Romana Exklusiv Band 361

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SÜßE KÜSSE IN VENEDIG von LINDA MCNAMARA
Undercover in Venedig: Amy will beweisen, dass der Süßwarenhersteller Mio di Lorenzo ihr Pralinenrezept kopiert hat. Sie schleust sich in sein Unternehmen ein, entschlossen, ihn zu überführen! Doch stattdessen bringen Mios schokoladenbraune Augen sie zum Schmelzen …

DER ERBE UND DIE TOCHTER DES BUTLERS von RAYE MORGAN
Ihr Dad war Butler, kein Dieb! Torie schleicht sich auf das Gut der Huntingtons, um die Unschuld ihres Vaters zu beweisen – nicht um sich ausgerechnet in Marc Huntington zu verlieben. Der attraktive Sohn des Hauses glaubt, sie wolle ihm sein Erbe stehlen …

LAND DER WILDEN SEHNSUCHT von MARGARET WAY
Rinderbaron Blaine erkennt sich selbst nicht wieder, so unwiderstehlich fühlt er sich zu Künstlerin Sienna hingezogen. Auf seinem Anwesen im australischen Outback kommen sie einander näher. Aber dann behaupten böse Zungen, Sienna habe es bloß auf sein Geld abgesehen…


  • Erscheinungstag 05.05.2023
  • Bandnummer 361
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517331
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Linda McNamara, Raye Morgan, Margaret Way

ROMANA EXKLUSIV BAND 361

1. KAPITEL

SÜSSER DIEBSTAHL IN VENEDIG?

Von Jane O.

„Nie wieder heimlich naschen!“ Das verspricht zumindest die neueste Kreation aus dem Hause Di Lorenzo. Das Süßwarenunternehmen aus Venedig hat das Unmögliche möglich gemacht und eine Praline kreiert, die das Abnehmen fördert. Ein längst überfälliges Produkt, doch stammt es wirklich von Di Lorenzo? Wie wir aus zuverlässiger Quelle erfahren haben, arbeitete der venezianische Konditormeister Angelo Mancini ebenfalls an einer Diätpraline mit sehr ähnlicher Zusammensetzung. Reiner Zufall, könnte man denken, wenn nicht vor Kurzem das streng gehütete Rezept aus der kleinen Konditorei gestohlen worden wäre. Hat Di Lorenzo etwa heimlich bei der Konkurrenz genascht? …

Das genügte! Wütend knüllte Mio di Lorenzo die Zeitung zusammen und warf sie in einen der zahlreichen Abfallbehälter auf dem Londoner Flughafen Heathrow. Was bildete sich diese Klatschreporterin eigentlich ein? Mit ihren haltlosen Unterstellungen konnte sie sein Unternehmen ruinieren. Aber das würde er nicht zulassen. Niemals!

Er hatte sich seinen guten Ruf als Leiter der Produktentwicklung nicht so hart erarbeitet, um ihn sich von irgendeiner drittklassigen Journalistin zerstören zu lassen.

Wie hatte diese Jane O., die offensichtlich zu feige war, ihren vollständigen Namen anzugeben, überhaupt von dem gestohlenen Rezept erfahren? Mio hatte extra dafür gesorgt, dass die italienische Presse nicht über den Diebstahl berichtete, und nun kam ihm eine unbedeutende Reporterin aus London in die Quere.

Der Artikel basierte zwar nur auf Gerüchten, aber Mios Kunden war es völlig gleichgültig, ob diese stimmten oder nicht. Wenn der Zweifel erst einmal gesät war, konnte er die Praline direkt wieder vom Markt nehmen. Das würde die Firma mindestens eine Million kosten.

Und genau deshalb würde er dieser Journalistin jetzt zeigen, mit wem sie sich da angelegt hatte. Er wählte die Nummer des Londoner Magazins, in dem der Artikel erschienen war. Dort teilte ihm eine freundliche Sekretärin mit, dass sich Miss O. derzeit auf Geschäftsreise befände. Natürlich, sie ließ sich verleugnen. Damit hatte er gerechnet.

Aber so einfach würde er sich nicht abwimmeln lassen. Wenn Jane O. nicht mit ihm reden wollte, musste er sich eben direkt an ihren Chefredakteur wenden. Doch die Sekretärin schien schon darauf gewartet zu haben. Freundlich erklärte sie ihm, dass der Chefredakteur in einer Besprechung wäre.

So langsam reichte es Mio. Er war schließlich nicht irgendjemand. Seiner Familie gehörte eines der größten Unternehmen Italiens und dieses Londoner Käseblatt würde nicht auf Kosten von Di Lorenzo seine Auflage erhöhen. Genau das sagte er der Sekretärin auch, während er wütend mit dem Handy am Ohr durch den Flughafen hastete.

Irgendwann ertappte er sich dabei, dass er ins Telefon brüllte, doch das kümmerte ihn nicht. Mio verlor nicht oft die Kontrolle, aber wenn es um seine Familie ging, verstand er keinen Spaß. Dann schaltete sich sein normalerweise exzellent funktionierender Verstand aus, und seine Emotionen gewannen die unkontrollierte Oberhand.

Deshalb achtete er auch nicht auf den Weg, als er – immer noch schimpfend – in einen schmaleren Gang zwischen den Duty-free-Shops einbog.

Die junge Frau stand so abrupt vor ihm oder, besser gesagt, sie lief so plötzlich in ihn hinein, dass er nicht mehr bremsen konnte. Sein Ellenbogen wurde nach oben gedrückt, und das Handy rutschte ihm aus der Hand. Es fiel zu Boden, und das Display wurde dunkel.

Entsetzt kniete sich Mio hin und drückte auf die On-Taste. Doch der Bildschirm blieb schwarz. Mio probierte es noch einmal, länger, aber es half nichts. Das Gespräch mit der Sekretärin war definitiv beendet, und sein Telefon war ganz offensichtlich tot. Er stieß eine Reihe von italienischen Flüchen aus.

„Danke der Nachfrage. Mir geht es gut.“

Mio fuhr herum und blickte geradewegs in ein Paar smaragdgrüner Augen, die ihn böse anfunkelten. Sein Herz machte einen Satz. Trotz oder vielleicht genau wegen der Tatsache, dass der Blick der Unbekannten ihn geradezu durchbohrte, fühlte er sich auf einmal seltsam befangen. Dieses strahlende Grün schien ihn zu hypnotisieren und seine Sinne zu benebeln. Am liebsten wäre er darin versunken, aber seine Besitzerin wusste dies zu verhindern.

Sie rappelte sich vom Boden auf, auf den sie durch den Zusammenprall gestürzt war. Dann streckte sie langsam die Glieder, wahrscheinlich um zu testen, dass nichts gebrochen war. Mio fühlte sich immer noch wie benommen und nahm ihre Umrisse nur ganz allmählich wahr.

Sie war hübsch, sehr attraktiv sogar, nicht besonders groß, aber er mochte kleine, zierliche Frauen. Sie trug ein graues Kostüm, das ihre schlanke Figur und ihre schmalen Beine sehr vorteilhaft betonte. Ihre dunkelbraunen Haare hatte sie zu einem Knoten zusammengebunden, was ihr ein eher strenges Äußeres verlieh, doch vielleicht lag dies auch an dem ärgerlichen Gesichtsausdruck, mit dem sie ihn seit Beginn ihrer Begegnung bedachte.

„Oh nein. Schauen Sie, was Sie angerichtet haben.“

Sie deutete auf ihre ehemals weiße Bluse, auf der jetzt ein riesiger brauner Kaffeefleck prangte.

„Die ist ruiniert“, zischte sie, während sie ihren Blazer auszog. „Sie haben Glück, dass der Kaffee nur lauwarm war und ich mich nicht verbrannt habe. Trotzdem werden Sie mir den Schaden ersetzen.“

Ihr Tonfall war so bestimmend, dass er Mio abrupt zurückholte in die Wirklichkeit. Normalerweise hätte er sich sofort bei ihr entschuldigt und ihr eine Entschädigung angeboten, aber dass sie wie selbstverständlich davon ausging und nicht einmal seine Reaktion abwartete, ärgerte ihn. Er war es nicht gewohnt, dass man ihm Befehle erteilte.

Nach dem Zeitungsartikel und seinem frustrierenden Telefonat mit der Sekretärin war dies heute bereits seine dritte unerfreuliche Konfrontation mit einer Frau, und keine von ihnen schien sich darum zu scheren, wie es ihm dabei ging. Er war nicht mehr bereit, sich das gefallen zu lassen.

Außerdem fiel ihm wieder ein, dass sein Handy kaputt war, und dies kam für ihn einer Katastrophe gleich. Er musste vor seinem Abflug noch einige wichtige Telefonate mit Kunden führen und ihnen erklären, dass er ganz sicher kein Pralinendieb war. Hier ging es um Millionengeschäfte. Da war ihm ihre Bluse nun wirklich egal. Sollte sie sie doch reinigen lassen.

