Romana Extra Band 117

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EIN VENEZIANISCHES MÄRCHEN von ROSE DE WINTER
Wie kann sie Leonardo Contarini von ihrer Aufrichtigkeit überzeugen, wenn jeder seiner Blicke ihr den Atem raubt? Laura beschließt, den eleganten Maskenball zu nutzen, um dem charismatischen Venezianer zu beweisen, dass sie die Richtige ist – für seine Firma und in der Liebe!

EINE ZWEITE CHANCE AUFS GLÜCK von AMY RUTTAN
Noch nie hat Sandra den texanischen Sommer so genossen wie mit dem charmanten Kody. Seine zärtlichen Berührungen, seine geflüsterten Worte wecken aufregend neue Gefühle in ihr. Warum nur hat sie trotzdem den Eindruck, dass er einen Teil seines Lebens vor ihr verbirgt?

BLITZHOCHZEIT MIT DEM MILLIARDÄR von DANI COLLINS
„Sie dürfen die Braut jetzt küssen.“ Behutsam lüftet Mikolas den Schleier – und erstarrt. Das ist nicht die Frau, die er heiraten wollte! Der Milliardär fasst einen Entschluss: Die Hochzeit ist geplatzt, dafür muss diese erotische Fremde seine Geliebte werden …

VERFÜHRERISCHER RETTER MEINES HERZENS von MELISSA JAMES
Für sie ist er nur Mittel zum Zweck, um ihr kleines Königreich zu retten. Doch Charlie Costa will eine echte Ehe mit der heißblütigen Prinzessin Jazmine. Der erste Kuss besiegelt seine Entscheidung: Er will sie für immer glücklich machen! Dazu muss er nur erst ihr Herz gewinnen …


  • Erscheinungstag 15.02.2022
  • Bandnummer 117
  • ISBN / Artikelnummer 9783751508131
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Rose de Winter, Amy Ruttan, Dani Collins, Melissa James

ROMANA EXTRA BAND 117

ROSE DE WINTER

Ein venezianisches Märchen

Spielt sie nur mit ihm, um sich einen Job in seiner Firma zu sichern? Leonardo beschließt, die hübsche Laura auf die Probe zu stellen. Er will sich nicht erneut in die falsche Frau verlieben!

AMY RUTTAN

Eine zweite Chance aufs Glück

Gibt es für ihn eine zweite Chance aufs Glück? Nach einer romantischen Nacht mit der sonst so kühlen Sandra möchte Kody gern daran glauben. Wäre da nur nicht das Versprechen, das er einst gegeben hat …

DANI COLLINS

Blitzhochzeit mit dem Milliardär

Um ihre Schwester vor einer Zweckheirat zu bewahren, gibt Viveka sich als die Braut aus. Doch selbst durch ihren dichten Schleier hindurch zieht der Milliardär Mikolas Petrides sie in seinen Bann …

MELISSA JAMES

Verführerischer Retter meines Herzens

Auch wenn seine Küsse voller Leidenschaft sind, fürchtet Prinzessin Jazmine, dass Charlie sie nur aus Pflichtgefühl heiratet. Verzweifelt sucht sie nach einem Weg, ihr Herz zu schützen …

1. KAPITEL

Es war, als hätte die Braut selbst die Sonne geweckt an diesem wolkenverhangenen Februarabend in Venedig. Als sie „Ja, ich will“ sagte, fielen Sonnenstrahlen schräg durch die Fenster der Chiesa di Santa Maria della Salute herein, brachen sich in ihrem Hochzeitskleid und ließen sie hell wie die Sonne erstrahlen.

Lauras Herz machte einen Hüpfer. Ja! Es hatte sich gelohnt, die vielen Swarovski-Kristalle in Chiaras Hochzeitskleid einzunähen. Es hatte nächtelang gedauert, aber das Ergebnis dieser mühsamen Handarbeit war einzigartig schön. Als Trauzeugin stand Laura direkt neben ihrer besten Freundin und konnte sich nicht daran sattsehen, wie Chiara in dieser wunderschönen barocken Kirche strahlte. Das Kleid zu designen und anzufertigen war Lauras Hochzeitsgeschenk für sie. Chiaras dunkle Haare und Augen bildeten den perfekten Kontrast zu der reinweißen Seide. Gab es etwas Schöneres als eine Hochzeit in Venedig?

Laura seufzte und spürte, wie sich ihre Freude über das Glück ihrer Freundin mit der Trauer um ihren Abschied mischte: Schon bald würde Chiara als Diplomatengattin ein neues Leben beginnen, das sie in alle Winkel der Welt führen würde. Ihre gemeinsame Zeit war vorüber.

Drei Jahre lang hatten Laura und Chiara in London zusammengewohnt, am renommierten Central Saint Martins College Modedesign studiert und sich über Entwürfe die Köpfe zerbrochen. Dadurch waren sie zu besten Freundinnen geworden. Die letzten Monate waren wie im Flug vergangen: Sie hatten ihren Abschluss gemacht, Laura hatte am Entwurf von Chiaras Brautkleid gearbeitet, dazu noch ihr eigenes Kleid genäht und die beiden Anzüge des Bräutigams und des Trauzeugen nach ihren Modellen in Auftrag gegeben.

Und nun standen sie hier zu viert vor dem Traualtar und bildeten das Arrangement, das Laura vor Augen gehabt hatte: Nicht nur das Hochzeitskleid entfaltete seine ganze Pracht auf dieser Hochzeit in Venedig, ebenso erhielt der Anzug des Bräutigams, der auf Francescos eigenen Wunsch in Schwarz gehalten war, durch die Sonnenstrahlen einen silbrigen Glanz, der Chiaras Brautkleid perfekt ergänzte. Laura hatte lange nach diesem schwarzen Stoff mit silbrigem Glanz gesucht, der das strahlende Weiß des Brautkleides reflektierte. Auch der schmal geschnittene Anzug des Trauzeugen saß wie angegossen. Er war aus der gleichen Wildseide hergestellt wie Lauras Kleid. Das Einstecktuch war aus roséfarbener venezianischer Spitze. Laura trug die zarte Spitze als Schal um ihre nackten Schultern. Als Trauzeugen umrahmten sie das Hochzeitspaar perfekt und stilvoll, aber nicht zu auffällig in dieser prachtvollen Kirche, die mit wertvollen Gemälden und Statuen ausgestattet war.

Doch etwas irritierte Laura. Etwas Dunkles hatte sich in ihr Sichtfeld geschoben, das ihre Gedanken und Erinnerungen verdrängte und sie stark anzog. Sie blickte an dem Anzug des Trauzeugen hinauf und sah es: Es waren seine Augen, dunkel wie zartschmelzende Schokolade, die sie beinahe unverschämt musterten. Leonardo Contarini. Warum starrte er sie so an? Was wollte er von ihr? Warum sah er nur so unverschämt gut aus?

Wie gebannt versank Laura in Leonardos Augen. Ein süßer Schmerz durchzog sie. So etwas war ihr noch nie passiert. Sie hielt sich an ihrem Lächeln fest, das sich mit einem Mal anfühlte wie eine Maske, die ein Verlangen verbarg, das sie bisher nicht gekannt hatte.

Chiara hätte sie vorwarnen sollen! Schließlich war Leonardo nicht nur Francescos bester Freund, sondern auch noch Chiaras Bruder. Er war es auch, der die ausgefallenen Stoffe für die Brautleute und Trauzeugen geliefert hatte. Doch tatsächlich sah Laura ihn hier in der Kirche zum ersten Mal. Zwar hatte Leonardo unzählige Male seine Schwester in London besuchen wollen, doch hatte er immer wieder wegen geschäftlicher Angelegenheiten abgesagt. Als Geschäftsführer der noblen Tuchfirma Contarini, die Chiaras Familie gehörte, hatte er unglaublich viel zu tun.

Schon beim Einzug in die Kirche hatte Laura bemerkt, wie außergewöhnlich gut er aussah, aber da Chiara auch eine Schönheit war, überraschte es sie nicht besonders. Doch dass er sie nun so direkt, so hungrig anblickte … Sie konnte sich nicht von seinem Blick lösen und spürte, wie ihr am ganzen Körper heiß wurde.

Plötzlich riss der Blickkontakt ab. Leonardo hatte sich vorgebeugt, um Francesco die Ringe zu reichen. Hastig nahm Laura ihrer Freundin den großen Brautstrauß mit den rosafarbenen und roten Rosen ab, damit der Bräutigam seiner Braut den Ring anstecken konnte.

Was war das gerade gewesen? Es konnte nur wenige Sekunden gedauert haben, und doch hatte sie das Gefühl, dass die Welt sich komplett auf den Kopf gestellt hatte. War das etwa die berühmte Liebe auf den ersten Blick? War es Verlangen? Oder war da gar nichts gewesen, und sie hatte sich das lediglich eingebildet? Wahrscheinlich sah er jede Frau auf diese Art an. So waren Italiener eben. Sie war das einfach nicht gewohnt.

Als die Ringe angesteckt waren und der sonst so zurückhaltende Francesco seine Chiara stürmisch küsste, applaudierten die Hochzeitsgäste und jubelten ihnen zu. Von der Empore erklang das Ave-Maria einer gefeierten Opernsängerin, einer guten Freundin von Chiaras Familie. Hochzeiten sollten immer italienisch sein, dachte Laura, während sie dem küssenden Brautpaar zulächelte und spürte, wie ihre Augen feucht wurden.

Als Chiara ihr wieder den Blumenstrauß abnahm, bückte sich Laura schnell, um die Schleppe und den Schleier des Brautkleides für den Gang durch die Kirche zu richten. Unter den Jubelrufen von Verwandtschaft und Freunden schritt das Brautpaar Richtung Ausgang. Laura reihte sich an der Seite von Leonardo hinter dem Paar ein. Sie wagte es nicht, ihn direkt anzublicken, aber betrachtete ihn aus den Augenwinkeln: Er sah umwerfend aus. Er war gut einen Kopf größer als sie, athletisch gebaut mit einem leicht gebräunten Teint. Seine gewellten Haare waren dunkelbraun, die Augen hatten die satte Farbe von dunkler Vollmilchschokolade und waren von dichten schwarzen Wimpern umrahmt, die ihm zusammen mit seinen vollen Lippen etwas sehr Sinnliches verliehen.

Diese Augen, dieser Blick … Laura spürte, wie sich ein warmes Prickeln in ihr ausbreitete. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander: Was hatte Chiara nur damit gemeint, als sie mit einem leicht sarkastischen Unterton am Vorabend bemerkt hatte, dass sich Leonardo mit seiner späten Ankunft wohl Ärger ersparen wollte? Er war heute Morgen von einer Geschäftsreise zurückgekehrt und erst in der Kirche zur Brautgesellschaft gestoßen. Eine Begrüßung hatte noch gar nicht stattgefunden. Überhaupt hatte Chiara Leonardo in den letzten Monaten kaum erwähnt, obwohl sie ihren großen Bruder sonst in den höchsten Tönen gelobt hatte.

„Wie haben Sie das eigentlich hinbekommen, dass der Anzug so perfekt sitzt?“, sprach Leonardo sie von der Seite an, ohne den Blick von den Anwesenden zu lösen, denen er lächelnd zuwinkte.

Laura zuckte zusammen. Sie fühlte sich bei ihrer heimlichen Beobachtung und ihren Gedankengängen ertappt, machte erschreckt einen kleinen Schritt zur Seite und stieß mit ihrer Hüfte an eine Kirchenbank. Autsch! Das gab bestimmt einen blauen Fleck. Sie blieb stehen und rieb sich die Stelle, während Leonardos samtweiche Stimme in ihr nachhallte. Jeder Satz war wie ein Streicheln.

Leonardo nahm ihre Hand und zog sie sanft zu sich, sodass sie wieder auf gleicher Höhe nebeneinandergingen. Laura durchzuckte die plötzliche Berührung wie ein Blitz. Doch genauso überraschend, wie er ihre Hand genommen hatte, ließ er sie auch wieder los und lächelte weiter in die Menge.

„Seien Sie nicht so schreckhaft, und passen Sie auf, dass Sie nicht noch einmal stolpern“, wies er sie an. „Ach, und ein bisschen freundlicher lächeln könnten Sie auch.“

Obwohl Laura ihm sofort gehorchte, spürte sie Wut in sich aufsteigen. Was erlaubte er sich?! Sie war hier nicht die Braut, sie kannte niemanden und musste auch nichts repräsentieren. Zumindest lenkte sie ihre Entrüstung davon ab, ihn heimlich anzuschmachten.

„Chiara hat mir Ihre Maße gegeben und Ihre Statur beschrieben“, antwortete sie betont sachlich. Leonardo nickte kaum merklich. Anscheinend reichte ihm diese Antwort. Laura straffte die Schultern und betrachtete mit einem Lächeln die geladenen Gäste in der Kirche, während sie darauf achtete, mit ihm Schritt zu halten.

Allesamt waren hervorragend gekleidet, die Frauen sorgfältig geschminkt und frisiert. Ein zarter Hauch unterschiedlicher Düfte nach Parfüm, teuren Cremes und Eau de Cologne durchzog die feuchtkühle Luft der Kirche. Keine Frage: Hier waren die Reichen und Schönen Venedigs versammelt, schließlich zählten die Contarinis zum Hochadel: Alles strahlte Distinktion, guten Geschmack und Würde aus.

