Historical Weihnachten Band 13

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EIN WEIHNACHTSMÄRCHEN von ANNE GRACIE

Wer ist der Unbekannte, der in einer Dezembernacht vor ihrer Tür liegt? Elinor bringt es nicht übers Herz, ihn der Kälte zu überlassen. Ohne auf ihren Ruf zu achten, schafft die junge Witwe ihn in ihr Cottage - nicht ahnend, dass damit ein Weihnachtsmärchen seinen Anfang nimmt.

FOLGE DEM STERN DER LIEBE von MARY BALOGH

Nur aus höchster Not nimmt Verity das unmoralische Angebot an: Viscount Folingsby bietet ihr 500 Pfund, wenn sie Weihnachten mit ihm in einem einsam gelegenen Schlösschen verbringt. Verity ist entschlossen, ihre Unschuld zu opfern - nur ihr Herz soll nicht in Gefahr geraten ...

DER HAUCH VON WEIHRAUCH von MERLINE LOVELACE

Moschus, Jasmin, Weihrauch - ein erregender Hauch von Parfüm erfüllt Sir Christophers Kammer, als er am Morgen erwacht. Aber wo ist die unbekannte Schöne hin, die ihn letzte Nacht so spontan verführt hat? Schneller als gedacht, sieht er sie wieder …


  • Erscheinungstag 23.10.2020
  • Bandnummer 13
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749545
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anne Gracie, Mary Balogh, Merline Lovelace

HISTORICAL WEIHNACHTEN BAND 13

1. KAPITEL

Northumberland, England, Dezember 1816

Brennt meine Wunschkerze noch, Mama?“

Zärtlich küsste Ellie ihre kleine Tochter. „Ja, Liebling, sie ist noch nicht ausgegangen. Und jetzt hör auf, dir Sorgen zu machen, und schlaf. Die Kerze steht unten auf der Fensterbank, genau da, wo du sie aufgestellt hast.“

„Sie leuchtet hinaus ins Dunkle, damit Papa sie sieht und weiß, wo wir sind.“

Ellie zögerte. Mit rauer Stimme erwiderte sie: „Ja, mein Liebling. Papa wird wissen, dass wir hier sind, im Warmen.“

Amy kuschelte sich unter die fadenscheinigen Laken und die ausgeblichene Steppdecke. „Und morgen früh wird er mit uns frühstücken.“

Ellies Kehle war wie zugeschnürt. „Nein, Liebling. Papa wird nicht kommen. Das weißt du doch.“

Amy runzelte die Stirn. „Aber morgen ist doch mein Geburtstag, und du hast gesagt, dass Papa dann kommt.“

Tränen verschleierten ihr die Augen, als Ellie ihrer Tochter mit der abgearbeiteten Hand sanft über die Wange strich. „Nein, Liebling, das war letztes Jahr. Und du weißt, warum Papa damals nicht gekommen ist.“

Langes Schweigen trat ein. „Weil ich letztes Jahr keine Kerze ins Fenster gestellt habe?“

Ellie war entsetzt. „O nein! Nein, mein Liebling, mit dir hatte das gar nichts zu tun, wirklich nicht!“ Sie schloss das kleine Mädchen in die Arme, drückte es fest an sich und strich ihm über die glänzenden Locken, bis sie sich so weit gefasst hatte, dass sie wieder sprechen konnte. „Liebling, dein Papa ist gestorben, deswegen ist er nicht nach Hause gekommen.“

„Weil er den Weg nicht gesehen hat, weil ich ihm keine Kerze hingestellt habe.“

Das Elend in der Stimme ihrer Tochter zerriss Ellie schier das Herz. „Nein, meine Süße. Mit der Kerze hatte das gar nichts zu tun. An Papas Tod war niemand schuld.“ Das stimmte nicht. Hartley war von eigener Hand gestorben, aber Spielsucht und Freitod waren hässliche Themen für ein kleines Kind.

„Und jetzt hör auf damit“, meinte Ellie so entschieden, wie sie konnte. „Morgen ist dein Geburtstag, dann bist du vier Jahre alt, ein großes Mädchen. Und weißt du was? Weil du so ein braves Mädchen warst und Mama so schön geholfen hast, habe ich morgen früh eine wunderbare Überraschung für dich. Aber nur, wenn du jetzt gleich einschläfst.“

„Eine Überraschung? Was für eine Überraschung denn?“, erkundigte sich Amy eifrig.

„Wenn ich es dir sage, wäre es doch keine Überraschung mehr. Und jetzt schlaf ein.“ Sie begann ein Wiegenlied zu summen, um ihre Tochter zu beruhigen.

„Ich weiß, was die Überraschung ist“, murmelte ihre Tochter schläfrig. „Papa kommt zum Frühstück.“

Ellie seufzte. „Nein, Amy, Papa ist seit über einem Jahr tot. Das weißt du doch, warum beharrst du so darauf?“

„Es ist eine besondere Kerze, Mama. Das hat die Dame gesagt. Eine Wunschkerze. Sie bringt uns Papa zurück, du wirst schon sehen.“ Sie lächelte und kuschelte sich tiefer in ihre Decken.

Ellie runzelte die Stirn. Ohne ihr Wissen hatte Amy ein halbes Dutzend Eier und etwas Milch bei einer Zigeunerin gegen eine dicke rote Kerze eingetauscht. Von wegen Wunschkerze! Wohl eher eine sündhaft teure Weihnachtskerze. Und auch schädlich, wenn die alte Frau Amy eingeredet hatte, sie könne ihr den Vater zurückbringen.

Die wenigen Erinnerungen, die Amy an ihren Vater hatte, waren idealisierte Märchen. Die Wahrheit war für ein kleines Mädchen einfach zu schmerzlich. Hart war nie ein aufmerksamer Vater oder Ehemann gewesen. Sir Hartley Carmichael hatte sich einen Sohn gewünscht – einen Erben. Das kleine, lebhafte Mädchen mit den dunklen Locken und den strahlend blauen Augen hatte ihn nicht interessiert, war für ihn nutzlos, wie er immer wieder betonte – manchmal sogar in Amys Beisein.

Ellie sah auf ihre schlafende Tochter, und ihr schwoll das Herz. Für sie gab es auf der Welt nichts Kostbareres als ihr Kind. Sie nahm den Kerzenleuchter und begab sich in ihr Zimmer, wo sie sich hastig auskleidete, in ihr warmes Flanellnachthemd schlüpfte und ins Bett kletterte.

Sie wollte schon die Kerze ausblasen, als ihr einfiel, dass unten im Fenster auch noch eine brannte. Das war nicht nur gefährlich, sondern auch eine Verschwendung. Kerzen waren teuer. Sie konnte es sich nicht leisten, eine nutzlos herunterbrennen zu lassen. Zumindest ohne praktischen Nutzen. Sie dachte daran, wie das frisch gewaschene Gesicht ihrer Tochter vor Hoffnung gestrahlt hatte, als sie die Kerze auf die Fensterbank stellte. Ellies Kehle war wie zugeschnürt. Trotzdem stand sie auf, zog die Schuhe wieder an und warf sich ein Schultertuch um. Glückliche Kinderträume konnte sie sich einfach nicht leisten.

Sie war schon halb die Treppe hinunter, als plötzlich lautstark an die Tür ihres Cottages geklopft wurde. Sie erstarrte und wartete ab. Die bittere Dezemberkälte kroch an ihr hoch, doch sie bemerkte es kaum.

Wieder wurde an die Tür gehämmert. Es klang, als trommelte eine Faust gegen die Tür. Ellie regte sich nicht, wagte kaum zu atmen. Hinter ihr spürte sie einen Luftzug, und dann flüsterte eine leise, verängstigte Stimme: „Ist das der Squire?“

„Nein, Liebling. Geh wieder ins Bett“, sagte Ellie leise und ruhig.

Ein kleines, warmes Händchen stahl sich in ihre Hand und umfasste sie fest. „Deine Hand ist ja ganz kalt, Mama.“ Wieder ertönte das Gehämmer. Ellie bemerkte, wie ihre kleine Tochter vor Angst zusammenfuhr.