Er drehte sein Telefon um und zeigte wütend auf das schwarze Display. „Ich ersetze Ihnen Ihre Bluse, wenn Sie mir ein neues Handy kaufen“, erwiderte er so ruhig, wie er konnte, doch er merkte, dass seine Stimme vor Zorn bebte.

„Wie bitte?“ Sie blitzte ihn empört an. „Das ist ja wohl eine Unverschämtheit. Sie haben schließlich mich angerempelt.“

„Was kann ich dafür, wenn Sie mir einfach in den Weg laufen?“

Die Fremde schnappte nach Luft. Offensichtlich hatte es ihr für einen kurzen Moment die Sprache verschlagen, wie Mio mit Genugtuung feststellte. Die Gelegenheit musste er nutzen.

Er sah auf die Uhr. „Hören Sie, ich muss dringend meinen Flieger erwischen. So wie ich das sehe, ist mein Handy wesentlich teurer als Ihre Bluse. Ich erlasse Ihnen aber großzügig die Differenz. Ciao.

Er wollte sich umdrehen und gehen, doch sie hielt ihn am Arm fest. „Diese Bluse ist …“, sie verbesserte sich, „… war ein Designerstück. Und ist damit allemal so viel wert wie Ihr Telefon.“ Ihr kritischer Blick musterte ihn ausgiebig. Teurer Anzug, goldene Uhr, italienische Markenschuhe. Dieser Mann konnte sich mit Sicherheit Tausende Handys leisten.

In Mio brodelte es. Designerstück, dass er nicht lachte. Für wie dumm hielt sie ihn? Es war eindeutig, dass sie ihre Bluse in irgendeinem billigen Modehaus von der Stange gekauft hatte.

Er griff in seine Jacketttasche und zog sein Portemonnaie heraus. Dabei bemerkte er sofort, wie sie innerlich zu triumphieren schien. Zumindest zogen sich ihre Mundwinkel für den Bruchteil einer Sekunde nach oben, und ihre Augen leuchteten siegessicher.

Frauen sind doch überall auf der Welt gleich, dachte er bitter. Ein Mann zückt seine Geldbörse und schon werden sie alle weich wie Wachs. Das hatte er selbst schmerzlich genug erfahren. Damals mit Sara. Aber daran wollte er jetzt nicht denken.

Stattdessen nahm er einen Geldschein und drückte ihn ihr in die Hand.

„Hier. Ich denke, das sollte reichen, um etwas …“ Er betrachtete ihre Bluse für einen Augenblick und suchte nach dem passenden Wort. „… Adäquates zu finden.“ Er war selbst erstaunt, wie herablassend er klang. Fast schämte er sich dafür, sie so zu beleidigen. Andererseits war ihr das hoffentlich eine Lehre.

Sie blickte schweigend auf die Zwanzig-Pfund-Note. Mio konnte ihren Gesichtsausdruck nicht ganz deuten. War sie überrascht, dass er ihr tatsächlich den Schaden bezahlte, oder hatte sie noch nicht verstanden, was seine Geste wirklich bedeutete?

„Arroganter Schnösel.“

Da hatte er seine Antwort. Sie blickte ihn mit einer Mischung aus Verachtung und Mitleid an, die ihn zu seinem Erstaunen mehr traf, als er gedacht hätte. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und stolzierte hoch erhobenen Hauptes davon, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen.

Mio starrte ihr mit offenem Mund hinterher und wusste nicht, was ihn mehr verwirrte: die Tatsache, dass sie ihn mit ihrer Beleidigung getroffen hatte, oder dieses merkwürdige Gefühl der Sehnsucht, das mit jedem Meter, den sie sich von ihm entfernte, stärker wurde.

Erst später fiel ihm auf, dass sie sein Geld trotz ihrer empörten Reaktion mitgenommen hatte.

Amy O’Connell war außer sich vor Wut. Wofür hielt sich dieser reiche Kerl eigentlich? Er glaubte wohl, nur weil er Geld hatte, galten die allgemeinen Regeln der Höflichkeit nicht für ihn.

Oh, wie sie diese Sorte Männer verabscheute! Die meisten von ihnen waren der Ansicht, dass sie nur mit einem Schein zu wedeln brauchten und sofort bekamen, was sie wollten. Und wenn das doch einmal nicht klappte, nahmen sie sich das Gewünschte einfach.

So wie die Männer, die sich gerade erst auf Kosten ihrer Familie bereichert hatten. Amy schüttelte den Kopf. Sie konnte immer noch nicht glauben, wie skrupellos manche Menschen vorgingen, wenn es um die Vermehrung ihres Geldes ging. Und dabei traf es meistens jemanden, der schwächer war. Aber sie würde sich das nicht länger gefallen lassen.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Der Plan, den sie gefasst hatte, war wirklich genial. Da musste sie sich ausnahmsweise einmal selbst loben. Allerdings würde aus ihrem Vorhaben nichts werden, wenn sie nicht schnellstens eine neue Bluse fand.

Sie sah an sich herunter. Der arrogante Kerl hatte ganze Arbeit geleistet. Die halbe Vorderseite war mit Kaffee bekleckert. Die Bluse war ein Einzelstück, das Geschenk einer britischen Designerin, der Amy vor Kurzem einen beruflichen Gefallen getan hatte.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie immer noch den Geldschein in der Hand hielt. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Zwanzig Pfund. Das war nicht einmal ein Zehntel dessen, was die Bluse wert war.

„Dieser Mensch will mich ganz offensichtlich beleidigen“, sagte sie so laut und erbost vor sich hin, dass ein älterer Herr, der gerade vorbeiging, sie irritiert ansah.

Amy zuckte entschuldigend die Achseln und eilte weiter. Dabei tauchte zu ihrem Ärger immer wieder das Bild dieses Schnösels vor ihrem geistigen Auge auf.

Zugegeben, er hatte sehr attraktiv ausgesehen in seinem dunklen Anzug, der seinen athletischen Körper noch zusätzlich betont hatte. Außerdem waren ihr sofort seine warmen braunen Augen aufgefallen, die überhaupt nicht zu seinem rüden Benehmen gepasst hatten. Wahrscheinlich waren schon Dutzende Frauen auf seinen unschuldigen Blick hereingefallen.

Aber ihr würde das nicht passieren. Sie hatte sich schon einmal von einem Mann täuschen lassen. Das lag zwar schon vier Jahre zurück, aber es tat immer noch so weh, dass sie manchmal das Gefühl hatte, es sei erst gestern geschehen.

Amy seufzte. Sie wollte jetzt nicht an Steven denken. Eigentlich wollte sie an keinen Mann mehr denken, schon gar nicht an diesen unverschämten Fremden. Er spukte schon viel zu lange in ihrem Kopf herum.

Abrupt blieb sie stehen, straffte entschlossen die Schultern und atmete einmal tief durch, wie sie es immer tat, wenn sie unangenehme Gedanken verscheuchen wollte. Es gab ihr neue Kraft, und sie fühlte sich gleich wieder viel selbstbewusster. Auch dieses Mal verfehlte ihr kleines Ritual seine Wirkung nicht.

Energischen Schrittes durchquerte sie die Abflughalle und betrat eine der zahlreichen Boutiquen. Doch anstatt sich nach einem neuen Oberteil umzusehen, steuerte sie zuerst den Kassenbereich an und frohlockte innerlich. Dort stand genau das, was sie gesucht hatte: ein durchsichtiger Behälter, der zur Hälfte mit Münzen gefüllt war und auf dessen Vorderseite das Logo eines lokalen Kinderhilfswerkes prangte.

Amy stopfte die Zwanzig-Pfund-Note durch den Schlitz und stellte sich das überraschte Gesicht des Schnösels vor, wenn er sie so sehen könnte. Bestimmt rechnete er damit, dass sie seine „großzügige“ Spende sofort ausgab. Doch die Genugtuung würde sie ihm nicht gönnen. Dafür war sie viel zu stolz.

In diesem Moment klingelte ihr Handy. Amy schaute auf das Display und lächelte. Ihr Chef. Eigentlich hatte sie schon viel früher mit seinem Anruf gerechnet.

Sie nahm ab. „Hey, Philip. Ich …“

Er ließ sie gar nicht zu Wort kommen, doch sie war auch nichts anderes von ihm gewohnt.

„Amy, wo zum Teufel steckst du?“

Sie musste breiter lächeln. Es war typisch, dass er nicht mehr daran gedacht hatte.

„Ich bin in Heathrow.“

„Was um alles in der Welt machst du am Flughafen? Ich brauche dich hier.“

„Ich habe Urlaub. Du hast ihn selbst genehmigt.“

„Ach, das hatte ich völlig vergessen … Das bedeutet aber nicht, dass du für das, was du getan hast, keine Konsequenzen zu befürchten hast.“

Amy schloss die Augen. Gleich würde eine Schimpftirade auf sie niederprasseln. Sie stellte innerlich auf Durchzug und ging stattdessen im Geiste noch einmal ihre nächsten Schritte durch.

