Romana Extra Band 122

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LIEBESZAUBER IN AMALFI von ANNE TAYLOR
Nach einer schmerzlichen Enttäuschung hat Carolyn den Männern abgeschworen. Erst der italienische Graf Davide d’Oriza weckt wieder sehnsüchtiges Begehren in ihr. Doch Carolyn weiß, dass Davide immer noch um seine Ehefrau trauert. Warum nur wirft er ihr diese feurigen Blicke zu?

VERBOTENE KÜSSE FÜR DIE PRINZESSIN von MELISSA JAMES
Lia ist hin- und hergerissen zwischen Pflicht und brennendem Verlangen. Schon seit Jahren liebt sie den Feuerwehrmann Toby Winder. Als Prinzessin muss sie jedoch ihrem Land dienen und standesgemäß heiraten. Außerdem sieht Toby ohnehin nur die gute Freundin in ihr. Oder?

DER SÜSSE DUFT DER SEHNSUCHT von REBECCA WINTERS
Dieser Duft ist pure Magie … Luc weiß, er sollte Jasmin keinen Kredit gewähren – doch ihre Parfümkreation könnte die Welt erobern. Ist es wirklich Geschäftssinn, aus dem er Millionen in ihre französische Firma steckt, oder hat ihr betörender Kuss seinen Verstand vernebelt?

ROMANTISCHE STUNDEN IN DEINEN ARMEN von BECKY WICKS
Cole Crawford wiederzusehen, ist das Letzte, was Jodie will! Vor Jahren brach er ihr das Herz. Aber um das Testament ihres verstorbenen Onkels zu erfüllen, muss sie sich mit dem charismatischen Tierarzt arrangieren. Bald stellt sie fest, dass Coles Wirkung auf sie ungebrochen ist…


  • Erscheinungstag 05.07.2022
  • Bandnummer 122
  • ISBN / Artikelnummer 9783751508186
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anne Taylor, Melissa James, Rebecca Winters, Becky Wicks

ROMANA EXTRA BAND 122

ANNE TAYLOR

Liebeszauber in Amalfi

Davide d’Oriza ist fassungslos: Die junge Carolyn sieht seiner verstorbenen Frau zum Verwechseln ähnlich! Er schwankt zwischen Schmerz und Verlangen. Will er wirklich noch einmal sein Herz riskieren?

MELISSA JAMES

Verbotene Küsse für die Prinzessin

Toby weiß, dass Lia für ihn tabu ist. Sie ist eine Prinzessin und er ein einfacher Feuerwehrmann. Nur ein einziges Mal will er sie küssen, um ihr zu zeigen, wie sehr er sie liebt! Dann muss er gehen …

REBECCA WINTERS

Der süße Duft der Sehnsucht

Jasmin ist erleichtert: Luc Charriere hilft ihr, das großelterliche Parfümhaus zu retten! Doch sie darf Lucs Charme nicht erliegen – denn jenseits des Ozeans erwartet sie eine alte Pflicht …

BECKY WICKS

Romantische Stunden in deinen Armen

Sie wieder im Arm zu halten, raubt Cole Crawford fast den Atem. Seine Gefühle für die reizende Jodie sind so stark wie damals. Aber sie darf nie erfahren, warum er ihr vor zwölf Jahren den Laufpass gab!

1. KAPITEL

„Bist du wirklich sicher, dass du das tun willst, Davide? Ich weiß, dass die Erinnerungen immer noch schmerzlich für dich sind, auch wenn Cinzias Tod schon zwei Jahre her ist.“

Davide spürte die Hand seiner Schwägerin auf seiner und zuckte unwillkürlich zurück. Es kostete ihn Überwindung, seine Augen von dem Anblick loszureißen, der sich ihm von der Terrasse seines Palazzos bot. Es war eine sternenklare Nacht, und er konnte beinahe die gesamte Amalfiküste überblicken, von Salerno bis Sorrent. Unter ihm breitete sich der Ort Amalfi wie ein dunkler Teppich aus, in den zahllose funkelnde Diamanten eingewebt waren. Das Meer schimmerte silbrig im matten Mondlicht, und weit im Westen war Capri als blinkender Punkt in der Finsternis zu erkennen.

Die Luft war erfüllt von dem süßen Duft der Bougainvilleen. Doch alles, was Davide vor seinem inneren Auge sehen konnte, war das Gesicht von Cinzia. Ihr langes blondes Haar, das ovale, ebenmäßige Gesicht mit den strahlend blauen Augen. In seinen Ohren dröhnte das Kreischen von Autobremsen, die bis zum Anschlag durchgetreten wurden …

Abrupt drehte er sich zu Amelie um. Nach dem gemeinsamen Abendessen, zu dem er sie eingeladen hatte, waren sie auf die Terrasse hinausgeschlendert, um die warme Nachtluft zu genießen. Es war ein entspannter Abend gewesen – bis Amelie das Gespräch auf die geplante Versteigerung gebracht hatte.

„Ich trage mich schon lange mit dem Gedanken, Cinzias Besitztümer irgendeinem sinnvollen Zweck zuzuführen“, erwiderte er gepresst. Immer noch fiel es ihm schwer, den Namen seiner verstorbenen Frau auszusprechen. „Das Geld der Auktion soll einer guten Sache zukommen. Ich möchte in Cinzias Namen eine Stiftung gründen, die Familien in Not unterstützt. Den Cinzia-d’Oriza-Fonds. Das wäre auch in Cinzias Sinn gewesen!“

Wäre es das wirklich? fragte er sich insgeheim. Wenn er versuchte, zu ergründen, wer oder wie Cinzia gewesen war, stieß er in seinen Gedanken an eine Wand, die sich zwischen ihn und seine verstorbene Frau geschoben hatte. Die Erinnerung an sie war merkwürdig verschwommen, fern und unergründlich. Alles, was ihm geblieben war, war dieses brennende Gefühl der Sehnsucht. Nach ihrem Lachen, ihrem Duft, ihrem Körper …

„Natürlich, das verstehe ich. Wenn ich dir irgendwie behilflich sein kann, Davide … du weißt, dass ich immer für dich da bin. Cinzia hätte das gewollt …“ Amelie sah ihn eindringlich an. Auch wenn ihre Augen denselben Blauton wie die ihrer Schwester hatten, ihr Haar nur eine Spur dunkler war – sie war nicht Cinzia. Und so sehr sie sich auch bemühte, sie würde niemals ihren Platz in seinem Herzen einnehmen können. Würde das jemals irgendeiner Frau gelingen?

Davide bemühte sich um ein freundliches Lächeln. „Ich bin dir wirklich sehr dankbar für deine Unterstützung, Amelie. Dass du in diesen zwei Jahren an meiner Seite warst, hat mir sehr geholfen. Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte.“

„Das war ich meiner Schwester schuldig. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie nicht mehr unter uns ist. Dieser sinnlose Tod …“ Amelie schluckte schwer. „Sie hat uns alle verzweifelt zurückgelassen. Cinzia und ich, wir waren so eng verbunden … es gab keine Geheimnisse zwischen uns. Und jetzt …“ Hilflos hob sie die Schultern in ihrem eleganten nachtblauen Cocktailkleid. „Plötzlich habe ich das Gefühl, als hätte ich niemanden mehr auf der Welt.“

„Du wirst immer ein Teil meiner Familie bleiben, darauf kannst du dich verlassen“, beteuerte Davide, aber er wusste selbst, wie hohl seine Worte klangen. Natürlich war ihm bewusst, was Amelie von ihm hören wollte. Dass er sie liebte. Dass er sein Leben mit ihr teilen wollte. Aber sie ist nicht Cinzia. Seine Gefühle ihr gegenüber waren rein freundschaftlich.

Wieder griff Amelie nach seiner Hand und drückte sie. „Danke, Davide. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel mir das bedeutet. Schließlich war Cinzia meine geliebte Schwester. Wir haben unser Leben lang aufeinander aufgepasst, füreinander gesorgt … Du weißt ja, dass unser Vater sein Vermögen durch Börsenspekulationen verloren hat. Seitdem er und unsere Mutter verarmt in Brasilien leben, ist unser Verhältnis nicht das Beste. Von ihnen habe ich nichts zu erwarten. Deshalb …“

„Wenn du Geld brauchst …“

„Oh, nein, nein“, unterbrach sie ihn hastig. „Darum geht es nicht. Ich bin nur so daran gewöhnt, für jemanden da zu sein … Ich komme mir irgendwie unnütz vor seit Cinzias Tod!“

Sie sah ihn mit einem koketten Ausdruck in ihren blauen Augen an. Davide holte tief Luft. Natürlich war er dankbar für alles, was sie getan hatte. Das Begräbnis zu organisieren, die Aussagen der Polizei gegenüber zu machen … Er war sich nicht sicher, ob er allein dazu imstande gewesen wäre. Zu tief war sein Schmerz gewesen, zu groß die Vorwürfe, die er sich gemacht hatte … und immer noch machte.

Trotzdem fühlte er sich in Amelies Gegenwart merkwürdig eingeengt, als stünde er mit dem Rücken an einer unüberwindlichen Mauer.

„Ich kann gerne mit einigen meiner Bekannten reden, die vielleicht eine Anstellung für dich hätten …“

„Nein, wirklich, Davide, ich komme zurecht“, beeilte Amelie sich, ihm zu versichern. „Ich freue mich nur, hier zu sein. In diesem wundervollen Palazzo, den Cinzia so geliebt hat. Du weißt doch, wie sehr sie an allem hier hing.“

Amelie machte eine weitschweifige Handbewegung zu dem Raum hinter ihnen, den Grünen Salon, in dem sie ihr Abendessen eingenommen hatten. Das Zimmer war in Meergrün gehalten, mit kostbaren Seidentapeten an den Wänden, Art-déco-Möbeln und goldenen Leuchtern. Seine Haushälterin Marta war gerade dabei, das Geschirr abzuräumen.

Amelie richtete den Blick wieder auf Davide, und sie fuhr fort: „Aber sie hätte nicht gewollt, dass du ewig um sie trauerst. Du sollst glücklich sein. Das war ihr einziger Wunsch!“

Seine Miene verdüsterte sich. „Aber ich konnte sie nicht glücklich machen“, erklärte er bitter.

„Du darfst dir keine Vorwürfe machen! Dieser Streit … ich weiß nicht, was da in sie gefahren ist. Cinzia wollte doch immer nur … dich!“

„Ein d’Oriza ist nicht fähig, die Frau an seiner Seite zu halten“, murmelte Davide mit finsterem Blick.

„Nein, das darfst du nicht denken“, beteuerte Amelie. Sie schob ihre Hand unter seinen Arm und zog ihn von der Terrasse zurück in den Salon. Auf dem Tisch standen noch ihre Weingläser. Sie erhob ihres zu einem Toast. „Ich trinke auf uns. Und auf die Zukunft! Wir müssen nach vorne schauen. Lass uns einen Pakt schließen: Mit dem heutigen Abend beginnt ein neuer Abschnitt unseres Lebens! Ein neuer Abschnitt, in dem wir wieder Glück und Liebe finden werden, Davide. Da bin ich ganz sicher!“

Er stieß mit ihr an. „Ein neues Leben“, murmelte er, wie zu sich selbst. Doch ein Leben ohne Cinzia konnte er sich einfach nicht vorstellen.

2. KAPITEL

„Samthandschuhe, Ms. Whitmore!“, bekräftigte Mr. Carringham zum wiederholten Male. Am Telefon klang seine Stimme noch penibler, als sie es sonst schon war. „Diese italienischen Adeligen wollen mit Samthandschuhen angefasst werden. Immerhin will der Conte d’Oriza einen Tizian zur Auktion einbringen, vergessen Sie das nicht. Eine solche Gelegenheit erhält man nicht alle Tage. Also vermeiden Sie bitte alles, was den Grafen in irgendeiner Weise irritieren könnte.“

„Natürlich, Mr. Carringham“, versicherte Carolyn ihrem Arbeitgeber. Eine Strähne ihres blonden Haares hatte sich aus dem Chignon gelöst und war ihr ins Gesicht gefallen. Mit einer erschöpften Geste strich sie die Haare wieder zurück.

Sie war seit sechs Uhr früh auf den Beinen. In Heathrow hatte sie zwei Stunden auf ihren Flug nach Neapel gewartet, der aus unerfindlichen Gründen verspätet war. Nach der Zwischenlandung in Rom hatte sie weitere anderthalb Stunden in einem überfüllten Flieger gesessen, und jetzt suchte sie verzweifelt ein Taxi. Es war brütend heiß in Neapel, und ihr sorgfältig aufgebrachtes Make-up löste sich bei diesen Temperaturen langsam, aber sicher auf. Sie wollte eigentlich nichts anderes tun, als sich irgendwo hinzusetzen, die Beine auszustrecken und einen kühlen Drink zu genießen. Aber daran war im Moment nicht zu denken. Sie musste sehen, dass sie irgendwie nach Amalfi kam.