„Es ist doch der Squire“, wisperte Amy.

„Nein“, widersprach Ellie entschieden. „Er schreit doch immer herum, wenn ich ihm nicht aufmache, nicht wahr?“ Ihre Tochter packte sie noch einmal fester und schien sich dann etwas zu beruhigen. „Warte hier, Liebling, ich sehe mal nach, wer da ist.“

Sie schlich die verbleibenden sechs Stufen hinunter, bis sie die Haustür sehen konnte, die sie mit einem soliden Holzbalken fest verrammelt hatte. Ellie hatte bald herausgefunden, dass das Türschloss allein wenig Eindruck auf ihren Vermieter machte.

Amys Wunschkerze warf einen flackernden Lichtschein durch den dunklen Raum.

Wieder wurde an die Tür geklopft, nicht mehr so laut diesmal. Eine tiefe Stimme rief: „Hilfe!“

„Das muss Papa sein!“, quietschte Amy hinter ihr plötzlich. „Er hat meine Kerze gesehen, und jetzt kommt er endlich zu uns!“ Sie schlüpfte an Ellie vorbei und rannte zur Tür.

„Nein, Amy, warte!“ Ellie folgte ihr, fiel beinah die Treppe hinunter, um ihre Tochter daran zu hindern, Wer-weiß-wen hereinzulassen.

„Aber es ist Papa, Mama. Es ist Papa“, sagte Amy und versuchte, den schweren Balken anzuheben.

„Still!“ Ellie riss ihre Tochter an sich. „Es ist nicht Papa, Amy. Papa ist tot.“

Das Cottage lag isoliert, ein Stück ab von der Landstraße und hinter einem Birkenwäldchen verborgen. Weiter die Straße hinunter befand sich der „Angel“, ein einsamer Gasthof, der die zwielichtigsten Gestalten anzog. Zweimal hatte man Ellie bisher nach Hause verfolgt … Bei dieser Räuberhöhle um die Ecke würde sie nachts niemals einem Fremden die Tür öffnen.

Die tiefe Stimme rief wieder: „Hilfe.“ Es klang schwächer diesmal. Ein paar Mal schlug er noch an die Tür, beinahe halbherzig. Oder ihn verlassen die Kräfte, dachte Ellie plötzlich. Sie biss sich auf die Lippe und drückte ihre Tochter an sich. Vielleicht war es auch ein Trick, um sie nach draußen zu locken.

„Wer ist da?“, rief sie. Von draußen kam keine Antwort, nur ein dumpfer Schlag. Dann war alles still. Ellie wartete einen Moment, trat dabei unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Dann traf sie eine Entscheidung. „Wenn es ein böser Mann ist, dann lauf in dein Zimmer und sperr dich ein, wie ich es dir gezeigt habe, ja?“

Amy nickte. Ihr herzförmiges Gesichtchen war bleich. Ellie ging in die Küche und nahm die schwerste Bratpfanne, die sie besaß. Zurück im Flur, drehte sie den Schlüssel im Schloss um und entfernte den Balken. Sie hob die Pfanne, holte tief Luft und riss die Tür auf.

Schneeregen wehte herein, und sie erschauerte. Sie linste in die Dunkelheit. Kein Mensch zu sehen. Nichts zu hören. Die Pfanne immer noch drohend erhoben, tat sie vorsichtig einen Schritt nach draußen und sah sich um. Vor ihrer Tür entdeckte sie irgendetwas Großes, Dunkles.

Es war ein Mann, der ganz still dalag. Sie beugte sich über ihn und berührte sein Gesicht. Kalt. Gefühllos. Ihre Finger trafen auf etwas Nasses, Warmes, Klebriges. Blut. Er blutete am Kopf. Er lebte noch, würde aber nicht mehr lange durchhalten, wenn sie ihn draußen in der Kälte liegen ließ. Sie warf die Pfanne zu Boden, packte ihn bei den Schultern und zog. Er war sehr schwer.

„Ist er tot, Mama?“ Amy hatte sich wieder nach unten geschlichen.

„Nein, Liebling, aber verletzt. Wir müssen ihn nach drinnen in die Wärme schaffen. Sei so lieb und hol mir den Vorleger vom Kamin, ja?“

Amy huschte davon und kam kurz darauf mit einer abgenutzten dünnen Matte zurück. Ellie legte sie so dicht wie möglich neben die leblose Gestalt und schob und zerrte dann, bis der Mann endlich auf den Vorleger gerollt war. Dann zog sie mit aller Kraft. Amy half, so gut sie konnte. Zoll um Zoll glitt der Mann in ihr Cottage und schließlich in das kleine Wohnzimmer.

Ellie verrammelte die Tür und entzündete eine Laterne. Ihr unerwarteter Gast trug weder Rock noch Mantel – nur ein Hemd und Breeches. Und keine Schuhe, lediglich ein Paar schmutzige, lehmverkrustete Strümpfe. Obwohl Dezember war und es draußen Graupel und Eis regnete.

Der Fremde blutete heftig aus einer Wunde am Hinterkopf. Ein Schlag von hinten, der Schlag eines Feiglings. Man hatte ihm alles genommen, sogar seinen Rock und seine Stiefel, und ihn in der bitteren Kälte seinem Schicksal überlassen. Ellie wusste, wie es war, alles zu verlieren. Entschlossen legte sie dem Mann die Hand auf die Brust: Sie würde ihn nicht sterben lassen.

Sein Hemd war klatschnass und fühlte sich eiskalt an, und auch er war beängstigend kalt. Rasch ging sie in die Küche und formte aus einem sauberen Tuch eine Kompresse. Zurück bei dem Verletzten, band sie sie ihm so fest um den Kopf, wie sie es wagte, um das Blut zu stillen.

„Wir müssen ihm die nassen Sachen ausziehen“, sagte sie zu Amy. „Sonst erfriert er noch. Kannst du mir ein paar Handtücher aus dem Schrank unter der Treppe bringen?“ Das Kind lief davon, während Ellie dem Mann das Hemd, Unterhemd und die nassen, dreckigen Strümpfe auszog.

Er war schwer verprügelt worden. Auf seiner aufgeschürften Haut zeigten sich erste blaue Flecken. Daneben entdeckte sie dunkelrote halbkreisförmige Abdrücke, als wäre er getreten worden, und an der Schulter den Abdruck eines Absatzes. Sorgfältig tastete sie seine Rippen ab und dankte Gott, dass sie anscheinend verschont geblieben waren. Seine Kopfverletzung war das Schlimmste. Aber er würde wohl überleben, solange er sich keine Lungenentzündung zuzog.

Amy brachte die Tücher, und Ellie rieb ihm sorgfältig mit einem harten Handtuch die breite Brust, den Bauch und die Arme ab. Ihr Mund wurde trocken. Bisher hatte sie nur einen Mann mit nacktem Oberkörper gesehen. Aber dieser Mann hier war ganz anders als ihr Ehemann.

Hartleys Brust war schmal und knochig gewesen, weiß und haarlos, sein Bauch weich, seine Arme waren bleich, glatt und elegant. Dieser Mann hatte einen breiten, harten Brustkorb. Sie ertastete dicke Muskelstränge, im Augenblick zwar entspannt, aber nichtsdestotrotz stark und fest. Auf der goldbraunen Haut spross ein Dreieck aus dunklem lockigen Haar, das sich nach unten zu einem schmalen Streifen verjüngte. Sie versuchte nicht darauf zu achten, während sie ihn mit dem Handtuch abrubbelte, um die Durchblutung anzuregen, damit seine Glieder wieder warm wurden.

Wie sauber er ist, stellte sie überrascht fest. Er verströmte nicht den säuerlichen Geruch, den sie immer mit Hartley verband. Dieser Mann roch nach gar nichts – höchstens nach ein wenig Seife, frischem Schweiß und … Leder? Pferde? Was es auch war, es war nicht unangenehm.