„Nicht genug, dass du dich meinen Anweisungen widersetzt und den Artikel einfach hinter meinem Rücken in den Druck geschmuggelt hast …“

Amy schmunzelte. Philips Gesicht beim Aufschlagen der heutigen Ausgabe hätte sie zu gerne gesehen.

„Gerade hat mich Stefano di Lorenzo persönlich angerufen und mir mit einer Klage gedroht, wenn ich nicht sofort eine Gegendarstellung bringe.“

„Was du hoffentlich nicht tun wirst“, rief Amy verärgert, aber eigentlich kannte sie die Antwort schon.

„Natürlich werde ich das tun“, erwiderte Philip. „Und du wirst sie schreiben“, setzte er hinzu.

Amy gab einen empörten Laut von sich. „Das werde ich ganz bestimmt nicht tun.“

„Amy, Schätzchen. Ich weiß ja, dass du in letzter Zeit nicht so glücklich warst mit deinen Aufgaben …“

Nicht so glücklich war maßlos untertrieben. In letzter Zeit hatte sie unter ihrem Pseudonym Jane O. nur noch kleinere Artikel über irgendwelche Möchtegernprominenten geschrieben, die alles taten, um in die Schlagzeilen zu kommen.

„Trotzdem verbiete ich dir, die Geschichte weiter zu verfolgen“, fuhr Philip fort. „Ich verstehe sowieso nicht, warum du so fasziniert bist von dieser Sache.“

Nein, das konnte er nicht verstehen. Und die wahren Gründe für ihren Artikel würde sie ihm auch nicht verraten. Noch nicht.

„Ich möchte die Gegendarstellung morgen früh auf meinem Schreibtisch haben und …“

„Wie bitte? Ich kann dich kaum noch hören. Die Verbindung ist sehr schlecht …“

Amy drückte die Off-Taste des Handys. Das war so typisch. Immer wenn sie einmal eine etwas brisantere Story recherchieren wollte, bekam Philip Skrupel. Doch dieses Mal würde sie sich nicht von ihm abhalten lassen. Denn hier ging es um weit mehr als um eine gute Geschichte.

Der Artikel war erst der Anfang. Er sollte nur von ihrem eigentlichen Plan ablenken.

Sie drehte sich resolut um und musste im gleichen Moment lächeln. Da war es. Es hing direkt vor ihr auf einem Ständer: das richtige Oberteil für ihr Vorhaben.

Mio ließ sich erschöpft in seinen ledernen Schreibtischstuhl sinken. Der Flug im Di-Lorenzo-Privatjet war zwar ohne Turbulenzen verlaufen, aber die Ereignisse der letzten Stunden hatten ihn anscheinend mehr mitgenommen, als er zugeben wollte. Außerdem funktionierte sein Handy nach wie vor nicht, und er fühlte sich dadurch seltsam verwundbar und abgeschnitten von der Welt.

Dass er die ganze Zeit an ein Paar wunderschöner grüner Augen hatte denken müssen, irritierte ihn zusätzlich. Was war denn nur los mit ihm? Er war doch sonst nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Schon gar nicht von einer Frau, die ihn für dumm verkaufen wollte. Davon abgesehen, kannte er sie ja überhaupt nicht. Und normalerweise brauchte er eine lange Phase des Kennenlernens, um sich jemandem nahe zu fühlen.

Nichtsdestotrotz hatte ihn diese Fremde durcheinandergebracht. Dabei war er sich nicht einmal sicher, ob er das als angenehm oder als störend empfand. Vielleicht war er einfach schon zu lange allein. Seit seiner Trennung von Sara vor drei Jahren hatte er sich oft einsam gefühlt. Dennoch hatte es in dieser Zeit keine Frau geschafft, auch nur einen Funken Interesse in ihm zu wecken. Er hatte einfach kein Vertrauen mehr.

Wie denn auch? dachte er traurig. Sara hatte ihn aufs Schändlichste hintergangen. Sie war die Liebe seines Lebens gewesen und der einzige Mensch, dem er sich bedingungslos geöffnet hatte. Er hätte alles für sie getan. Wie hätte er jemals ahnen können, dass sie das schamlos ausnutzen würde?

Mios Magen krampfte sich zusammen, wie immer, wenn er an Sara dachte. Er atmete tief durch. Von der Begegnung am Flughafen durfte er sich nicht so aufwühlen lassen. Er brauchte jetzt einen klaren Kopf. Schließlich musste er sich um diesen Zeitungsartikel kümmern.

In diesem Moment klopfte es an der Tür, und sein Vater betrat das Büro. Zu Mios Erstaunen hatte Stefano di Lorenzo glänzende Laune. Entweder hatte er den Artikel noch nicht gelesen, was Mio sich nicht vorstellen konnte, oder er hatte bereits Gegenmaßnahmen eingeleitet.

„Ciao, papà.“ Mio stand auf und begrüßte seinen Vater mit zwei Wangenküssen.

Ciao, Michele.“

Mio schüttelte lächelnd den Kopf. Er hatte es aufgegeben, seinem Vater beizubringen, ihn Mio zu nennen. Immerhin gebrauchte er nicht mehr seine beiden Vornamen, Michele Orlando. Das tat er nur noch, wenn er verstimmt war.

„Wieso hast du denn dein Telefon ausgeschaltet?“, wollte sein Vater nun wissen.

Mio seufzte. Er hatte die Frau mit den grünen Augen gerade vergessen. Jetzt sah er sie direkt wieder vor sich, doch dafür konnte ja sein Vater nichts.

„Das ist eine lange Geschichte.“ Über die ich aber nicht sprechen möchte, setzte er in Gedanken hinzu. Er musste das Gespräch schnell in eine andere Richtung lenken, bevor die Neugier seines Vaters geweckt wurde. „Ich nehme an, du hast den Artikel gelesen?“

Stefano winkte ab. „Ach, das habe ich schon alles geregelt.“

Verwundert blickte Mio seinen Vater an. „Wie das?“

„Wie ich es immer mache, wenn man meinem Unternehmen an den Kragen will. Ich habe diesem Klatschblatt mit meinen Anwälten gedroht, und schon waren sie lammfromm.“

Mio musste unwillkürlich lachen. Das war der Grund, warum er seinem Vater die Geschäftsführung überließ, obwohl dieser ihm schon vor zwei Jahren die Leitung der Firma angeboten hatte. Mio konzentrierte sich lieber auf die Kreation von Pralinen, als sich mit solchen Dingen auseinanderzusetzen.

Die Tatsache, dass er direkt an der Sekretärin des Chefredakteurs gescheitert war, hatte ihm erneut bewiesen, dass er zu impulsiv war, wenn es um die Firma oder die Familie ging. Sein Vater bewahrte in solchen Situationen stets die Ruhe.

„Ich denke, diese kleine Journalistin wird so schnell nichts mehr über uns schreiben“, meinte Stefano lächelnd.

„Ja, aber was ist mit dem Schaden, den sie angerichtet hat?“ Mio wollte sich gar nicht ausmalen, was der Artikel für die Produktion der neuen Praline bedeuten konnte.

Doch sein Vater sah da offensichtlich weniger schwarz als er.

„Mach dir keine Sorgen, mein Junge. Dieses Blatt hat eine so kleine Auflage, dass wahrscheinlich sowieso kaum jemand den Artikel gelesen hat. Außerdem sind die Nachrichten von heute schon morgen wieder vergessen. Deine Praline wird ein Verkaufshit.“

Plötzlich wurde Stefano ernst. Er legte seinem Sohn den Arm um die Schultern und führte ihn hinaus auf den großen Balkon, der an das Büro grenzte. Von dort hatte man einen wunderschönen Blick auf den weitläufigen Park, in dem der Firmensitz von Di Lorenzo stand. Die Büros und die Abteilungen für Kreation waren in einer mehrstöckigen, hochherrschaftlichen Villa aus dem achtzehnten Jahrhundert untergebracht. Die Produktionsstätten lagen dagegen etwas außerhalb des Geländes am Meer, sodass man die Süßwaren direkt verschiffen konnte.

Mio ahnte schon, was jetzt kam. Immer, wenn sich sein Vater an die steinerne Brüste lehnte und in die Ferne blickte, hatte er etwas Unangenehmes auf dem Herzen.

„Michele, mir ist das sehr unangenehm“, begann er auch gleich, „aber ich muss dich das noch einmal fragen: Hast du die Praline wirklich allein kreiert, oder hat Massimo dir dabei geholfen?“

Mio sah seinen Vater verwundert an.

„Warum sollte ich Massimos Kreation für meine eigene ausgeben?“

„Ich möchte einfach sichergehen, dass keiner meiner Angestellten im Besitz eines gestohlenen Rezeptes ist.“

„Nun, Massimo hatte die Idee zu der Diätpraline, aber die Zutaten habe ich zusammengestellt“, sagte Mio mit fester Stimme. „Außerdem lege ich für ihn meine Hand ins Feuer.“

Massimo war nicht nur sein bester Konditormeister, sondern auch ein enger Freund. Mio hatte ihn selbst vor sechs Jahren eingestellt, als er Leiter der Entwicklungsabteilung geworden war.