Eine junge Frau stach Laura ins Auge: Sie hob sich von den anderen durch ihr glänzendes, rotes, sorgfältig in Wellen gelegtes Haar ab. Ihr Kleid war eng anliegend und aus petrolgrünem Samt, der an den Seiten mit Strass besetzt war. Laura sah, dass es sich um ein raffiniert geschnittenes Kleid handelte, doch verdarb der klobige Strass die geschwungene Linie: Er wirkte aufgesetzt und billig. Viel mehr beunruhigte Laura jedoch der stechende Blick der jungen Frau. Sie schien Laura unentwegt anzustarren. Ihre Lippen waren zusammengepresst, gerade so, als wäre sie kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Wenn Laura nicht hundertprozentig gewusst hätte, dass sie diese Frau nie zuvor gesehen hatte, wäre sie sich sicher gewesen, dass diese rothaarige Unbekannte sie hasste, aus tiefster Seele und von ganzem Herzen. Aber warum?

Laura atmete tief durch. Sie bildete sich das bestimmt nur ein. Erleichtert sah sie das helle Sonnenlicht, das durch den Eingang strömte. Den ersten Teil ihrer Pflicht als Trauzeugin hatte sie absolviert.

Schon als Kind hatte Laura sich lieber in eine Fantasiewelt zurückgezogen, anstatt sich gegen andere zu behaupten. Dass Chiara und sie sich so eng angefreundet hatten, lag vor allem an Chiaras sorgloser, sonniger Art, mit der sie ganz selbstverständlich Laura zu ihrer Vertrauten machte und sie gleichzeitig so nahm, wie sie war: still, umständlich, manchmal etwas weltfremd und vor allem schüchtern. Laura erinnerte sich noch daran, wie Chiara an ihrer Wohnungstür stand, um das angebotene Zimmer zu besichtigen. Es war der Vorschlag von Lauras Vater gewesen, das leer stehende Zimmer ihrer Mutter zu vermieten, das Laura bisher als Nähzimmer genutzt hatte, um die Kosten der Modeschule zu decken. Laura liebte dieses Zimmer: Es war rund und hatte einen wunderschönen Erker, der den Blick zum weitläufigen Park freigab. Die hellblau gestrichenen Wände hoben sich zart von dem weißen Stuck ab. Sie erinnerte sich daran, wie sie ihre Mutter als Ballerina darin tanzen sah, und später, wie sie in ihrem Bett lag, vom Krebs gezeichnet. Es war Lauras Traumzimmer, ihr Ort der Zuflucht, und das sollte jetzt jemand anders bewohnen? Alles hatte sich in Laura dagegen gesträubt. Ihr Vater mit seinen gütigen, melancholischen Augen und seinen überlegten Worten hatte sie jedoch umgestimmt: „Ich bin Kulturredakteur, kein Großverdiener. Ich kann dir von meinem Gehalt das Modestudium an der Central Saint Martins nicht finanzieren. Du bist an einer der besten Modeschulen der Welt angenommen worden. Das ist der Preis, den du dafür zahlst: Du musst aufhören, dich zu verstecken, einen Teil von deinem geheimen Reich dafür preisgeben und dich der Welt stellen. Deine Mutter wäre so stolz auf dich, sie hätte alles dafür geopfert.“

Händeringend hatte Laura nach einer anderen Lösung gesucht. Vielleicht sollte sie selbst das Zimmer beziehen und ihres zur Untermiete freigeben? Aber sie würde die Nähe, die sie hier zu ihrer Mutter verspürte, nicht andauernd ertragen können, das ging nur in kreativen Momenten. Als sie ihrem Vater vorschlug, nach einem Job zu suchen, hatte er das abgeblockt mit den Worten, dass ihr das bloß unnötige Energie rauben würde, die sie für ihr Studium bräuchte.

Chiara war die Erste, die sich auf die Anzeige meldete, die Laura online geschaltet hatte. Es war ein großer Zufall, dass auch sie – wie Laura – am Central Saint Martins studierte. Sie fragte sofort, warum dieses wunderschöne Zimmer leer stehen würde. Der Vater druckste herum, doch Laura antwortete: „Es hat meiner verstorbenen Mutter gehört. Ich benutze es meistens als Nähzimmer.“

Während der Vater sie vorwurfsvoll ansah, lächelte Chiara nur verständnisvoll: „Oh, meine Mutter ist leider auch schon tot. Das Zimmer ist wunderschön, genauso wie die ganze Wohnung.“

Nachdem sich Chiara zwei Tage Bedenkzeit ausgebeten hatte, meldete sie sich telefonisch mit einem ungewöhnlichen Vorschlag: Sie bot an, dass sie das blaue Zimmer weiterhin als gemeinsames Kreativzimmer nutzen könnten. Sie würde gern in Lauras Zimmer ihr Bett und ihre persönlichen Sachen unterbringen. Lauras Zimmer ließe sich leicht über eine eingezogene Wand oder ein hohes Regal teilen. Sie bevorzuge diese Lösung, weil sie so auch Lauras Bad benutzen könnte, das direkt an das Zimmer angrenzte. Sie gab außerdem an, dass sie dafür bereit wäre, einen Aufpreis zu zahlen, und keinen Besuch (schon gar keinen Männerbesuch) empfangen würde, da sie in Italien verlobt sei.

Während der Vater zweifelnd seine Tochter ansah, willigte Laura sofort ein. Ihr Zimmer mit einer Fremden zu teilen war ihr lieber, als das Zimmer ihrer Mutter ganz aufzugeben. Sie würden beide viel an der Schule studieren und müde sein. Wenn sie sich nicht verstehen würden, könnten sie sich aus dem Weg gehen. Laura hatte noch nie ein Problem damit gehabt, sich ganz in sich selbst zurückzuziehen. Sie hatte das schon in der Schule getan, weil die anderen Mädchen nicht verstanden, warum sie weinte, wenn sie Vater, Mutter, Kind spielen wollten, und auch bei ihren raubeinigen Cousins und ihrer mürrischen Tante, bei der sie wohnte, wenn ihr Vater unterwegs war, blieb sie stets für sich. Dennoch war sie ihrer Tante dankbar, denn sie war es, die ihr das Nähen an der Maschine beigebracht hatte.

Stunden verbrachte Laura als kleines Mädchen damit, erst kleine Bänder, dann Taschen, dann Kleider für ihre Puppen und schließlich auch eine Schürze für ihre Tante zu nähen. Es war das Einzige, was sie alles vergessen ließ. Die Einsamkeit, die Fremdheit mit anderen, die Trauer. Andere betrachtete sie stets aus der Distanz. Da gab es mal eine Schülerin, mit der sie sich ab und zu traf, um gemeinsam zu nähen, aber nie kam echte Vertrautheit auf. Es gab einen Schüler, in den sie ein wenig verliebt war, einen Lehrer, für den sie schwärmte, doch ihre ersten Lieben blieben unerfüllt.

Mit Chiara wurde alles anders: Ihre Mitstudentin brachte die Sonne in ihr Leben. Sie kochte italienisch, stellte die Wohnung um, kümmerte sich um ein schmales Bücherregal, mit dem sie das Zimmer teilten, erzählte nachts Geschichten aus ihrer Heimat und brachte ihr beim Nähen Italienisch bei. Sie wurden beste Freundinnen, begeisterten sich für neue Trends, lästerten über Lehrer, schwärmten für so manchen Designer und sprachen von dem Gefühl, wie es war, ohne Mutter aufzuwachsen. Dass es kein Zufall, sondern Schicksal war, dass sie sich über die Zimmersuche kennengelernt hatten. Und Laura, die seit dem Tod ihrer Mutter mit dem Wort Schicksal nicht viel anfangen konnte, hatte das Gefühl, endlich jemanden gefunden zu haben, dem sie sich ganz öffnen konnte.

Erst als Chiaras Verlobter Francesco einmal zu Besuch nach London kam und sie für diese Zeit zu ihm ins teuerste Hotel der Stadt zog, wurde Laura bewusst, dass Chiara als eine italienische Adelige aus einer völlig anderen Welt stammte. Als sie Chiara fragte, warum sie sich nicht allein ein teures Apartment genommen hätte, lachte ihre Freundin auf: „Laura, wenn man Geld hat, lernt man schnell, dass nichts wichtiger ist als Freundschaft. Was soll ich allein in London in einem Apartment, wenn ich hier meine freie Zeit mit einer Freundin teilen kann, die mir so lieb ist wie eine Schwester?“

Laura verstand, dass Reichtum auch Einsamkeit bedeuten konnte. Und sie würde Chiara auch nicht mehr missen wollen.

Als es nur noch wenige Monate bis zu ihrem Abschluss waren, platzte Chiara mit der Nachricht, dass nun ihr Hochzeitstermin feststünde und Laura unbedingt das Brautkleid anfertigen müsse, mitten in ihre Prüfungsvorbereitungen. Eigentlich hatte Laura für ihre Prüfung eine Kollektion von Abendroben für die Wintersaison geplant, doch zum Erstaunen ihrer Lehrer und ohne eine weitere Erklärung änderte sie ihr Abschlussthema kurzerhand und nannte es: Eine Hochzeit in Venedig.

Der vielen Bedenken zum Trotz schaffte sie es, die Brautrobe, ihr eigenes Kleid und das Outfit der Blumenmädchen zu kreieren. Als Designerin für Damenmode blieben ihr die Anzüge für die Abschlussprüfung erspart, nur die Skizzen dafür hatte sie erstellt und diese dann in Auftrag gegeben. Chiara bekam das Gesamtpaket und Laura die beste Abschlussnote ihres Jahrgangs.

Direkt danach saßen sie im Flieger nach Venedig, am nächsten Tag würde die Hochzeit sein. Laura hatte bis jetzt nur Chiaras Vater kennengelernt, der genauso herzlich war wie Chiara und den gleichen melancholischen Blick hatte wie ihr eigener Vater. Ach, wäre er doch mitgekommen. Doch ihr Vater bedankte sich nur freundlich für die Einladung zur Hochzeit. Er hätte einen Termin in Schottland zu einer Theaterpremiere, über die er schreiben würde. Da er selbst eine wunderschöne Hochzeit gehabt hätte, müsste er keine mehr sehen. Er wünschte Chiara alles Gute, und diese verstand wie immer.

In Gedanken daran kamen Laura erneut die Tränen – zum Glück hatten sie nun den langen Gang an den Brautgästen vorbei hinter sich gelassen und standen direkt vor dem offenen Eingangsportal mit Blick auf den Canal Grande.

Wieder schob sich etwas Dunkles vor ihr Gesicht. Es war Leonardos Hand, die ihr die Sonne abschirmte.

„Blendet Sie die Sonne? Ihre Augen tränen.“

„Nein …, ich meine, ja, es geht schon“, stammelte Laura.

„Sie sind wohl wie diese Stadt?“

„Wie meinen Sie das?“

„Nah am Wasser gebaut.“

Widerwillig musste Laura lachen.

„Schon besser“, bemerkte Leonardo mit einem charmanten Grinsen.

„Das hier ist ein Tag der Freude, lachen Sie, ansonsten verläuft noch Ihr Make-up.“ Erschrocken tupfte sich Laura die Tränen ab. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Sie schminkte sich nur zu besonderen Anlässen, und dass sie in der Öffentlichkeit Tränen vergoss, war seit ihrer Kindheit nicht mehr vorgekommen.

„Vorsicht, gleich werden wir beworfen.“

„Mit Reiskörnern?“, fragte Laura.

„Nein, Reiskörner sind in Venedig wegen der Tauben verboten.“

„Aber wieso? Die Tauben sind doch eine Touristenattraktion.“

„Ja, aber es gibt zu viele von ihnen. Sie sind eine Plage. Seit dem Fütterungsverbot hat sich ihr Bestand halbiert. Jetzt ist es für alle erträglicher.“

Gerade als Leonardo die Worte aussprach, flog ein Schwarm Tauben über sie hinweg. Laura blickte in den Himmel hinauf und sah plötzlich weiße, rosa und rote Rosenblätter von oben auf sie herabrieseln. Am liebsten hätte sie ewig so dagestanden und den Blättern zugeschaut, die langsam wie Schneeflocken auf ihr Gesicht fielen, doch Leonardo nahm erneut ihre Hand.

„Woran denken Sie?“

„Ach, an das, was sich alle Frauen wünschen, dass mich ein geheimnisvoller Fremder nach Venedig entführt, und wenn er seine Maske abnimmt, dann ist es der Mann, den ich liebe. Und natürlich heiratet er mich direkt hier in dieser prachtvollen Kirche.“

„Da muten sie Ihrem Freund aber viel zu.“

Laura errötete: „Vermutlich habe ich deswegen keinen.“

Leonardo lachte auf: „Wir müssen uns beeilen, da vorn wartet schon die Gondel.“

An Leonardos Hand spürte Laura Schmetterlinge in sich aufsteigen und die unbändige Lust zu singen und loszulaufen, nur sie und Leonardo … Als wären dieser unglaublich attraktive venezianische Kaufmann mit Adelstitel an ihrer Seite ihr Bräutigam, die Rosenblätter für sie bestimmt, als schiene die Sonne nur für sie … Was, wenn das ihre Hochzeit wäre? Sie kicherte nervös bei diesem Gedanken.

„Was haben Sie?“, fragte Leonardo.

Laura errötete. „Ach, nichts.“

„Sie werden ja ganz rot. Sie haben doch nicht etwa an etwas Unanständiges gedacht?“

„Ich? Niemals!“ Laura fühlte, wie ihre Wangen glühten. Warum hatte sie nur diese helle Haut?

Leonardo schmunzelte: „Na, ich hoffe, das passiert doch ab und zu.“

Wie konnte er nur darüber nachdenken, was sie dachte? Dachte er auch darüber nach, was sie wollte? Dass sie am liebsten seine samtweichen Lippen küssen würde? Konnte er das ahnen? Er war sicher viel erfahrener als sie. Was, wenn er sie jetzt berühren, sie streicheln würde? Als Leonardo ihr jetzt tatsächlich sanft durchs Haar fuhr, vergaß Laura vor Schreck zu schlucken, holte Luft und bekam einen entsetzlichen Hustenanfall.