Sie winkte einen Taxifahrer herbei und zeigte dem Mann den Zettel mit der Adresse, die sie von ihrem Chef bekommen hatte. Ihr Italienisch, das sie in der Schule gelernt hatte, war nicht perfekt, aber es reichte aus, um sich verständlich zu machen. Das war einer der Gründe, warum Mr. Carringham sie für diesen Auftrag ausgewählt hatte. Das und die Tatsache, dass sie in den letzten beiden Jahren, seit sie im Auktionshaus angefangen hatte, hundertfünfzig Prozent Einsatz gezeigt hatte. Die sich jetzt hoffentlich bezahlt machen würden. „Der Palazzo d’Oriza in Amalfi. Wie weit ist das? Wie lange?“

Der Mann wiegte abschätzend den Kopf. „Eine Stunde. Anderthalb. Bitte, Signorina, steigen Sie ein. Ich bringe Sie sicher dorthin. Kein Problem!“

Er schob ihren Koffer auf den Rücksitz seines alten Mercedes und öffnete die Beifahrertür für sie. Seufzend ließ Carolyn sich auf den Ledersitz gleiten. Möglicherweise war sie gerade im Begriff, sich von der Mafia entführen zu lassen, aber sie war zu erschöpft, um ernsthaft besorgt zu sein. Sollten sie sie ihretwegen entführen, solange sie dabei nur sitzen konnte.

„Du bist zu gut zu ihr!“, stellte Marta mit missbilligendem Ton fest. Sie stand mit verschränkten Armen vor Davides Schreibtisch, wie üblich vollständig in Schwarz gekleidet und das Kinn kampflustig vorgereckt.

Davide hob den Blick von seiner Arbeit und sah sie erstaunt an. „Was meinst du damit? Zu wem bin ich zu gut?“

„Zu Amelie. Du weißt, dass sie versucht, dich einzufangen. Sie ist kalt und berechnend. Wenn du weiterhin zulässt, dass sie dich umgarnt, wird es ihr irgendwann gelingen, verlass dich darauf!“

Das Lächeln auf seinen Lippen erstarb. „Das wird es nicht. Ich habe nicht vor, mich jemals wieder an eine Frau zu binden. Nicht nach allem, was passiert ist. Nicht, nachdem ich Cinzia verloren habe.“

„Unsinn!“, rief Marta streng. „Nur weil Amelie nicht die Richtige ist, heißt das nicht, dass du keine andere Frau ansehen sollst. Du bist noch jung. Gerade einmal fünfunddreißig. Ich habe dich nicht großgezogen, damit du dein Leben wegwirfst und dich in diesem Mausoleum vergräbst. Du hast Besseres verdient als das.“

„Cinzia …“

„Vergiss Cinzia!“, herrschte sie ihn an. „Cinzia war anmaßend, arrogant und selbstsüchtig. Sie hat dich nur deines Geldes wegen geheiratet, und das weißt du!“

Davide stand abrupt von seinem Schreibtisch auf. Wie konnte Marta es wagen … „Es steht dir nicht zu, so über meine Frau zu reden!“

„Es steht mir zu“, widersprach Marta trotzig. „Ich habe mich um dich gekümmert, seit du auf der Welt bist. Ich war es, die deine ersten Windeln gewechselt hat. Du bist nachts zu mir ins Bett gekrochen, nachdem deine Mutter …“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich werde nie verstehen, wie eine Mutter ihr Kind zurücklassen kann, aber damit will ich jetzt nicht anfangen. Es geht mir um dich. Hör endlich auf, Trübsal zu blasen. Geh nach draußen, triff dich mit deinen Freunden, verlieb dich! Dafür ist das Leben da!“

„Nicht für mich. Egal, was du über Cinzia denken magst, ich habe sie geliebt. Mehr, als ich mir jemals vorstellen konnte. Aber ich habe sie mit meiner Eifersucht und meinem Kontrollzwang vertrieben. Ich habe sie in den Tod getrieben!“

Davide atmete heftig. Die Erinnerung an jenen verhängnisvollen Tag wurde wieder lebendig. Cinzias Stimme hallte in seinem Kopf wider: „Du erdrückst mich! Du nimmst mir die Luft zu atmen! Ich will dich nie wiedersehen!“ Jedes einzelne dieser Worte grub sich wie ein spitzer Dolch in sein Herz.

„Es war ein Unfall! Sie ist gefahren wie eine Wahnsinnige, Gott weiß, warum. Sie kannte die Straße, die zum Palazzo hinaufführt, wusste, wie steil und gewunden sie ist. Und sie war nie eine besonders gute Autofahrerin.“

„Ich will nichts mehr davon hören!“, bekräftigte Davide noch einmal. Niemand konnte ihm die Schuld abnehmen, die er auf sich geladen hatte. Er musste damit leben, bis ans Ende seiner Tage. Verbittert fügte er hinzu: „Es ist der Fluch. Der Fluch der Familie d’Oriza! Er hat meinen Großvater getroffen, meinen Vater und jetzt auch mich.“

„Was für ein Quatsch!“, rief die grauhaarige Italienerin. „Deine Großmutter ist an einer Infektion im Kindbett gestorben. Es gab damals weit und breit kein Krankenhaus. Bis der Arzt endlich kam, war es zu spät. Und deine Mutter hat es vorgezogen, ihr Leben mit einem mittellosen Maler auf Korfu zu teilen. Sie war immer schon wankelmütig. Vielleicht war sie auch einfach zu jung für eine Ehe. Ich weiß es nicht. Es sollte nicht sein. Aber es ist kein Fluch.“

„Drei Generationen der d’Oriza haben ihre Ehefrauen verloren“, erinnerte Davide sie. „Für mich ist das so etwas wie ein Fluch.“

„Es ist Schicksal. Und vielleicht besser so. Sieh deinen Vater an. Er ist glücklich geworden, trotz allem. Manchmal braucht es eben einen zweiten Anlauf!“

„Du weißt, dass ich auch darüber nicht reden will“, stellte Davide kühl fest. Sein Vater war ein Kapitel für sich. Ein Conte, der in einer kleinen Mietwohnung mit dem ehemaligen Kindermädchen seines Sohnes zusammenlebte, in wilder Ehe …

„Warum? Weil er das tut, was ihn glücklich macht, anstatt sich in sinnlosem Kummer zu ertränken so wie du?“

„Ich führe dieses Haus!“, herrschte Davide sie an. „Ich kümmere mich um alles, halte den Besitz zusammen. Zumindest kann mir niemand den Vorwurf machen, davongelaufen zu sein.“ Er funkelte Marta ärgerlich an. Auch wenn er sie sein ganzes Leben lang kannte und wie eine Mutter liebte, gingen sie Familienangelegenheiten nichts an. Es war seine Sache, wie er sein Leben führte.

Marta zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Und was hast du davon? Aber ich vergesse … das ist nicht meine Angelegenheit. Ich bin ja nur eine Angestellte …“

Impulsiv trat Davide hinter seinem Schreibtisch hervor und zog sie in seine Arme. „Das bist du nicht. Du bist alles, was ich noch habe, das weißt du doch! Aber ich muss allein mit Cinzias Verlust fertigwerden, sieh es doch ein!“

Sie tätschelte liebevoll seine Wange, als wäre er wieder der kleine Junge, der in der Küche auf ihrem Schoß saß und die Schüssel mit dem Kuchenteig leerschleckte. Eine Welle der Zärtlichkeit für seine piccola mamma, seine kleine Mama, wie er sie immer genannt hatte, erfüllte Davide.

„Ich weiß ja, mein Junge. Ich weiß ja“, erklärte Marta sanft. „Aber ich mache mir Sorgen um dich. Ich möchte dich in guten Händen wissen, wenn ich …“

„Du wirst noch viele Jahre für mich sorgen können“, versicherte Davide ihr. „Ich verlasse mich darauf!“

Ein schmerzhafter Druck presste seinen Brustkorb zusammen. Das brennende Gefühl des Verlusts begleitete ihn schon sein ganzes Leben lang. Wenn er auch noch Marta verlor, hatte er niemanden mehr. Nachdenklich blickte er um sich. Dann würde der Palazzo d’Oriza nur noch ein Ort der Erinnerung sein, gefüllt mit den Gespenstern der Vergangenheit.

Es kam Carolyn vor, als würde sie in eine fremde Welt eintauchen. Neapel war erfüllt von Gestank, Lärm und Gedränge. Alle Bewohner der Stadt schienen sich in den Straßen aufzuhalten, Autos hupten, Motorroller schlängelten sich mit halsbrecherischen Manövern zwischen den anderen Fahrzeugen hindurch.

Als sie das Stadtzentrum hinter sich ließen, konnte sie in der Ferne den Vesuv erkennen. Wie ein mächtiger Kegel erhob sich der Vulkan aus der Ebene, sein Gipfel lag in einer weißen Wolkenbank verborgen. Der Vesuv war immer noch aktiv. Sein letzter Ausbruch ereignete sich 1944, und es wurde befürchtet, dass neuerliche Eruptionen in der nahen Zukunft durchaus möglich waren. Carolyn erschauderte bei dem Anblick. Der Ausdruck „Tanz auf dem Vulkan“ kam ihr in den Sinn. Wie mochte es wohl sein, im Schatten einer solchen Bedrohung zu leben? Kam vielleicht daher die sprichwörtliche neapolitanische Lebensfreude? Das Glück, allen Widrigkeiten zum Trotz am Leben zu sein?

Sie wusste selbst nicht, warum ihr bei diesem Gedanken Andrew einfiel. Ihr Ex. Vielleicht, weil auch sie versuchte, allen Widrigkeiten zum Trotz glücklich zu sein? Weil sie nicht aufgab, egal, wie schmerzhaft es sein mochte?

Sie nickte. Genau so war es. Sie gab nicht auf. Sie durfte nicht aufgeben, schließlich trug sie eine Verantwortung ihren Schwestern gegenüber.

Annabelle und Samantha waren alles, was sie noch hatte. Sie waren ihre Stütze und ihre Aufmunterung, so wie sie es umgekehrt für die beiden war. Seit dem Tod ihrer Eltern vor fünf Jahren gaben die Schwestern gegenseitig aufeinander acht. Sie hatten Annabelle bei der Betreuung ihrer kleinen Tochter Mia unterstützt, sie hatten dafür gesorgt, dass das Nesthäkchen Sam eine Tourismus-Ausbildung absolvierte und sich jetzt im Hotel ihrer Tante in Südfrankreich ihre ersten Sporen verdiente. Carolyn seufzte. Nein, Aufgeben war keine Option!

Ganz im Gegenteil … Sie war fest entschlossen, diesen Auftrag zu Mr. Carringhams vollster Zufriedenheit zu erledigen. Womöglich winkte ihr dann sogar eine Beförderung. Sie wollte Karriere machen und beweisen, dass es keinen Adelstitel brauchte, um Ansehen in der Kunstwelt zu genießen. Dass auch ein Mädchen aus dem Londoner East End etwas aus sich machen konnte. Ohne es zu merken, verkrampfte Carolyn die Finger um ihre Handtasche. Noch immer saß der Schmerz tief, brannte die Demütigung heiß wie Feuer in ihrem Herzen.

Wenn sie wieder zu Hause war, würde sie dafür sorgen, dass Andrew seine Entscheidung bereute. Er sollte sich bis an sein Lebensende an das East-End-Mädchen erinnern!

Das Taxi fuhr auf der Autobahn in südlicher Richtung. Zu ihrer Linken begleitete sie weiterhin der Vesuvkegel, zu ihrer Rechten breitete sich der Golf von Neapel aus. Die Abhänge des Vesuvs waren üppig grün. Wie Carolyn aus ihrem Reiseführer wusste, begünstigte der fruchtbare vulkanische Boden in Verbindung mit dem feuchten, mediterranen Klima insbesondere den Weinanbau. Terrassenförmig angelegte Weingärten zogen sich bis in schwindelnde Höhen.

„Was wollen Sie denn im Palazzo d’Oriza?“, fragte der Taxifahrer neugierig, während sie die Ebene hinter sich ließen und sich auf einer gewundenen Straße die Berge hinaufschlängelten. „Sind Sie eine Freundin des Conte?“

„Oh nein, nein!“, entgegnete Carolyn schnell. Auch wenn ihr das Italienische allmählich leichter über die Lippen kam, suchte sie immer noch nach den passenden Worten. „Ich soll dort – arbeiten. Der Conte will einige Stücke aus seinem Besitz versteigern lassen. Eine Auktion, verstehen Sie? Ich komme aus London, um den Verkauf vorzubereiten.“

„Ah, eine Auktion! Es gibt sehr wertvolle Dinge im Palazzo“, erklärte der Taxifahrer. Er bemühte sich, in einfachen Sätzen zu sprechen, wohl, um sie nicht zu überfordern. „Meine Nichte ist dort angestellt. Sie ist Zimmermädchen beim Conte!“

Carolyn nickte interessiert. „Oh ja, es befinden sich viele Kunstschätze im Besitz des Grafen d’Oriza. Sein Palazzo ist weithin berühmt.“

„Trotzdem …“ Der Taxifahrer schüttelte den Kopf. „Geld macht nicht glücklich. Sie haben von der Frau des Conte gehört?“

„Sie starb bei einem Autounfall, soviel ich weiß.“

„Schrecklich“, bestätigte der Italiener und vollführte mit der Hand eine schnelle Abwärtsbewegung in der Luft. „Sie ist gestürzt – direkt die Klippen hinunter!“

„Das muss sehr schlimm für den Grafen gewesen sein“, sagte sie betroffen.