Massimo hatte mit seinen damals neunundvierzig Jahren viel mehr Erfahrung gehabt als der siebenundzwanzigjährige Mio, doch er hatte ihn dies nie spüren lassen. Im Gegenteil. Alles, was Mio nicht von seinem Vater gelernt hatte, hatte ihm sein Freund beigebracht. Es war absurd zu behaupten, Massimo hätte es nötig, ein Rezept zu stehlen.

Stefano schien beruhigt zu sein.

„Va bene!“

Er klopfte seinem Sohn auf die Schulter, und die beiden Männer kehrten zurück ins Büro. Hier wollte sich Stefano in sein eigenes Arbeitszimmer zurückziehen. An der Zwischentür drehte er sich jedoch noch einmal um.

„Übrigens, draußen wartet eine sehr hübsche Dame auf dich.“

Mio stutzte. Eine Dame?

Stefano zwinkerte ihm kurz zu und verließ dann das Büro.

Mio überlegte. Dann fiel es ihm siedend heiß wieder ein. Die Studentin. Einmal im Jahr bot Mio begabten Studenten die Möglichkeit, bei Di Lorenzo drei Monate lang Praxiserfahrungen in der Kreation von Süßwaren zu sammeln. Er liebte die Zusammenarbeit mit jungen Leuten, die noch am Anfang ihres Berufslebens standen. Heute war jedoch so viel passiert, dass er das Vorstellungsgespräch vollkommen vergessen hatte und überhaupt nicht vorbereitet war.

Er hastete zu seinem Schreibtisch. Wo hatte er denn nur die Bewerbungsunterlagen gelassen? Er wusste nicht einmal mehr, wie die Studentin hieß.

„Vanessa Caprese ist da“, tönte in diesem Augenblick die Stimme seines Assistenten aus der Gegensprechanlage.

Ein Glück, auf Enrico war Verlass. Er drückte auf die Antworttaste.

„Sie soll hereinkommen.“

Mio straffte die Schultern und setzte eine möglichst geschäftsmäßige Miene auf. Sie sollte nicht merken, dass er schlecht vorbereitet war.

Die Tür öffnete sich. Enrico nickte ihm kurz zu und winkte dann die Studentin herein. Mio ging ihr entgegen, um ihr zur Begrüßung die Hand zu schütteln. Doch er hielt mitten in der Bewegung inne, als er die junge Frau erkannte, die – ein wenig schüchtern – sein Büro betrat.

Oh nein. Nicht sie.

2. KAPITEL

Amy blieb wie angewurzelt in der Bürotür stehen. Das konnte nicht sein! Ihr Herz klopfte wie wild beim Anblick des Mannes, der mit ausgestreckter Hand auf sie zukam. Während des Fluges von London nach Venedig hatte sie versucht, den Vorfall am Flughafen zu vergessen. Im Großen und Ganzen war ihr das sogar ganz gut gelungen, auch wenn sie sich zu ihrer Schande eingestehen musste, dass sie viel öfter an den unverschämten Fremden gedacht hatte, als ihr lieb war.

Doch jetzt, in diesem Augenblick, holten Amy die Ereignisse des Morgens auf völlig unerwartete Weise wieder ein und trafen sie mit einer Wucht, die sie nicht für möglich gehalten hätte.

Der Schnösel war Michele Orlando di Lorenzo höchstpersönlich!

Für einen kurzen Moment hoffte sie, dass es sich um eine Verwechslung handelte. Sie hatte nur wenige Fotos von Michele gesehen. Er scheute das Licht der Öffentlichkeit, und die Presse interessierte sich mehr für seinen charismatischen Vater. Es bestand daher immer noch die Möglichkeit, dass der Fremde vom Flughafen jemand anderer war, der sich zufällig im Büro des Kreativdirektors von Di Lorenzo aufhielt. Doch ihre Hoffnung wurde wenige Sekunden später zerstört.

„Signorina Caprese, darf ich vorstellen?“, sagte jetzt der Assistent und machte eine ausholende Geste in Richtung seines Chefs. „Mio di Lorenzo.“

Amy hatte das Gefühl, dass der Boden unter ihr schwankte. Wie konnte ihr das nur passieren? Ihr Plan war so perfekt gewesen. Es hatte sie zwar fast ihre ganzen Ersparnisse gekostet, der Studentin Vanessa Caprese den Praktikumsplatz abzukaufen, aber das war es ihr wert. Vanessa Caprese gab ihr die Möglichkeit, Zugang zu allen Abteilungen von Di Lorenzo zu erhalten und direkt an der Quelle herauszufinden, was mit dem gestohlenen Rezept von Angelo Mancini geschehen war.

Einen kurzen Anflug von schlechtem Gewissen, weil sie sich unter falschem Namen in das Unternehmen einschleuste, hatte sie ziemlich schnell im Keim erstickt. Schließlich durfte niemand wissen, dass sie die Journalistin Amy Jane O’Connell, abgekürzt Jane O., war, die den Artikel über den Rezeptdiebstahl verfasst hatte. Manchmal musste man eben zu drastischen Maßnahmen greifen, um die Wahrheit zu beweisen. Besonders wenn der Bestohlene der eigene Großvater war.

Jetzt sah es allerdings so aus, als wären ihre verdeckten Ermittlungen schon wieder vorbei, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatten. Nach der unschönen Begegnung vom Vormittag würde Michele Orlando di Lorenzo sie mit Sicherheit nicht einstellen.

Eigentlich schade, dachte Amy. Im Licht der Nachmittagssonne, die durch die geöffneten Flügeltüren schien, gefiel er ihr sogar noch besser als heute Morgen. Bei der Vorstellung, dass diese zweite Begegnung ihre wahrscheinlich letzte werden sollte, war sie fast ein wenig traurig. Was war denn nur mit ihr los? Dieser Mann hatte sie nicht nur beleidigt, sondern war höchstwahrscheinlich auch dafür verantwortlich, dass es ihrem Großvater schlecht ging. Sie musste sich jetzt zusammenreißen.

Mio zögerte. Es kam selten vor, dass er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte, aber jetzt war so ein Moment. Zuerst war er einfach nur überrascht, seine Bekanntschaft vom Flughafen ein zweites Mal zu sehen. Dann durchströmte ihn ein merkwürdiges Gefühl der Freude, als ob er jemanden wiederträfe, den er vor langer Zeit aus den Augen verloren hatte. Gleichzeitig fiel ihm sein Verhalten des heutigen Morgens wieder ein, und er schämte sich fast ein bisschen dafür.

Doch er hatte auch nicht vergessen, dass sie ihn belogen hatte, um ihm eine höhere Entschädigungszahlung aus der Tasche zu ziehen. Er musterte sie kurz. Sie hatte sich ganz offensichtlich von seinem Geld eine neue Bluse gekauft. Diese war gelb und stand ihr außergewöhnlich gut. Sie betonte ihre schmale Taille und ihre brünetten Haare.

Im Grunde genommen hatte er ihr also sogar einen Gefallen getan, als er ihr, wenn auch nicht absichtlich, den Kaffee über das angebliche Designerstück geschüttet hatte. Trotzdem musste er sich eingestehen, dass sie für die neue Bluse wesentlich mehr bezahlt hatte als zwanzig Pfund. Das erkannte er auf den ersten Blick. Sie musste ein kleines Vermögen dafür ausgegeben haben.

Seltsam, dachte Mio. Er erinnerte sich plötzlich daran, dass er in ihren Bewerbungsunterlagen eine Stipendiumsbescheinigung gesehen hatte. Danach kam sie aus ärmlichen Verhältnissen und bekam finanzielle Unterstützung durch eine private Einrichtung, um sich das Studium überhaupt leisten zu können. Umso mehr wunderte es Mio, wie sie das Geld für ein so teures Kleidungsstück aufbringen konnte.

Irgendetwas war merkwürdig an ihr. Er konnte es noch nicht genau einordnen, aber er spürte instinktiv, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Doch wie sollte er mit ihr zusammenarbeiten, wenn er ihr nicht vertraute?

Andererseits fühlte er sich auch ein bisschen schuldig an der Situation, und das nicht nur, weil er für den Kaffeefleck verantwortlich war. Immerhin hatte sie die Bluse gekauft, um an ihrem ersten Arbeitstag bei ihm einen guten Eindruck zu hinterlassen.

Zum zweiten Mal an diesem Tag fühlte sich Mio seltsam befangen in der Gegenwart dieser Frau. Er musste aufpassen, dass er einen klaren Kopf behielt. Plötzlich wurde ihm unangenehm bewusst, dass er nahezu unbeweglich im Raum stand und seine Hand immer noch ausgestreckt hielt. Kein Wunder, dass Enrico ihn erstaunt musterte.

Mio riss sich fast gewaltsam von Vanessas Anblick los und sammelte sich. Er musste schnell wieder die Kontrolle über die Situation erlangen. Was sollte sein Angestellter von ihm denken? Enrico und er hatten zwar ein recht lockeres, fast freundschaftliches Verhältnis. Dennoch war Mio der Chef und musste als solcher souverän auftreten. Ansonsten würde ihn bald niemand mehr im Unternehmen ernst nehmen. Außerdem wollte er unter keinen Umständen, dass Vanessa merkte, welchen Aufruhr sie in seinem Inneren auslöste.