Trotz seiner Muskeln war er hager. Sie konnte jede Rippe zählen. Und sein Bauch war flach, fast nach innen gewölbt. Auf seiner Haut entdeckte sie viele kleine Narben, meist älteren Datums. Vielleicht ein Mann, der sein Leben im Kampf verbracht hatte. Sie blickte auf seine Hände. Nicht die weichen weißen Hände eines Gentleman. Sie waren stark, braungebrannt und zerschrammt, die Knöchel blutig und geschwollen. Vermutlich war er ein Landarbeiter oder dergleichen. Das würde seine Muskeln erklären und warum er so dünn war. Jedenfalls war er kein reicher Mann. Seine Kleidung war von guter Qualität, aber alt und abgetragen. Das Hemd war mehrmals unbeholfen geflickt worden, ebenso seine Breeches.

Seine Breeches. Kalt und nass klebten sie ihm am Körper. Sie würde sie ihm ausziehen müssen. Zögernd griff sie nach dem Hosenbund, schluckte, hielt inne, als ihr Amys Anwesenheit bewusst wurde. „Lauf nach oben, mein Liebes, und hol mir von meinem Bett eine Decke und den warmen Ziegelstein.“

Amy trabte davon, und Ellie atmete tief durch. Du bist durchaus vertraut mit der männlichen Anatomie, machte sie sich Mut, während sie die durchweichte Hose aufknöpfte. Sie war schließlich verheiratet gewesen. Allerdings war dieser Mann nicht ihr Ehemann.

Sie packte die Hose und zog sie ihm über die Hüften, rollte ihn dabei von einer Seite auf die andere, während sie ihm die Breeches langsam vom Leib schälte. Das nasse schwere Leder klebte widerspenstig an seinem eiskalten Körper. Endlich war es vollbracht. Keuchend setzte sie sich zurück. Er war nackt. Mit großen Augen starrte sie ihn an, konnte den Blick einfach nicht abwenden.

„Geht es Papa auch gut?“ Amy kam die Treppe herunter, in den Armen eine zusammengefaltete Decke.

Hastig legte Ellie ein Handtuch über die Hüften des Fremden. „Er ist nicht dein Papa.“

Amy warf ihr einen merkwürdigen Blick zu und lief dann wieder nach oben. Ellie zerrte den Mann zum Kamin. Als Amy mit dem Ziegelstein zurückkehrte, legte Ellie ihn ins Feuer. Sie erhitzte ein wenig Suppe und seihte sie durch ein Musselintuch in die Teekanne.

„Suppe in der Teekanne?“ Amy kicherte.

Ellie lächelte, erleichtert, dass ihre Tochter etwas gefunden hatte, über das sie sich amüsieren konnte. „Das hier wird alles geraume Zeit dauern, also ab mit dir ins Bett, junge Dame.“

„Ach, aber Mama …“

„Der Mann ist morgen früh auch noch da“, meinte Ellie entschieden. „Wir haben schon einen Kranken im Haus – ich will nicht, dass du dich auch noch erkältest. Also, Miss, ab ins Bett.“ Sie küsste ihre Tochter und schob sie zur Tür. Widerstrebend ging Amy nach oben. Ellie verbarg ein Lächeln. Ihr neugieriges kleines Mäuschen würde die ganze Nacht aufbleiben, wenn es könnte.

Sie bereitete eine Kräuterkompresse und legte sie, nachdem sie die Wunde sorgfältig gereinigt hatte, auf die Wunde. Der Mann stöhnte und versuchte den Kopf zu bewegen.

„Still.“ Beruhigend strich sie ihm über die Stirn und hielt dabei die Kräuterkompresse fest. „Es brennt ein wenig, aber es tut Ihnen gut.“ Er sackte wieder in sich zusammen, doch Ellie spürte seine Anspannung, als wäre ein Teil von ihm noch wach. Sprungbereit. Sanft murmelte sie: „Ruhen Sie sich aus. Hier tut Ihnen keiner etwas.“ Langsam entspannte er sich.

Seine Lider flatterten, und dann schlug er die Augen auf. Ellie beugte sich über ihn, wobei sie ihm immer noch den Kopf stützte. „Wie fühlen Sie sich?“

Der Fremde schwieg, starrte sie nur an aus seinen tiefblauen Augen.

Wie ich mich fühle? Als platzte ihm gleich der Kopf. Er blinzelte und versuchte sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren. Hübsch, dachte er unbestimmt. Weiche glatte Haut. Sein Blick nahm die glänzenden dunklen Locken wahr, die ihr über die Schultern fielen.

Wer war sie? Und wo zum Teufel befanden sie sich? Mühsam wandte er den Blick von ihr ab, um sich im Raum umzuschauen. Ziemlich klein … ein Cottage? War er in irgendeinem Pächterhäuschen einquartiert? Mit Verwundeten wurde manchmal so verfahren. Man überließ sie der zweifelhaften Pflege irgendeiner Bauersfrau, während die Kämpfe anderswo weitergingen … Angestrengt versuchte er sich zu erinnern. Hatten sie die Schlacht gewonnen oder verloren? Oder waren sie gar noch mittendrin? Er lauschte. Nein, kein Kanonendonner zu hören.

Sein Blick kehrte zu der Frau zurück. Das Cottage hatte ihm gar nichts verraten. Aber die Frau … Er konnte den Blick nicht von ihr wenden. Ihre Augen blickten weich und besorgt. Auch um ihren Mund – ein sehr hübscher Mund – lag ein besorgter Zug. Besorgt oder vielleicht verängstigt? Er hatte keine Ahnung.

Er versuchte sich zu bewegen und stöhnte auf. Sein Kopf brachte ihn um. Als hätte ihn jemand mit der Axt gespalten. Wie war das nur passiert? Blutete er? Er wollte seinen Kopf abtasten, konnte jedoch die Arme nicht bewegen. Verdammt, er saß in der Falle. Seine Arme und Beine waren gefesselt. Man hatte ihn gefangen genommen! Er bäumte sich auf.

„Still“, sagte die Frau beruhigend. Sie machte sich daran, seine Arme zu befreien. „Es ist alles in Ordnung. Ich habe Sie nur ganz fest in meine Decke gewickelt, weil Sie so kalt und nass waren und ich befürchtet habe, Sie könnten sich erkälten.“

Er blinzelte zu ihr auf. Sein Kopf schmerzte einfach unerträglich. Auch der restliche Körper tat weh, aber sein Kopf war das Schlimmste. Ihm wurde schwindelig.

Und dann fiel es ihm endlich auf. Sie hatte Englisch gesprochen. Weder Portugiesisch, noch Spanisch, noch Französisch. Englisch, und zwar nicht das radebrechende Englisch einer Ausländerin, sondern richtig gutes Englisch. Das Englisch, das auch er sprach. Wo also befanden sie sich? Er wollte etwas sagen, sie fragen. Er spürte, wie sich seine Lippen bewegten, aber es war, als hätte ihm jemand die Zunge abgeschnitten. Er brachte keinen Ton heraus. Er fixierte ihr Gesicht und nahm alle Kraft zusammen, um ihr eine Frage zu stellen. Fragen. Sie quollen ihm ja schon aus dem schmerzenden Kopf.

Die Frau setzte sich neben ihn auf den Boden und strich ihm sanft das Haar aus der Stirn. Das fühlte sich so gut an, dass er die Augen schloss, um es auszukosten.

„Ich habe keinen Brandy“, sagte die Frau entschuldigend. „Ich habe nur heiße Suppe. Trinken Sie ein bisschen. Dann wird Ihnen warm, und Sie gewinnen Ihre Kräfte zurück.“

Warm? Wieso brauchte er Wärme? Und dann merkte er, dass er vor Kälte zitterte. Sie hob seinen Kopf an, und obwohl er wusste, dass sie so behutsam wie möglich vorging, schoss ihm ein scharfer Schmerz durch den Schädel, und er drohte die Besinnung zu verlieren. Doch dann bettete sie seinen Kopf sanft an ihre Schulter und hielt ihn fest, und er fühlte sich sicher und irgendwie … beschützt. Er packte sie am Oberschenkel, kämpfte eisern darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren, und allmählich legte sich der dunkle Schwindel.