„Molto dolore! Großer Schmerz!“, versicherte der Taxifahrer mit dramatischer Stimme. „Seitdem ist er – nicht mehr fröhlich.“

„Ja, das kann ich verstehen“, murmelte Carolyn. Sie wusste, was es bedeutete, einen geliebten Menschen zu verlieren. Sei es durch einen Unfall, so wie ihre Eltern, oder aus anderen Gründen. Sie konnte den Schmerz des Conte nachempfinden. Das Schicksal konnte grausam sein, wenn es wollte. Diese Erfahrung hatte sie nur zu gut in Erinnerung. Sie brannte immer noch in ihrem Herzen wie ein schwelendes Feuer, das sich einfach nicht löschen ließ.

„Wie weit ist es noch bis Amalfi?“, fragte sie. Die Landschaft, die draußen an ihnen vorbeizog, veränderte sich langsam. Die üppigen Laubwälder, durch die sie gefahren waren, machten kargen Felsen Platz. Dazwischen wuchsen einzelne Pinien und Zypressen. Die Luft, die durch das halbgeöffnete Wagenfenster hereinwehte, duftete nach Rosmarin.

„Nicht mehr weit. Eine Viertelstunde!“

Der Wagen fuhr um eine Kurve, und vor Carolyn breitete sich erneut das Meer aus. Tiefblau wie ein samtiger Teppich erstreckte es sich bis zum Horizont. Der Taxifahrer deutete in die diesige Ferne. „Da – Amalfi!“

Er wies nach unten, wo ein pittoresker Ort sich an die ringsum aufragenden Klippen schmiegte. Gelb- und weißgetünchte Häuser waren entlang des Steilhangs in die graue Felsenküste eingelassen worden, und über den Dächern erhob sich die runde Kuppel des Doms. Die Nachmittagssonne tauchte die Szene in ein warmes, goldenes Licht.

Carolyn spürte ein merkwürdiges Beben in der Brust. So, als wäre sie endlich nach Hause gekommen. Was Unsinn war, da sie noch nie zuvor in ihrem Leben in Amalfi gewesen war. Trotzdem konnte sie sich der Anziehung der kleinen Stadt nicht entziehen. „Wie wunderschön“, hauchte sie.

Der Ort wirkte wie verzaubert. Als würde er aus einer anderen Zeit stammen und würde in Wahrheit nicht von Menschen, sondern von Feen und Elfen bewohnt. Was für alberne Gedanken, schalt sie sich selbst. Wie kam sie nur darauf? Für gewöhnlich neigte sie nicht zu übertriebener Romantik.

„Und da oben – der Palazzo d’Oriza!“

Ihr Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Taxifahrers. Auf der Spitze der Klippe, die Amalfi überragte, erhob sich ein schneeweißes Märchenschloss. Wie ihre Recherchen ergeben hatten, stammte der Palazzo aus dem frühen 18. Jahrhundert. Er war quaderförmig angelegt, mit einer breiten Terrasse, die sich an der Schmalseite des Gebäudes weit bis zum Rand der Klippe erstreckte.

Unwillkürlich hielt Carolyn bei dem Anblick die Luft an. Der Palast war atemberaubend. Und erst der Ausblick, der sich einem dort oben bieten musste …

„Lebt der Conte allein dort?“, fragte Carolyn neugierig.

„Oh ja. Ganz allein. Nur mit einer Haushälterin. Und den Zimmermädchen. Und dem Gärtner. Und dem Chauffeur.“

Sie schmunzelte. Ganz allein schien der Graf dann doch nicht zu sein.

Der Wagen fuhr durch den Ort, vorbei am Hafen, wo ein schneeweißes Ausflugsschiff vor Anker lag, und an dem imposanten Dom aus dem 10. Jahrhundert mit seiner einzigartigen farbigen Mosaikfassade. Erneut ging es bergauf, auf engen Serpentinen, die von vereinzelten knorrigen Zypressen beschattet wurden. War es im Tal drückend heiß gewesen, so wurde die Luft, die durch das geöffnete Fenster hereinwehte, allmählich kühler und roch würzig.

Carolyn musste an den Unfall der Gräfin denken. Auf dieser steilen, kurvigen Straße konnte man leicht die Kontrolle über sein Fahrzeug verlieren. Sie schauderte bei dem Gedanken. Was für ein schrecklicher Tod!

Nach weiteren zehn Minuten kam der Palazzo in Sicht. Die Fassade, die mit kostbarem Marmor verkleidet war, strahlte hell im Sonnenschein. Kleine Türme erhoben sich an den Ecken des Gebäudes, während die gesamte Breite mit kunstvoll gearbeiteten Rundbogenfenstern ausgestattet war. Davor erstreckte sich ein Balkon mit reichverzierten Säulen. Nachdem sie das Tor passiert hatten, hielt das Taxi im Hof vor der imposanten Eingangstür.

Carolyn griff nach der Tasche mit ihren Arbeitsunterlagen und stieg aus. Sie bezahlte den Fahrer, nahm ihren Koffer entgegen und ging zur Tür. Sorgfältig strich sie ihr graues Kostüm glatt und straffte den Rücken, bevor sie klingelte. Es dauerte eine Weile, bis aus dem Inneren des Palazzos Schritte zu hören waren, die sich näherten. Eine schwarz gekleidete, etwa sechzigjährige Frau mit streng zurückgekämmtem grauem Haar öffnete.

„Buona sera“, sagte Carolyn. „Mein Name ist Carolyn Whitmore. Ich komme vom Auktionshaus Carringham’s in London.“

Sie war sich nicht sicher, ob die Frau von ihrer Ankunft wusste, doch mit der Reaktion, die sie auf ihre Worte erhielt, hatte Carolyn nicht gerechnet. Die Frau schlug die Hände vors Gesicht, bekreuzigte sich und rief: „Heilige Madonna! Steh uns bei!“

3. KAPITEL

Irritiert blickte Davide von seiner Arbeit auf, als er die aufgebrachte Stimme seiner Haushälterin in der Eingangshalle hörte. Einen Augenblick später wurde die Tür aufgerissen, und Marta stürmte in sein Büro – wild gestikulierend und völlig außer Atem.

„Heilige Madonna! Davide! Sieh nur! Sieh nur!“

Sie deutete hinter sich. Eine schlanke junge Frau in einem grauen Kostüm betrat sein Büro. Davide hatte sich halb aus seinem Sessel erhoben – und erstarrte. Das war … Cinzia! Das blonde Haar … das ebenmäßige, ovale Gesicht mit der schmalen, geraden Nase … die tiefblauen Augen, die ihn eindringlich musterten …

Er keuchte. Unmöglich! Vor ihm stand Cinzia! Die Liebe seines Lebens! Eine Welle der Erregung erfasste ihn und raubte ihm fast den Atem.

Wie konnte das sein? Sie war tot. Und doch … die Ähnlichkeit war frappierend. Nicht nur das Gesicht der jungen Frau glich ihrem, auch ihre Haltung, der Gang … alles erinnerte an Cinzia. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln … und es war, als würde Cinzia ihn anlächeln … ein letztes Mal.

„Conte d’Oriza?“ Zögernd streckte die Frau ihm ihre Hand entgegen. Sie wirkte verwirrt, was angesichts dieses merkwürdigen Empfangs nicht verwunderlich war. „Mein Name ist Carolyn Whitmore. Ich komme vom Auktionshaus Carringham’s. Mein Eintreffen wurde Ihnen angekündigt … hoffe ich zumindest. Falls ich ungelegen komme …“

Davide riss sich zusammen. Er musste diese Gedanken aus seinem Kopf verbannen. Ms. Whitmore musste ihn für verrückt halten. „Durchaus nicht, Ms. Whitmore. Durchaus nicht. Bitte entschuldigen Sie, wenn wir … es ist nur …“

Er wusste nicht, wie er sein Verhalten und das seiner Haushälterin erklären sollte. Also entschied er sich, es einfach zu übergehen. Wer sollte schon verstehen, was gerade in ihm vorging?

Mit festem Griff umfasste er Carolyns Hand, die sich warm und weich in seiner anfühlte. „Willkommen in Amalfi, Ms. Whitmore! Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise?“

Ihr Lächeln gewann an Sicherheit. Es ließ ihr Gesicht auf wunderbare Weise aufleuchten. „Die hatte ich, vielen Dank. Ich war noch nie zuvor in Italien und bin ganz überwältigt von den vielen neuen Eindrücken.“

Ihre Stimme klang hell und melodisch, während die von Cinzia dunkel und tief gewesen war. Hier zumindest gab es Unterschiede. Davide erinnerte sich auch an diesen gelangweilten Ausdruck in Cinzias Augen, mit dem sie alles und jeden bedacht hatte. Carolyn Whitmore betrachtete ihn mit neugierigem Interesse.

Obwohl sie sich Mühe gab, gelassen zu wirken, konnte er ihre Anspannung spüren. Es war ihr mit Sicherheit wichtig, einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen. Nun, sie hatte ja keine Ahnung, was für einen Eindruck sie bereits gemacht hatte!

„Das freut mich. Ich hoffe, dass Sie während Ihres Aufenthaltes noch mehr von unserer zauberhaften Gegend zu sehen bekommen. Die Amalfiküste hat einiges zu bieten.“

„Das wäre schön!“ Sie räusperte sich, als sie sich offenbar daran erinnerte, dass sie nicht zum Vergnügen hier war. „Aber natürlich möchte ich mich in erster Linie meiner Arbeit widmen. Ich freue mich schon sehr auf meine Aufgabe.“

„Mr. Carringham muss große Stücke auf Sie halten, wenn er Sie mit diesem Auftrag betraut hat. Ich bin beeindruckt.“

„Ich werde mich bemühen, seine Erwartungen – und natürlich die Ihren – zu erfüllen“, erwiderte Carolyn förmlich. Sie schien sich nun wieder unter Kontrolle zu haben. Die ursprüngliche Unsicherheit war verflogen, sie wirkte kühl und kompetent. Trotzdem glaubte Davide, ein verborgenes Feuer in ihr zu spüren, das ihn beinahe körperlich wärmte. Die Begeisterung, mit der sie von Italien gesprochen hatte, verriet sie.

Er konnte seinen Blick kaum von ihr abwenden. Ihre Ähnlichkeit mit Cinzia machte ihn immer noch sprachlos.

„Sie müssen erschöpft sein“, meinte er. Tatsächlich waren die Anzeichen von Müdigkeit in ihrer Miene nicht zu übersehen. Kein Wunder! Sie war bestimmt seit Stunden auf den Beinen. Soweit er wusste, gab es keinen Direktflug von London nach Neapel. Vermutlich war sie in Rom umgestiegen. Und dann die Fahrt von Neapel nach Amalfi, bei dieser Hitze …

„Ein bisschen“, gab sie zu. „Es ist sehr heiß hier im Vergleich zu London. Als ich heute ins Flugzeug gestiegen bin, hat es geregnet.“

„Marta wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen.“ Davide deutete auf seine Haushälterin, die immer noch händeringend neben ihnen stand und Carolyn aus großen, ungläubigen Augen anstarrte. „Sie ist die gute Seele des Palazzos.“

„Bitte, Signorina.“ Marta ging voraus zur Tür, und Carolyn folgte ihr. Davide beobachtete ihren sanft wiegenden Gang. Sie besaß eine perfekte Figur, genau wie Cinzia.

Langsam ließ er sich wieder in seinen Sessel sinken.

Was für ein Zeichen wollte das Schicksal ihm mit der Ankunft dieser Frau schicken? Der Schmerz, den er über Cinzias Verlust spürte, wurde bei Carolyns Anblick erneut übermächtig. Doch er verspürte auch ein verzehrendes Verlangen, das er lange für immer verloren geglaubt hatte.

Verzweifelt schloss er die Augen. Wie sollte er Carolyn Whitmore gegenübertreten, wenn jedes Zusammentreffen aufs Neue die Erinnerung an Cinzia heraufbeschwor?

Carolyn wusste nicht so recht, was sie tun oder sagen sollte. Mit einer solchen Begrüßung hatte sie nicht gerechnet. Der Graf schien erstaunt – ja, geradezu bestürzt über ihr Eintreffen gewesen zu sein. Aber Mr. Carringham hatte ihr Kommen doch angekündigt und alle Einzelheiten ihres Auftrages mit ihm besprochen. Konnte es sein, dass der Conte es sich anders überlegt hatte und die Auktion nun doch nicht mehr wollte?

Carolyn straffte ihre Schultern. Nun, das musste er mit Mr. Carringham klären. Über diese Dinge war sie nicht informiert. Aber sie hoffte inständig, dass dem nicht so war. Schließlich konnte dieser Auftrag einen großen Karriereschritt für sie bedeuten. Sollte sie ihn wieder verlieren, wäre das sicher kein Renommee für ihre Position bei Carringham’s. Auch wenn sie nicht das Geringste mit dem Sinneswandel des Grafen zu tun hatte, würde Mr. Carringham den Rückzieher vielleicht ihr anlasten.

„Ich fürchte, der Conte d’Oriza hat mich nicht erwartet“, wandte sie sich an die schwarzgekleidete Haushälterin, die neben ihr herging und sie immer noch mit großen Augen musterte.