„Danke, Enrico.“ Er nickte seinem Assistenten so gelassen wie möglich zu. „Die Dame und ich hatten bereits das Vergnügen.“

Enrico sah ihn überrascht an, sagte jedoch nichts.

Mio ergriff Amys Hand und schüttelte sie. Dabei bemühte er sich, ihr nicht zu lange in die Augen zu schauen. Fast musste er lachen. Sie erinnerte ihn ein bisschen an die Medusa, die ihre Opfer mit nur einem Blick versteinern konnte. Genauso fühlte er sich in diesem Moment.

„Von Vergnügen kann nicht wirklich die Rede sein.“

Da war er wieder, dieser Tonfall, den Mio an ihr nicht leiden konnte und der ihn schon am Flughafen verärgert hatte. Vielleicht sollte er die Sache einfach direkt an dieser Stelle beenden, sie nach Hause schicken und eine andere Praktikantin einstellen. So jedenfalls konnte er kein Arbeitsverhältnis mit ihr eingehen.

Aber er beschloss, ihr wenigstens die Gelegenheit zu geben, sich ihm gegenüber ein bisschen freundlicher zu verhalten. Sie hatten sich unter unglücklichen Umständen kennengelernt. Er wollte sie zumindest einmal in einer entspannteren Situation erleben und ihr dabei ein wenig auf den Zahn fühlen.

Er gab Enrico ein Zeichen. „Würdest du uns einen Kaffee bringen?“

Als Enrico nickte und geschäftig aus dem Raum eilte, setzte Mio mit einem Augenzwinkern in Vanessas Richtung hinzu: „Ich werde mich bemühen, ihn dieses Mal nicht über Sie zu schütten.“

Wie schön sie war, wenn sie lächelte. Er hatte es tatsächlich geschafft, dass sie ihre Angriffshaltung zumindest für einen Moment aufgab. Er musste schnell weitermachen, bevor sie es sich anders überlegte.

Mio zeigte mit einer einladenden Geste auf die lederne Sitzgruppe, die in einer Ecke seines Büros stand.

„Setzen wir uns doch.“

Amy kam seiner Aufforderung nur zu gerne nach. Seitdem sie den Raum betreten und ihn wiedergesehen hatte, schienen ihre Knie aus Gummi zu sein. Sie schob das hauptsächlich auf die Tatsache, dass ihr gut durchdachter Plan zu scheitern drohte.

Tief in ihrem Inneren wusste sie zwar, dass es da noch einen anderen Grund gab, aber diesen ignorierte sie vorerst. Sie musste sich nun ganz darauf konzentrieren, sein Vertrauen zu gewinnen.

Als ihr eben ihre freche Bemerkung herausgerutscht war, hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Das war kein kluger Schachzug gewesen, um das Ruder herumzureißen und den Job doch noch zu bekommen. Wenn sie sich bei Di Lorenzo einschleichen wollte, musste sie nett zu ihrem zukünftigen Chef sein. Schließlich würde sie eng mit ihm zusammenarbeiten.

Zum Glück schien auch er die Situation retten zu wollen. Zumindest hatte sein Satz über den Kaffee sie zum Lächeln gebracht. Vielleicht war er doch nicht so ein Schnösel, wie sie gedacht hatte.

„Wie ich sehe, haben Sie meine zwanzig Pfund gut angelegt“, sagte er jetzt und deutete auf ihre Bluse.

„Um ehrlich zu sein, habe ich Ihr Geld gespendet.“

Er sah überrascht aus. Das hatte er offensichtlich nicht erwartet. Irrte sie sich, oder blickte er sie sogar ein wenig schuldbewusst an?

„Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.“

Manchmal nahm das Leben doch wirklich einen merkwürdigen Verlauf. Einige Stunden zuvor hatte sie sich noch über ihn aufgeregt, und nun saß sie in seinem Büro und nahm seine Entschuldigung an. Sie hatte ihn offensichtlich falsch eingeschätzt.

„Sie müssen verstehen“, fuhr er fort, „dass ich ein wenig gestresst und deshalb sehr reizbar war. Heute Morgen ist ein für unser Unternehmen ziemlich unangenehmer Artikel in einem englischen Magazin erschienen.“

„So?“ Amy tat unwissend, aber innerlich triumphierte sie. Ihr Artikel hatte ihm also zugesetzt. Das geschah ihm ganz recht. Deshalb würde sie es ihm auch nicht zu leicht machen. „Darf ich fragen, worum es ging?“

Mio winkte ab. „Eine Fehlinformation. Die Angelegenheit ist mittlerweile aus der Welt geschafft.“

Fehlinformation? Sie hätte fast einen empörten Laut von sich gegeben, riss sich aber gerade noch zusammen. Schließlich war sie ja hier, um das Gegenteil zu beweisen. Sie durfte sich jetzt keinen Fehler erlauben. Sie war Vanessa Caprese, die Studentin, und nicht Amy O’Connell, die Journalistin, deren Arbeit er gerade angegriffen hatte.

„Dennoch“, fuhr er fort, „habe ich mich sehr über Ihre Lüge heute Morgen geärgert.“

Sofort spürte Amy ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend. Lüge? Hatte er sie etwa durchschaut? Wie Blitze schossen die unterschiedlichsten Gedanken durch ihren Kopf. Was hatte sie verraten?

„Ich … verstehe nicht.“ Etwas Besseres fiel ihr in diesem Moment nicht ein. Sie musste auf Zeit spielen.

„Sie können ruhig zugeben, dass Ihre Bluse kein Designerstück war. Ich habe Ihnen sowieso kein Wort geglaubt.“

Amy war sprachlos. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder wütend sein sollte. Einerseits war sie froh, dass ihre Tarnung nicht aufgeflogen war. Andererseits machte es sie rasend, dass er sie ganz offensichtlich immer noch für eine geldgierige Betrügerin hielt.

„Wenn wir zusammenarbeiten wollen, muss ich Ihnen vertrauen können.“ Er sah sie eindringlich an.

„Julia Shelby.“

„Wie bitte?“

„Die Designerin heißt Julia Shelby.“ Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu. Zumindest in dieser Angelegenheit würde sie ihn nicht anlügen. Es wäre zwar einfacher gewesen, aber sie hatte auch ihren Stolz.

Er runzelte die Stirn. Offensichtlich wägte er ab, ob er ihren Worten trauen konnte.

„Die Bluse ist achthundert Pfund wert, denn sie ist ein Einzelstück“, setzte Amy hinzu.

Er musterte sie. Dann schien er einen Entschluss zu fassen und stand abrupt auf.

„Auf Wiedersehen, Signorina Caprese.“ Er wies auf die Tür.

Amy starrte ihn fassungslos an. „Sie können im Internet nachschauen. Die Designerin hat eine Webseite und …“

„Seien Sie still!“ Sein Tonfall war so zornig, dass Amy abrupt verstummte. „Nicht genug, dass Sie am Flughafen versucht haben, mich zu täuschen. Sie wagen es auch noch, mir in meinem Büro eiskalt ins Gesicht zu lügen.“

„Aber …“

„Mal angenommen, ich würde Ihnen glauben“, unterbrach er sie. „Woher haben Sie als Studentin so viel Geld, dass Sie sich so teure Kleidung leisten können? Zufällig weiß ich, dass Sie von einem Stipendium leben.“

„Die Bluse war ein Geschenk …“ Tränen des Zorns und der Verzweiflung schossen Amy in die Augen. Mit allem hatte sie gerechnet. Dass sie einen Fehler machen und damit ihre wahre Identität preisgeben würde, dass man sie bei der Suche nach dem Rezept erwischen und unangenehme Fragen stellen würde. Dass ihre Ermittlungen an ihrer Kleidung scheitern würden, hatte sie dagegen nicht einkalkuliert.

Sie biss sich auf die Zunge, um die Tränen zurückzudrängen. Auf keinen Fall wollte sie sich vor diesem Kerl eine Blöße geben. Doch er blickte sie so eindringlich an, dass sie den Kopf abwenden musste, um sich nicht zu verraten. Jetzt wirkte ihr Verhalten erst recht wie ein Schuldeingeständnis.

Er lachte bitter. „Und das, was Sie jetzt tragen, war vermutlich auch ein Geschenk?“

„Ich habe etwas zurückgelegt.“ Das war nicht einmal gelogen. Sie hatte die Reise und damit auch die neue Bluse von ihrem Ersparten bezahlt.

Er schüttelte fast traurig den Kopf. „Wissen Sie, warum Di Lorenzo so erfolgreich ist? Weil wir ein Familienbetrieb sind. Wir betrachten unsere Mitarbeiter als Familienmitglieder und erwarten damit absolute Ehrlichkeit von ihnen. Nur so kann ein großes Unternehmen funktionieren. Sie haben mir soeben bewiesen, dass Sie nicht zu uns passen. Sie, Vanessa Caprese, sind eine Lügnerin.“ Er zeigte erneut in Richtung Tür.