„Diese Blüte hatten Sie im Haar“, sagte Leonardo und hielt ein rosa Blütenblatt hoch.

Als sie nicht zu husten aufhörte, klopfte er ihr auf den Rücken und fragte amüsiert: „Habe ich Sie so aus der Fassung gebracht?“

Himmel, dieser Mann raubte ihr den Verstand. Sie hatte bisher gerade mal einen Freund gehabt, für wenige Monate, in denen ihr klar wurde, dass dieser Schnösel gar nicht daran interessiert war, sie kennenzulernen oder ihr körperlich Freude zu bereiten. Leonardo jedoch brauchte sie bloß anzuschauen, um zu wissen, dass er genau wusste, wie man eine Frau verwöhnte … Woran dachte sie da nur? Sie hustete noch mal und stammelte: „Der Hals, ich bin noch etwas schlapp von der Umstellung aus dem kalten, grauen London hierher ins sonnige Venedig … und der ganze Stress vorher. Ich glaube, ich habe mir eine Erkältung eingefangen.“

„Tatsächlich?“, fragte Leonardo mit hochgezogenen Augenbrauen, und Laura spürte, dass er ihr kein Wort abnahm. Sie blickte zu Chiara hinüber, die sich gerade zu ihr umdrehte. Sie stand mit Francesco am Kanal und wartete.

„Ich muss Chiara mit dem Brautkleid helfen!“, rief sie und ließ Leonardo los. Doch er hielt sie erneut an der Hand fest.

„Sch…sch, nicht so heftig mit den jungen englischen Rehen. Ich muss zuerst in die Gondel steigen, weil ich sie lenken werde zur Ehre des Tages, danach Francesco, dann Chiara und dann Sie mit der Schleppe.“

„Ach, stimmt ja.“ Laura nickte und biss sich auf die Unterlippe. Das hatte Chiara ihr alles erklärt. Sie führte sich wie ein kleines Mädchen auf oder vielleicht doch wie ein scheues Reh, das bei der geringsten Aufregung nervös umhersprang.

Einer Eingebung folgend, drehte Laura sich um und sah, dass ein Großteil der geladenen Gäste die Kirche schon verlassen hatte und zu ihnen herüberblickte. Die Rothaarige konnte sie ebenfalls in der Menge ausmachen. Auch das noch!

Als Laura kurz darauf bei Chiara war, stammelte sie: „Verzeih, dass ich so langsam war.“

Chiara lachte. „Es ist alles gut, Laura. Es ist meine Hochzeit. Wir folgen hier keinem Hofzeremoniell.“

Laura lächelte. „Es fühlte sich ein bisschen so an.“

Chiara wandte sich an ihren Bruder, der gerade die Gondel bestieg, und rief ihm auf Italienisch zu: „Leo, hast du meine liebste Freundin so eingeschüchtert?“

Leonardo antwortete: „Du meinst diese kleine Elfe, die sich selbst beim Husten der Flöhe erschreckt?“

„Welche Flöhe?“, fragte Laura verdutzt auf Italienisch.

„Ah, Sie sprechen unsere Sprache!“, antwortete Leonardo.

„Habe ich ihr beigebracht.“

Leonardo blickte mit Schalk in den Augen zu Chiara hinüber. „Schwesterchen, bist du die begabte Lehrerin oder Laura die begabte Schülerin?“

Chiara lachte hell auf und rief: „Du kannst es einfach nicht lassen, oder? Bitte duzt euch, ihr beide und Francesco seid meine liebsten Menschen, da möchte ich kein förmliches Sie hören! Auf, auf, Bruderherz … Wir wollen noch vor den Gästen da sein.“

Laura, die gerade dabei war, beim Einstieg in die Gondel Chiaras Schleppe zu tragen, mied vorsichtshalber Leonardos Blick, um nicht erneut aus der Fassung zu geraten, und richtete ihre ganze Konzentration darauf, das Brautkleid richtig zu drapieren. Francesco unterstützte sie dabei.

Als alle Platz genommen hatten und Laura aufatmete, weil sie nicht ins Wasser gefallen war, sah sie, dass Francesco sacht Chiaras Hände an seine Lippen führte. Die beiden schienen nur Augen füreinander zu haben.

Hinter ihnen stand Leonardo aufrecht und lenkte die Gondel fachmännisch durch das Wasser. Die angespannten Beinmuskeln zeichneten sich deutlich unter seiner schmal geschnittenen Hose ab, die Sonne schien sein Gesicht zu streicheln, sein kinnlanges Haar hatte er hinter die Ohren geklemmt, damit der Wind sich nicht darin verfing. Unvermittelt blickte er Laura an.

Laura durchfuhr es heiß. Schnell senkte sie den Blick und drehte sich um, sodass sie in Fahrtrichtung saß und weder Leonardo noch das zärtlich verbundene Brautpaar im Blick hatte. Als sie am Markusplatz vorbeifuhren, der von der untergehenden Sonne in ein goldorangefarbenes Licht getaucht wurde, spürte sie, wie die Anspannung von ihr abfiel und sie zum ersten Mal die ganze Schönheit Venedigs wahrnahm. Die kühle Luft dieses Abends Mitte Februar zeichnete die Silhouetten der Palazzi weich, als wären sie von einem zarten Schleier umwoben. Umgeben von schaukelnden Wellen, hatte Laura das Gefühl, an einer märchenhaften Fata Morgana vorbeizuziehen. Befreit atmete sie die salzige Luft ein. Sie spürte zum ersten Mal, dass sie etwas fröstelte. Auch ein Februar in Venedig war ein Februar. Sobald die Kraft der Sonne nachließ, wurde es merklich kühler. Doch inmitten der Stille näherte sich ein lautes Plätschern gefolgt von Lachen und Rufen: „Avanti! Avanti!“

Laura drehte sich um. Eine weitere Gondel mit Hochzeitsgästen näherte sich. Ganz vorn saß die rothaarige Schöne, die lachend ihre Hand durchs Wasser gleiten ließ und versuchte, Leonardo nass zu spritzen, während sie weiter den Gondoliere anfeuerte.

„Ihr werdet uns noch überholen. Das bringt dem Brautpaar Unglück!“, rief Leonardo.

Doch die Rothaarige lachte auf. „Ach, so ein alter Aberglaube.“ Erneut feuerte sie den Gondoliere lautstark an. Der aber hob seinen Strohhut, verneigte sich leicht in Richtung Brautpaar und rief: „Viva gli sposi! Es lebe das Brautpaar!“, und hörte auf zu rudern.

Ein Schatten huschte über das ebenmäßige Gesicht der unbekannten Schönen. Mit einem kräftigen Schwung schaffte sie es, Leonardos Beine nass zu spritzen. Der aber zeigte keine Reaktion, sondern verneigte sich vor dem alten Gondoliere und lenkte da rauf die Gondel geschickt in einen kleinen Kanal, der zum Palazzo Contarini führte.

Chiara drehte sich lachend zu ihrem Bruder um. „Was ist denn in deine Verlobte gefahren?“

2. KAPITEL

Die rothaarige Schöne war Leonardos Verlobte? Laura spürte, wie ihr merklich kühler wurde und sich eine große Enttäuschung in ihr breitmachte. Diese Blicke vorhin hatten wohl nichts zu bedeuten gehabt. Sie drehte sich unauffällig zu Leonardo um, konnte sein Gesicht aber nicht erkennen, da es im Schatten der untergehenden Sonne lag. Er holte tief Luft, und der bittere Klang seiner Stimme sprach Bände, als er Chiara antwortete: „Elisabetta ist nicht mehr meine Verlobte. Wir haben uns getrennt.“

„Wie bitte? Wieso erfahre ich das erst jetzt?“, fragte Chiara.

„Ich habe die Verlobung erst gestern Abend gelöst, da hast du schon geschlafen, und heute vor der Hochzeit haben wir uns nicht mehr gesehen.“

„Als meine Cousine wird sie aber trotzdem am Tisch des Brautpaares sitzen“, warf Francesco ein.

„Aber selbstverständlich, wir sind doch alle erwachsen.“

Chiara lachte hell auf. „Das aus deinem Mund zu hören ist schon lustig. Obwohl ich dir schon immer sagte, dass sie nicht die Richtige für dich ist. Warum habt ihr euch überhaupt getrennt?“

Leonardo ruderte ruhig weiter. „Wir haben uns auseinandergelebt, seit sie in New York Mode studiert – und der Streit wegen des Brautkleides …“

„Kein Wort mehr, sie weiß nichts davon“, zischte Chiara auf Italienisch.

„Bin ich gemeint?“, fragte Laura verwirrt.

Chiara ging gar nicht auf sie ein, sondern sagte nur: „Wie auch immer, mal sehen, ob diese Trennung überhaupt Bestand hat.“

Leonardo sagte nichts weiter dazu. Er hatte seine Gründe, und heute war nicht der richtige Zeitpunkt, um sie alle offenzulegen. Vielleicht auch nie.

„Weiß unser Vater davon?“

„Ja, ich habe ihn gestern noch angetroffen. Er war enttäuscht.“

Chiara schlug die Augen nieder, aber dann lachte sie auf: „Nun, wir werden sehen, wie sich alles entwickelt. Heute feiern wir erst einmal Hochzeit.“

„Hoch lebe das Brautpaar!“, ertönte es aus der Gondel hinter ihnen. Das Paar winkte freudig zurück. Leonardo ließ das Ruder tief ins Wasser gleiten, während er an das gestrige Gespräch dachte. Seinen Vater, Carlos Contarini, hatte er am Abend wie üblich zu dieser späten Stunde lesend am Kamin angetroffen. Bei einem Digestif hatte Leonardo ihm gestanden, dass er Elisabetta nicht heiraten würde. Sein Vater, den er für den würdigsten, ehrenhaftesten, klügsten und großherzigsten Menschen hielt, nahm erst einen großen Schluck von seinem Grappa, bevor er antwortete, und Leonardo sah die Enttäuschung in seinen Augen, sah die Falten um seinen Mund, die tiefer schienen, das Haar, das nun schon gänzlich ergraut war. Er saß in seinem Kaminsessel wie ein altehrwürdiger Löwe. Einer der letzten Großen seiner Art, das war sein Vater für ihn.

„Mein Sohn, du weißt, ich hatte immer große Hoffnung in dich gesetzt.“

Da war es wieder. Das Familienerbe, die Firma, die alles bestimmte und die er mal leiten sollte, was er ja faktisch schon tat als Geschäftsführer, doch sein Vater würde ihm erst alles überlassen, wenn er die richtige Frau an seiner Seite hatte. In den Augen seines Vaters war Leonardo ein Heißsporn, zu unbeherrscht, zu witzig, zu jung, zu unreif. Und dass er nun die Verlobung gelöst hatte, machte alles nur noch schlimmer.

Sein Vater glaubte an die Kraft der Liebe, die Kraft einer Beziehung. Er hatte die Frau seines Lebens getroffen, Leonardos und Chiaras Mutter, die ihn mit Weitsicht und Kreativität unterstützt hatte, die der Firma Contarini den Glanz und großen Erfolg beschert hatte. Sein Vater war überzeugt davon, dass sein Lebensweg der einzig richtige war und ihn auch Leonardo so gehen müsste. Der Weg der Liebe, wie ihn sein Vater nannte. Seine Mutter fehlte Leonardo. Chiara und er waren noch klein gewesen, als sie starb. Er hätte sie oft gern um Rat gefragt – auch in der Liebe. Er hatte noch immer das Gefühl, nie so eine Frau geliebt zu haben, wie sein Vater seine Mutter geliebt hatte, und selbst nie so geliebt worden zu sein. Vielleicht war das einmalig gewesen. Leonardo war nicht sein Vater, und Elisabetta war nicht wie seine Mutter, das musste Leonardo bitter erfahren. Nie war er so enttäuscht worden.

Leonardo verlagerte etwas sein Gewicht beim Rudern, um ein Schwanken zu verhindern. Diese fein austarierte Bewegung erdete ihn. Er war der Herr der Lage.

Mit ihm und Elisabetta war es nie das Gleiche gewesen wie zwischen seinem Vater und seiner Mutter: Sie waren bereits verlobt, als sie noch Teenager waren. Mamma mia, was wussten sie damals schon vom Leben? Wenn überhaupt jemand seiner Mutter ähnelte, war es diese englische Freundin von Chiara, die so zart und elfenhaft wirkte und doch so hell leuchtete und ausdrucksstark war. Ihr fragender Ausdruck und ihre Schüchternheit, die ihm das Gefühl gaben, dass sie direkt einem Märchenreich entsprungen war, zogen ihn an.

Er fragte sich, wie sie reagieren würde, wenn er einfach ihr Gesicht in die Hände nahm und sie küsste. Würde sie schneller atmen, würde sie die Augen noch weiter aufreißen, würde sie vor Erregung zittern, würde ihr süßer Duft, den sie ausströmte und den er vorhin in der Kirche neben ihr so stark wahrgenommen hatte, noch stärker werden?