Er fuhr zurück, als etwas gegen seine Zähne klapperte. „Nur die Teekanne“, murmelte sie. „Mit der heißen Brühe. Trinken Sie, es wird Ihnen guttun.“

Er wollte ihr sagen, dass er ein Mann sei, dass er selbst trinken könne, und zwar aus einer Tasse, nicht aus einer Teekanne wie ein hilfloses Kleinkind, doch er brachte die Worte nicht heraus. Sie kippte die Teekanne, und so musste er schlucken, wenn er nicht wollte, dass sich die Brühe über ihn ergoss. Er schluckte. Die Suppe schmeckte gut. Heiß. Köstlich. Sie wärmte ihn von innen. Und die Frau fühlte sich so weich und gut an, wie sie ihn so an sich gedrückt hielt. Geschwächt schloss er die Augen und ließ sich füttern wie ein Kleinkind.

Er trank die Brühe langsam, in kleinen Schlucken. Der Atem der Frau fächelte ihm warm über das Gesicht. Sie schien zu wissen, wie viel sie ihm geben und wann sie etwas warten musste. Er konnte den Duft ihres Haars riechen. Am liebsten hätte er das Gesicht darin vergraben. Stattdessen trank er die Brühe. Im Kamin knisterte das Feuer. Draußen pfiff und heulte der Wind, riss klappernd an Türen und Fenstern. Im Cottage war es kühl, der Fußboden war hart und kalt, doch merkwürdigerweise war ihm warm und behaglich und friedlich zumute.

Er trank die Brühe aus und ließ sich wie ein Kind den Mund abwischen. In einvernehmlichem Schweigen saßen sie dann da, während draußen der Wind heulte. In seinem Kopf schwirrten die Fragen.

Unter der Decke war er splitterfasernackt, wurde ihm plötzlich bewusst. Er starrte die Frau an, eine neue Frage auf den Lippen. Wer war sie nur, dass sie ihm einfach die Kleider auszog?

Als hätte sie erraten, was er wollte, sagte sie sanft: „Sie sind vor fast einer Stunde hier vor dem Cottage zusammengebrochen. Ich weiß nicht, was mit Ihnen zuvor passiert ist. Sie waren nur halb angezogen, völlig durchnässt und halb erfroren. Ich weiß nicht, wie lang sie draußen herumgeirrt sind oder wie Sie mein Cottage gefunden haben, aber Sie sind auf der Schwelle ohnmächtig geworden …“

„Ist Papa jetzt aufgewacht?“, vernahm er ein Stimmchen.

Papa? Er öffnete die Augen und sah sich einem lebhaften Gesichtchen gegenüber, aus dem ihn ein Paar helle Augen neugierig anstarrten. Ein Kind. Ein kleines Mädchen.

„Geh sofort zurück ins Bett, Amy“, befahl die Frau scharf und machte eine hastige Bewegung.

Er zuckte zusammen, worauf ihm erneut schwindelig wurde. Als er die Augen wieder aufschlug, wusste er nicht, wie viel Zeit vergangen war. Er lehnte nicht länger an der Schulter der Frau, und das kleine Mädchen war weg. Und er zitterte. Heftig.

Die Frau beugte sich über ihn. Ihre Augen waren dunkel vor Sorge. „Tut mir leid“, murmelte sie. „Ich wollte Sie nicht so herumschleudern. Meine Tochter hat mich erschreckt, das war alles. Geht es Ihnen wieder gut?“ Ihre glatte Stirn legte sich in Falten. „Ich habe Ihnen den Kopf verbunden. Die Blutung müsste jetzt aufgehört haben.“

Er nahm ihre Worte kaum auf. Alles, woran er denken konnte, war, dass ihm der Kopf höllisch wehtat und dass sie sich Sorgen machte. Er hob die Hand und strich ihr ganz sacht über die Wange. Sie fühlte sich an wie kühler weicher Satin.

Sie seufzte. Und entzog sich ihm. „Ich fürchte, dass Sie erfrieren werden, wenn ich Sie hier unten auf den Steinfliesen liegen lasse. Selbst wenn ich das Feuer die ganze Nacht brennen ließe – wofür ich nicht genug Brennstoff habe –, würde Ihnen der kalte Fußboden die ganze Wärme entziehen.“

Er konnte sie nur anstarren und versuchen, das Zittern zu beherrschen.

„Der einzige Ort, an dem wir Sie warm halten könnten, wäre ein Bett.“ Sie errötete und sah ihn nicht an. „Hier … hier gibt es aber nur ein Bett.“

Er runzelte die Stirn, versuchte zu erfassen, was sie ihm sagen wollte, doch er verstand nicht, warum ihr das Kummer bereitete. Er wusste immer noch nicht, wer sie war, doch das Kind hatte Papa zu ihm gesagt. Er versuchte nachzudenken, aber davon tat ihm der Kopf nur noch mehr weh.

„Es steht oben. Das Bett. Ich kann Sie nicht hinauftragen.“

Seine Verwirrung lichtete sich. Sie sorgte sich, weil sie nicht wusste, ob er die Treppe hinaufsteigen könnte. Er nickte, worauf ihm prompt wieder schwindelig wurde. Energisch biss er die Zähne zusammen. Das konnte er doch wohl für sie tun. Er würde für sie die Treppe hinaufsteigen. Es gefiel ihm nicht, wenn sie so besorgt dreinsah. Also streckte er ihr die Hand entgegen, damit sie ihm aufhalf. Wenn er sich doch nur an ihren Namen erinnern könnte.

Ellie ergriff seine Hand und zog ihn hoch, bis er stand – zitternd und furchtbar blass, aber er konnte sich aufrecht halten. Sie steckte ihm die Decke unter die Achseln und verknotete sie wie eine Toga.

Dann schob sie ihm eine Schulter unter die Achsel und führte ihn aus dem Raum. Dabei musste er durch eine sehr niedrige Tür; das Cottage war einfach nicht für Männer seiner Statur gemacht.

„Ziehen Sie den Kopf ein“, sagte sie. Gehorsam tat er, was sie verlangte, verlor aber das Gleichgewicht und taumelte nach vorn. Ellie hielt ihn fest, zog ihn durch die Tür zurück, damit er nicht fiel. Voll Angst, dass er sich aufrichten und sich den Kopf an dem niedrigen Türsturz anschlagen würde, legte sie ihm eine Hand schützend auf den Kopf und zog ihn zu sich herab. Halb bewusstlos stützte er sich auf sie, einen Arm um ihre Schultern gelegt, den anderen an der Wand. Er atmete schwer, und um seinen Mund zogen sich tiefe Schmerzensfalten.

Endlich hatten sie die Treppe erreicht. Insgesamt musste er nur zehn schmale, steile Stufen bewältigen, doch für ihn war die Anstrengung übermenschlich. Er war kaum noch bei Bewusstsein, aber er setzte immer noch fest entschlossen einen Fuß vor den anderen; eisern hielt er das Geländer umklammert und zog sich Stufe für Stufe daran nach oben, wobei er nach jedem Schritt taumelte. Ellie hielt ihn fest und stützte ihn, so gut sie konnte. Er war groß und schwer; wenn er zusammenbrach, würde sie seinen Fall nicht aufhalten können. Und wenn er fiel, würde er vielleicht nie wieder das Bewusstsein erlangen.

Sie sprachen kaum, konzentrierten sich ganz auf den anstrengenden Aufstieg. Hin und wieder murmelte Ellie ihm etwas Ermutigendes zu – „Jetzt haben wir schon die Hälfte!“ – „Nur noch vier Stufen!“ –, aber sie wusste nicht einmal, ob er sie überhaupt verstand. Das einzige Geräusch, das er von sich gab, war ein angestrengtes Stöhnen und das harte Keuchen eines Mannes, der am Ende seiner Kräfte angelangt war. Reine Willenskraft hielt ihn bei Bewusstsein. Nie zuvor war ihr solche Sturheit begegnet – oder solcher Mut.