Zitternd stand Amy auf. Seine Worte hatten sie mehr getroffen, als er ahnte. Sie hatte verloren. Das war ihr nun deutlich klar. Er war so verbohrt, so versessen darauf, Beweise für sein festgelegtes Bild von ihr zu finden, dass sie nichts tun oder sagen konnte, um seine Meinung zu ändern.

Ausgerechnet er sprach von Ehrlichkeit. Er, dessen Unternehmen das Rezept eines armen Konditormeisters gestohlen und diesem damit beinahe die Existenzgrundlage geraubt hatte.

Woher nahm sich di Lorenzo überhaupt das Recht zu bestimmen, wie viel Geld eine Studentin für Kleidung ausgeben konnte? Er hatte doch sicher nie unter finanziellen Problemen gelitten, das sagte ihr ein Blick durch sein Büro mit den teuren Ledersofas und dem edlen Schreibtisch. Dieser Raum war größer als ihr ganzes Einzimmerapartment in London, das sie für die Dauer ihres Aufenthaltes untervermietet hatte, um sich die Miete zu sparen.

Bestimmt hatte er noch nie einen Cent zur Seite legen müssen. Wie kam er überhaupt dazu, sie, oder vielmehr Vanessa Caprese, mit seinen Maßstäben zu messen, wo er sie doch nicht einmal kannte und keine Ahnung von ihrem Leben hatte?

Er war so von sich selbst überzeugt, dass er gar nicht in Betracht zog, im Unrecht zu sein. Sie dagegen hatte von Anfang an recht gehabt mit ihrer Einschätzung, doch diese Erkenntnis verschaffte ihr keine Genugtuung, sondern stimmte sie eher traurig.

Amy drückte den Rücken durch und atmete einmal tief durch. Wie immer war auf ihre kleine Übung Verlass. Sie fühlte sich gleich wieder stärker und selbstbewusster. Sie schaffte es sogar, ihrem Gegenüber fest in die Augen zu schauen.

„Und Sie, Michele Orlando di Lorenzo, sind ein arroganter Schnösel.“

Dann verließ sie hoch erhobenen Hauptes das Büro und knallte die Tür hinter sich zu.

Draußen vor dem Firmengebäude konnte Amy die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie war so wütend und gleichzeitig so enttäuscht, dass sie sich erst einmal wieder fangen musste, bevor sie ins Hotel zurückfuhr.

Bei ihrer Ankunft war ihr die gepflegte Parkanlage aufgefallen, in der die Unternehmensvilla stand, und sie hatte sich schon darauf gefreut, in ihren Mittagspausen hier bei kleinen Spaziergängen zu entspannen. Jetzt lagen die Gärten verlassen da. Die Mitarbeiter erledigten vermutlich noch die letzten Arbeiten des Tages, bevor sie sich in den wohlverdienten Feierabend verabschiedeten.

Amy folgte dem breiten Kiesweg, der zwischen Zypressen und bunt bepflanzten Blumenbeeten hindurchführte und schließlich vor einem marmornen Springbrunnen endete. Mehrere Fontänen schossen in wechselndem Rhythmus in die Höhe und scheuchten bei ihrer Landung die Goldfische auseinander, die in dem tiefen Becken ihre Kreise zogen.

Über all dem thronte auf einer leichten Anhöhe die Villa di Lorenzo. Mit ihren drei Stockwerken und dem von Säulen eingerahmten Mittelteil wirkte sie selbst aus der Entfernung noch mächtig. Sicher hatte die Familie das Gebäude auch deswegen ausgewählt. Zumindest Mio di Lorenzo hatte ja gerade sehr eindrucksvoll seine Macht bewiesen.

Amy ließ sich schluchzend auf eine der Parkbänke sinken, die rund um den Brunnen standen. Sie fühlte sich so elend wie schon lange nicht mehr.

Eigentlich war es ihr das letzte Mal so ergangen, als sie hinter Stevens Verrat gekommen war. Sie hatte eine Reportage geschrieben, von der eine junge Journalistin wie sie nur träumen konnte. Es ging um einen Lebensmittelskandal innerhalb einer Bioladenkette, dem sie auf die Spur gekommen war.

Wenn sie den Artikel veröffentlicht hätte, wäre dies ihr großer Durchbruch gewesen. Dessen war sie sich hundertprozentig sicher, denn schließlich hatte sie den Beweis dafür: Steven, der Mann, den sie über alles geliebt und dem sie hundertprozentig vertraut hatte, hatte ihre Unterlagen gestohlen und ihre Recherchen für seine eigenen ausgegeben. Dafür war ihm nicht nur der begehrteste Journalistenpreis Englands verliehen worden. Er erhielt seitdem auch Anfragen von den auflagenstärksten Magazinen weltweit und reiste um den ganzen Globus.

Das hätte mein Leben sein sollen, dachte Amy bitter. Stattdessen arbeitete sie für die Boulevardpresse und schlug sich mehr schlecht als recht durch. Doch das war nicht einmal das Schlimmste.

Es hatte sie tief getroffen, dass Steven sie, ohne mit der Wimper zu zucken, bestohlen und die Lorbeeren für ihre harte Arbeit eingeheimst hatte. Damals hatte sie sich geschworen, sich so etwas nie wieder gefallen zu lassen. Wahrscheinlich fühlte sie sich deswegen verpflichtet, für ihren Großvater zu kämpfen und den Diebstahl des Rezeptes selbst aufzuklären.

Aber sie hatte versagt. Direkt an ihrem ersten Arbeitstag hatte sie die Sympathien ihres Arbeitgebers verspielt und damit ihr Vorhaben zunichte gemacht. Es versetzte ihr einen Stich ins Herz, als sie an die Mischung aus Abscheu und Überlegenheit dachte, die in Mio di Lorenzos Blick gelegen hatte. Sie fühlte sich so klein und einsam wie damals, als Steven ihr ins Gesicht gelacht und sie als naive Idealistin bezeichnet hatte.

Die Erinnerung an den schlimmsten Tag ihres Lebens brachte Amy erneut zum Schluchzen.

„Aber, aber, wer wird denn an einem so schönen Tag weinen?“

Sie schreckte hoch. Vor ihr stand Stefano di Lorenzo und sah sie mitfühlend lächelnd an. Sie hatte ihn bereits im Vorzimmer seines Sohnes kennengelernt und sich sehr nett mit ihm unterhalten. Dennoch war ihr die erneute Begegnung in ihrem aufgewühlten Zustand unangenehm. Hastig wischte sie die Tränen weg.

„Mein Sohn kann manchmal etwas ruppig sein, aber er meint es nicht so. Darf ich?“ Stefano deutete auf den Platz neben Amy. Sie nickte.

„Das Temperament hat Michele von seiner Mutter geerbt. Sie glauben nicht, was ich mir manchmal anhören muss.“

Trotz ihres Kummers musste Amy schmunzeln. Stefano reichte ihr ein Taschentuch, das sie dankbar entgegennahm.

„So, und nun erzählen Sie mir mal, was mein Sohn Schlimmes verbrochen hat.“

Ob es an dem Gefühl der Einsamkeit lag oder daran, dass Stefano eine so charmante Ausstrahlung hatte, wusste Amy selbst nicht. Normalerweise schüttete sie Fremden nicht einfach ihr Herz aus. Aber sie fühlte, dass Stefano ehrlich interessiert war, und so erzählte sie ihm, was am Flughafen und im Büro seines Sohnes vorgefallen war. Sie vergaß auch nicht zu erwähnen, dass sie Mio zweimal als Schnösel bezeichnet hatte.

Als sie ihren Bericht abgeschlossen hatte, brach Stefano in schallendes Gelächter aus.

„Richtig so“, lachte er. „Das hat er nicht anders verdient.“

Dann wurde er ernst.

„Wissen Sie, Vanessa, Michele wurde vor einigen Jahren von einer Frau sehr enttäuscht. Seitdem glaubt er, dass alle Frauen Lügnerinnen sind.“

Amy sah ihn erstaunt an. Das rückte Mio in ein ganz anderes Licht. Er war verletzt worden, genau wie sie. Vermutlich hatte er die Frau so sehr geliebt wie sie damals Steven. Auch ihr fiel es seitdem schwer, Männern zu vertrauen. Vielleicht ging es Mio ähnlich. Ihr wurde ganz warm ums Herz bei dem Gedanken, dass sie ein gemeinsames Leid teilten.

Amy, du benimmst dich kindisch, schalt sie sich innerlich. Der Mann hatte sie heute schon zweimal beleidigt, und sie saß hier und verteidigte ihn. Sie wusste ja nicht einmal, was zwischen Mio und der anderen Frau vorgefallen war.

Stefano stand auf.

„Ich werde mit Michele reden.“

„Halten Sie das wirklich für eine gute Idee?“ Amy bezweifelte, dass Mio seine Meinung ändern würde. Er hatte ziemlich deutlich gemacht, was er von ihr hielt.