„Oh doch, er hat Sie erwartet“, versicherte die ihr. „Aber er hat nicht Sie erwartet!“

Carolyn blinzelte irritiert. Was sollte das nun wieder heißen? Dann fiel ihr die italienische Mentalität ein. War der Graf es vielleicht gewohnt, nur mit Männern zu verhandeln? Allerdings erschien er ihr nicht alt genug, um noch ein derart patriarchalisches Weltbild zu haben. Tatsächlich war der Conte wesentlich jünger, als sie gedacht hatte. Und wesentlich … attraktiver …

„Ich verstehe nicht … was meinen Sie damit?“

Sie beeilte sich, mit Marta Schritt zu halten, die zügig auf die breite Treppe zumarschierte, die in das obere Stockwerk führte. Die große Eingangshalle, die sie durchquerten, war mit rosafarbenem Marmor ausgekleidet, schlanke Säulen stützten die Galerie, die rundherumführte. Im Vorübergehen erhaschte Carolyn kurze Blicke auf Gemälde, Bronzestatuen und kostbare Porzellanvasen, die die Halle füllten.

Marta blieb am Fuß der Treppe unvermittelt stehen und deutete nach oben. „Das meine ich!“, sagte sie.

Carolyn folgte mit dem Blick ihrem ausgestreckten Finger. Die Treppe teilte sich auf einem breiten Absatz und führte rechts und links weiter ins Obergeschoss. Auf dem Absatz hing ein überdimensionales Portrait einer Frau. Sie trug ein fließendes smaragdgrünes Abendkleid und lehnte elegant auf einem goldbezogenen Diwan. Hinter ihr öffnete sich eine breite Flügeltür aus Glas zum Meer hinaus.

Fassungslos starrte Carolyn auf das Bild.

Diese Frau … war sie!

Aber … wie war das möglich? Sie war nie in ihrem Leben gemalt worden, schon gar nicht in einer solchen Pose. Und wie kam das Gemälde in den Palazzo eines italienischen Conte? Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück.

„Wer … ist das?“

„Die Contessa“, stellte Marta fest. „Die verstorbene Frau des Conte.“

Carolyn atmete tief ein. Jetzt begriff sie. Und jetzt wurde ihr auch klar, was diese eigenartige Begrüßung zu bedeuten hatte. Natürlich musste es für den Grafen ein Schock sein, plötzlich dem Ebenbild seiner Gattin gegenüberzustehen. Sie konnte selbst kaum fassen, wie ähnlich sie der Frau auf dem Portrait sah. Es war unglaublich. Sie schüttelte den Kopf.

„Ich verstehe. Es ist einfach …“

„Ein Wunder“, bekräftigte Marta. „Ein Wunder der heiligen Madonna! Sie hat Sie hierhergeführt!“

„Das denke ich nicht. Es ist einfach ein unglaublicher Zufall.“

Aber Marta bestand darauf. „Es ist ein Wunder!“

„Wann ist die Contessa verstorben?“, fragte Carolyn beklommen. Sie hatte das Gefühl, als würde die Frau auf dem Bild sie geradewegs ansehen, vorwurfsvoll, wie es ihr erschien. So als wäre sie ein Eindringling und versuchte, einen Platz einzunehmen, der ihr nicht zustand. Unwillig schüttelte Carolyn erneut den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Warum fiel ihr so etwas ausgerechnet jetzt ein? Sie hatte gehofft, diese Zweifel in England zurückgelassen zu haben …

„Vor zwei Jahren“, beantwortete die Haushälterin ihre Frage. „Seitdem ist der Conte ein gebrochener Mann.“

„Das kann ich mir vorstellen“, hauchte Carolyn, immer noch fasziniert von dem Bild. „Was für eine wunderschöne Frau!“

Ihr wurde bewusst, dass sie damit eigentlich auch sich selbst beschrieb, obwohl sie sich nie für wunderschön gehalten hatte. Aber die Frau auf dem Portrait besaß eine außergewöhnliche Ausstrahlung, die jeden Betrachter sofort in den Bann zog.

So eine Ausstrahlung habe ich nie besessen, dachte Carolyn bitter.

„Schönheit ist nicht alles“, erwiderte Marta nüchtern. „Es braucht mehr, um ein wundervoller Mensch zu sein.“

Carolyn warf ihr einen erstaunten Blick zu. Sprach sie der Gräfin diese Eigenschaften etwa ab?

Marta stieg entschlossen die Treppe hinauf. „Bitte, kommen Sie! Emilia!“, rief sie laut.

Am Stiegenabsatz tauchte ein Hausmädchen in einem schwarzen Kleid und einer gestärkten weißen Schürze auf.

„Bring das Gepäck der Signorina ins Rosenzimmer. Beeil dich!“

Das Mädchen knickste artig und eilte zum Eingang, wo Carolyn ihren Koffer abgestellt hatte. Währenddessen folgte sie Marta einen langen Gang entlang, der mit eleganten seidenen Tapeten ausgekleidet war, bis zu einer Tür auf der rechten Seite. Marta öffnete sie und ließ Carolyn den Vortritt in einen atemberaubend schönen Raum. Er wurde nicht umsonst das Rosenzimmer genannt. Die edlen Blumen waren überall verewigt: auf der Tapete, den Bezügen der eleganten Sitzgruppe vor dem Fenster und den Vasen, die über den ganzen Raum verteilt und mit echten, duftenden Rosen gefüllt waren.

Carolyn war überwältigt. Sie liebte Rosen! In diesem Zimmer konnte man sich wahrhaftig wie eine Prinzessin fühlen. Staunend schaute sie sich um. „Was für ein herrlicher Raum!“, entfuhr es ihr.

„Die Contessa hat ihn eingerichtet. Rosen waren ihre Lieblingsblumen“, erklärte Marta.

Sofort fühlte Carolyn sich ernüchtert. Der Schatten der Gräfin schien in diesem Palazzo allgegenwärtig zu sein. Sie seufzte. Es würde nicht einfach werden, in den nächsten Wochen in dieser Atmosphäre zu arbeiten, ohne sich klein und unbedeutend vorzukommen. Wenn die heilige Madonna sie tatsächlich hierhergeführt hatte, war ihr nicht ganz klar, wozu. Um ihr erneut vor Augen zu führen, wo ihr Platz war? Als ob sie das nicht wüsste!

Mit schmerzlicher Heftigkeit vermisste sie plötzlich ihre Schwestern. Hoffentlich ging es den beiden gut. Sie waren das letzte Stück Heimat, das sie noch hatte. Doch selbst das schien sich in alle Winde zu verteilen. Annabelle war in London, Samantha in Südfrankreich. Nichts schien mehr so zu sein, wie es gewesen war …

Angespannt saß Davide am Kopfende des langen Esstisches aus blankpoliertem Nussbaumholz und wartete auf seinen Gast. Marta hatte für Ms. Whitmore zu seiner Rechten gedeckt. Es wäre wohl etwas albern gewesen, sie an das andere Ende der Tafel zu verbannen. Einen Augenblick lang hatte er sogar erwogen, im Grünen Salon zu dinieren, so wie er es am Vorabend mit Amelie getan hatte, aber der Raum erschien ihm ein wenig zu intim.

Noch immer wusste er nicht, wie er sich Ms. Whitmore gegenüber verhalten sollte. Sie konnte schließlich nichts dafür, dass sie Cinzia wie aus dem Gesicht geschnitten war. Auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie so etwas überhaupt möglich war. Handelte es sich einfach um eine Laune der Natur? Allerdings weckte die Ähnlichkeit in ihm Erinnerungen, die aufwühlend und schmerzlich zugleich waren. Wie sollte er …

Höflich erhob er sich, als Carolyn das Speisezimmer betrat. Sie trug ein schlichtes blaues Kleid, das elegant ihre schlanke Figur umschmeichelte. Ihre Haare fielen in weichen goldenen Wellen auf ihre Schultern. Sie sah Cinzia so ähnlich … und doch entdeckte er nun einige Unterschiede. Carolyn hielt sich sehr gerade und aufrecht, ihre Haltung wirkte fast militärisch. Sie erinnerte ihn an einen General, der in die Schlacht marschierte. Ihr schmales Gesicht zeigte einen angespannten Ausdruck, aber auf ihren Lippen lag ein warmes Lächeln.

„Buona sera, Signorina Whitmore“, begrüßte Davide sie. „Ich hoffe, Sie sind schon ein wenig heimisch geworden im Palazzo d’Oriza?“

„Danke, ich fühle mich sehr wohl. Das Zimmer, das ich bewohnen darf, ist wundervoll! Und der Ausblick aufs Meer ist einfach atemberaubend!“

„Das freut mich.“

Sie setzten sich, und Marta eilte herbei, um den ersten Gang aufzutragen, hauchdünnes Rinder-Carpaccio, das mit Olivenöl und Balsamico mariniert war. Davide schenkte Wein in die geschliffenen Gläser. Die Flasche stammte von seinem eigenen Weingut in der Nähe von Neapel, und er servierte sie mit besonderem Stolz. Rubinrot funkelte die Flüssigkeit im Licht der Kerzen, die auf dem Tisch standen.

„Salute, Signorina Whitmore.“ Davide hob sein Glas und prostete ihr zu.

„Bitte, nennen Sie mich Carolyn“, bat sie, während sie mit ihm anstieß.

„Sehr gerne. Und Sie sagen Davide zu mir.“

Sie nickte. Ein rosiger Schimmer trat auf ihre Wangen. Ein Schimmer, der ihr Gesicht noch lieblicher machte, als es ohnehin schon war. Er ertappte sich dabei, dass er sie fasziniert anstarrte. Auch Carolyn schien seinen Blick bemerkt zu haben. Sie stellte ihr Glas beiseite.

„Ich habe das Bild gesehen“, erklärte sie unvermittelt. „Das Bild über der Treppe. Und mir ist natürlich nicht entgangen, dass ich Ihrer verstorbenen Frau sehr ähnlichsehe. Ich bin selbst verblüfft darüber, aber mir ist klar, dass es für Sie ungleich schwieriger sein muss. Ich hoffe, diese Tatsache stellt kein Hindernis für unsere Zusammenarbeit dar?“

Sie sah ihn eindringlich an. Ihre Augen schimmerten tiefblau wie das Meer. Davide spürte das Verlangen, seine Hand auszustrecken und ihre Wange zu berühren, die Wärme ihrer Haut zu fühlen … Er räusperte sich, aber er konnte trotzdem nicht verhindern, dass seine Stimme merkwürdig rau klang.

„Natürlich nicht. Auch wenn es eine … unglaubliche Besonderheit ist, die ich mir nicht erklären kann. Aber ich versichere Ihnen, dass es kein Problem für mich ist.“ Er bemühte sich um ein sorgloses Lächeln. „Vielleicht haben Sie ja italienische Vorfahren?“

Carolyn lachte, ein unglaublich warmes, helles Lachen, das ein Kribbeln durch seinen ganzen Körper sandte. „Das glaube ich nicht. Mein Vater war ein waschechter Cockney aus dem Londoner East End, und meine Mutter war Irin!“

Davide schüttelte verwirrt den Kopf. „Ein Cockney? Davon habe ich noch nie gehört.“

Wieder lachte Carolyn. „Das East End ist der weniger vornehme Teil Londons. Und als Cockney bezeichnet man seine Bewohner, die eher der Arbeiter- und der Unterschicht entstammen. Mein Vater führte dort einen Pub.“

„Oh, ein Wirt genießt in Italien großes Ansehen. Gutes Essen ist für uns sehr wichtig. Aber Sie sprechen von Ihren Eltern in der Vergangenheit. Sind sie …?“

„Sie starben vor fünf Jahren bei einem Busunglück“, erklärte Carolyn mit belegter Stimme.

„Das tut mir leid.“ Davide suchte ihren Blick. „Haben Sie sonst keine Angehörigen mehr?“

„Doch, doch. Ich habe zwei Schwestern und eine kleine Nichte. Wir stehen uns sehr nahe und unterstützen uns, soweit es geht.“

„Das muss ein großer Trost für Sie sein“, stellte er fest. Ein Trost, der ihm immer gefehlt hatte. Genaugenommen standen ihm nur noch Marta und Amelie nahe.

Carolyn nickte. „Ja, das ist es. Ich weiß nicht, was ich ohne die beiden gemacht hätte.“

„Und wo sind Ihre Schwestern jetzt?“

„Annabelle ist die Älteste von uns dreien. Sie arbeitet in London bei einer großen Investment-Firma und hat eine kleine Tochter, die wir alle sehr lieben. Meine jüngere Schwester Samantha ist zurzeit in Südfrankreich. Unsere Tante führt dort ein kleines Hotel, und Sam ist ihr behilflich.“

Sie sprach etwas verhalten über ihre Familie, als wäre es ihr unangenehm, Persönliches preiszugeben. Davide konnte das verstehen. Er war selbst jemand, der nur ungern andere an seinem Privatleben teilhaben ließ.

„Und Ihre Familie?“, fragte Carolyn. „Leben Ihre Eltern noch?“

Davide lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Marta servierte soeben den Hauptgang, Goldbrasse mit gedünsteten Tomaten und Fenchel. Sie warf ihm einen strengen Blick zu, als wollte sie ihn ermahnen, ehrlich zu sein. Er atmete tief durch. „Mein Vater lebt in Amalfi, aber er zieht es vor, mit seiner Geliebten eine kleine Wohnung zu teilen. Wo sich meine Mutter aufhält, weiß ich nicht.“

„Davides Mutter hat die Familie verlassen, als er gerade einmal vier Jahre alt war. Sein Kindermädchen und ich haben ihn aufgezogen“, mischte Marta sich ungefragt ein.