Er spürte, wie ihn die Leidenschaft überkam. Aber sofort verbot er sich diese Gedanken, er war wirklich ein Heißsporn, wie sein Vater sagte. Kaum war es mit der einen vorbei, schon dachte er darüber nach, wie es mit einer anderen laufen könnte. Er wollte nichts mehr mit Frauen zu tun haben. Sein Weg war nicht der Weg der Liebe, auch wenn er das lange mit Elisabetta geglaubt hatte und ihn selbst jetzt, wo nur kurz ihr Gesicht in seinen Gedanken aufblitzte, Wehmut überkam. Elisabetta war so etwas wie ein erster Jugendschwarm gewesen, aus dem eine Beziehung wurde, in der alle eine gelungene Kombination sahen. Er selbst auch. Nur Chiara hatte immer wieder Zweifel geäußert – aber die beiden hatten sich nie besonders gemocht. Deswegen hatte er diese Zweifel als nichtig abgetan. Aber nun … Er straffte sich. Sein Weg würde der Weg der Professionalität sein, das würde er seinem Vater beweisen. Laura, die mit dem Rücken zu ihm gewandt saß, wurde ihm zunehmend gleichgültig. Er sah hinaus in die Weite des Himmels. Er würde seinen Weg gehen, ganz allein, und irgendwann würde sein Vater das respektieren.

Laura glaubte, während der Fahrt Leonardos Blicke in ihrem Rücken zu spüren, und hörte noch immer seine Worte in ihrem Kopf nachrauschen: Sie hatten sich getrennt! Also war er frei. Doch seine Stimme klang so verbittert – ob Elisabetta ihn verlassen hatte? Dann war er nicht frei, sondern gefangen in seinem Liebeskummer. Aber wirkte er so? Er hatte vorhin mehrmals mit ihr gescherzt – oder, besser gesagt, sich auf ihre Kosten amüsiert.

Chiara hatte ihr mal erzählt, dass ihr Bruder den Schalk im Nacken habe. Vielleicht lenkte er sich auch so von seinem Liebeskummer ab.

Und der lange Blick in der Kirche?

Er wollte Elisabetta eifersüchtig machen! Das war es.

Vielleicht wusste er es selbst nicht einmal, aber so musste es sein. Hätte er tatsächlich mit ihr abgeschlossen, hätte er eben nicht so bitter geklungen.

Lauras Schmetterlinge im Bauch starben eines plötzlichen Todes. Sie fühlte sich ganz und gar ernüchtert. Übermorgen würde sie wie geplant im Flieger nach London sitzen. Mehr nicht.

Leonardo lenkte die Gondel in eine kleine Wasserstraße und legte vor dem Palazzo der Familie an. Das Gebäude hatte fein geschwungene Reliefarbeiten an der rötlichen Fassade und war von einer kleinen Mauer umgeben. Der Ausstieg gelang nun wesentlich leichter, weil Francesco auf den Steg sprang und seiner Braut und Laura die Hand reichte, während Leonardo die Gondel ausbalancierte. Laura betrat nach dem Brautpaar durch ein Tor den versteckten Garten, den sie noch gar nicht gesehen hatte, weil sie gestern am Abend den Vordereingang zur Straße genommen hatten. Sie folgte einem geschwungenen Weg zwischen gestutzten Rosen- und Oleandersträuchern an einem kleinen Teich mit Springbrunnen vorbei zur Terrasse. Im Sommer musste sie von wildem Wein umrankt sein, wie Laura an den zurückgeschnittenen Reben erkannte. Eigentlich war es schade, dass Chiara und Francesco bereits im Februar heirateten und nicht wie ursprünglich geplant Ende März. Der bezaubernde Garten wäre dann viel farbenfroher und die Luft vom Duft der ersten Frühlingsblumen erfüllt. Doch begann Francescos Auslandseinsatz als Diplomat schon in einigen Tagen – und so planten beide, ihre Hochzeit sogleich mit einem Abschied an ihre Familien und Freunde zu verbinden.

Als Laura durch die offenen Verandatüren den großen Saal betrat, raubte es ihr den Atem: So stellte sie sich den Tanzsaal von Cinderella vor mit seinen hohen bemalten Decken und einem weiten Marmorfußboden, der verschiedenfarbig gearbeitet war, den vielen goldumrandeten Spiegeln an den Wänden, in denen sich tausendfach die Kronleuchter und entzündeten Kerzen widerspiegelten.

Chiara lachte, als sie ihre beste Freundin andächtig im Saal stehen sah. „Du hast unseren Palazzo bisher nur von vorne betreten, da hast du den kleinen Garten und den großen Saal noch gar nicht gesehen. Aber ganz ehrlich: So toll ist der Saal gar nicht. Im Winter zieht’s hier ganz schön, er wird fast nie benutzt.“ Sie zeigte zum Ausgang. „Du wohnst übrigens ab heute in dem kleinen Zimmer über dem Saal, in dem ich gestern noch übernachtet habe. Du findest es, wenn du dich nach der Treppe rechts hältst. Von dort aus hast du einen zauberhaften Blick auf den Garten. Es war bis jetzt immer mein Zimmer, es ist schon alles für dich hergerichtet.“

Laura lief Chiaras Anweisungen folgend hinauf und genoss die geschmackvolle Innengestaltung des Hauses: Die weiße Marmortreppe war mit einem roten Teppich ausgelegt, der abgehende Flur war an den Wänden cremefarben gehalten, der Parkettboden mit Intarsienarbeiten ausgestattet.

Plötzlich kam ihr ihre eigene Londoner Wohnung im Vergleich dazu fast schäbig vor. Als sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, sah sie, dass jemand schon ihr Gepäck nach oben getragen hatte. Das Zimmer war schlicht eingerichtet, doch wirkte es mit dem dunkelbraunen Holzparkett, den weißen Wänden, die eine rosafarbene Bordüre zierte, dem großen Spiegel, neben dem eine Kleiderpuppe stand, dem antiken Holzschrank, dem Schreibtisch und dem Himmelbett, das mit weißer Spitze bezogen war, sehr charmant. In der Ecke stand eine antike Nähmaschine auf einem Tischchen. Laura lief zu ihr und ließ ihre Fingerspitzen über das verschnörkelte Metall gleiten und bemerkte entzückt, dass sie sogar noch funktionsfähig war.

Eine Tür führte zu einem angrenzenden Bad, das zwar klein, doch mit allem ausgestattet war. Ein gerahmtes Bild stand auf dem Nachttisch neben dem Himmelbett. Laura nahm es in die Hand, um es näher zu betrachten. Eine junge Frau war darauf zu sehen, sie hatte die gleichen Züge wie Chiara, doch war ihr Haar viel heller. Sie hielt strahlend ein kleines Mädchen im Arm. Laura kamen die Tränen. Schnell stellte sie das Bild wieder auf den Tisch. Die letzten Strahlen der Sonne warfen ein zartes Violett an die Wände. Sie atmete auf – ja, in diesem Zimmer fühlte sie sich wohl.

Sie lehnte sich aus dem Fenster, um den Garten im Dämmerlicht zu bewundern. Die eintreffenden Gäste liefen plaudernd und lachend den schmalen Weg hoch, der von einer kleinen Lichterkette erhellt wurde.

Als sie den roten Schopf Elisabettas in der Menge ausmachte, sah diese unwillkürlich zu ihr hoch. Wieder erschrak Laura über den Hass in ihren Augen, sobald sich ihre Blicke trafen, schnell zog sie sich zurück. Sie hatte sich nicht getäuscht, diese Frau hatte etwas gegen sie.

Laura schüttelte ihre Gänsehaut ab. Sie würde gerne Chiara fragen, ob es einen Grund für diese giftigen Blicke gab, aber Himmel: Chiara war der Star des Abends. Da wollte sie sie nicht mit so etwas behelligen. Sie, Laura, hatte nichts verbrochen und war Chiaras beste Freundin, sie würde jetzt wieder hinuntergehen und mit dem Brautpaar feiern. Von dieser Rothaarigen wollte sie sich dennoch fernhalten.

Nach einigen Gläsern Prosecco und einigen Cicheti, kleinen venezianischen Häppchen, die von dem Personal gereicht wurden, nahmen alle an den festlich gedeckten Tischen im Saal Platz. Laura saß am Tisch des Brautpaares neben einer älteren Dame, unverkennbar Francescos Mutter, von der Laura nur mit einem knappen Lächeln begrüßt wurde. Zu Lauras Überraschung redete Francescos Mutter eifrig mit der Rothaarigen, die ihr gegenübersaß. Auch das noch.

Am Tischende hatten Chiara und Francesco Platz genommen, die ihr beide zuwinkten, sich dann aber sofort wieder ins Gespräch vertieften. Ebenfalls am Tisch des Brautpaares saßen Francescos Vater, Elisabettas Eltern und der Vater von Chiara und Leonardo. Der Stuhl neben Elisabetta, direkt gegenüber von Laura, war noch frei. Als Leonardo auf den Platz zueilte, verkrampfte sich Laura.

Oh nein. Sie hatte es geahnt!

Leonardo zog den Stuhl zurück und setzte sich neben Elisabetta und damit ihr direkt gegenüber. Ihr Herz machte einen Satz. Dummes Herz!

Er nickte mit leicht erhobener Braue Elisabetta zu, dann Francescos Mutter und schließlich ihr selbst, während sich sein Mund amüsiert zu einem Lächeln verzog und sich seine braunen Augen verdunkelten. Wie machte er das bloß?

Sofort begannen die Schmetterlinge wieder in ihrem Magen zu fliegen, als wäre nichts gewesen. Laura spürte nicht nur, wie ihre Wangen rot wurden, sondern auch, wie sich Elisabettas Blick förmlich in sie zu krallen schien. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie sich ihre Nachbarin zu Elisabetta vorbeugte. Ihrem Tuscheln entnahm Laura nichts Gutes. Leonardo schien nichts davon zu merken, oder es amüsierte ihn. Er lächelte sie noch breiter an. Zum Glück begann nun Leonardos Vater mit einer Rede auf das Brautpaar, der einige weitere folgten, und bald darauf wurde sich zugeprostet und das Essen serviert.

Laura starrte konzentriert auf ihren Teller, um Leonardos Blick auszuweichen. Da Chiara damit beschäftigt war, von einem Tisch zum nächsten zu laufen und Freunde und Bekannte zu herzen, fühlte sich Laura einsamer denn je.

„Sie müssen unbedingt das Carpaccio kosten. Sie werden nie wieder so gutes bekommen. Die Venezianer haben’s schließlich erfunden“, unterbrach Lauras Nachbar ihre Grübeleien. „Gestatten Sie, Niccolo Burnelli, der Vater von Francesco.“

„Laura Marks“, antwortete sie verwirrt und doch erfreut, dass sie jemand aus ihrer Beklommenheit riss.

„Sie sind Chiaras Trauzeugin, nicht wahr?“

„In der Tat“, gab Laura lächelnd zurück.

„Dann sitze ich ja neben dem Skandalthema des Abends.“

Laura wich alle Farbe aus den Wangen. „Wie bitte?“

„Essen Sie, essen Sie, bald kommt der nächste formidable Gang. Ein Menü lebt davon, dass jede Speise neue Aromen entfaltet, bis schließlich das Dessert den vollkommenen Abschluss bildet. Ich habe das Menü selbst zusammengestellt.“

„Ich verstehe nicht“, stammelte Laura, aber probierte gehorsam das Carpaccio, das ganz vorzüglich schmeckte.

„Nun, als Chiara Sie bat, das Brautkleid zu entwerfen, wussten Sie sicher nicht, dass es schon ausgemachte Sache war, dass Elisabetta es anfertigt?“

Doch … Mit einem Mal erinnerte sich Laura an eine Szene, der sie damals keine große Bedeutung beigemessen hatte: Chiara hatte Monate vor der Abschlussprüfung Laura Skizzen eines Hochzeitskleides gezeigt. Laura hatte an dem Strich sofort erkannt, dass es sich nicht um Chiaras Handschrift handelte. Das Kleid sollte aus einer kostbaren Spitze angefertigt werden, die als Stoffmuster beilag. Es war bis zum Hals geschlossen gezeichnet, war aber durch die Spitze aufgelockert, der Rückenausschnitt war sehr weit und breit gehalten. Das Kleid lief von der Hüfte relativ eng herab.

Laura konnte gar nicht glauben, dass Chiara der Entwurf gefiel – und deswegen antwortete sie ihr ganz direkt: „Aber Chiara, du magst doch gar nichts, was deinen Hals einschließt. Selbst im Winter verzichtest du auf Schals. Der weite Rücken betont eher deine Hüften, genauso wie der enge Rock. Ich persönlich finde das Kleid für dich unvorteilhaft.“

Sie nahm auf Chiaras Bitten hin einen Stift und zeichnete spontan einen anderen Entwurf für sie: Chiara hatte ein besonders schönes Dekolleté mit üppigen Brüsten, das Laura mit einer Corsage betonte, der Stoff war plissiert und in Bahnen diagonal zulaufend, sodass die Taille zerbrechlich schmal wirkte. Da Chiara ein großes Muttermal auf einer ihrer Schultern hatte, das sie nicht mochte, wählte Laura Prinzessträger, die das Mal kaschierten und an denen die Schleppe befestigt wurde. Der Rock lief A-förmig auseinander und war durch einen Reif ausgestellt.

Chiara jubelte, als sie die Skizze sah: „Laura, das ist ein Traum! Ich habe nie wieder jemanden gefunden, der so ein Talent hat wie meine Mutter. Du musst mir mein Brautkleid schneidern und bitte auch dein Trauzeugenkleid. Wusstest du eigentlich schon, dass du meine Trauzeugin sein wirst?“

Unter Tränen umarmten sich die beiden. Keine Sekunde hatte Laura darüber nachgedacht, dass sie damals jemand anderen ausgestochen hatte.

„Es war mir damals nicht klar“, antwortete Laura wahrheitsgemäß.

