vermutlich war er inzwischen wütend, weil er erkannt hatte, wem er seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte: der Frau, die ihn gezwungen hatte, sich vom Pferd zu werfen, um einen tödlichen Unfall zu vermeiden.

Wehmütig dachte Lizzie daran zurück, dass er sie kurzfristig so behandelt hatte, als sei sie die begehrenswerteste Frau der Welt. Dann kamen ihr Zweifel. Vielleicht war das alles für ihn nur ein Spiel gewesen.

Oder etwas noch Schlimmeres. Vielleicht wusste er von meiner beziehungsweise von Amelias Mitgift. Vielleicht hat er sich meine Naivität zunutze gemacht, weil er an dem Geld interessiert ist.

Unter halb geschlossenen Lidern hervor musterte sie den Earl. Er sah nicht aus wie ein Mitgiftjäger.

„Ich sollte mich wohl entschuldigen“, sagte er leise.

Lizzie wartete.

„Aber ich sehe mich außerstande, mein Verhalten zu bereuen.“

Sie sprach, ohne nachzudenken. „Warum?“

„Warum?“ Die Andeutung eines Lächelns spielte um seinen Mund.

Würde er ihr gleich irgendeine höfliche Lüge auftischen?

Doch alles, was er sagte, war: „Eine märchenhafte Nacht, nicht wahr? Leise Musik aus dem Ballsaal, laue nach Blumen duftende Luft, eine bezaubernde und im wahrsten Sinne des Wortes umwerfende junge Dame … Ich konnte der Versuchung wirklich nicht widerstehen.“

Lizzie nahm all ihren Mut zusammen und schaute Lord Burwell in die Augen. Dann nickte sie zustimmend. Es war eine märchenhafte Nacht gewesen. Statt sich bei ihrem Sturz von der Treppe zu verletzen, war sie auf diesem gut aussehenden Mann gelandet. Er hatte ihr aufgeholfen, hatte sie zu einer Bank geführt, ein paar Worte mit ihr gewechselt und sie geküsst.

Autor

Laura Martin
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