„Du hast mich großgezogen“, verbesserte Davide sie. „Pia war anderweitig beschäftigt.“

„Was hätte dein Vater denn tun sollen? Ewig trauern? Er war ein junger Mann, so alt wie du jetzt. Und Pia war eine sehr hübsche junge Frau“, hielt Marta dagegen. Ihre Augen funkelten trotzig. „Du hast kein Recht, den beiden Vorhaltungen zu machen.“

Würdevoll verließ sie das Speisezimmer. Davide räusperte sich verlegen, als er sich an Carolyn wandte. „Wie Sie vermutlich schon erfasst haben, handelt es sich bei der Geliebten meines Vaters um mein ehemaliges Kindermädchen Pia. Die beiden begannen kurz nach dem Verschwinden meiner Mutter ein Verhältnis.“

Er starrte in düsterem Schweigen vor sich hin. Carolyn beugte sich vor. „Das muss sehr schwer für Sie gewesen sein. Erst Ihre Mutter zu verlieren – und dann in gewisser Weise auch noch Ihren Vater …“

Ihre Hand ruhte neben seiner auf der weißen Damast-Tischdecke, und Davide kämpfte gegen das Bedürfnis an, seine Hand auf ihre zu legen. Carolyn und er waren sich sehr ähnlich. Sie kannten beide das Gefühl von Verlust. Zu gerne hätte er sie berührt und ihr Trost gespendet. Eine atemlose Stille lag über dem Raum, die auch Carolyn zu spüren schien. Hastig senkte sie den Kopf und wandte sich wieder ihrem Essen zu.

Nach dem Dessert stand sie abrupt auf. „Bitte entschuldigen Sie, wenn ich mich jetzt schon zurückziehe, aber ich hatte einen sehr langen Tag.“

Auch Davide erhob sich. „Natürlich, das verstehe ich. Gute Nacht, Carolyn. Ich werde Ihnen morgen den Palazzo und Ihre Aufgaben zeigen.“

Sie schenkte ihm ein zartes Lächeln. „Gute Nacht, Davide. Ich freue mich schon.“

Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, ließ Davide sich zurück in seinen Sessel sinken. Er spürte eine tiefe Erregung in sich. Erregung worüber? Sie war nicht Cinzia, trotz der unglaublichen Ähnlichkeit, so viel war ihm während des Essens klar geworden. Sie war ganz anders als Cinzia: ruhig, still, kontrolliert. Dennoch ging von Carolyn Whitmore eine eigenartige Faszination aus, der er sich kaum entziehen konnte …

4. KAPITEL

Alles Gute für deine neue Aufgabe! Und viel Erfolg!

Annabelles aufmunternde Nachricht erschien auf Carolyns Handy. Sam hatte ein „Daumen hoch“-Emoji geschickt. Seufzend legte Carolyn ihr Telefon beiseite. Es war schön, wenigstens auf diese Weise mit ihren Schwestern verbunden zu sein. Dennoch fehlten die beiden ihr sehr.

Sie hatte nicht allzu gut geschlafen in der vergangenen Nacht. Zu vieles war ihr durch den Kopf gegangen. Dieses Bild von Cinzia d’Oriza, das über der Treppe hing, hatte sie bis in ihre Träume verfolgt. Die Frau auf dem Gemälde war plötzlich lebendig geworden und hatte sie durch die verwinkelten Gänge des Palazzos gejagt. In Todesangst war Carolyn vor ihr geflohen, obwohl sie nicht wusste, warum sie Angst vor ihr haben sollte.

Seufzend schüttelte sie den Kopf und schwang sich aus dem Bett. Es war nicht ihre Art, Gespenster zu sehen oder sich einschüchtern zu lassen. Zu hart hatte sie für alles, was sie bisher erreicht hatte, kämpfen müssen. Ihre Herkunft hatte sie nicht unbedingt dafür prädestiniert, in Kreisen wie diesen zu verkehren.

Nicht gut genug! Nicht ihre Welt!

Lady Westbrooks Stimme hallte in ihrem Kopf wider, aber Carolyn sperrte sie verbissen aus. Sie würde nicht aufgeben, und sie würde Erfolg haben. Nichts und niemand konnte sie davon abhalten. Auch nicht die Geister der Vergangenheit. Zugegeben, diese Ähnlichkeit mit der verstorbenen Gräfin d’Oriza war … irritierend, aber nicht mehr. Eine Laune der Natur! Nichts, das irgendeinen Einfluss auf sie hatte.

Rasch duschte sie und zog sich an. Es war so früh am Morgen bereits heiß und schwül, deshalb entschied sie sich für ein leichtes blau gestreiftes Leinenkleid, das sie nicht allzu sehr einengte. Auf sie wartete eine Menge Arbeit. Mr. Carringham hatte die Auktion für das nächste Quartal angesetzt, was bedeutete, dass sie nur etwa drei Wochen Zeit hatte, um die Stücke, die zur Versteigerung vorgesehen waren, zu katalogisieren und zu bewerten.

Das wäre alles machbar, wenn da nicht Davide d’Oriza gewesen wäre … In Gedanken sah sie sein schmales, scharfgeschnittenes Gesicht vor sich. Am vergangenen Abend hatte er ihr so eindringlich in die Augen geschaut, dass sie meinte, lodernde Flammen in seiner schwarzen Iris tanzen zu sehen. Carolyn spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Der Conte hatte eine sehr dominante Ausstrahlung. Er erschien ihr wie aus einer anderen Zeit, als ein Adeliger noch der Herr über Leben und Tod seiner Untergebenen war …

Was für ein Unsinn, sagte sie sich. Wie kam sie nur auf so etwas? Sie war nicht unbedingt der Typ, der sich für Kitschromane begeistern konnte. Aber genau einem dieser Schmonzetten schien Davide d’Oriza entsprungen zu sein. Ein dunkler Ritter, der seine Angebetete in der Nacht auf sein Schloss entführte und liebte bis zum Morgengrauen.

Vielleicht sollte ich selbst anfangen, solche Geschichten zu schreiben, dachte Carolyn sich ironisch. Manchmal ging eindeutig die Fantasie mit ihr durch. Der Graf war ein moderner Mann, der seine Ländereien verwaltete und sich vermutlich genauso mit dem Finanzamt und anderen Behörden herumschlagen musste wie jeder andere. Und seine Liebe … die galt ausschließlich seiner verstorbenen Frau. Das hatte Carolyn bei ihrem gemeinsamen Abendessen deutlich gemerkt.

Warum diese Erkenntnis ihr einen Stich versetzte, konnte sie sich selbst nicht erklären. Sie war nur daran interessiert, ihren Job zu Davides Zufriedenheit zu erledigen, um Mr. Carringham zu beeindrucken. Davide d’Oriza und sie stammten aus völlig unterschiedlichen Welten … das wusste sie nur zu gut!

Davide trommelte mit den Fingern auf die Damastdecke, die den Tisch im Frühstückszimmer bedeckte. Kostbares Porzellan war ausgelegt, auf einer Anrichte am Fenster standen dampfende Schüsseln mit Rührei, gebratenem Speck und diesen merkwürdigen Würstchen, die die Engländer zum Frühstück aßen. Außerdem gab es Toast, Butter und Marmelade. Marta hatte offenbar entschieden, Ms. Whitmore das Frühstück zu servieren, das sie aus ihrer Heimat gewohnt war, wie Davide amüsiert feststellte.

Er selbst hatte sich nur eine Tasse starken schwarzen Kaffee eingeschenkt. Mehr brauchte er am Morgen nicht. Wie üblich war er schon seit Sonnenaufgang wach und hatte bereits ein paar Bahnen in seinem Pool auf der Rückseite des Palazzos zurückgelegt. Sein dunkles Haar glitzerte noch feucht im Licht der Morgensonne, die sich durch das Fenster stahl.

Natürlich wusste er, dass er nicht auf Carolyn warten musste. Marta würde ihn informieren, wenn die englische Signorina zum Frühstück kam. Trotzdem konnte er sich nicht überwinden zu gehen. Er wollte hier sein, wenn sie das Zimmer betrat, mit diesem anmutigen, wiegenden Gang, der so viele Empfindungen in ihm heraufbeschwor. Erinnerung, Sehnsucht, Begehren …

„Guten Morgen, Davide!“

Ihre Stimme erfüllte den Raum mit ihrem warmen Klang. Sie lächelte ihn an, als sie durch die Tür schritt. Er spürte, wie dieses Lächeln seinen Blick fesselte und ihn gefangen nahm.

Aber sie ist nicht Cinzia, sagte er sich immer wieder. Es war nur eine Illusion. Eine wundervolle, schmerzliche Illusion. Dennoch konnte er seine Augen nicht von ihr abwenden.

„Guten Morgen, Carolyn. Haben Sie gut geschlafen?“

„Danke, ja. Allerdings …“

„Allerdings?“

„Ich schlafe nie besonders gut, wenn ich zum ersten Mal in einer neuen Umgebung bin“, erwiderte sie ausweichend. „Ich bin wohl ein Gewohnheitstier.“

Er nickte. „Das bin ich ebenfalls. Auch ich brauche immer eine Weile, um mich auf Neues einzustellen. Das liegt wohl an meinem fortgeschrittenen Alter“, fügte er mit einem Schmunzeln hinzu.

Carolyn warf ihm einen raschen Blick zu. „Oh, ich glaube kaum, dass man bei Ihnen von ‚fortgeschrittenem Alter‘ sprechen kann …“

Davide neigte übertrieben würdevoll den Kopf. „Vielen Dank. Ich nehme das als ein Kompliment.“

Sie lachte, hell und fröhlich. Der Klang wärmte sein Herz. Wie sehr hatte er das in den letzten zwei Jahren vermisst: Unbeschwertheit und Heiterkeit. Es war, als hätte mit Carolyn Whitmores Ankunft ein Sonnenstrahl die dunklen Schatten zerschnitten. Er beobachtete mit Vergnügen, wie sie Eier, Speck und Toast auf ihren Teller häufte. Offensichtlich verfügte sie über einen gesunden Appetit, obwohl sie gertenschlank war.

„Essen Sie nichts?“, fragte sie erstaunt, als sie sich ihm gegenüber niederließ.

Davide hob seine Tasse. „Kaffee genügt mir.“

„Das ist sehr asketisch“, stellte sie unumwunden fest. „Sagten Sie nicht, Italiener würden gutes Essen über alles schätzen?“

Seine Mundwinkel zuckten. Carolyn war offenbar eine Frau, die kein Blatt vor den Mund nahm. Auch ein Unterschied zu Cinzia, denn ihre Worte waren immer sorgfältig gewählt gewesen, darauf ausgerichtet, ihr ihren Willen zu verschaffen. Bis zu diesem letzten Tag, als ihre wahren Gefühle aus ihr herausgebrochen waren. War er wirklich ein solcher Tyrann?

„Bitte entschuldigen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein“, hörte er Carolyn besorgt sagen. Sie sah ihn eindringlich an.

Sofort zwang Davide wieder ein Lächeln auf seine Lippen. „Das waren Sie nicht. Ich habe nur … ich war in Gedanken.“

Eine angespannte Stille legte sich über den Raum. Carolyn beugte sich über ihren Teller und beendete hastig ihr Frühstück, während Davide blicklos ins Leere starrte. Sie war nicht Cinzia. Das wurde ihm einmal mehr bewusst. Sie war nur eine Kopie. Ein Abklatsch jener Frau, die er mehr geliebt hatte als sein eigenes Leben.

Das war ein Fehler, ermahnte Carolyn sich. Egal wie umgänglich Davide d’Oriza auch wirken mochte, es kam bei einem italienischen Conte offenbar nicht gut an, sein Verhalten zu kritisieren – wie leise auch immer.

„Samthandschuhe, Ms. Whitmore!“ Mr. Carringhams Worte kamen ihr wieder in den Sinn. Sie musste tatsächlich noch viel lernen, was gehobene Umgangsformen betraf. Davon hatte sie im Pub ihrer Eltern nicht allzu viel mitbekommen. Im Three Crowns hatte ein etwas rauerer Ton geherrscht. Trotzdem war das gesellige Miteinander dort von einer Herzlichkeit erfüllt gewesen, die sie immer noch schmerzlich vermisste. Im Three Crowns war sie zu Hause gewesen, die Tochter des Wirtes, der man mit Respekt und Freundlichkeit begegnet war. Jeder dort hatte sie „Carolyn, Liebes“ genannt.

Tränen brannten plötzlich in ihren Augen. Sie wünschte sich wieder zurück in die verrauchte Atmosphäre des Pubs, zu den lauten Stimmen, dem Gelächter und fröhlichen Klirren der Gläser. Dort hatte sie sich zugehörig gefühlt. In der Welt des Grafen würde sie immer nur ein Eindringling sein. So wie bei Andrew …

„Wenn Sie mit dem Frühstück fertig sind, werde ich Ihnen den Raum zeigen, in dem sich die Antiquitäten befinden, die zur Versteigerung bestimmt sind“, erklärte Davide unvermittelt.