„Nun, wie Sie vielleicht wissen, ist Elisabetta die Cousine von Francesco und damit meine Nichte. Ich kenne sie gut, dort drüben sitzt mein Bruder, der bei uns gleich um die Ecke wohnt. Wahrscheinlich hat Elisabetta einfach nicht Chiaras Geschmack getroffen. Sie macht eher das, was sie will, als darüber nachzudenken, was andere wollen.“

Lauras Wangen röteten sich, als würde sie etwas Unanständiges sagen, als sie Niccolo bestätigte: „Ja, die Skizzen gefielen Chiara nicht besonders.“

„Elisabetta behauptet, Sie hätten Chiara ihren Entwurf ausgeredet.“

„Was? Das ist nicht wahr. Sie kennt mich doch gar nicht, wie kann sie so etwas sagen?“, antwortete Laura. Doch tief in ihr regte sich dennoch ein leises Schuldgefühl. Sie hatte ja tatsächlich Elisabettas Entwurf als unvorteilhaft kritisiert. Aber konnte man ihr das vorwerfen?

„Ah, die Bigoli in Salsa!“, rief Niccolo Burnelli aus, als die Kellner sich mit dem nächsten Gang näherten. „Spaghetti aus Vollweizen in frisch zubereiteter Sardellensoße“, erklärte er breit lächelnd, „ein Traum!“

Laura war zwar schon satt, aber gehorsam probierte sie und fand es köstlich.

„Na ja, so ist meine Nichte eben“, führte er weiter aus, während er sich einen Spritzer der kräftigen Soße am Kinn abtupfte, „wer weiß schon, ob das stimmt oder nicht, dass Sie gegen sie gewettert haben. Jedenfalls stand Elisabettas Einstand als Hausdesignerin für Contarini auf dem Spiel. Es hat schon vorher ab und zu zwischen den beiden gerumpelt, aber das Kleid war wohl der letzte Auslöser dafür, dass gestern das endgültige Aus zwischen Elisabetta und meinem Sohn stattfand. Und wenn ich Leonardo so sehe, wie er sie hier am Tisch anstarrt, scheinen Sie eher etwas für ihn zu sein. Hübsch genug sind Sie ja, und als Designerin sind Sie top!“

Laura verschluckte sich so heftig, dass sich ihre Nachbarin linker Hand pikiert umsah, während Laura versuchte, ihre Serviette vor den Mund zu halten und die Tränen, die ihr in den Augenwinkeln standen, nicht herunterlaufen zu lassen. Sie nahm einen großen Schluck Wein. „Danke für das Kompliment“, stammelte Laura und schaute dankbar den Kellnern zu, die ein neues Gericht auftischten. Die Richtige für Leonardo sein … Ihre Schmetterlinge schlugen Salti.

„Ahhhhh, Fegato alle Veneziana: frische Kalbsleber in einem Sud aus Weißwein und Zwiebeln gebraten. Ein Gedicht. Ich hoffe, Sie sind keine Vegetarierin.“

„Ich komme aus England“, antwortete Laura.

Wieder lachte Niccolo laut auf. „Stimmt: Ham and Eggs, Fish and Chips … Der war gut, hahaha!“

Während Niccolo mit sichtlichem Genuss die Kalbsleber verspeiste, wandte er sich erneut Laura zu. „Ich kläre Sie zu den Hintergründen auf, meine Liebe. Sie haben sicher schon von Estella gehört?“

„Ja, Chiaras und Leonardos Mutter. Sie soll wunderschön gewesen sein.“

„Oh ja, sie leuchtete wie ein Stern am Himmel. Aber nicht nur das, sie war außerdem Chefdesignerin des Familienunternehmens. Contarini hatte sich mit Dekostoffen einen Namen gemacht. Estella erweiterte die Linie um Brautkleider, sie waren ihre Passion.“

Laura nickte, das wusste sie bereits aus Chiaras Erzählungen.

„Sie starb bei einem Autounfall. Natürlich nicht hier in Venedig, sondern auf dem Weg nach Rom zu einer Messe. Sie hasste Autos. Sie war noch so jung. Es war sehr tragisch.“ Laura nickte, als Niccolo eine Pause einlegte, um ihn zum Weiterreden zu animieren.

„Jedenfalls beschloss Carlos damals, niemanden an ihrer Stelle einzustellen und die Brautlinie vorerst aufzugeben.“ Niccolo hielt inne und nahm noch einen Schluck Rotwein. „Seine Kinder wurden größer, und Chiara entwickelte ein starkes Interesse an Mode. Carlos plante, die Brautmodenlinie wieder aufleben zu lassen. Chiara begann, in London Modedesign zu studieren, Elisabetta in New York, das sie weitaus spannender fand als London – außerdem ist es ein offenes Geheimnis, dass die beiden sich nie besonders mochten. Als Chiara bekannt gab, dass sie doch nicht für Contarini als Modedesignerin arbeiten, sondern lieber Francesco als Diplomatengattin in fremde Länder begleiten würde, löste das einen kleinen Skandal aus. Carlos sagte dann indirekt Elisabetta als zukünftiges Familienmitglied diese Stellung zu. Mit dem Hochzeitskleid sollte ihr Einstand gefeiert und die neue Linie eröffnet werden. Dass Chiara dich beauftragte, hat einen fetten Strich durch Carlos’ und auch Elisabettas Rechnung gemacht. Seitdem behauptet Elisabetta, du hättest sie bewusst ausgespielt, um selbst Designerin des Unternehmens zu werden.“

„Ich?“, fragte Laura überrascht.

„Das Zeug dazu hättest du, das Kleid ist ein Traum“, sagte Niccolo, „das haben jedenfalls alle hinter vorgehaltener Hand behauptet. Aber du hättest ja keine Chance – und Elisabetta ebenso wenig nach dem neuesten Stand der Beziehungsverhältnisse, obwohl …“

Laura blickte ihn verständnislos an. Niccolo leckte sich genüsslich die Lippen, bevor er eine Fiori di Zucca, eine überbackende Kürbisblüte, probierte, und deutete augenzwinkernd zu Chiaras Vater hinüber. „Carlos möchte unbedingt, dass Contarini ein Familienunternehmen bleibt und alle wichtigen Stellen von Familienmitgliedern besetzt werden – auch die der Designerin. Elisabetta ist durch die Heirat von Chiara und Francesco die angeheiratete Cousine, vielleicht lässt sich Carlos darauf ein – oder aber Leonardo heiratet eine Designerin mit einem Talent für Brautmoden, nämlich dich.“

Ein heißkalter Schreck durchfuhr Laura, der ein süßes Ziehen in ihrer Magengrube hinterließ.

„Das ist mir alles zu kompliziert“, sagte sie matt. Sie hatte gedacht, sie wäre lediglich auf der Hochzeit ihrer besten Freundin eingeladen, aber dass es um ihren Entwurf so einen Skandal gegeben hatte, wäre ihr im Traum nicht eingefallen. Sie sah sich nach Chiara um, die weiter mit Freunden plauderte. Wieso hatte Chiara ihr das alles verschwiegen? Sie konnte ihr doch sonst in allen Belangen vertrauen.

Aber kannte sie Chiara wirklich, oder kannte sie nur den Teil von ihr, den sie ihr in London gezeigt hatte, und hier in Venedig galten andere Regeln?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, prostete Niccolo ihr zu. „Willkommen in Venedig: Hier trägt Sie kein Boden der Tatsachen, alles ist doppeldeutig, voller Spiegelungen, voller Irrungen und Wirrungen. Was glauben Sie, warum wir Venezianer das Maskenspiel so lieben und den Karneval zelebrieren?!“

Laura kostete ihre gezuckerte Kürbisblüte. Sie zerging auf der Zunge, aber ihr war der Appetit nun restlos vergangen. Sie war gekommen, um ihrer besten Freundin bei der Hochzeit zu helfen, hatte die letzten Monate alles in Bewegung gesetzt, um ein Brautkleid zu kreieren und zusätzlich all die anderen Outfits … Und nun war sie Teil eines Skandals. Leute, die sie noch nie gesehen hatte, machten sie sogar dafür verantwortlich – allen voran eine schöne Rothaarige mit tückischen Augen. Und ein alter Herr machte ihr Komplimente. Doch nicht nur das.

Plötzlich spürte sie, wie Leonardo ihr sachte gegen das Schienbein trat.

Was sollte das? Sie schaute auf und sah direkt in sein grinsendes Gesicht. Ärgerlich trat sie zurück. Gut, dass sie Stilettos trug. Das hatte er davon.

Leonardo blickte sie erst ungläubig, dann schmerzerfüllt an, riss sich die Serviette von seinem Hemd, stand auf, lief um den Tisch herum direkt auf sie zu.

Oh weh, jetzt hatte sie es übertrieben. Würde er sie nun auffordern, umgehend das Fest zu verlassen? Er baute sich vor ihr auf, sein Lächeln wirkte etwas gequält. Er verbeugte sich kurz und streckte ihr dann seine Hand entgegen. Als sie immer noch nicht reagierte, zischte er: „Kommst du endlich zum Hochzeitstanz? Das Brautpaar tanzt bereits, wir sind jetzt dran, damit die anderen auch anfangen können.“

Laura spürte, wie sich ihre Wangen rot färbten. Natürlich! Die Eröffnung zum Tanz. Das war ihre letzte Pflicht als Trauzeugin. Wie konnte sie das nur vergessen? Sie musste ausgesprochen dumm wirken.

Sie ließ sich von ihm zur Tanzfläche führen. Wieder spürte sie, wie sie nervös wurde, als sich so viele Augenpaare auf sie richteten, doch Leonardo drückte leicht ihre Hand. Eine warme Welle durchströmte Lauras Körper. Seine Hand fühlte sich fest und warm an, beschützend. Unwillkürlich musste sie lächeln. Wenn das hier ihre Hochzeit wäre, ihr Brauttanz …

Als er begann, sie zu führen, genoss sie seine gleitenden Bewegungen, den sanften Druck seiner Hand auf ihrem Rücken, die Stärke seines Arms, wie er sie hielt. Sie fügte sich ganz und gar ein, als wäre sie ein Teil von ihm.

„Du trittst nicht nur gut, du tanzt auch ausgezeichnet“, raunte ihr Leonardo ins Ohr, ohne sie dabei anzusehen.

„Entschuldige den Tritt, ich war gerade in Gedanken woanders …“

„Bei deinem Karatekurs?“

„Nein.“ Laura lachte auf. „Francescos Vater hat mich gerade darüber aufgeklärt, dass ich das Skandalthema des Abends bin, weil ich das Kleid von Chiara designt habe und nicht deine … ähhh …“ Laura kam das Wort einfach nicht über die Lippen.

„Exverlobte!“, beendete Leonardo bitter den Satz. Seine ganzen Bewegungen wurden härter. Laura bemühte sich, gleichmäßig Schritt zu halten. Leonardos Muskeln entspannten sich wieder.

„Noch mal von vorn: Du tanzt gut.“

Laura biss sich auf die Unterlippe, als hätte sie eine unpassende Bemerkung gemacht.

„Meine Mutter war Tänzerin. Sie hat es mir als Kind beigebracht.“

„Du hast zweifellos ihr Talent geerbt.“

Chiara spürte, wie erneut ihre Wangen erröteten. „Danke, du führst gut.“

Leonardo lachte nun seinerseits, ein warmes, tiefes Lachen, das Laura erschauern ließ. Oh Gott, so weit war es schon mit ihr gekommen.

„Das ist das, was ich den ganzen Tag tue: den Laden führen. Da schaffe ich es auch, eine englische Elfe übers Parkett schweben zu lassen, zum Beispiel so.“ Bei der nächsten Drehung hob er sie an den Hüften hoch und setzte sie nach einer halben Drehung behutsam ab. Laura entfuhr ein Kiekser der Überraschung, aber dann lachte sie erleichtert auf. Sie hörte ein Tuscheln um sich herum. Auch Leonardo schien es mitzubekommen und lächelte Laura angriffslustig an, während er sie weiterhin schwungvoll führte. „Du bist also das Skandalthema des Abends, schade, ich dachte, die Trennung von mir und Elisabetta wären auf Platz eins.“

„Ich habe mir das nicht ausgesucht“, sagte Laura und senkte den Blick.

„Nun, du bist entweder sehr gerissen und hast meine Schwester um den Finger gewickelt, oder du bist wirklich einem Elfenreich entflohen und in Gedanken immer noch dort. Das würde deine Aussetzer erklären.“

„Aussetzer?“, fragte Laura empört. Gut, sie war manchmal verträumt, aber … Sie kam nicht dazu, weiterzudenken, denn mit einem Mal hob Leonardo sie wieder hoch, wirbelte sie herum und ließ sie seitlich hinabgleiten, sodass sie formvollendet in seinen Armen lag. Gut, dass sie instinktiv auf seine Signale reagierte und jede seiner Bewegungen sofort umsetzte, sodass es wirkte, als ob sie diese Drehung mit Ausfall schon jahrelang geprobt hätten. Er beugte sein Gesicht ganz nah zu ihrem, während er sie sicher hielt. Seine langen Haare fielen seitlich herab, verbargen sie wie ein Vorhang vor dem Publikum und schenkten ihnen einen Moment der Zweisamkeit. Unverwandt sah er in ihre Augen. Laura spürte, wie sich ein süßer Blitz in ihrem Inneren ausbreitete und sich dort wohlig warm entfaltete. Sie roch den Duft seines erhitzten Körpers, intensiv, würzig, süß. Ihre Lippen öffneten sich wie von selbst, sie konnte nicht anders, als auf seinen sinnlichen Mund zu starren. Als das süße Ziehen in ihr fast unerträglich wurde, sagte sie, um irgendetwas zu sagen: „Die Leute könnten jetzt denken, dass wir uns küssen.“

„Sollen sie doch! Dann haben sie noch einen scandalo mehr, über den es sich zu tratschen lohnt.“ Seine Lippen näherten sich ihren, und er flüsterte leise: „Du duftest gut, ganz zart und fein wie ein Maiglöckchen. Und du bist gut, zu gut für mich. Ich glaube nicht an die Unschuld schöner Frauen. Du kriegst mich nicht rum mit dieser Elfenmasche.“

Er hob sie hoch und ließ sie in einer Pirouette ausdrehen – und da gerade der Tusch einsetzte, der das Stück beendete, drehte er sie wieder zu sich heran, riss ihren linken Arm in die Höhe und verbeugte sich vor dem Publikum. Sie verbeugte sich mit. Die umstehenden Hochzeitsgäste lachten auf und applaudierten. Er ließ ihre Hand umgehend los, als hätte er sich verbrannt, und schritt davon. Sie stand völlig verdutzt da. Chiara winkte fröhlich herüber und hielt ihr den hochgestreckten Daumen entgegen, als hätten sie gerade einen Tanzwettbewerb gewonnen. Was war das hier bitte?