Endlich waren sie im ersten Stock angekommen. Vor ihnen lag das Zimmerchen, in dem Amys Bett stand – kaum mehr eine Kammer, aber warm und gemütlich. Rechts ging Ellies Schlafzimmer ab.

„Ziehen Sie noch mal den Kopf ein.“ Diesmal war sie darauf vorbereitet, als er in ihr Zimmer taumelte. Umsichtig zog sie ihn zu dem kleinen, durch einen Vorhang abgetrennten Alkoven, in dem ihr Bett stand. Er ließ sich stöhnend darauf niedersinken und lag dann bewegungslos da. Sie fiel neben ihm aufs Bett, keuchend und schwach vor Erleichterung. Ihr Atem kondensierte in der kalten Luft zu Dampfwölkchen. Sie musste ihn zudecken, solange ihm vom Treppensteigen noch warm war.

Ein Nachthemd hatte sie nicht für ihn. Seine Schultern waren zu breit für ihre Kleider, und Hartleys Sachen hatte sie schon vor langer Zeit verkauft. Die paar dünnen Decken, die sie ihr eigen nannte, sahen nicht so aus, als könnten sie einen bewusstlosen Mann vor einer Erkältung bewahren. Die wärmsten Decken lagen auf Amys Bett.

Sie wickelte ihn in ein Laken und zog die Decken über ihn. Dann nahm sie alle Kleidungsstücke, die sie besaß, und breitete sie über das Bett – Kleider, Schultertücher, eine verblasste Pelisse, einen fadenscheinigen Mantel. Schließlich holte sie den heißen Ziegelstein und schob ihn zu seinen Füßen. Sie trat zurück. Mehr konnte sie für ihn nicht tun. Auch sie zitterte vor Kälte, merkte sie plötzlich. Ihre Füße waren eiskalt. Doch sie konnte sich nicht ins Bett legen, um sich aufzuwärmen.

Heute Nacht lag dort ein Fremder.

Amys Bett war nur eine schmale Liege, so lang und so breit wie das Kind selbst. Dort war kein Platz für sie. Unten im Wohnzimmer erstarb wahrscheinlich gerade das Feuer im Kamin. Ellie setzte sich auf einen Schemel, zog die Knie an und kuschelte sich tiefer in ihr Schultertuch. Im Schein der einzigen Kerze im Leuchter starrte sie zu ihm hinüber. Er lag da, warm, entspannt, und hatte es gemütlich, während sie nicht wusste, wie sie sich der Kälte erwehren sollte.

Er ist zusammengebrochen. Er ist besinnungslos. Er wird mich nicht einmal bemerken.

Vorsichtig schlich sie auf eiskalten Zehenspitzen zum Bett und sah auf ihn hinab. Er lag auf dem Rücken und atmete tief und regelmäßig. Im schwachen Kerzenlicht hob sich der weiße Verband deutlich von seinem gebräunten Gesicht und dem dichten dunklen Haar ab. Auf seinen schmalen Wangen zeigten sich Bartstoppeln. Er wirkte so groß und bedrohlich in ihrem Bett. Und wenn er nun aufwachte, wenn sie sich zu ihm legte?

Es ging einfach nicht. Sie schlich zum Schemel zurück. Doch es wurde immer kälter, Zugluft strich ihr an den Beinen entlang, kroch an ihr empor. Bald übertönte ihr Zähneklappern seine ruhigen, tiefen Atemzüge.

Ihr blieb nichts anderes übrig. Schließlich war es ihr Bett. Es würde keinem etwas nützen, wenn sie erfror. Wenn es um ihre Gesundheit ging, war die Schicklichkeit zweitrangig. Rasch lief sie nach unten und holte ihre Bratpfanne. Zurück in ihrem Schlafzimmer, atmete sie tief durch, wickelte das Laken fest um sich und trat in die Schlafnische, die Bratpfanne in der Hand. Mit dem Gefühl, alle Brücken hinter sich abzubrechen, schloss sie die Vorhänge, die sie vor Zugluft schützten. In dem engen kleinen Raum fühlte sie sich mit dem Fremden noch abgeschiedener als zuvor …

Draußen prasselte Hagel gegen das Fenster.

Verstohlen steckte Ellie die Pfanne griffbereit unter die Matratze und legte sich hin. Er lag nicht nur in ihrem Bett, er machte sich darin auch ganz schön breit. Und hatte beinahe alle Decken an sich gerissen. Alles, was zwischen ihnen lag, waren ein paar fadenscheinige Laken. Ellie versteifte sich vor Angst. Dann stupste sie ihn an. „Psst! Sind Sie wach?“ Vorsorglich fasste sie den Griff der Pfanne.

Doch der Mann regte sich nicht, lag nur da und atmete langsam und gleichmäßig, genau wie die letzte Viertelstunde. Sie versuchte von ihm abzurücken, aber die Matratze war unter seinem Gewicht eingesunken, und so rollte sie automatisch zurück. Zu ihm. Sie berührte ihn von der Schulter bis zum Knöchel – eine höchst beunruhigende Sache. Sie wand sich ein wenig, um den Körperkontakt zu verringern. Ihre eiskalten Zehen rutschten aus dem Laken und berührten seine Beine … worauf sie selig aufseufzte. Er war heiß wie ein Backofen.

Hatte er Fieber? Sie legte ihm die Hand auf die Stirn, doch die wirkte recht kühl. Aber das konnte auch an der kalten Luft im Zimmer liegen. Sie schob die Hand unter das Laken und berührte ihn an der Brust. Die Haut dort war warm und trocken. Er fühlte sich überhaupt nicht fiebrig an. Eher … angenehm.

Sofort riss sie die Hand zurück und zog das Laken fest um sich. Sie schloss die Augen und versuchte, den Mann neben sich einfach auszublenden. Natürlich würde sie nicht schlafen können … sie war gefasst darauf, dass er vielleicht nur so tat, als schliefe er. Aber zumindest würde sie es warm haben.

Bisher hatte sie noch nie mit einem Mann in einem Bett geschlafen. Hartley war nicht länger geblieben, als unbedingt nötig gewesen war. Nach dem Beischlaf hatte er ihr Bett sofort verlassen, und nach ihrer Schwangerschaft war er nie wieder dorthin zurückgekehrt. Daher war allein das Gefühl, neben einem Mann zu liegen, höchst … beunruhigend.

Sie konnte ihn riechen, seinen sehr maskulinen Duft, den der Kräuterkompresse, die sie auf seine Wunde gelegt hatte. Anscheinend war sie ein Stück von ihm abgerückt, denn durch eine Ritze kroch kalte Luft herein. Vorsichtig schob sie sich näher an ihn heran, um die Lücke zu schließen, lag aber immer noch stocksteif neben ihm.

Langsam jedoch wurde ihr durch die Hitze, die sein Körper abstrahlte, auch warm, sodass sie aufhörte, sich innerlich zu sträuben. Er lag so still und atmete so gleichmäßig, dass sie ebenfalls Ruhe fand und schließlich einschlief.

Im Schlaf schmiegte sie sich an ihn. Ihre kalten Zehen ruhten auf seinen warmen Unterschenkeln. Und ihre Hand hatte sich aus ihrem Leinenkokon gestohlen und sich unter seine Decken geschoben, bis sie auf der warmen, festen, breiten Männerbrust ruhte …

Die Wintersonne weckte sie, als sie in den kleinen, spärlich möblierten Raum schien und die Vorhänge vor dem Alkoven in hellgoldenes Licht tauchte. Ellie gähnte zufrieden und entspannt und räkelte sich … und stellte fest, dass sie an den Brustkorb eines Mannes geschmiegt lag, ihre Füße an seinen Beinen ruhten und ihr Arm über seinen Körper gestreckt war.

Wie mit dem Katapult geschossen, sprang sie aus dem Bett. Zitternd stand sie da und starrte auf den Fremden, und dann fiel ihr alles wieder ein. Sie schnappte sich ein paar Kleider und lief nach unten, um im Kamin Feuer zu machen.