„Natürlich. Wir wären doch dumm, wenn wir eine so hübsche Praktikantin gleich am ersten Tag wieder gehen ließen.“

Er zwinkerte ihr zu.

Unwillkürlich musste Amy lächeln. Normalerweise prallte der legendäre Charme der italienischen Männer an ihr ab, aber nach den unglücklichen Ereignissen der letzten Stunden tat es ihr gut, ein Kompliment zu hören. Trotzdem war sie immer noch ein wenig verunsichert.

„Ihr Sohn vertraut mir nicht. Vielleicht ist es besser, wenn wir nicht zusammenarbeiten.“

„Assurdo!“ Stefano winkte ab. „Michele wird sich daran gewöhnen müssen, dass nicht jede Frau gleich an sein Geld will.“

Das überzeugte Amy zwar nicht, aber es kam auf einen Versuch an. Sie gab Stefano sein Taschentuch zurück und erhob sich ebenfalls. Schweigend gingen sie nebeneinanderher durch den Park zum Hauptgebäude zurück. Vor dem Eingang blieb Stefano stehen.

„Wo werden Sie übernachten, Vanessa?“, wollte er wissen.

Seine Frage erinnerte Amy daran, dass sie sich dringend um eine Unterkunft kümmern musste. Da ihr Großvater nichts von ihrem Aufenthalt in Venedig wissen durfte, hatte sie sich in einem günstigen Hotel in der Nähe der Innenstadt einquartiert. Kurz nach ihrer Ankunft in Venedig hatte sie jedoch der Chefportier angerufen und ihr zerknirscht mitgeteilt, dass ihr Zimmer aufgrund eines Fehlers doppelt vergeben worden sei. Bedauerlicherweise sei das Hotel komplett ausgebucht, sodass man ihr leider keinen Ersatz anbieten könne.

Als Amy Stefano von ihrer Not erzählte, überlegte der Firmenchef kurz. Dann fasste er einen Entschluss. „Ich finde, nachdem Sie einen so schlechten Empfang in unserem Unternehmen hatten, sind wir di Lorenzos Ihnen etwas schuldig. Sie wohnen einfach bei uns, bis Sie eine Wohnung gefunden haben.“

Sie musste sich verhört haben.

„Unser Haus ist groß genug, und meine Frau wird sich freuen. Sie liebt es, Gäste zu haben.“

„Aber …“

„Keine Widerrede. Ich sage meinem Fahrer Bescheid.“ Stefano küsste sie einmal links und einmal rechts auf die Wangen und verabschiedete sich dann ins Firmengebäude.

Amy blieb verwirrt zurück. Der Tag wurde immer seltsamer. Eben dachte sie noch, ihr Plan sei gescheitert, und nun hatte sie nicht nur ihren Job zurück, sondern sie würde auch noch in einem der schönsten Palazzi von ganz Venedig wohnen.

Sie wusste, wo sich das Wohnhaus der Familie di Lorenzo befand. Es lag direkt am Canal Grande und sah überaus prachtvoll aus. Wann immer Amy als Kind mit ihrem nonno daran vorbeigefahren war, hatte sie sich vorgestellt, eine Prinzessin zu sein und dort mit ihrem Prinzen zu leben.

Amy musste lachen. Ihr Kindheitstraum wurde tatsächlich wahr. Nur den Prinzen hatte sie sich netter vorgestellt.

3. KAPITEL

Unruhig lief Mio in seinem Büro auf und ab. Er hasste es, wenn er die Kontrolle verlor. Schon zum zweiten Mal am heutigen Tag hatte diese Frau es geschafft, ihn aus der Fassung zu bringen.

Normalerweise hätte er ihr einfach ganz ruhig gesagt, dass er sich keine Zusammenarbeit mit ihr vorstellen konnte, weil er sie für unehrlich hielt. Stattdessen hatte er sie fast angeschrien.

Andererseits bestärkte ihn sein Verhalten darin, dass seine Entscheidung richtig war. Wenn sie ihn so sehr verwirrte, dass sein Temperament mit ihm durchging, wäre eine Zusammenarbeit ohnehin nicht möglich. Er hätte sie zwar einem Mitarbeiter anvertrauen können, aber er betreute die Praktikanten gern selbst. Außerdem hielt er sich oft in der Kreationsabteilung auf, und ein kollegiales Verhältnis zu allen Angestellten war ihm sehr wichtig.

Nein, es war gut so, wie es war. Er musste sich auf seine Arbeit konzentrieren, und in Vanessas Gegenwart fiel ihm dies offensichtlich schwer.

Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und zog einen Stapel Unterlagen aus einer der Schubladen. Zurzeit entwickelte er eine neue Praline mit Kirscharoma, aber die Zusammensetzung der Zutaten stimmte noch nicht. Die Mengenangaben mussten erneut durchgerechnet werden.

Es gelang Mio tatsächlich, das Zusammentreffen mit Vanessa für einige Minuten zu vergessen. Doch seine Gedanken schweiften schon bald wieder ab. Er hatte deutlich gesehen, dass sich ihre Augen mit Tränen gefüllt hatten, als er sie als Lügnerin bezeichnet hatte. Ob er sie doch zu Unrecht beschuldigt hatte?

Vielleicht war sie aber auch einfach eine gute Schauspielerin. Wie Sara damals, die ihn unter Tränen angefleht hatte, ihr eine größere Summe Geld zu leihen, weil es ihren Eltern in Puerto Rico so schlecht ging. Sara kam aus armen Verhältnissen. Zumindest hatte sie das immer behauptet. Bis Mio dahintergekommen war, dass sie ihn jahrelang belogen hatte. Von diesem Moment an hatte er sich geschworen, nie wieder auf eine Frau hereinzufallen.

Auch Vanessa hatte ihn belogen. Nur deswegen hatte er so empfindlich reagiert. Eigentlich konnte es ihm egal sein, wie viel Geld seine Mitarbeiter ausgaben. Aber Vanessa hatte ihn vom ersten Augenblick an getäuscht, noch bevor er wusste, wer sie war. So jemanden wollte er nicht in seiner Nähe haben, auch wenn sie noch so attraktiv war.

Dennoch fiel es ihm schwer, nicht mehr an sie zu denken. Er seufzte. Da es sowieso aussichtslos war, dass er sich heute noch einmal seiner Arbeit widmen konnte, beschloss er, im Internet nach der Designerin zu suchen, die der Stein des Anstoßes gewesen war. Er gab den Namen Julia Shelby in eine Suchmaschine ein und stieß tatsächlich auf die Webseite der Modeschöpferin. Vanessa wusste also zumindest, wovon sie sprach, aber das allein war noch kein Beweis.

Mio klickte sich durch verschiedene Bilder von Modekreationen. Auch was den Wert der Einzelstücke anging, hatte Vanessa die Wahrheit gesagt. Ihre Bluse fand Mio allerdings nicht. Er wollte die Webseite schon selbstzufrieden verlassen, weil seine Einschätzung richtig gewesen war, als ihm eine Rubrik mit Kollektionen auffiel, die er bisher übersehen hatte. Und da war sie: Vanessas Bluse.

Mio fühlte sich, als hätte ihm jemand einen Tritt in die Magengrube versetzt. Vanessa hatte die Wahrheit gesagt, und er hatte sie nicht nur mehrfach beleidigt, sondern ihr auch noch aufgrund falscher Annahmen gekündigt. Er fragte sich zwar immer noch, woher sie als Studentin so viel Geld hatte, aber vielleicht war die Bluse tatsächlich ein Geschenk gewesen. Er hatte ihr ja nicht einmal die Chance gegeben, sich zu erklären.

Wie musste es ihr jetzt ergehen? Sie hatte die Reise nach Venedig auf sich genommen, hatte sich sicherlich auf die Arbeit bei Di Lorenzo gefreut, und er hatte sie so vor den Kopf gestoßen. Jetzt war sie fort. Wahrscheinlich würde er sie nie wiedersehen und selbst wenn, würde sie wohl keinen gesteigerten Wert darauf legen, mit ihm zu reden. Und das konnte er ihr nicht einmal verdenken. Er hatte sich unmöglich verhalten.

Der Gedanke, dass Vanessa ihn für alle Zeit in schlechter Erinnerung behalten würde, war kaum auszuhalten. Und je länger er sich damit beschäftigte, desto schlimmer wurde es. Das war doch einfach lächerlich. Er kannte die junge Studentin aus London gerade mal einige Stunden.

Verzweifelt fuhr sich Mio durch das nachtschwarze Haar. Er musste etwas tun, und zwar sofort, sonst würde er wahnsinnig. Es gab nur eine Möglichkeit: Er musste sie um Verzeihung bitten. Selbst wenn sie seine Entschuldigung nicht annehmen würde, woran er nicht einmal denken wollte, war das immer noch besser, als untätig herumzusitzen.