Laura kam jedoch nicht dazu, weiter nachzudenken, da just in dem Moment Chiaras Vater das Wort ergriff: „Liebe Hochzeitsgäste! Bevor wir nun alle anfangen zu tanzen, möchte ich Ihnen noch eine kleine Überraschung bekannt geben. Übermorgen Abend laden wir Sie anlässlich des Karnevals in Venedig zu einem Maskenball ein, den wir als Überraschung zum Abschied für Chiara und Francesco arrangiert haben. Das Thema des Abends sind Vögel, so wie die Zugvögel, die es dorthin führt, wohin der Wind sie trägt. Wir freuen uns auf eine einfallsreiche Maskerade.“

Chiara jauchzte auf und umarmte Francesco. Sie liebte Maskenbälle, das wusste Laura, und der Hochadel Venedigs wohl ebenso: Der ganze Saal applaudierte lautstark.

Die Musik setzte wieder ein, die Paare formierten sich. Laura blickte sich suchend nach Leonardo um, der in Richtung Terrasse verschwunden war. Am Ausgang zur Terrasse stand er mit Elisabetta und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Elisabetta schien zu weinen.

Laura fühlte sich wie zu einer Salzsäule erstarrt. Sie war in einem seltsamen Albtraum gefangen, das musste es sein. Als sie von einem Paar auf der Tanzfläche versehentlich angerempelt wurde, erwachte sie wieder zum Leben. Sie verließ mit schnellen Schritten den Saal, lief die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer und warf sich dort aufs Bett. Die Klänge der Musik und der Stimmen hörte sie zwar noch, aber sie erreichten sie kaum. Zu viele Fragen schwirrten ihr durch den Kopf. Erschöpft schloss sie die Augen, und gerade übermannte sie eine schwere Müdigkeit, als es an der Tür klopfte und eine Stimme rief: „Ich bitte dich, Laura, lass mich rein!“

3. KAPITEL

Laura seufzte. Sie erhob sich widerwillig und drehte den Schlüssel im Schloss.

„Laura, was ist los? Warum stürmst du einfach auf dein Zimmer?“ Chiaras Augen schienen tiefschwarz und kugelrund. Laura wusste, dass dies Chiaras sorgenvollster Blick war und musste unwillkürlich lächeln, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. Sie ließ ihre Freundin herein, die sich schwungvoll mit ihrem breiten Reifrock auf das Himmelbett setzte, während Laura auf dem elegant geschwungenen Stuhl am kleinen Sekretär Platz nahm, sich ihre Stola umwickelte und ruhig antwortete: „Was hier los ist, sollte ich eher dich fragen! Ich wurde schon als das ‚Skandalthema des Tages‘ bezeichnet, und man hat mir schon mehrmals unterstellt, dass ich dich so lange manipuliert häte, bis du mir den Auftrag für das Brautkleid gegeben hast. Und dass ich Elisabetta ausgestochen hätte, um selbst den Thron zu besteigen und hier Chefdesignerin zu werden – und dazu noch Leonardos Ehefrau.“

Chiara starrte sie erst ungläubig an und lachte dann lauthals. „Das ist köstlich, eine sehr gute Idee! Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen?“

„Worauf?“, fragte Laura verdutzt.

„Darauf, dass du Leonardo heiratest und hier einsteigst.“

Laura spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.

Chiara feixte. „Du wirst ja ganz rot.“

Laura antwortete eine Spur zu barsch: „Ich werde immer rot bei solchen Themen, das weißt du.“

Chiara ließ wieder ihr gurgelndes Lachen hören. „Ach, ist dir Leonardo unangenehm?“

„Nein!“, erwiderte Laura ehrlich erschrocken. „So sollte das nun auch wieder nicht wirken.“

„Habe ich da gerade meinen Namen gehört?“ Unvermittelt steckte Leonardo seinen Kopf durch die Tür. Er blickte wieder wesentlich freundlicher drein, und Laura wünschte sich, sie könnte sein seltsames Benehmen beim Tanz vorhin vergessen. Vielleicht stand er nur unter Stress?

„Ja, Bruderherz“, antwortete Chiara, die immer noch sichtlich belustigt weiterkicherte, offenbar hatte sie schon etwas zu viel getrunken. „Laura brachte mich gerade auf die Idee, dass du sie doch heiraten könntest und sie Chefdesignerin von Contarini wird. Ich habe bis jetzt nur Komplimente für das Kleid bekommen. Und die Redakteurin von der Vogue Italia wollte vorhin wissen, ob das Kleid der Auftakt für die neue Brautlinie sei.“

Laura beobachtete, wie sich Leonardos Miene verfinsterte und er sie mit einem kalten Blick streifte. Na toll, jetzt ist für ihn klar, dass ich eine karrierebesessene Taktikerin bin. Vielen Dank auch, Chiara!

„Ich hab’s dir doch gesagt“, erklang da eine schrille Stimme im Hintergrund. Leonardo öffnete die Tür noch ein Stück weiter. Neben ihm erschien Elisabetta mit einem Skizzenblock in der Hand. Chiara schaute noch immer belustigt drein, als würde sie einer famosen Commedia dell’Arte beiwohnen. „Oh, ciao Elisabetta! Da ist das Chaos ja perfekt. Kommt ihr etwa, um Laura zu dem Kleid zu gratulieren?“

Elisabettas Augen verengten sich zu Schlitzen. Leonardos Gesicht glich hingegen einer Maske: undurchdringlich, schön, perfekt, unnachgiebig und eiskalt. Laura spürte, wie ihr erneut das Blut in die Wagen schoss. Na toll, jetzt schämte sie sich für etwas, das sie gar nicht geplant oder im Sinn hatte. Doch schon allein der Gedanke daran, dass die anderen denken könnten, sie wäre fähig, so zu handeln, gab ihr das Gefühl, schuldig im Sinne der Anklage zu sein. Mit seiner ernsten dunklen Stimme wandte er sich an Chiara, ohne Laura auch nur anzublicken. „Du bist zu weit gegangen.“

Chiara hörte auf zu lachen und antwortete bestimmt: „Nein, Bruderherz, um das mal klarzustellen: Ich bin nicht zu weit gegangen, aber andere, die meiner besten Freundin unterstellen, dass sie mich ausnutzt, um hier eine Stelle zu ergattern, die sind zu weit gegangen. Und überhaupt: Wer auch immer sie heiraten wird, wird der glücklichste Mensch sein, denn eins ist Laura ganz und gar nicht: intrigant.“

Bevor Leonardo etwas sagen konnte, wandte sich Chiara direkt an Elisabetta. „Dein Entwurf hat mir nicht gefallen, er war für meine Figur unvorteilhaft geschnitten. Ich bat Laura um einen Entwurf und habe mich für ihren entschieden – das war’s, capisci?“ Chiara starrte die beiden an. Als keine Reaktion kam, fragte sie schließlich genervt: „So, und nun … Was wollt ihr hier?“

Elisabetta trat unvermittelt einen Schritt auf Laura zu, streckte ihr die Hand entgegen und sagte lächelnd: „Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Offensichtlich hatten hier viele einen falschen Eindruck von deiner Mitarbeit. Das Brautkleid ist sehr gelungen.“ Laura lächelte erleichtert: Endlich wurde ihr etwas Sympathie entgegengebracht. Anscheinend hatte sie sich in Elisabetta getäuscht. „Vielen Dank, Elisabetta. Es war nie meine Absicht, jemandem Schaden zuzufügen, ich wollte Chiara eine Freude machen.“

Leonardo lächelte Elisabetta warm an. „Du warst schon immer einsichtig – wie schön, dann können wir uns ja den konstruktiven Dingen zuwenden.“

Chiara, die stirnrunzelnd die Arme verschränkt hielt, hakte nach: „Welche konstruktiven Dinge?“

Elisabetta lachte hell auf, als hätte Chiara einen köstlichen Scherz gemacht. „Na, der Karnevalsball dir und Francesco zu Ehren. Darf ich?“

Sie bahnte sich einen Weg an Chiara und Laura vorbei zu dem Sekretär, öffnete den Zeichenblock und ordnete einige Skizzen nebeneinander an. „Ich habe einige Kostümvorschläge für den Ball.“

Chiara trat heran und begutachtete sie. „Die hast du gerade eben erstellt?“ Auch Laura stutzte: Die Skizzen waren detailreich mit farbigen Stiften ausgeführt – die Ansprache von Chiaras Vater war höchstens zwanzig Minuten her, das erledigte man nicht so schnell nebenbei.

Elisabetta lächelte wieder und hielt den Kopf gesenkt. „Dein Vater hatte mich schon in seinen Plan eingeweiht. Genauer gesagt habe ich ihn eigentlich auf die Idee gebracht, denn ich weiß ja, wie sehr du den venezianischen Karneval liebst.“

„Oh, vielen Dank, Elisabetta“, antwortete Chiara mit einem freundlichen Lächeln und prüfendem Blick, wie es Laura vorkam. „Und du hast dir auch gleich schon Gedanken zu den Kostümen gemacht? Wie überaus hilfsbereit von dir.“

„Ja, auch dein Vater fand, dass das eigentlich eine schöne Wiedergutmachung wäre, da Laura mir ja den Auftrag abgeluchst hatte.“

„Wie bitte?“ Chiara runzelte die Stirn. „Ich dachte, das hätten wir geklärt.“

„Ach, das war jetzt nur ein Scherz.“

Chiara begutachtete die Skizzen, Laura warf ebenfalls einen Blick darauf. Sie waren nicht ganz ohne Pfiff, aber auch nicht schmeichelhaft: Chiara sollte einen Vogel Strauß darstellen, Francesco einen Falken, Leonardo einen Phönix.

Chiara lächelte Elisabetta an. „Da bleibst du dir wieder selbst treu, Elisabetta. Ich sehe da ganz deine Linie.“ Elisabetta lächelte offensichtlich geschmeichelt. „Aber ich muss dir leider absagen. Bevor ihr hereinkamt, beschrieb mir Laura ein Kostüm, das sie für mich entwerfen will und das mich restlos überzeugt hat.“

Elisabettas Augen weiteten sich. „Was?!“

Auch Laura hätte am liebsten nachgefragt, was das sollte, hielt aber ihren Mund, um Chiara nicht bloßzustellen.

Leonardo schaute verärgert. „Es sind viele Geschäftsfreunde vor Ort, die auch mit Francescos Familie eng befreundet sind. Es wäre ein Zeichen von Diplomatie, Elisabetta das Karnevalskostüm anfertigen zu lassen.“

„Ich soll mich als Vogel Strauß lächerlich machen? Nein, danke.“

„Aber ich dachte, wegen deiner Hüften“, fuhr Elisabetta fort.

„Nein. Danke!“, gab Chiara in schneidendem Ton zurück, „und jetzt entschuldigt uns. Laura und ich haben noch viel zu besprechen.“

Die beiden schickten sich an zu gehen. Laura lächelte Elisabetta entschuldigend an, aber ihr blitzte nur blanker Hass entgegen.

Leonardo war schon halb aus der Tür, als Chiara ihn noch einmal ins Zimmer zog und ihm zuflüsterte: „Ach, Bruderherz, sei so nett und kümmere dich darum, dass Laura morgen jemand zur Seite gestellt wird, der sie bei den Einkäufen für die Kostüme unterstützt. Sie hat ja nur zwei Tage Zeit und kennt sich in Venedig nicht aus. Und lass ihren Flug umbuchen. Ich selbst habe noch genug um die Ohren wegen Francescos und meiner Abreise.“

Leonardo antwortete mit starrer Miene: „Aber sicher, Schwesterherz! Morgen früh um neun Uhr wird dich jemand mit einer Gondel abholen, Laura.“ Laura nickte lächelnd, aber sie war sich nicht sicher, ob er das überhaupt noch wahrgenommen hatte, so schnell war er wieder weg. Sie musste es sich eingestehen: Sie beide trennten Welten, denn er hatte ein völlig falsches Bild von ihr – und sie sah keine Möglichkeit, das zu ändern.

Chiara sah Laura ernst an. „Bitte, du musst mir helfen, Laura. Es tut mir leid, dass du in unsere Familienquerelen hineingezogen wirst. Aber Elisabetta ist eine falsche Schlange. Mein Vater hat sich sicher schon breitschlagen lassen und ihr die Stelle als Designerin versprochen, wenn sie ein überzeugendes Kostüm für mich anfertigt.“

Laura zögerte. Sie hasste Auseinandersetzungen und Konfrontationen. Aber Chiara hatte in den letzten Jahren so viel Licht und Freude in ihr Leben gebracht. Durch Chiara hatte sie sich der Welt geöffnet. Zeitweilig hatte Laura sogar mal einen Freund, mit dem es zwar nie über eine wilde Knutscherei hinausging, aber immerhin war sie etwas ins Leben eingetaucht. Und das war dank Chiara passiert. Sie war ihr etwas schuldig.