Der Mann schlief den ganzen Tag. Zwar lag er regungslos da wie ein Toter, doch es schien ihm nichts zu fehlen. Ellie überprüfte mehrmals seine Kopfwunde. Sie hatte aufgehört zu bluten und zeigte keinerlei Anzeichen einer Entzündung. Der Mann atmete tief und gleichmäßig. Er fieberte nicht, und er warf sich auch nicht im Bett umher. Hin und wieder murmelte er etwas.

Amy war fasziniert von ihm. Ellie hatte sie davon abbringen können, ihn dauernd Papa zu nennen, aber sie konnte sie nicht von ihm fernhalten. Draußen war es zum Spielen zu kalt; wenn ihre Tochter Amy nicht unten bei ihr war, saß sie oben und beobachtete den Mann.

Ellie sagte sich, dass es vollkommen harmlos sei. Und ziemlich süß. Während Amy oben mit ihren Puppen spielte, erzählte sie ihm lange, verworrene Geschichten und sang ihm leicht misstönende Lieder vor. Dann berichtete sie von ihrer roten Wunschkerze, die ihn zu ihnen geführt hätte. Es schien ihr nichts weiter auszumachen, dass er nie auf ihr Geplauder einging und einfach weiterschlief.

Wenn er aufwachte, wäre es etwas anderes. Dann müsste sie Amy von ihm fernhalten. Wenn er überhaupt je aufwachte …

Vermutlich hätte sie Dr. Geddes holen sollen. Aber sie konnte ihn nicht ausstehen. Der Arzt kleidete sich nach der neuesten Mode, doch seine Gerätschaften starrten vor Dreck. Er würde den Mann zur Ader lassen, ihm irgendein selbst zusammengerührtes scheußliches Elixier geben und ein horrendes Honorar verlangen. Ellie hatte kaum Geld und noch weniger Zutrauen zu dem Arzt. Außerdem war Dr. Geddes mit dem Squire befreundet …

Sie faltete das gewaschene und getrocknete Hemd zusammen und legte es mit seinen hirschledernen Breeches auf die Truhe in ihrem Zimmer. Beide Kleidungsstücke waren von guter Qualität, hatten aber schon bessere Tage gesehen. Dass ein armer Landarbeiter solche Kleider trug, war nicht weiter unwahrscheinlich. Im Lauf des letzten Jahres hatte sie zu ihrem Erstaunen vom schwunghaften Handel mit gebrauchten Kleidern erfahren – aus zweiter, dritter, sogar vierter Hand. Selbst Stücke, die sie damals für Lumpen gehalten hatte, hatten noch für ein paar Pennys den Besitzer gewechselt.

Im Nachhinein war ihr klar, dass sie ihre Sachen viel zu billig abgegeben hatte. Ihren Schmuck, ihre Möbel, lieb gewonnene Kostbarkeiten, Amys Kleider, das herrliche Puppenhaus mit der erlesenen Ausstattung, die winzigen Püppchen mit ihren eleganten Roben – jetzt hätte sie das alles weitaus gewinnbringender verkaufen können. Damals hatte sie den wahren Wert nicht gekannt.

Trotzdem, sie waren weder verhungert noch erfroren, und ihre Tochter hatte genauso viel Freude an ihrem jetzigen Puppenhaus, das aus einer alten Schachtel bestand, mit selbst gebastelten Puppen und Möbeln aus irgendwelchem Krimskrams.

Ellie betrachtete die anderen Besitztümer des Fremden. Es war herzlich wenig – nur die Kleider, die er am Leib hatte. Seine Strümpfe waren grob und dick, doch nachdem er draußen ohne Schuhe herumgelaufen war, hatten sie Löcher bekommen, die sie später noch stopfen wollte. Sie hatte nichts gefunden, was auf seine Identität hingedeutet hätte, bis auf ein zartes blutbeflecktes Batisttaschentuch in der Hosentasche, das zu diesem Mann mit den kräftigen Händen und den blutigen Knöcheln nicht recht passen wollte.

Sie dachte daran, wie sanft er ihr mit diesen zerschrammten Knöcheln über die Wange gestrichen hatte, und seufzte. Eine so kleine, unbedachte Geste … und doch hatte er damit ihre Entschlossenheit ins Wanken gebracht, ihn auf Distanz zu halten.

Er ist ein Fremder, sagte sie sich streng. Ein Raufbold und möglicherweise auch ein Dieb. Hoffentlich hatte er das Taschentuch nicht gestohlen. Es war schon schlimm genug, einen Fremden im Bett zu haben, ganz zu schweigen von einem Dieb.

Ein lautes Klopfen! Ellie fuhr zusammen.

Amy riss vor Angst die Augen auf. „Da ist jemand an der Tür, Mama“, flüsterte sie.

„Mrs. Carmichael?“, rief eine belegte Stimme.

„Alles in Ordnung, mein Liebes. Das ist bloß Ned. Warte hier.“ Ellie legte ihr Flickzeug beiseite und ging zur Schlafzimmertür. Sie zögerte und wandte sich dann noch einmal an ihre Tochter. „Du darfst Ned nichts von dem Mann erzählen, ja? Und auch sonst niemandem. Das ist ein Geheimnis.“

Ihre Tochter betrachtete sie ernst und nickte. „Wegen dem Squire“, meinte sie und wandte sich wieder ihrem Puppenhaus zu.

In stummem Schmerz schloss Ellie die Augen und wünschte sich, sie könnte ihre Tochter vor derartig grimmigen Tatsachen bewahren. Aber sie konnte es nicht ändern. Sie ging hinunter und öffnete die Tür.

„Ich hab Ihnen Milch und Quark gebracht, Mrs. Carmichael, wie Sie gewollt haben“, sagte Ned und fügte hinzu: „Ich dachte, die hier können Sie vielleicht auch gebrauchen.“ Er reichte ihr zwei Hasen. „Geben einen guten Eintopf ab. Dem Squire brauchen wir es ja nicht zu verraten, was?“ Er blinzelte und wandte sich zum Gehen.

„Ned, das hätten Sie nicht tun sollen!“ Ellie war bestürzt, und doch presste sie die toten Tiere an sich. Es war schon lange her, seit Amy und sie zum letzten Mal Fleisch gegessen hatten, aber Ned könnte für diese Wilderei am Galgen enden oder nach Australien deportiert werden. „Ich möchte auf keinen Fall, dass Sie wegen mir in Schwierig…“

Ned lachte. „Ach herrje, Missus, machen Sie sich wegen mir bloß mal keine Sorgen – ich kümmere mich bereits mein Lebtag um das überzählige Viehzeugs des Squire, und mein Vater und Großvater haben das auch schon gemacht.“

„Aber …“

Der Graubart winkte ab. „Ein Geschenk, für die kleine Miss zum Geburtstag.“

Ellie konnte nichts mehr sagen. Wenn sie jetzt noch Einwände erhob, würde sie Neds Geschenk kleinreden, und das würde sie nie tun wollen. „Dann danke ich Ihnen herzlich, Ned. Amy und ich werden es uns schmecken lassen.“ Sie lächelte und wies ins Cottage. „Möchten Sie hereinkommen auf ein Tässchen Brühe? Ich habe gerade welche auf dem Feuer.“

„Oh, nein, nein, vielen Dank, Missus. Das würde ich mir nie rausnehmen.“ Verlegen trat er von einem Bein auf das andere, legte die Hand an die Stirn und stapfte davon, ehe sie noch etwas sagen konnte.

Ellie sah ihm nach, gerührt von der Unbeholfenheit des alten Mannes, seinem Stolz und dem riskanten, großzügigen Geschenk. Die Hasen hingen schwer an ihrem Arm. Sie würden ein Festmahl abgeben. Und je früher sie im Topf schmorten, desto sicherer wäre es für alle Beteiligten. Gleich nach dem Aufstehen hatte sie Amy gratuliert und ihr ein kleines Geschenk überreicht: ein Paar selbstgestrickte Fäustlinge. Nun würden sie als Geburtstagsessen sogar noch einen feinen Eintopf bekommen. Und wenn der Mann oben je wieder aufwachte, könnte sie ihm auch etwas Ordentliches zu essen geben.