Hastig stand er auf, nahm den Schlüssel seines Motorbootes aus der obersten Schreibtischschublade und verließ das Büro. Er hatte es so eilig, dass er nicht einmal bemerkte, wie sein Assistent Enrico ihm etwas hinterherrief. Auch für seinen Vater, der ihm auf dem Flur begegnete und ihn kurz sprechen wollte, hatte er keine Zeit.

Er rannte die Stufen zum Schiffsanleger hinunter und ging an Bord der Balena. Sein Vater hatte ihm das geräumige Motorboot geschenkt, als er Chef der Entwicklungsabteilung geworden war. Es erinnerte ihn daher immer an den wichtigsten Moment seiner bisherigen Karriere und erfüllte ihn mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Stolz.

Heute dachte er jedoch an etwas vollkommen anderes. Er musste Vanessa zurückzuholen. Er hatte schon den Zündschlüssel umgedreht, als ihm einfiel, dass er gar nicht wusste, wo sie wohnte. Mio fluchte laut. In den Bewerbungsunterlagen hatte natürlich nur ihre Adresse in England gestanden. Verdammt, wie sollte er sie jetzt finden? Er konnte doch nicht jedes Hotel in Venedig abklappern, und selbst wenn er das tun würde, vielleicht wohnte sie ja bei Verwandten oder Freunden.

In diesem Moment rief jemand seinen Namen. Mio schrak zusammen. Er war so in Gedanken gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie sein Assistent den Steg betreten hatte. Enrico wedelte mit Mios Aktentasche.

„Wenn du schon wegfährst, ohne mir Bescheid zu geben“, sagte Enrico mit leisem Vorwurf, „solltest du wenigstens an deine Unterlagen denken.“

Mio stellte den Motor ab und nahm die Ledertasche dankbar entgegen. Darin befanden sich nicht nur seine wichtigsten Papiere, sondern auch sein Laptop. Er verließ die Firma nie ohne diese Tasche. Die Tatsache, dass er sie heute vergessen hatte, machte ihm klar, wie schlimm es um seinen Gemütszustand bestellt war.

Gleichzeitig erschien es ihm wie eine glückliche Fügung, dass Enrico gerade in diesem Augenblick aufgetaucht war. Wenn jemand Vanessas Adresse haben könnte, dann er. Wieso hatte er nicht früher daran gedacht?

Darauf angesprochen, grinste Mios Assistent seltsam verschwörerisch. Selbstverständlich wusste er, wo die neue Praktikantin wohnte. Im Hotel di Stella.

Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, startete Mio das Boot erneut und fuhr mit dröhnendem Motor aufs Meer hinaus. Enrico blieb kopfschüttelnd zurück. Wenn die Praktikantin seinen Chef jetzt schon so durcheinanderbrachte, würden die nächsten Monate sehr interessant werden.

Amy glaubte immer noch zu träumen. Ein Angestellter Stefanos hatte sie zum firmeneigenen Schiffsanleger gebracht und sie dann mit einem Motorboot durch den Canal Grande gefahren. Allein die Fahrt hatte Amy schon überglücklich gemacht. Sie liebte es, die wunderschönen Hausfassaden zu betrachten, die den Kanal säumten, und hatte den Fahrer gebeten, das Boot langsam durch das Wasser zu lenken.

In den Sommerferien war sie mit ihrem Großvater fast jeden Tag hier gewesen und fühlte sich nun sofort in ihre Kindheit zurückversetzt. Nonno war in Venedig geboren und hatte sein ganzes Leben in der Lagunenstadt verbracht. Er wusste zu jedem Haus entlang des Canal Grande eine Geschichte zu erzählen. Amy hatte nicht alle behalten, aber sie konnte sich noch gut daran erinnern, dass nonno immer besonders ehrfürchtig von der Familie di Lorenzo gesprochen hatte, wenn er das Boot an ihrem Palazzo vorbeigesteuert hatte.

Die di Lorenzos hatten ein Vermögen mit der Produktion von Süßwaren verdient und konnten sich jeden Luxus leisten. Sie teilten ihren Wohlstand jedoch mit den Armen und sozial Schwachen der Stadt und genossen daher hohes Ansehen bei den Venezianern.

Deswegen konnte sich Amys Großvater auch nicht vorstellen, dass die Familie etwas mit dem Rezeptdiebstahl zu tun hatte. Für ihn war es ein Zufall, dass das Süßwarenunternehmen ebenfalls eine Diätpraline auf den Markt gebracht hatte.

Wer es glaubt, wird selig, dachte Amy bitter.

In der nächsten Zeit würde sie Gedanken dieser Art allerdings beiseiteschieben müssen. Immerhin wohnte sie nun im Haus der di Lorenzos. Dies war zwar einerseits vorteilhaft für ihren Plan, denn im privaten Umfeld der Familie ließen sich einige Informationen sicherlich leichter beschaffen. Auf der anderen Seite war ihr Stefano schon jetzt sehr sympathisch, und sie schämte sich fast ein wenig, dass sie ihn anlügen musste. Sie durfte sich solchen Gefühlen jedoch nicht hingeben, sonst war ihr Vorhaben gleich zum Scheitern verurteilt.

Sie war jetzt Vanessa Caprese, Studentin der Lebensmitteltechnologie, deren Schwerpunkt in der Entwicklung von Pralinen und Schokolade lag. Angst, dass sie durch mangelnde handwerkliche Fähigkeiten auffallen würde, hatte Amy nicht. Immerhin konnte sie auf eine Ausbildung zur Konditorin bei ihrem Großvater zurückgreifen. Zwar hatte sie diese nach zwei Jahren abgebrochen, um stattdessen Journalistin zu werden, aber die Vorgänge der Pralinenherstellung beherrschte sie immer noch im Schlaf.

Ihre Tarnung war perfekt. Dank ihrer italienischen Mutter war sie zweisprachig aufgewachsen, sodass sie sich nicht durch einen englischen Akzent verraten würde. Und um der brünetten Vanessa ähnlich zu sehen, hatte sie sich außerdem ihre blonden Haare dunkler färben lassen. Selbst ihr Chefredakteur hatte sie kaum erkannt, was ein gutes Zeichen war. Ihre neue Frisur hatte ihm sogar so gut gefallen, dass er sich dazu hatte überreden lassen, ihr sechs statt fünf Wochen Urlaub zu geben. Sie hatte also genügend Zeit für ihre Recherchen. Der Einzige, der ihren Plan noch gefährden konnte, war Mio di Lorenzo. Es würde schwierig werden, sein Vertrauen zu gewinnen.

In diesem Moment tauchte der Palazzo der di Lorenzos vor ihnen auf. Amy spürte sofort, wie ihr das Herz aufging. Die Fassade des edlen Gebäudes mit ihren gotischen Spitzbögen und Säulengängen war noch schöner, als Amy sie in Erinnerung hatte. Die Wände des Hauses waren mit weißem Marmor verkleidet und vom piano nobile, dem ersten Obergeschoss, blickten mehrere Engelsstatuen auf den Kanal herab.

Der Fahrer lenkte das Boot an den großzügigen Anlegesteg vor dem Portal des Palazzo und half Amy beim Aussteigen. Im gleichen Moment kam eine schwarzhaarige Frau mit zierlicher Gestalt aus dem Haus gelaufen.

„Sie müssen Vanessa sein“, sagte sie und drückte Amy an sich, ohne eine Antwort abzuwarten. „Ich bin Angelica, Stefanos Frau. Benvenuti.

Amy blickte Angelica verlegen an. „Ist es wirklich in Ordnung, dass ich hier übernachte? Ich möchte Ihnen keine Umstände machen.“

Angelica winkte sofort ab. „Umstände? Gott bewahre! Ich bin so froh, endlich einmal wieder Gäste zu haben. Alle meine Söhne, bis auf Mio, sind schon vor einigen Jahren ausgezogen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie leer das Haus manchmal ist. Kommen Sie mit. Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer. Es wird Ihnen gefallen.“

Freundschaftlich hakte sich Angelica bei Amy unter und führte sie ins Haus. Als sie die riesige Eingangshalle des Palazzo betraten, verschlug es Amy fast den Atem. So viel Luxus hatte sie noch nie gesehen. Der Boden war mit teuren orientalischen Teppichen ausgelegt, und an den Wänden standen antike Möbel. Über ihnen hing ein kostbarer Kronleuchter aus Glas und erhellte die breite Marmortreppe, die in die oberen Stockwerke führte.

Trotz seiner Größe strahlte der Eingangsbereich neben Eleganz auch eine gewisse Gemütlichkeit aus, sodass Amy sich sofort willkommen fühlte. Gleichzeitig kam es ihr vor, als sei sie in ein Venedig früherer Zeit zurückversetzt worden, in dem der Adel die Stadt beherrscht hatte.

Angelica, die Amys ehrfürchtigen Gesichtsausdruck bemerkt hatte, erklärte ihr lächelnd, dass die Familie di Lorenzo tatsächlich einem venezianischen Adelsgeschlecht entstammte. Viele dieser noblen Vorfahren waren auf Gemälden verewigt, die in goldenen Rahmen an den Wänden entlang des Treppenaufgan...

Autor

Linda Mc Namara
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