„Du siehst doch selbst, dass Elisabetta nicht das Zeug zu einer Designerin von Braut- und Abendroben hat. Mit dem ganzen Bling-Bling-Strass ist sie im Show-Geschäft besser aufgehoben, bei der Firma Contarini hat sie nichts verloren.“

Laura nickte, sie kannte die alten Skizzen von Chiaras Mutter, sie waren zeitlos schön und erstklassig. Elisabettas Stil entsprach nicht der Marke Contarini, zumindest nicht, was Brautkleider betraf. Das würde ihre Freundin mehr als alles andere schmerzen. Und ihr fiel ganz sicher etwas ein, das Chiaras Wesen eher entsprechen würde als ein Auftritt als Vogel Strauß.

Laura seufzte. „Gut, ich mach es.“

Chiara umarmte sie strahlend und wollte sie wieder mit nach unten nehmen in den Saal, aber Laura winkte ab, sie musste sich Gedanken machen, wie sie ein kleines Wunder vollbringen würde. Zwei Kostüme in zwei Tagen! Fast unmittelbar darauf schlief sie ein.

Am nächsten Morgen erschien Laura um halb neun zum Frühstück, um mit einem Kaffee die Müdigkeit zu vertreiben. Sie hätte gern noch etwas länger geschlafen nach der Hochzeit, zumal Sonntag war. Aber in Venedig hatten die Läden wohl auch dann geöffnet, oder sie wurden für das Haus Contarini geöffnet, wer wusste das schon. Nach Leonardos schneidendem Ton war ihr auch nicht die Idee gekommen, zumindest ein Stündchen mehr Schlaf einzufordern. Außerdem wartete ja tatsächlich eine Menge Arbeit auf sie. Laura seufzte, als sie auf die Anrichte zusteuerte, wo die Kaffeemaschine stand. Sie nahm sich eine Tasse und stutzte, denn die Maschine kam offensichtlich ohne Knöpfe aus. Vielleicht reagierte dieses elegante Exemplar auf Sprache? „Ein Cappuccino“, sagte sie. Nichts. Sie versuchte es auf Italienisch. „Un Cappuccino.“

„Die Maschine reagiert nur auf Gebärdensprache.“

Laura drehte sich erschrocken um. Sie hatte Leonardo gar nicht bemerkt, als sie den Salon betreten hatte. Lässig lehnte er an dem reichlich gedeckten Frühstücksbuffet, das schräg seitlich von der Eingangstür aufgebaut war, und rührte in seiner Kaffeetasse. Er trug Jeans und einen kuscheligen Pullover aus Kaschmir in Grau, seine Haare wirkten noch lockiger als tags zuvor. In seinem Gesicht zeichnete sich ein Bartschatten ab. Auch er wirkte müde – wahrscheinlich war er noch länger auf der Hochzeit gewesen, aber trotzdem sah er so aus, als posierte er gerade für ein Modemagazin. Sie sah, wie seine Augen an ihrem Outfit herabglitten. Sie trug einen rosafarbenen Poncho über einem Strickmini und schenkelhohe Overknees in der gleichen Farbe, dazu Stiefeletten in Creme. Mit Blick auf ihren Mini fragte er sie: „Ist das nicht etwas zu kühl im Februar?“

Laura errötete. Ihr Outfit war zwar eng anliegend, doch herrlich bequem, auf Hosen hatte sie heute einfach keine Lust. In London war sie im Herbst fast täglich so zur Schule gegangen.

„Ich hatte damit gerechnet, dass es wärmer ist in Venedig, außerdem ist alles aus Wolle, es wird warm genug sein.“

Ohne zu antworten, stellte Leonardo seine Kaffeetasse ab und kam auf sie zu. Erst direkt vor ihr blieb er stehen und blickte sie an. Normalerweise würde Laura die ungewohnte Nähe als unangenehm empfinden, doch nicht so bei ihm. Ihr wurde heiß. In seiner Nähe schien sie zu vibrieren. Er war nur Zentimeter von ihr entfernt. Sie hätte ihr Gesicht an seinen Pulli schmiegen und spüren können, wie seine Hände mit den schmalen Fingern über ihren Rücken wanderten, und …

„Und?“, fragte Leonardo, während er sie forschend betrachtete.

„Und?“, fragte Laura verwirrt zurück. Er konnte doch nicht etwa Gedanken lesen? Das war unmöglich!

„Soll ich dir nun die Sprache der Kaffeemaschine beibringen oder nicht?“

„Ähhh ja, gern“, stammelte sie, wollte einen Schritt zur Seite gehen, stolperte dabei über Leonardos Fuß, wurde aufgefangen und fand sich plötzlich in seinen Armen wieder.

Leonardo lächelte belustigt. „Ich habe noch nie jemanden erlebt, der so gut tanzen kann und gleichzeitig so ungeschickt ist.“

„Ich auch nicht“, antwortete Laura resigniert.

Leonardo lachte, als hätte sie einen Witz gemacht. Er hielt sie einen Moment zu lange im Arm, seine Augen suchten forschend in ihren Augen, wanderten dann zu ihren Lippen.

Laura spürte seinen Blick wie eine Berührung, ein süßer Blitz durchfuhr sie, wie von selbst öffneten sie die Lippen. Abrupt drehte er sie um, stellte sich direkt hinter sie und bewegte ihre Arme wie ein Puppenspieler seine Marionette, sodass sie mit seiner Hilfe die Maschine selbst bediente.

„Also, hier seitlich auf das Quadrat drücken, dann fährt der Hebel aus, ihn einmal hochziehen, die Kaffeetasse darunterstellen …“

Laura bewegte ihre Arme mit, konnte aber keinem der Schritte konzentriert folgen. Sie spürte nur den warmen Atem Leonardos in ihrem Nacken, lauschte seiner sanften Stimme, genoss die Wärme seines Oberkörpers an ihrem Rücken und die leichte Berührung seiner Hose an ihren Oberschenkeln.

Sie bewegte sich wie in Trance, obwohl sie sich gleichzeitig hellwach fühlte. Alles schien deutlicher, ihre Sinne geschärft. Sie hörte ihn, spürte ihn, roch ihn. In ihrem ganzen Körper kribbelte es.

Mit einem knappen „Und fertig, das war’s“ entfernte sich Leonardo ein Stück von ihr. Das Kribbeln legte sich augenblicklich. Laura fühlte sich ernüchtert. Zumindest stand da nun ein herrlicher Cappuccino vor ihr, den sie gleich in beide Hände nahm.

„In fünfzehn Minuten wartet Gobbo am Steg in der Gondel auf dich. Er ist ein langjähriger Angestellter von mir und kennt sich bestens in Venedig aus. Er hat eine Vollmacht für unsere Firmenkreditkarte. Unsere Geschäftspartner sind informiert und haben für dich geöffnet. Die Kosten spielen keine Rolle. Ach so, und wundere dich nicht über ihn.“ Ohne ein weiteres Grußwort stürmte Leonardo hinaus. Auch die heiße aufputschende Wirkung des Cappuccinos konnte nicht verhindern, dass sich Laura gleichzeitig leicht und leer, erfüllt und einsam fühlte.

Wie am Morgen zuvor schien der Himmel in einem melancholischen Grau, als Laura auf dem Steg vor dem Palazzo auf die Gondel wartete. Nebelschwaden rollten über das Wasser. Erst Chiaras Ja, ich will hatte gestern den Himmel aufreißen lassen. War das wirklich erst gestern passiert? Während jedoch Londons grauer Himmel Laura stets missmutig stimmte, wirkte Venedigs verschleiertes Grau auf sie geheimnisvoll und verlockend.

Wohin führte der Kanal, der in Nebelschwaden versank, die zu leben schienen? Gestalten huschten vorbei, und es kam jemand auf sie zu. Eine Kreatur in einem Umhang mit einem Buckel schien ihr entgegenzuschweben, nein, zu rudern, aber das konnte doch nicht wahr sein, das Bild verschwand nicht, sondern wurde immer schärfer. Da steuerte tatsächlich jemand in der Gondel auf sie zu, gebeugt in einem langen Umhang. Statt in ein Gesicht unter der Kapuze sah sie in ein schwarzes Loch. Laura schauderte, Gänsehaut breitete sich an ihrem ganzen Körper aus. Sie wandte sich zur Tür, um den Palazzo wieder zu betreten und der unheimlichen Erscheinung zu entkommen, als diese ihr mit heiserer Stimme zurief: „Signorina Laura Marks?“

„Si?“, antwortete sie langsam und ließ dabei die Hand auf der Klinke der Tür, bereit, in den kleinen Garten zu huschen, sollte die Gestalt handgreiflich werden.

„Ich bin il Gobbo und wurde von Signore Leonardo Contarini geschickt, um Sie bei Ihren Einkäufen zu unterstützen.“

„Sie tragen eine Maske“, antwortete Laura, um wieder etwas Fassung zu gewinnen.

„Ja“, raunte die Gestalt, „und einen Buckel dazu. Es ist Karneval. Wir Venezianer verkleiden uns gern. Il Gobbo heißt der Bucklige. Sie kennen wohl nicht die Skulptur?“

Laura schüttelte den Kopf.

„Sie ist ein Wahrzeichen der Stadt. Wenn Gauner früher andere hinters Licht geführt haben, wurden sie begnadigt, wenn sie die Skulptur küssten.“

Laura lachte erleichtert auf. „Oh, dann bin ich als unschuldige Londoner Jungfrau verkleidet, die nur mit einer Kreditkarte bewaffnet ein Wunder vollbringen muss.“ Laura spürte Gobbos prüfenden Blick hinter seiner Maske. „Wir alle tragen eine Maske. Wer weiß, was hinter Ihrer verborgen ist.“

Laura errötete und ließ sich von Gobbo in die Gondel helfen. Der Himmel war nun gänzlich aufgerissen und gab Venedig seine satten Farben zurück. Dennoch breitete Gobbo eine Decke über ihre Beine aus und fuhr los.

Eine Windböe wehte seinen grauen Umhang auf. Darunter kam ein marmorfarbenes, eng anliegendes Kostüm zum Vorschein. Es ähnelte einem Taucheranzug, war aber aus viel dünnerem Stoff und zeigte, dass er – trotz seines Buckels – extrem gut gebaut war. Laura spürte ein Kribbeln in sich. Was war nur mit ihr los? Erst ließ sie Leonardo nicht kalt, und nun wurde ihr schon flau, wenn sie einen durchtrainierten Männerkörper sah, sogar ein Sixpack konnte sie unter dem dünnen Stoff erahnen. Laura ermahnte sich: In London hatte sie in ihrer Modeschule auch häufig schöne Männer gesehen, das hatte ihr auch nicht dieses Kribbeln verursacht. Wahrscheinlich lag es an der Meeresluft oder an den Meeresfrüchten gestern. Wirkten die nicht aphrodisierend? Vielleicht war es aber auch Leonardo selbst. Er hatte etwas ausgelöst in ihr, mit diesen dunklen Augen, als hätte er einen Schlüssel zu einer Tür, die bisher verschlossen gewesen war. Schon bei dem Gedanken an seine Augen fühlte sie ein heißes Aufwallen in ihrem Körper. So würde sie mit ihren Wollsachen ganz und gar nicht frieren.

„Wohin fahren wir?“, fragte Laura leise.

„Nun, Sie müssen zwei Kostüme herstellen und haben die Firmenkreditkarte. Wir fahren zunächst zu einem Laden namens La Mascherata. Das ist ein exklusives Maskengeschäft, das ein alter Freund von mir führt.“

Exklusives Maskengeschäft war etwas untertrieben, wie Laura bemerkte, als sie den Laden betrat. Die Wände waren tapeziert mit Bildern von Hollywoodgrößen, die neben einem alten Mann standen und eine Maske erstanden hatten. Der Besitzer war nirgends zu sehen, stattdessen hinkte eine als Hexe kostümierte Person aus dem Hinterzimmer herein. „Prächtig, prächtig“, krächzte die Alte, „ich sehe, du hast dir alle Mühe gegeben, Gobbo.“

„Und du bist eine fantastische Hexe“, gab Gobbo zurück und klopfte der Hexe kräftig auf die Schulter. „Gestatten, Laura? Das ist Signore Dinardo, Inhaber des Geschäfts.“

Laura blieb der Mund offen stehen. „Alle Achtung“, stammelte sie.

„Ach, davon lebe ich schließlich“, kicherte er. „Womit kann ich Ihnen dienen? Wir führen Masken aller Art, wie Sie sehen.“

Laura blickte sich um. Es war großartig, was es hier zu sehen gab: Masken in allen Größen und Farben, kunstfertig mit Federn, Pailletten und Strass dekoriert. Sie schaute umher, aber verzweifelte, je länger sie suchte. „Haben Sie auch weiße Masken?“, fragte sie zögernd.

„Eine weiße Maske? Nein, selbst die Harlekin-Masken sind schwarz-weiß.“

„Führen Sie Schwanenfedern?“, fragte Laura nun besorgt. Sie sah ihren schönen Plan entschwinden.

„Schwanenfedern. Hm, nun ja, ich habe einen großen Vorrat an Federn, da viele Masken mit Federn verziert sind. Wie viel brauchen Sie denn?“

„So ein, zwei Säcke?“

„Ein, zwei Säcke! Mamma mia! So viel?“

Die Hexe verschwand nach hinten und kam nach einiger Zeit des Grummelns und Fluchens mit zwei Säcken wieder zurück. „Noch etwas?“

„Vielleicht noch etwas Tüll?“

„Tüll?!“, fragte der Ladenbesitzer entsetzt. „Sie befinden sich in der Mascherata und nicht bei Woolworth.“

„Das weiß ich“, antwortete Laura, „es muss nur einfach schnell gehen.“

Er hinkte wieder in das Hinterzimmer und kehrte mit einem Stoffballen Tüll zurück. „Das ist feinster Seidentüll, das wird nicht billig“, grummelte er über den Ladentisch mit Blick auf Gobbo.