War er in Eile? Sie hatte gar nicht daran gedacht, dass er vielleicht Termine haben könnte, von denen sie nichts wusste. Wie rücksichtslos von ihr! Schon wieder hatte sie das Gefühl, ins Fettnäpfchen getreten zu sein. Rasch nahm sie einen letzten Schluck von ihrem Kaffee, legte ihre Serviette beiseite und stand auf.

„Natürlich. Das würde mich brennend interessieren.“

Sie folgte Davide aus dem Frühstückszimmer durch lange Gänge, die mit Marmor ausgelegt waren. Ihre Schritte hallten laut in dem leeren Schloss. Überall an den Wänden hingen Gemälde aus verschiedenen Epochen, die Carolyn nur flüchtig im Vorbeigehen wahrnahm. Trotzdem war ihr bewusst, dass es sich um unbezahlbare Schätze handelte.

Der Palazzo d’Oriza glich einem Museum, das hinter jeder Ecke neue atemberaubende Kostbarkeiten enthüllte. Als sie einen weitläufigen Salon durchquerten, der mit antiken persischen Teppichen ausgelegt und mit dunklem Mobiliar ausgestattet war, blieb Carolyn abrupt stehen.

„Das ist – ein Botticelli!“

Sie deutete fassungslos auf das riesige Gemälde, das über dem Marmor-Kamin thronte. Es zeigte eine Gruppe junger Frauen vor einem kleinen Wäldchen. Die Frauen waren in einen sinnlichen Tanz vertieft, zu dem ein junger Schäfer die Flöte blies.

Ein Botticelli! Die Hand des italienischen Meisters war untrüglich an den schlanken, anmutigen Figuren der Tänzerinnen zu erkennen und an ihren ernsten, madonnenhaften Gesichtern. Botticellis Bilder hingen üblicherweise in Museen, schwer bewacht. Hier stand sie vor einem solchen Kunstwerk, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.

Davide trat neben sie. „Sie mögen Botticelli?“

„Ich … liebe ihn!“, hauchte Carolyn. „Seine Sinnlichkeit ist unbeschreiblich.“

Auch bei diesem Motiv hier war die erotische Stimmung der Szene deutlich zu spüren. Die Kleider der jungen Frauen wehten in der Bewegung des Tanzes und ließen die Konturen ihrer Körper erahnen.

Die Schwüle, die im Raum herrschte, wirkte plötzlich bedrückend. Carolyn schluckte. Warum berührte dieses Bild sie so? Warum spürte sie beim Anblick der Szene Hitze in sich aufwallen?

„Ja, es ist wunderschön.“ Davides Stimme klang ungewohnt rau. „Viele Museen und Sammler haben schon versucht, es mir abzukaufen, aber ich kann mich nicht davon trennen. Es ist wie ein Bann, der von ihm ausgeht.“

Carolyn war sich dieser Faszination ebenfalls bewusst. Fast glaubte sie, die Melodie des jungen Schäfers hören zu können. Mit Anstrengung riss sie sich von dem Bild los.

„Ich bin überwältigt von Ihrem Palazzo“, gestand sie. „All diese Kunstwerke, von denen Sie tagein, tagaus umgeben sind … es ist unbeschreiblich!“

„Nun ja, manchmal fühle ich mich selbst ein bisschen wie ein Ausstellungsstück“, entgegnete Davide mit einem schiefen Lächeln. „Wie etwas, das nicht mehr ganz zeitgemäß ist. Wer braucht all das noch?“

„Ich finde, die Kunst ist eine wundervolle Möglichkeit, uns selbst zu erkennen“, widersprach sie.

„Und was erkennen Sie in dem Botticelli?“ Davide sah sie ernsthaft an.

Carolyn schluckte. Die Worte kamen ihr wie von selbst in den Sinn. „Die Kraft der Leidenschaft und der Hingabe. Die Frauen auf dem Bild sind ganz in ihren Gefühlen gefangen und haben alles um sich vergessen. Raum, Zeit … gesellschaftliche Unterschiede …“

Er nickte. „Ja, das stimmt. Sie wollen nur lieben – und geliebt werden.“

Abrupt wandte er sich ab, als wäre ihm seine Bemerkung peinlich. Befürchtete er, zu viel von sich preisgegeben zu haben? Dabei wollte doch jeder Mensch geliebt werden. Um seiner selbst willen. Ein schmerzlicher Druck machte sich in Carolyns Brustkorb breit. Sie hatte das einst selbst gehofft, aber dann …

Hastig lief sie hinter Davide her, beeilte sich, mit ihm Schritt zu halten. Sie kamen in die Halle und stiegen die breite Treppe hinauf, vorbei an Cinzias Gemälde. Der Blick der jungen Frau schien ihnen zu folgen, vorwurfsvoll, wie es Carolyn vorkam, so als würde sie dieses Eindringen in ihr Reich missbilligen. Es sollten auch Stücke aus dem Besitz der verstorbenen Gräfin zur Auktion kommen, soweit Carolyn wusste.

Vor einer der hohen weißen, mit goldenen Ornamenten verzierten Türen blieb Davide stehen. Einen Augenblick schien er zu zögern, dann stieß er die Tür mit einem Ruck auf und trat zur Seite, um Carolyn den Vortritt zu lassen. Der Raum, in den sie eintrat, war atemberaubend. Er erinnerte an einen orientalischen Palast, eine Explosion an Farben und Formen. Die Wände waren in einem satten Purpurton gestrichen, die Polstermöbel mit grüner und blauer Seide bezogen. In der Mitte des Zimmers thronte eine üppige Sitzlandschaft, die mit Polstern und Decken belegt war. Von der Decke hing ein riesiger, vielarmiger Kronleuchter, der im Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster drang, glitzerte und funkelte wie eine Discokugel. Vorhänge mit zarten Blütenmustern bauschten sich in der sanften Brise, die vom Meer heranwehte.

Atemlos schaute Carolyn sich um. „Was für ein außergewöhnlicher Raum!“, entfuhr es ihr. Nichts schien wirklich zusammenzupassen, alles war extravagant durcheinandergeworfen, und doch ergab sich ein beeindruckendes Ganzes.

„Es war das Schlafzimmer meiner Frau“, erwiderte Davide sichtlich bewegt. Offenbar wurden viele Gefühle in ihm wach, die er ansonsten unter Verschluss zu halten pflegte. Tatsächlich trug der Raum eine so deutliche Handschrift, dass er zweifellos den Geist seiner ehemaligen Bewohnerin atmete. Hier war Cinzia lebendiger als irgendwo sonst im Palazzo!

Langsam setzte Carolyn einen weiteren Schritt in das Zimmer. Sie fühlte sich wie ein Eindringling, der vorhatte, ein Rätsel zu entschlüsseln, das man besser ruhen lassen sollte. Unsinn, ermahnte sie sich selbst. Siehst du schon Gespenster? Die gibt es nicht. Es ist nur ein Zimmer, und du bist hier, um den Wert der Einrichtung zu schätzen. Nicht mehr und nicht weniger.

„Es fällt mir schwer, den Raum zu betreten“, griff Davide ihre Gedanken auf, als hätte er sie gehört. „Alles hier erinnert mich an Cinzia.“

„Das kann ich verstehen. Sie muss eine außergewöhnliche Frau gewesen sein.“

„Ja, das war sie. Ich habe sie vom ersten Augenblick an geliebt, schon als ich sie zum ersten Mal sah. Nichts und niemand hätte mich von ihr fernhalten können. Wir waren innerhalb einer Woche verheiratet!“

„Das klingt sehr – romantisch“, hauchte Carolyn mit belegter Stimme. Nichts und niemand hätte ihn fernhalten können  Keine Konventionen, keine familiären Gebote. Für Davide zählte nur seine Liebe zu Cinzia. Carolyn fühlte einen Stich in ihrem Herzen. So geliebt zu werden … würde sie das jemals auch erleben?

„Sie war mein ganzes Leben“, erklärte Davide düster. „Seit ihrem Tod hat nichts mehr eine Bedeutung für mich.“

„Jeden Morgen geht eine neue Sonne auf. Das pflegte meine Mutter immer zu sagen. Manchmal findet man das Glück ganz unerwartet.“ Carolyn hörte selbst, wie hohl ihre Worte klangen. Ausgerechnet sie wollte einem anderen Anleitungen zum Glücklichsein geben – welch ein Hohn!

„Vielleicht“, murmelte Davide nur.

Carolyn zog die Schultern hoch. Warum hielt sie nicht einfach ihren Mund? Was wusste sie schon darüber, wie es dem Conte ging? Der Mann, in den sie verliebt gewesen war, lebte schließlich noch. Es war etwas völlig anderes, seine große Liebe an den Tod zu verlieren.

Sie bemühte sich, zu ihrer alten Geschäftsmäßigkeit zurückzukehren. „Und was in diesem Raum möchten Sie von Carringham’s versteigern lassen?“

„Alles“, erklärte Davide mit fester Stimme.

„Alles?“ Sie sah ihn erstaunt an. „Wollen Sie wirklich den gesamten Besitz Ihrer Frau weggeben? Es sind doch sicher auch persönliche Erinnerungen damit verbunden …“

Über Davides Gesicht hatte sich ein Schatten gelegt. „Zu viele Erinnerungen“, murmelte er mit tonloser Stimme. „Ich habe lange überlegt, was ich mit den Sachen meiner Frau tun soll. Zu Beginn wollte ich alles so lassen, wie es ist, aber … seit Cinzia tot ist, bin ich wie erstarrt. So als wäre ich mit ihr gestorben. Ich habe die Hoffnung … vielleicht … kann ich wieder atmen, wenn ich mich von allem trenne, das mit ihr verbunden war.“

Wie ein Exorzismus, dachte Carolyn unvermittelt. So wie sie Andrews Fotos zerrissen und seine Geschenke in den Müll geworfen hatte. Um die Geister der Vergangenheit zu bannen und Platz für Neues zu schaffen. Ja, das konnte sie verstehen.

Sie sah sich abwägend um. Der Raum war geradezu vollgestopft mit Dingen, egal ob kostbar oder nicht. „Es wird eine Weile dauern, das alles zu katalogisieren und eine Bewertung abzugeben.“

„Es eilt nicht“, erwiderte Davide. Er holte tief Luft, als würde die Atmosphäre des Zimmers ihn erdrücken. Für einen Augenblick dachte Carolyn, er würde aus dem Zimmer flüchten, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. „Ich habe vor, im Namen meiner Frau eine Stiftung ins Leben zu rufen, die bedürftigen Familien unter die Arme greift. Der Erlös der Auktion soll in diese Stiftung fließen. Dann kommt Cinzias Hinterlassenschaft einem wohltätigen Zweck zugute.“

Carolyn nickte. „Das ist ein sehr schöner Gedanke.“ Sie war ein paar Schritte weitergegangen und blieb nun wie angewurzelt stehen. An der gegenüberliegenden Wand stand Cinzias Bett, der Traum jeder Prinzessin: auf hohen schneeweißen Pfosten, mit unzähligen Polstern und Decken und einem sternenbestickten Baldachin. Über dem Bett hing ein kleines Madonnen-Bildnis.

„Der Tizian“, flüsterte sie beinahe ehrfürchtig.

„Auch der Tizian soll versteigert werden“, bestätigte Davide. „Ich nehme an, er wird einen guten Preis bringen.“

Carolyn war nähergetreten und nahm das Bild genauer in Augenschein. Es zeigte die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm. Das Baby war an ihre Schulter gelehnt, die Frau blickte mit liebevollem Blick darauf hinunter. Die Handschrift des großen Renaissance-Künstlers Tizian war unverkennbar. Obwohl das Gemälde nur etwa zwanzig Mal dreißig Zentimeter maß, war es von unvorstellbarem Wert. Vorsichtig nahm Carolyn den kostbaren Goldrahmen von der Wand.

Einen echten Tizian in den Händen zu halten war ein besonderes Erlebnis. Sie hatte im Laufe ihrer Tätigkeit für Carringham’s schon einige wertvolle Arbeiten restauriert und begutachtet, aber noch niemals ein solches Meisterwerk. Andächtig wanderte ihr Blick über das Bild, nahm jede Einzelheit, jeden Pinselstrich auf … die Farben, die Neigung des Kopfes der Madonna, die Form ihrer Hand … ein dunkler Fleck in der unteren Ecke erregte ihre Aufmerksamkeit. Carolyn beugte sich vor, um ihn genauer zu betrachten.

Ihre Augen verengten sich, als sie über die Stelle strich. Was hatte das zu bedeuten? Es sah beinahe so aus, als wäre …

Ihr Herz schlug schneller.

War das möglich?

Konnte es sein, dass der berühmte Tizian der Familie d’Oriza eine Fälschung war?

5. KAPITEL

Eine merkwürdige Beklommenheit hatte von Davide Besitz ergriffen, als er den Raum betrat. So viele Erinnerungen waren damit verbunden: Cinzia, die sich lachend um ihre eigene Achse drehte; Cinzia, aus irgendeinem unerfindlichen Grund in Tränen aufgelöst; seine Frau in seinen Armen, atemlos vor Leidenschaft. Die Bilder, die vor ihm auftauchten, nahmen ihm fast die Luft, so intensiv waren sie.