Sie lächelte in sich hinein, während sie sich daranmachte, den ersten Hasen für den Kochtopf vorzubereiten. Wegen des Taschentuchs hatte sie den Fremden für einen Dieb gehalten. Wie kam sie dazu, mit dem Finger auf ihn zu zeigen, ausgerechnet sie, Ellie Carmichael, stolze Besitzerin zweier fetter, gewilderter Hasen?

Eine Nacht und einen Tag hatte er jetzt geschlafen, ohne sich zu rühren. Ellie starrte auf ihn hinunter und wünschte sich, dass sie etwas tun könnte. Sie wollte, dass er aufwachte. Sie wollte, dass er aufstand und aus ihrem Bett verschwand. Sie wollte ihn nicht mehr im Haus haben. Es war beunruhigend, ihn hier in ihrem Bett liegen zu haben. Tagsüber fiel es ihr nicht so schwer, sich damit abzufinden, sich zu sagen, dass er bestimmt harmlos war, ihrer Tochter zu erlauben, sich zu ihm zu setzen und einen bewusstlosen Mann – einen Fremden – wie einen Spielkameraden zu behandeln. Tagsüber fand sie ihn nicht so einschüchternd. Jetzt hingegen am Abend…

Sie zog ihren Hausmantel enger um sich, versuchte den Mut aufzubringen, ein zweites Mal zu dem Fremden ins Bett zu schlüpfen. Im Dämmerlicht schien er auf einmal zu wachsen, größer und dunkler zu werden, bedrohlicher.

Aber er hatte sich eine ganze Nacht und einen ganzen Tag nicht gerührt. Was sollte schon geschehen? Außerdem hatte sie doch gar keine andere Wahl … Nein, du hast diese Wahl getroffen, korrigierte ihr Gewissen sie. Sie hätte sich Hilfe holen können. Sie hätte ihn ins Armenhaus schaffen lassen können. Aber dort wäre er nicht richtig versorgt worden. Um einen verletzten Gentleman hätte sich der Arzt oder sogar der Squire gekümmert. Aber dieser Mann war kein Gentleman, und seit dem Sieg gegen Napoleon gab es in England zu viele arme, verletzte Männer. Bei ihrer Rückkehr hatte man sie als Helden gefeiert. Jetzt, einige Monate später, suchten sie verzweifelt nach Arbeit oder bettelten und wurden allgemein als Last betrachtet. Welche Rolle spielte es da, wenn noch einer von ihnen starb.

Und es gibt auch zu viele verarmte Witwen mit kleinen Mädchen, dachte Ellie betrübt.

Sie konnte ihn nicht im Stich lassen. Obwohl sie kaum miteinander gesprochen hatten, fühlte sie sich irgendwie verantwortlich für den Mann – egal ob er ein Fremder, egal ob er ein Dieb war. Er war in Not und brauchte Hilfe. Sie wusste, wie es sich anfühlte, Not zu leiden und Hilfe zu brauchen. Und sie würde ihm helfen.

Ohne weitere Bedenken wickelte Ellie sich in ihr eigenes Laken – allen Sinn für Anstand hatte sie noch nicht verloren – und schlüpfte zu ihm ins Bett. Wohlig seufzte sie auf. Er wärmte besser als jeder heiße Ziegelstein.

Diesmal war es sich nicht mehr ganz so merkwürdig. Die Kuhle in der Matratze fühlte sich genau richtig an, und Ellie sträubte sich nicht mehr allzu sehr dagegen, dicht an ihm zu liegen. Aber ihr fiel die schamlose Stellung ein, in der sie aufgewacht war, und wandte ihm entschlossen den Rücken zu. Einem Fremden den Rücken zuzukehren ist nicht ganz so intim, dachte sie schläfrig, während sie sich an seine Hüfte kuschelte.

Und wieder wurde sie von der Wärme und seinen tiefen, regelmäßigen Atemzügen eingelullt. Sie vergaß alle Angst, streckte die Zehen aus, schmiegte sie behaglich an seine Waden – und schlief ein.

Ellie wurde von einem köstlichen Gefühl der … Lust geweckt. Sie hatte wunderbar geträumt. Sie ließ die Augen geschlossen, um die berückende Empfindung noch in sich nachklingen zu lassen, dass sie … geliebt wurde. Hartley liebkoste sie auf eine Art, von der sie immer nur geträumt hatte … Seine großen, warmen Hände strichen liebevoll über ihre Haut. Sie fühlte sich schön, geliebt, begehrt wie nie zuvor. Mit einem schlaftrunkenen Lächeln reckte und streckte sie sich, wand sich wohlig im Andenken an ihren herrlichen Traum. Sie fühlte sich so lebendig, während er sie überall liebkoste … Prickelnde Schauer überliefen sie, die nichts mit der Kälte zu tun hatten, sondern mit reiner … Lust.

Die Hände fuhren an ihren Oberschenkeln entlang, strichen ihr über die Hüften. Dann spürte sie eine Hand an der Brust, spürte, wie sie sich in die raue Handfläche schmiegte, und als sie den warmen Atem fühlte, kniff sie die Augen fest zusammen und drängte sich der Empfindung entgegen. Heiße Lippen schlossen sich über ihrer Brust, und sie begann vor Erregung und Begierde unbeherrscht zu zittern. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Als er anfing, sie mit der Zunge zu liebkosen, durchfuhr sie ein Strahl glühender Erregung, und sie bäumte sich auf. Sie konnte nicht mehr denken, nur noch fühlen. Sie fasste ihn an den Schultern und genoss seine Kraft und wie sich die glatte Haut unter ihren Fingern anfühlte.

Dann strich ihr eine warme Hand über den Bauch, liebkoste sie, erregte sie … und sie öffnete die Beine, zitternd vor Verlangen.

Sein Mund fand den ihren zum Kuss, zärtlich, besitzergreifend knabberte er an ihren Lippen. „Aufmachen“, murmelte er rau, und ihre Zungen verschmolzen miteinander in einem glühenden Kuss.

Doch dann erstarrte sie …

Es war gar nicht Hartley! Ellie zuckte zurück und öffnete die Augen. Es war gar nicht Hartley!

Er lächelte über ihre morgendliche Verwirrung. „Guten Morgen, Liebste.“

Es war der Fremde! Es war nicht nur ein harmloser, köstlicher Traum von ihrem Ehemann! Sie hatte bei einem Fremden gelegen! Hatte ihm Freiheiten erlaubt, die sich selbst ihr Ehemann nie herausgenommen hatte. In ihr pulsierte immer noch Verlangen. Und seine Hand verursachte immer noch die unglaublichsten Empfindungen zwischen ihren … Mit einem leisen Schrei schubste Ellie ihn von sich weg und sprang aus dem Bett. Dumpf knallte er gegen das Kopfteil des Bettes und fluchte. Sie stand zitternd im Raum und starrte ihn empört an, zog dabei hastig ihr Nachthemd über ihre Blöße.

„Wer sind Sie? Wie … wie können Sie es wagen? Raus … raus aus meinem Bett!“

„So heftig hättest du mich nicht zu schubsen brauchen“, brummte er. „Beim Aufwachen hat mir der Kopf schon schlimm genug wehgetan. Jetzt allerdings fühlt er sich an wie …“

„Mir doch egal, wie sich Ihr Kopf anfühlt! Raus, habe ich gesagt!“, schrie Ellie aufgebracht.

Verwirrt blinzelte er sie an und rieb sich den Kopf. „Was ist los, meine Liebste?“

„Als wüssten Sie das nicht, Sie … Sie Schuft! Raus aus meinem Bett!“

Leicht verdutzt, runzelte er die Stirn, zuckte mit den Schultern, stieg aus dem Bett und ging auf sie zu. Splitterfasernackt. Vollkommen schamlos.