„Sie wissen, die Contarini kennen Ihre Preise.“

„Sonst noch was?“, krächzte der Alte missmutig. Laura zögerte. „Was für Federn führen Sie noch?“

„Ich habe Strauß-, Pfau- und Schwanenfedern und einige synthetische Varianten, alle anderen kommen mir nicht auf die Maske.“

„Danke, das wär’s dann“, antwortete Laura freundlich, konnte aber ihre Enttäuschung kaum verbergen. Eine Idee für ein eigenes Kostüm war ihr noch nicht gekommen. Sie würde einfach gar nicht hingehen, entschied sie spontan.

„Und jetzt bitte ich noch um ein Abschiedsfoto.“ Gobbo dirigierte Laura neben die Hexe, die, anders als auf den Promifotos, eher konsterniert dreinschaute.

„Ich glaube, ich habe mir da keinen Freund gemacht“, sagte Laura, als sie wieder in der Gondel Platz genommen hatte.

Gobbo lachte rau: „Da könnten Sie recht haben, aber wer weiß, wenn Sie mit Ihren Kostümen einen Hit landen, dann hängt Ihr Bild auch bald in der Mascherata.“

„Oh, ich stelle nur eins für Chiara her. Ich werde nicht auf den Ball gehen, ich möchte meinen Flieger nach London nehmen.“

„Sie werden hingehen. Das sind Sie Chiara als Trauzeugin und beste Freundin schuldig. Natürlich zahlen die Contarini Ihre Auslagen, Sie nähen ja auch die Kleider.“

Wie bestimmt er mit ihr redete! Genauso herrisch wie Leonardo. Ob das typisch für Italiener war? Aber sie musste Gobbo rechtgeben. Sie würde Chiara enttäuschen, wenn sie nicht zum Ball erschien. Aber was für ein Kostüm sollte sie selbst tragen? Bei Chiara war ihr die Idee sofort gekommen. Ein Schwan passte perfekt zu ihr. Außerdem konnte sie Teile des Brautkleids dafür verwenden. Aber sie selbst? Was sollte sie darstellen? Einen Adler, einen Pfau oder Buntspecht? Das kam ihr alles zu abwegig vor.

„Ich überlege es mir noch“, sagte sie ausweichend und erntete wieder einen durchdringenden Blick von Gobbo.

Dann begann er zu rudern und fragte: „Und was brauchen Sie noch?“

„Eine Maske“, antwortete Laura.

Gobbo ließ beinahe das Ruder fallen. „Alle Achtung, Sie haben Talent darin, andere um den Verstand zu bringen. Sie wollen wieder zurück zur Mascherata?“

Laura lachte. „Nein, nein, so war das nicht gemeint. Ich dachte an etwas Elastisches aus Spitze oder einem Netz.“

„Dann fahren wir zu La Divina. Giulia ist eine Meisterin der venezianischen Spitzenstickerei.“

Nach einem kurzen Wechsel in ein schnittiges Motorboot hielt Gobbo auf die vorgelagerte Insel Burano zu. Laura saß eingekuschelt in ihrer Decke, die Schwanenfedern und der Tüll waren unter ihrem Sitz verstaut. Sie genoss die frische laue Luft und die warme Sonne auf ihrem Gesicht. Erst geheimnisvoller Morgennebel und nun Sonne – das war doch allemal besser als das Wetter im Londoner Winter.

„Tutti gli uccelli sono gia qua …, drang es an Lauras Ohr. Gobbo sang am Steuer, und das richtig gut. Sein Raunen war verschwunden, stattdessen umschmeichelte ein samtiger Bass ihre Ohren mit dem alten Kinderlied Alle Vögel sind schon da auf Italienisch. „Amsel, Drossel, Fink und Star, auch die Täubchen tralalala.“

Auch die Täubchen? Da musste es sich um eine venezianische Abwandlung des Liedes handeln – oder Gobbo interpretierte den Text neu. Laura grinste. So langsam gefiel ihr dieser schräge Italiener. Er war nicht aufdringlich, vielmehr humorvoll, angenehm und gut aussehend, zumindest das, was sie von ihm sah, also seinen Körper, so wie jetzt von hinten.

Gobbo hatte den Umhang neben ihr auf der Sitzbank abgelegt. Jetzt konnte sie noch deutlicher als vorhin seine schmalen Hüften und breiten Schultern sehen. Selbst der eingearbeitete Buckel konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gobbos Körper perfekt proportioniert war. Es war ihr unbegreiflich, wie sie einerseits bei Leonardo dahinschmolz, andererseits aber auch Gobbo anziehend fand. Sie fühlte sich seltsam vertraut mit ihm. Als wären Gobbo und Leonardo aus demselben Holz geschnitzt, obwohl sie sich so unterschiedlich gaben. Sie gab es auf, darüber nachzudenken, und blickte aufs glitzernde Meer. Und endlich erschien ihr wie aus dem Nichts eine Idee. „Gobbo! Ich könnte als Papagena gehen.“

„Papagena, das heißt dann ungefähr ein paar bunte Federn an einem hübschen Kleid. Ich versichere Ihnen, dass das ungefähr jede dritte Frau tragen wird. Sie können mehr!“ Laura nickte ergeben. Damit hatte er recht.

Am Steg half ihr Gobbo aus dem Motorboot. Die Maske verbarg sein Gesicht, auch an den behandschuhten Händen konnte Laura nichts ablesen, aber seine angespannten Oberarmmuskeln konnten sich durchaus sehen lassen. Sie blieb dicht vor ihm stehen und atmete seinen warmen Körpergeruch ein, auch er roch so gut. Erneut jagten Schmetterlinge durch ihren Körper.

Gobbo blickte auf sie herab. Schnell senkte sie den Blick. Wenn sie doch nur hinter die Maske blicken könnte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er dahinter grinste, als er einen Diener andeutete und sie aussteigen ließ.

Sofort wurde sie von der Schönheit der kleinen Insel gefangen genommen. Hier reihten sich nicht ehrwürdige Palazzi in Terrakottafarben aneinander, sondern kleine einfache Häuschen in knallbunten Bonbonfarben, die durch die Sonne noch intensiver strahlten. Türkis folgte auf Orange, Rot auf Hellblau und Rosa.

Laura konnte sich nicht sattsehen. Gobbo nahm wie selbstverständlich ihre Hand, als er weiterlief, Lauras Herz machte einen Hüpfer, als wollte es seine Schwingen ausbreiten und an diesem sonnigen Tag, an diesem märchenhaften Ort, mit diesem komischen Vogel einen Salto machen. Mit seiner rauen Stimme erklärte er ihr: „Auf der Insel lebten ursprünglich nur arme Fischer und ihre Familien. Die Häuser sind, wie Sie sehen, recht einfach und gleichförmig. Irgendjemand kam vor vielen Jahren auf die Idee, sein Haus knallbunt anzustreichen, um es schnell zu finden. Die anderen Fischer wollten ihm da nicht nachstehen.“

„Es ist entzückend.“ Laura strahlte.

Gobbo blieb stehen, blickte ihr tief in die Augen und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „In der Tat“, gab er zurück.

Meint er damit etwa mich? Eine Welle des Glücks durchströmte Laura. Wenn sie doch nur sein Gesicht sehen könnte, aber an der Maske war ein Tuch angebracht, sodass auch keine plötzliche Kopfbewegung oder ein Windstoß wenigstens einen Teil lüften konnte. Leonardos markantes Kinn kam ihr in den Sinn, seine vollen Lippen, das weiche Timbre seiner Worte. Konnte sie sich etwa zweimal verlieben? Sie schob den Gedanken schnell beiseite, sicherlich war sie einfach die ganze männliche Aufmerksamkeit nicht gewohnt.

Gobbo führte sie in ein kleines hellblaues Häuschen und begrüßte dort herzlich eine weißhaarige Signora, die er Laura als La Divina Giulia vorstellte. Giulia hieß Laura herzlich willkommen und wandte sich mit einem Augenzwinkern an Gobbo. „Gobbolino! Stellst du mir gerade deine Braut vor?“

Laura schoss das Blut ins Gesicht, sie sah hinüber zu Gobbo, der diskret zu Boden blickte. „Signora Giulia, Sie täuschen sich. Ich bereite ein Kostüm für Chiara Contarini vor, die gestern Francesco geheiratet hat. Und Leonardo Contarini hat mir Gobbo beiseitegestellt, um mich bei den Einkäufen zu unterstützen, weil ich mich in Venedig nicht auskenne und schon morgen Abend der Maskenball stattfindet.“

Giulia kicherte sichtlich belustigt und entblößte dabei zwei Zahnlücken. „Nun, wer hier wen täuscht, das werden wir noch sehen, mein Täubchen. Aber sieh dich ruhig um.“ An Gobbo gewandt, sprach sie weiter: „Sie ist deiner Mutter unglaublich ähnlich. Das ist dir schon bewusst, oder? Nicht unbedingt vom Aussehen, aber die Art, ihr Wesen.“

Gobbo wandte sich zur Tür: „Ich warte draußen.“ Damit ließ er die beiden Frauen im Häuschen zurück.

4. KAPITEL

Leonardo atmete schwer, als er aus der Tür trat, dennoch wagte er es nicht, die Maske abzunehmen. Es war eine spontane Idee gewesen, diese zarte Elfe auf diese Weise ganz anders kennenzulernen. Verkleidet als Gobbo, so hoffte Leonardo, würde er herausfinden, ob sie wirklich so ehrlich, schüchtern, kreativ und naiv war, wie sie sich gab.

Er hatte sich sofort stark zu ihr hingezogen gefühlt, als sie nur ein paar Meter von ihm als Trauzeugin neben ihm stand. Und das direkt nach der Nacht, in der er sich von Elisabetta getrennt hatte. Er musste sich eingestehen, dass er keinen Liebeskummer wegen seiner Ex empfand, wohl aber eine kalte Wut, die sein Verhalten als Leonardo beherrschte.

Oh nein, er würde sich keinen Patzer als Leonardo erlauben. Man erwartete von ihm, dass er rational agierte, kühl und beherrscht. Hier aber als Gobbo konnte er freier sein, singen, vielleicht auch einen Scherz reißen. Und vor allem konnte er Laura kennenlernen.

Sie war eine fantastische Designerin – und so wie es wirkte, ein fantastischer Mensch. Aber gab es das überhaupt? Gab es das für ihn? Er würde und er konnte das nicht als Leonardo testen, aber für eine Weile am Tag als Gobbo. Es war ein wenig verrückt. Aber etwas Verrücktes zu tun, das war das, was er gerade brauchte – nach der enttäuschten Antwort seines Vaters, nach den Fragen auf der Hochzeit, warum er sich denn um Himmels willen von Elisabetta getrennt hätte. Nach all diesen Zweifeln, ob Leonardo, den alle noch zu gut als Spielertyp kannten, schon die Reife hatte, ein Unternehmen zu führen. Und er würde es anders führen als sein Vater: Er würde etwas moderner vorgehen und etwas wagen.

Laura war genial in ihrem Fach. Warum musste es jemand aus der Familie sein, die die Brautkleider designte? Warum bestand sein Vater nur auf dieser angestaubten Tradition? Noch immer könnte er dieser Elisabetta den Zuschlag als Brautmoden-Designerin bei Contarini geben, weil sie als Cousine von Francesco nun zur Familie gehörte. Aber wäre sie die Richtige?

Leonardo kannte Elisabettas Entwurf für Chiara – und er musste zugeben, dass Lauras diesen um Längen übertraf. Und er wusste mittlerweile noch etwas: Elisabetta war nicht loyal, sie war nicht treu.

Er spürte erneut in sich eine kalte Wut aufsteigen. Er wollte nicht weiter über Elisabetta nachdenken. Denn eins stand dennoch fest: Elisabetta war Teil der Familie. Und er wollte nicht leichtsinnig agieren. Laura hatte nun eine zweite Chance, über die Kostüme ihr außergewöhnliches Talent unter Beweis zu stellen. Wenn sie es nicht verpatzte, vielleicht könnte er dann mit seinem Vater reden? Er wollte dem Senior beweisen, dass er mit Vorschlägen aufwarten konnte, die der Firma Contarini Erfolg bescheren würden, und das in möglichst kurzer Zeit, denn Contarini hatte schon überall Pressemitteilungen herausgeschickt, dass es zum Frühjahr eine kleine Brautkleiderkollektion geben würde. Insofern war es gar nicht so verrückt, sich zu verkleiden und Laura zu beobachten – als Designerin und als Mensch.

Würde ihr in einer solch kurzen Zeit wieder ein Kunststück gelingen, und würde sie auch unter Druck beste Ergebnisse abliefern? Und: Würde sie Gobbo zeigen, was für ein Mensch sie war?

Elisabetta behauptete, dass Chiara unter Lauras Einfluss stand. Wie sollte er wissen, ob das nicht doch stimmte? Vielleicht war sie eine geschickte Lügnerin, eine, die alle hinter das Licht führte. Es gab nur einen Weg, es herauszufinden. Leonardo musste sich eingestehen, dass ihm diese Maskerade wirklich Spaß bereitete. Besonders seitdem er auch ein wichtiges Telefonat mit New York geführt hatte.

Autor

Melissa James
Melissa, in Sydney geboren und aufgewachsen, lebt heute zusammen mit ihrem Ehemann, drei sportverrückten Kindern, einem Dingo und einem Kaninchen an der Küste in einem ländlichen Vorort, nur eine Stunde nördlich der Sydney Harbor Bridge.
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