Doch je länger er sich in Cinzias Zimmer aufhielt, umso mehr verblassten die Geister der Vergangenheit. Fasziniert beobachtete er, wie Carolyn Schritt für Schritt den Raum ausfüllte, in dem sich Cinzia aufgehalten hatte. Wachte er oder träumte er? War das alles real?

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er plötzlich Amelies Stimme vor dem Schlafzimmer hörte. Er wollte hinauseilen, um sie abzufangen und auf Carolyns Anwesenheit vorzubereiten, doch bevor er die Tür erreichte, stand seine Schwägerin bereits vor ihm. Mit einem Blick nahm sie erst ihn und dann die Frau hinter ihm wahr. Ihre Augen traten beinahe aus den Höhlen, als sie Carolyn sah. Entsetzen und – Abscheu zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab.

„Cin …“

Hilfesuchend wandte sie sich zu Davide herum. Sie wankte plötzlich, verdrehte die Augen und sank besinnungslos zu Boden, ehe er nach ihr greifen konnte. Sofort kniete er neben ihr nieder und hob ihren Oberkörper hoch. „Amelie! Hörst du mich, Amelie?“

Im selben Augenblick war Carolyn neben ihm und umfasste Amelies Handgelenk, um ihren Puls zu fühlen. Amelies Lider flatterten, und sie bewegte mit einem leisen Stöhnen den Kopf.

„Was …? Davide?“ Sie erblickte Carolyn, die sich über sie beugte, und wich angsterfüllt zurück. „Was – wer ist das …?“

„Das ist Ms. Whitmore, die Vertreterin des Auktionshauses“, beeilte er sich, ihr zu erklären. Beschwichtigend legte er seinen Arm um Amelies Schultern. „Ich weiß! Sie sieht Cinzia sehr ähnlich. Aber es ist nicht Cinzia. Bitte, beruhige dich!“

Amelie starrte ihn verständnislos an. „Aber – wie ist das möglich? Sieh sie doch an … das ist …“

„Ich weiß“, wiederholte Davide geduldig, als würde er mit einem kleinen Kind reden.

Carolyn war aufgestanden und hatte sich taktvoll ein paar Schritte zurückgezogen, um Amelie Zeit zu geben, wieder ganz zu sich zu kommen. Davide warf ihr einen dankbaren Blick zu. Ms. Whitmore war zweifellos sehr sensibel und mitfühlend. Sie schien Kummer gewohnt zu sein.

Vorsichtig half er Amelie auf die Beine.

Sie blickte immer noch mit schreckgeweiteten Augen auf Carolyn. „Ich verstehe das nicht … so etwas ist doch gar nicht möglich …“

Davide bemühte sich, ein sorgloses Lächeln aufzusetzen. Er erinnerte sich an seine eigene Fassungslosigkeit, als er Carolyn das erste Mal gesehen hatte. Natürlich war der Schock für Amelie nicht geringer. „Offensichtlich doch! Schon Shakespeare hat geschrieben: Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde als unsere Schulweisheit sich träumen lässt!“

„Shakespeare?“

„Der englische Dichter.“ Als sie ihn noch immer verständnislos anstarrte, führte Davide sie kurzerhand zur Tür. „Ich bringe dich nach unten, Amelie. Du solltest dich eine Weile ausruhen. Ich werde meinen Chauffeur anweisen, dich nach Hause zu bringen.“

Über die Schulter sagte er zu Carolyn: „Ich muss mich um meine Schwägerin Signorina Bertolli kümmern. So unvorbereitet einem Ebenbild ihrer Schwester gegenüberzustehen, war etwas zu viel für sie. Sie kommen doch allein zurecht, Carolyn?“

„Ja natürlich. Das ist kein Problem.“

Es fiel ihm schwer, sich von ihrem Anblick loszureißen, wie sie dort inmitten von Cinzias Sachen stand. Wieder überfiel ihn dieses irreale Gefühl, als wäre er in einem Traum gefangen.

Amelies Stöhnen holte ihn in die Realität zurück. Sie hing schwer an seinem Arm.

„Bitte, Davide … ich möchte gehen. Ich … bin dem nicht gewachsen …“

Behutsam führte er sie aus dem Zimmer und die große Treppe hinunter in die Eingangshalle. „Es tut mir leid, dass du so aufgewühlt bist, Amelie. Ich hätte dich auf Ms. Whitmores Anblick vorbereiten sollen!“

Amelie warf einen Blick nach oben. „Sie arbeitet für das Auktionshaus, sagtest du?“

„Für Carringham’s in London. Sie ist gestern angekommen.“

Seine Schwägerin schüttelte den Kopf. Die Begegnung hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. Sie klammerte sich fast angstvoll an ihn. „Aber … wie kann so etwas sein, Davide? Diese Ähnlichkeit? Ich dachte, ich würde Cinzia gegenüberstehen. So als wäre sie plötzlich wieder da. Das ist etwas, was ich mir mehr als irgendetwas sonst wünsche, das weißt du doch …“

„Ich weiß, aber es ist nicht Cinzia. Es ist einfach … eine Laune der Natur.“

„Wie kannst du nur so gelassen sein? Ich dachte, ich falle in Ohnmacht!“ Die Stimme seiner Schwägerin klang eine Spur vorwurfsvoll.

Er fühlte, wie er sich verspannte. Warf Amelie ihm vor, Cinzia vergessen zu haben? Wie konnte sie so etwas denken? Er würde seine verstorbene Frau niemals vergessen! Das war unmöglich. Aber das Leben musste weitergehen. Hatte Amelie das nicht selbst gesagt?

„Du bist in Ohnmacht gefallen“, erinnerte er sie kühl. „Und was meine Gelassenheit angeht … es ist wie gesagt ein Zufall, für den ich Ms. Whitmore kaum verantwortlich machen kann. Sie wurde von Carringham’s geschickt, um hier einen Auftrag zu erledigen. Dabei werde ich sie unterstützen. Das ist alles. Meine Gefühle sind meine Sache.“

Offenbar merkte Amelie, dass sie ihn verärgert hatte. Ihre Stimme wurde schmeichelnd. „Natürlich, das verstehe ich. Bitte entschuldige, was ich gesagt habe. Ich bin … es war einfach ein Schock für mich. Als ich sie dort stehen sah, mit dem Tizian in der Hand, da … es war wie ein Omen!“

„Ein Omen?“ Davide runzelte die Stirn. „Was meinst du damit?“

„Nun ja, vielleicht solltest du doch noch einmal überlegen … wegen des Tizians.“

Als Amelie seinen verständnislosen Blick bemerkte, schüttelte sie rasch den Kopf. „Ach, es war nichts … nur die Überraschung. Aber wie du sagtest, sie ist nicht Cinzia. Daran muss man sich immer erinnern!“

Davide machte sich von ihr los. „Ich werde Gregoire rufen, damit er dich in die Stadt zurückbringt.“

„Das ist nicht nötig“, wehrte Amelie hastig ab. „Es geht mir gut, wirklich. Aber ich hatte gehofft, wir könnten vielleicht zusammen zu Mittag essen …“

„Es tut mir leid, ich habe zu arbeiten“, wehrte Davide freundlich, aber bestimmt ab. „Ein andermal.“

„Natürlich, ich verstehe.“ Sie klang verletzt. „Wann sehe ich dich wieder?“

„Ich bin im Augenblick sehr beschäftigt. Die Katalogisierung der Dinge, die zur Auktion kommen, wird einige Zeit dauern.“

„Natürlich, das verstehe ich“, wiederholte sie gepresst. „Nimmst du am Rennen am Sonntag teil?“

„Das werde ich“, versicherte Davide ihr. „Wir sehen uns dann.“

Er trat einen Schritt zurück und gab Amelie damit zu verstehen, dass das Gespräch beendet war. Sie warf den Kopf zurück, wie es auch Cinzia immer getan hatte, wenn sie eingeschnappt gewesen war, und eilte zur Tür. Davide wusste, dass er sie vor den Kopf gestoßen hatte. Immerhin war sie seine Schwägerin. Cinzias Schwester. Aber im Augenblick vertrug er ihre Nähe nicht. Er brauchte seine Ruhe, um mit der neuen Situation zurechtzukommen. Der Situation, die Carolyns Ankunft heraufbeschworen hatte.

Sein Blick wanderte zur Decke. Er dachte an die junge Engländerin, die in diesem Moment durch Cinzias Zimmer wanderte, ihre Sachen betrachtete, mit ihren zarten, feingliedrigen Fingern über Stoffe und Möbel strich …

Ein Kribbeln ging durch seinen Körper. Warum erregte ihn dieser Gedanke so sehr? Sie ist nicht Cinzia, das sagte er sich immer wieder. Aber merkwürdigerweise wollte er im Moment gar nicht an Cinzia erinnert werden …

Nachdenklich starrte Carolyn hinter Davide und seiner Schwägerin her. Würde das jetzt immer so weitergehen? Dass alle, die sie sahen, in Ohnmacht fielen?

Sie ließ die Schultern sinken. Natürlich war ihr Anblick ein Schock für die, die Cinzia gekannt hatten. Sie würde wohl oder übel lernen müssen, damit umzugehen.

Mit einem Seufzen wandte sie sich um und schaute sich wieder in Cinzias Schlafzimmer um. Wenn man nach ihrer Einrichtung urteilte, dann war die verstorbene Contessa wohl eine sehr extravagante und unkonventionelle Person gewesen. Eine Frau, die sich keinen Regeln beugte.

Aber schließlich hatte sie auch die finanziellen Mittel zur Verfügung gehabt, um extravagant sein zu können. Die Whitmores hatten für Spielereien kein Geld gehabt. Obwohl das Three Crowns ein beliebter Ort gewesen war – zu Reichtum hatte es sie trotzdem nicht gebracht. Darauf hatten ihre Eltern aber auch gar keinen Wert gelegt.

„Ich gebe lieber zu Lebzeiten mit warmen Händen als mit kalten nach meinem Tod“, hatte ihre Mutter immer erklärt, wenn sie einer ihrer Töchter wieder einmal ein paar Pfund zugesteckt hatte.

Außerdem hatten ihre Eltern dafür gesorgt, dass sie alle drei eine gute Ausbildung absolvierten, damit sie auf eigenen Beinen stehen konnten. Carolyns Liebe hatte immer schon der Kunst gehört. Jede freie Minute verbrachte sie in den verschiedenen Londoner Museen damit, die ausgestellten Kunstgegenstände anzustarren und mit zitternden Fingern darüberzustreichen, wenn es denn erlaubt war.

Bildhauerin zu werden, war immer ihr Traum gewesen, aber als sie vor der Entscheidung stand, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte, hatte die Vernunft gesiegt, und sie entschied sich für das Nächstbeste, nämlich eine Lehre als Kunstrestaurateurin zu machen. In der Werkstatt, in der sie arbeitete, war ihr Talent rasch bemerkt worden, und ihr Boss hatte sie an Mr. Carringham weiterempfohlen.

Und nun war sie hier, in Italien, dem Land ihrer Träume, und war umgeben von einigen der größten Kunstschätze, die es gab. Eigentlich sollte sie überglücklich sein. Doch sie spürte stattdessen eine vage Unruhe, und Schuld daran trug nicht nur diese unglaubliche Ähnlichkeit mit der Gräfin …

Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu Davide d’Oriza. Der Blick aus den dunklen Augen des Conte schien sich in ihr Gehirn eingebrannt zu haben und verfolgte sie auf Schritt und Tritt.

Sie fühlte sich wie in einem verwunschenen Schloss, das vom Geist seiner verstorbenen Herrin heimgesucht wurde. So wie in Rebecca, dem berühmten Roman von Daphne du Maurier, dachte sie. Und Davide war der unglückliche Witwer, der in seinem Heim keine Ruhe finden konnte. Sein Bild tauchte in ihren Gedanken auf: das klassisch geschnittene Gesicht, das dunkle, gewellte Haar, die athletische Figur … er war ein Mann, der es verstand, eine Frau in seinen Bann zu ziehen. Und sie mit unaussprechlicher Leidenschaft zu lieben!

Eine Welle heißen Verlangens durchflutete Carolyn. Was um alles in der Welt dachte sie da? Der Graf war ihr Auftraggeber, und sie war Angestellte des Auktionshauses Carringham’s mit dem Auftrag, Wertgegenstände zu katalogisieren. Und genau das sollte sie tun, anstatt hier herumzustehen und kitschigen Tagträumen nachzuhängen!

Entschlossen machte sie sich an die Arbeit. Ihr Blick fiel wieder auf den Tizian über Cinzias Bett. Etwas daran zog sie wie magisch an. Mit gerunzelter Stirn schob sie ihr Gesicht so nahe wie möglich an das Bild, versuchte, seinen Duft wahrzunehmen. „Beurteilen Sie ein Kunstwerk mit allen Ihren Sinnen“, hatte ihr Lehrmeister in der Restaurierungswerkstatt immer gesagt.

Der Geruch stimmte nicht. Auch wenn sie nicht sagen konnte, was sie daran störte. Aber da war irgendetwas …

Mit einem Seufzen richtete sie sich auf. Sie musste eine zweite Meinung zu dem Tizian einholen, um dieses nagende Gefühl in ihrem Bauch loszuwerden, so viel stand fest. Den Conte wollte sie dazu nicht befragen, um ihn nicht zu beunruhigen – oder gar anzudeuten, er wüsste darüber Bescheid. Die Angelegenheit war äußerst delikat, und sie musste mit viel Feingefühl vorgehen. Mit Samthandschuhen, wie Mr. Carringham gemahnt hatte.