„Halt! Gehen Sie wieder zurück!“ Sie merkte, wie sie von Kopf bis Fuß errötete.

Er warf ihr einen entnervten Blick zu, als wollte er sagen: „Nun entscheide dich endlich, Mädchen!“, doch er kehrte um, setzte sich aufs Bett und rieb sich den Kopf. Immer noch nackt. Und machte keine Miene, seine Blöße zu bedecken. Trotz seiner schandbaren, offensichtlichen Erregung.

Und noch schandbarer: Auch sie war erregt. Ihr zitterten die Knie, und so setzte sie sich auf den Schemel, halb abgewandt von seinem herrlichen, schockierenden Anblick. „Decken Sie sich zu!“, fuhr sie ihn an.

Sie hörte eine Bewegung, doch als sie sich zu ihm umdrehte, wurde sie wieder rot. Er hatte einen ihrer Strümpfe genommen und über sich drapiert. Dort, wo sein Anblick sie am meisten schockiert hatte. Sonst saß er immer noch in schamloser, nackter Herrlichkeit da. Sein Körper war tatsächlich herrlich. Sie versuchte, nicht allzu sehr darauf zu achten.

Seine tiefblauen Augen zwinkerten vergnügt. „Ist es so besser, Liebste?“

„Nennen Sie mich nicht so!“, schnappte sie. „Und decken Sie sich ordentlich zu. Meine Tochter könnte jeden Augenblick hereinkommen.“

Bei ihren Worten blickte er zur Tür und zog sich das Laken über, bis es seine Schultern, seinen Oberkörper und … den Rest bedeckte. Irgendwie wirkte er trotzdem nicht weniger nackt. Seine langen, muskulösen, so männlichen Beine ragten über die Bettkante. Sie versuchte nicht daran zu denken, was das Laken verbarg.

„Sie müssen verschwinden“, sagte Ellie entschieden. „Ich gehe jetzt nach unten und mache Ihnen Frühstück, während Sie sich anziehen. Und dann müssen Sie mein Haus verlassen.“

Er runzelte die Stirn. „Wohin soll ich denn gehen?“

Erstaunt starrte Ellie ihn an. „Wohin Sie wollen. Mit mir hat das nichts zu tun.“

„So zornig bist du auf mich?“ Seine Stimme war weich, tief und voll Sorge.

Ellie dachte an die schockierenden Dinge, die er mit ihr angestellt hatte. Irgendwie verschlimmerte es die Sache noch, dass sie es so genossen hatte. „Natürlich bin ich zornig. Was erwarten Sie denn, wenn Sie mich auf so widerwärtige Weise überfallen?“

Er runzelte die Stirn. „Überfallen?“ Nach einer Weile klärte sich seine Miene, und er schaute sie fassungslos an. „Du meinst gerade eben, im Bett? Aber du hast es doch genauso genossen wie ich!“

Ellie lief dunkelrot an. „Ach, Sie sind einfach schamlos! Ich will, dass Sie auf der Stelle mein Haus verlassen!“ Während sie sprach, knurrte ihm vernehmlich der Magen. „Sobald Sie etwas gegessen haben“, verbesserte sie sich schroff und kam sich ein wenig dumm vor. Es war albern, sich darum zu scheren, ob er hungrig war oder nicht. Sie hatte einen Fremden bei sich aufgenommen und sich mehrere Tage lang um ihn gekümmert, und wie hatte er es ihr gedankt? Mit einer Beinah-Vergewaltigung. Der Schuft! Sie wollte, dass er verschwand! Kurzes Schweigen trat ein. „Haben wir uns gestritten, Liebste?“

„Gestritten?“, wiederholte Ellie zornig. „Ich gebe Ihnen gestritten! Und hören Sie endlich auf, mich so zu nennen!“

„Wie?“ Er runzelte die Stirn. „Liebste?“

Sie errötete und nickte knapp.

Er rieb sich den Kopf und meinte dann verlegen: „Tut mir leid, wenn dich das wütend macht, aber ich habe ganz fürchterliche Kopfschmerzen und kann mich einfach nicht daran erinnern, wie du heißt.“

„Ellie. Mrs. Ellie Carmichael“, fügte sie entschieden hinzu. Besser er glaubte, sie sei verheiratet. Vielleicht ging er dann schneller, wenn er dachte, sie erwarte jeden Augenblick ihren Ehemann. Eigentlich hieß sie ja Lady Carmichael, aber irgendwie schien es lächerlich, wenn jemand in ihren finanziellen Verhältnissen die Adlige herauskehrte.

„Ellie“, sagte er leise. „Das gefällt mir … Carmichael, was?“ Er runzelte die Stirn, als wäre er plötzlich verwirrt. „Dann …“

„Wie Sie meinen Namen finden, ist für mich völlig belanglos.“ Ellie warf ihm seine Kleider zu. „Seien Sie so gut und ziehen Sie sich an, und verlassen Sie das Haus!“

„Warum willst du denn, dass ich weggehe?“

Ellie kniff die Augen zusammen. „Weil das mein Haus ist, und ich sage, wer hier bleibt und wer nicht. Und Sie, Sir, sind schon viel zu lange hier!“

Ernst sah er sie an. „Habe ich denn keine Rechte?“

Empört über so viel Frechheit, rief sie: „Rechte? Welche Rechte sollten Ihnen Ihrer Meinung nach denn zustehen, Sie Schuft?“ Glaubte er, ein paar gestohlene Zärtlichkeiten verschafften ihm irgendwelche Rechte? Sie war doch keine Dirne!

Er zögerte, wirkte merkwürdig unsicher. „Bin ich denn nicht der Besitzer dieses Hauses?“

„Sie, der Besitzer? Warum sollten Sie der Besitzer sein?“ Ellie funkelte ihn wütend an, bekam es bei all diesem Gerede von Besitzer aber allmählich mit der Angst zu tun. Wenn der Squire nun das Cottage ohne ihr Wissen verkauft hatte? Schließlich hatte er ihr das schon oft genug angedroht. Es würde sie auch nicht überraschen, wenn er behauptet hätte, sie sei Teil des Geschäfts. Der Squire war ein rachsüchtiger Mensch.

„Normalerweise besitzen Frauen keine Häuser, sondern nur die Männer.“

Der Squire hatte das Cottage tatsächlich verkauft. Und dieser Mann hatte es für sich und seine Frau gekauft. Und war von Dieben überfallen worden, als er seinen neuen Besitz in Augenschein nehmen wollte. Vor Angst war Ellie die Kehle wie zugeschnürt, doch sie richtete sich stolz auf. „Ich bin nicht käuflich. Meine Tochter und ich werden dieses Haus so bald wie möglich verlassen. Sie werden uns sicher ein, zwei Wochen Zeit geben, das gebietet schon der Anstand.“

„Verdammt, Frau, du musst überhaupt nirgendwo hingehen!“, brummte er. „Für was hältst du mich eigentlich?“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung“, erwiderte Ellie kalt. „Es ist mir auch egal. Aber ich bin nicht käuflich!“

„Wer zum Teufel hat das behauptet, meine Güte?“, fragte er entnervt und griff sich wieder an den Kopf. „Zum Kuckuck mit diesem blöden Kopf. Was ist bloß los damit?“

„Jemand hat Ihnen einen Schlag versetzt“, sagte Ellie. Er warf ihr einen Blick zu, doch sie ignorierte ihn. „Ich weiß nicht, was der Squire Ihnen erzählt hat, aber ich bin eine tugendhafte Frau und lasse mich nicht kaufen! Weder vom Squire, noch von Ihnen, noch von sonst irgendwem, egal in welch bittere Lage Sie mich noch bringen wollen.“ Ihre Stimme zitterte und brach.

Autor

Merline Lovelace
Als Tochter eines Luftwaffenoffiziers wuchs Merline auf verschiedenen Militärbasen in aller Welt auf. Unter anderem lebte sie in Neufundland, in Frankreich und in der Hälfte der fünfzig US-Bundesstaaten. So wurde schon als Kind die Lust zu reisen in ihr geweckt und hält bis heute noch an.
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