Einen Augenblick überlegte sie, ihren Chef zu befragen. Aber auch das würde zu viel Staub aufwirbeln, solange nicht erwiesen war, dass es sich um eine Fälschung handelte. Carolyn eilte in ihr Zimmer und holte ihren Laptop. Eine kurze Recherche im Internet zeigte ihr, dass es in Amalfi eine Kunstakademie gab, die von einer Dottoressa Bueno geleitet wurde. Die Dottoressa galt als Expertin für mittelalterliche Gemälde, war also genau die Person, die sie suchte. Und sie sollte sich auch auf die Diskretion einer solchen Koryphäe verlassen können. Carolyn nickte zu sich selbst. Gleich morgen früh würde sie versuchen, mit der Frau Kontakt aufzunehmen.

Dann machte sie einen Rundgang durch den Raum und taxierte mit geübtem Blick das Inventar. Ein Klopfen an der Tür ließ sie herumfahren. Es war Marta, mit einem Tablett in der Hand, auf dem eine Kanne Kaffee, eine Tasse und ein Teller voll Sandwiches angerichtet waren.

„Störe ich, Signorina Whitmore? Ich dachte, Sie könnten eine Stärkung brauchen.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen“, antwortete Carolyn erfreut. „Aber bitte, nennen Sie mich doch Carolyn.“

„Sehr gerne. Ich bin Marta.“ Die Haushälterin stellte das Tablett auf einem mit wundervollen Intarsien verzierten Beistell-Tischchen ab. Dann richtete sie sich mit steifem Rücken auf und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Sie schüttelte den Kopf. „So viel Plunder, den niemand braucht!“

Carolyn sah sie erstaunt an. „Das ist doch kein Plunder. Das sind wertvolle Kunstgegenstände.“

„Aber es sind nur Dinge“, beharrte Marta. Mürrisch fügte sie hinzu. „Daran sollte man nicht sein Herz hängen. Sofern man eines hat.“

„Was meinen Sie damit? Die Contessa …“

„Die Contessa war eine sehr schöne Frau. Aber ob sie wirklich ein Herz hatte …“ Marta zuckte mit den Schultern.

„Der Conte hat sie sehr geliebt“, stellte Carolyn fest. „Ich glaube nicht, dass er sich in ihr getäuscht hat.“

„Wenn man liebt, lässt man sich leicht täuschen. Sie hat es verstanden, ihm zu schmeicheln, um das zu erreichen, was sie wollte. Und sie wollte immer irgendetwas. Irgendwelchen Plunder!“

„Sie scheinen die Contessa nicht sehr geschätzt zu haben“, meinte Carolyn geradeheraus.

Marta sah sie ebenso geradeheraus an. „Nein, das habe ich nicht. Sie war kalt und berechnend. Sie wollte nur sein Geld!“

„Trotzdem hat sie ein schreckliches Ende gefunden.“ Carolyn dachte wieder an die steilen Klippen, die von der Straße abfielen, und sie schauderte.

„Sie hatte es sich selbst zuzuschreiben“, meinte Marta nur. „Zu fahren wie eine Verrückte! Als ob der Teufel hinter ihr her wäre!“

„Und warum war die Gräfin so aufgewühlt?“ Neugierig trat Carolyn einen Schritt näher. Marta zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„Sie hat ihm wieder einmal eine ihrer berühmten Szenen gemacht. Getobt und geschrien, er würde sie mit seiner Liebe erdrücken. Als ob so etwas möglich wäre. Liebe kann niemals einen anderen verletzen – außer vielleicht in diesen neumodischen Filmen. Vermutlich wollte sie wieder irgendetwas von ihm haben. Das war ihre Masche. Erst einen großen Streit vom Zaun brechen und sich dann tränenreich wieder versöhnen – mit der Hand in seiner Tasche!“

Marta schnaubte wutentbrannt. „Aber dieses Mal hat sie sich verrechnet. Sie ist zu weit gegangen. Aber natürlich macht er sich jetzt Vorwürfe. Er denkt, er hätte sie in den Tod getrieben. So ein Unsinn.“ Erneut gab sie ein verärgertes Schnauben von sich. Offenbar liebte sie Davide d’Oriza wie eine Mutter und wollte ihn vor jedem Kummer bewahren.

So wie meine Mutter es getan hätte, wenn sie von der Sache mit Andrew erfahren hätte, dachte Carolyn. Wie eine Furie hätte ihre Mutter sich vor sie gestellt und sie mit Klauen und Zähnen verteidigt.

Carolyn lächelte. „Davide kann sich glücklich schätzen, Sie zu haben.“

Marta beäugte sie interessiert. „Haben Sie keine Angehörigen? Niemanden, der sich um sie sorgt?“

„Meine Eltern sind tot“, gestand Carolyn. „Aber ich habe zwei Schwestern. Wir stehen uns sehr nahe.“

„Und einen Freund? Einen Mann?“

Carolyn schluckte, dann schüttelte sie entschieden den Kopf. „Nein.“

Marta nickte wissend. „Sie wollen nicht darüber reden. Wenn doch, ich bin in der Küche, falls Sie mich brauchen.“

Mit schlurfenden Schritten verließ sie den Raum. Nachdenklich griff Carolyn nach einem Gurken-Sandwich und nahm einen Bissen. Konnte man ihr wirklich an der Nasenspitze ansehen, dass etwas nicht stimmte? Seufzend wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Das Inventar dieses Raumes zu katalogisieren würde einige Zeit in Anspruch nehmen. Sie sollte sich also sputen.

Auf ihrem Laptop erstellte sie eine Liste des Mobiliars. Dabei fiel ihr wieder ein, was Marta über Cinzia d’Oriza gesagt hatte. Offensichtlich war die verstorbene Gräfin eine Frau mit zwei Gesichtern gewesen. Für den Conte und seine Schwägerin war sie ein Engel, während andere, wenn schon nicht das Gegenteil, dann doch etwas ganz anderes in ihr gesehen hatten.

Vielleicht ist sie ja doch nur eine ganz gewöhnliche Frau gewesen und nicht diese überdimensionale Göttin auf dem Gemälde über der Treppe, dachte Carolyn. Der Gedanke hatte etwas sehr Beruhigendes an sich.

Sie kniete sich vor den Schreibtisch der Gräfin und strich mit den Fingern über die glatte Oberfläche der Laden. Frankreich, achtzehntes Jahrhundert, Louis-quinze. Typisch für diese Epoche waren die filigrane Form des Möbelstücks und die geschwungenen Beine. Erstklassiger Zustand, ohne Kratzer oder Absplitterungen an den kunstvollen Intarsien, notierte sie in Gedanken. Als sie die Unterseite des Sekretärs begutachtete, fiel ihr ein dünnes Stäbchen auf, das an der Seite abstand. Es sah aus wie ein Nagel oder eine – Feder?

Sanft drückte Carolyn dagegen. Alte Schreibtische besaßen oft Geheimfächer, in denen die Damen der feinen Gesellschaft amouröse Briefwechsel verborgen hatten. Etwas, das in Zeiten von E-Mails und Messengerdiensten nicht mehr nötig war. Tatsächlich schnappte neben der Feder ein schmales Fach auf. Vorsichtig tastete Carolyn es ab. Vielleicht entdecke ich ja einen Liebesbrief von Madame de Pompadour darin, der berühmt-berüchtigten Geliebten des französischen Königs Ludwig des Fünfzehnten, überlegte sie mit einem Schmunzeln. Ihre Finger stießen auf etwas Kühles, Metallisches. Als sie den Gegenstand herauszog, entpuppte er sich als filigranes Halskettchen mit einem herzförmigen Anhänger.

Die Machart war zu modern, um aus der Zeit von Madame de Pompadour zu stammen. Sie kniff die Augen zusammen und suchte nach einer Punze am Verschluss. Die Kette war aus Silber, wohl kaum das Geschenk eines Königs an seine Geliebte. Nachdenklich drehte Carolyn den Anhänger in ihrer Hand und entdeckte auf der Rückseite eine eingravierte Widmung:

Ti amo, M.

Wer war M?

Sie wog die Kette in ihrer Handfläche. Wem sie wohl gehörte? Der Gräfin? Aber der Name ihres Ehemannes war Davide. Einem früheren Benutzer des Schreibtisches? Sie musste herausfinden, wie lange sich das Möbelstück bereits im Besitz des Grafen befand. Nachdenklich schaute sie sich im Zimmer um, dann beschloss sie, die Kette erst einmal in ihrer Handtasche zu verstauen. Sie ließ sie vorsichtig in ein leeres Seitenfach im Inneren ihrer Tasche gleiten. Wenn sie mehr über den Sekretär wusste, konnte sie immer noch herausfinden, wer der oder die geheimnisvolle M war.

Carolyn drückte ihren Rücken durch, als sie aufstand. Ihr war gar nicht aufgefallen, wie lange sie schon gearbeitet hatte. Die Sonne stand bereits tief über dem Meer und tauchte den ganzen Raum in blendendes Licht. Sie musste ihre Augen beschatten, als sie ans Fenster trat, um den Blick über die Bucht schweifen zu lassen. Amalfis Häuser leuchteten schneeweiß am gegenüberliegenden Hang. Carolyn sog die würzige Brise ein, die vom Wasser heraufwehte. Was für ein fantastischer Ausblick!

Sie konnte sich kaum davon losreißen, doch die Arbeit wartete. Seufzend wandte sie sich wieder zum Raum um. Ihr Blick wanderte über das Inventar, die Möbel, den Tizian an der Wand. Anstatt Ordnung zu schaffen, hatte sie nur Ungereimtheiten und Fundstücke zutage befördert, die es zu ergründen galt.

Offenbar gab es im Palazzo d’Oriza mehr Unerklärliches, als sie geahnt hatte. Was sich ihr noch alles enthüllen würde? Und wie weit würde sie selbst in die Geheimnisse dieser Familie hineingezogen werden? Bei dieser Vorstellung war Carolyn nicht allzu wohl zumute.

6. KAPITEL

Schweißnass wachte Davide auf. Obwohl die hohen Terrassenfenster offen standen, war es schwül in seinem Schlafzimmer. Im Osten färbte der Himmel sich bereits rot. Davide schwang die Beine aus dem Bett und saß einen Augenblick auf der Kante. Er hatte von Cinzia geträumt. Oder war es Carolyn gewesen? Die beiden Frauen hatten sich in seinem Traum vermischt wie ein Vexierbild, sodass er nicht mehr wusste, wer wer gewesen war. Vergeblich hatte er versucht, eine der beiden zu fassen zu bekommen, aber sie hatten sich in einem Gewirr von endlosen, schmalen Gängen verloren.

Ungehalten schüttelte er den Kopf. Was war nur los mit ihm? Er hatte gedacht, er hätte sich nach Cinzias Tod einigermaßen gefangen. Doch Carolyn Whitmores Ankunft hatte alles über den Haufen geworfen. Plötzlich waren alle diese Gefühle wieder da – die Trauer, die Wut, die Selbstvorwürfe. Der Wunsch, die Zeit zurückzudrehen und diesen einen Abend noch einmal erleben zu können. Um Cinzia zu gestehen, wie sehr er sie liebte und brauchte, anstatt ihr sinnlose Vorwürfe zu machen.

Ihre Stimme hallte in seinem Kopf wider, schrill und verzweifelt: „Du erdrückst mich! Du nimmst mir die Luft zum Atmen! Lass mich, Davide! Lass mich einfach gehen!“

Als würde sie vor ihm flüchten, war sie aus dem Haus gerannt und in den roten Ferrari gestiegen, den er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Er hätte sie zurückhalten sollen. Er hätte wissen müssen, dass sie in diesem Zustand nicht in der Lage war, den Wagen zu steuern. Schon gar nicht über die steilen Serpentinen, die sich hinunter nach Amalfi wanden.

Er hätte sich vor das Auto werfen müssen, um sie aufzuhalten. Stattdessen hatte er geschmollt, verletzt und verärgert. Ihre Worte hatten ihn tief getroffen. Er hatte ihr doch immer alles gegeben, was sie wollte. Hatte ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Sein Leben hätte er für sie hingegeben. Doch offenbar war das nicht das gewesen, was sie wollte. Warum nur?

Verzweifelt ließ er den Kopf hängen. Warum hatte sie nicht mit ihm gesprochen? Warum hatte sie ihm nicht gesagt, was sie brauchte, um glücklich zu sein? Er hätte sich doch ändern können!

Oder war es tatsächlich der Fluch? War es seiner Familie nicht vergönnt, Glück zu finden? Alles zu haben, was sich mit Geld kaufen ließ, sollte genug sein. Doch Liebe konnte man nicht kaufen.

Autor

Anne Taylor
Anne Taylor hat schon früh ihre Liebe zum Schreiben entdeckt. Bereits als Kind hat sie sich Geschichten ausgedacht und zu Papier gebracht. Lesen und Schreiben ist für sie wie eine Reise in andere Zeiten und Länder. In der Wirklichkeit reist Anne Taylor vorzugsweise nach Bella Italia. Ihr Traumland ist allerdings...
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