Romana Extra Band 140

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DER STOFF, AUS DEM DIE SEHNSUCHT IST von RONA WICKSTEAD

Zu gern möchte Alix im malerischen Beaune den Stoffladen ihrer Großmutter übernehmen – gegen den Willen des charmanten Hausbesitzers Nicolas Charpentier! Doch beim Funkeln in seinen Augen hofft Alix, dass Nicolas nicht zu all ihren heimlichen Wünschen Nein sagen wird …

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  • Erscheinungstag 25.11.2023
  • Bandnummer 140
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517539
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Rona Wickstead, Charlotte Hawkes, Jennifer Taylor

ROMANA EXTRA BAND 140

1. KAPITEL

Das Erste, was Nicolas Charpentier wahrnahm, als er nach dem Gerichtstermin in seine Kanzlei zurückkehrte, war das Parfum: ein aufdringlicher orientalischer Duft. Definitiv nichts, was seine Bürovorsteherin Dominique tragen würde, die eher einen dezenten, eleganten Stil besaß. Sie grinste ihn an, als er die Nase verzog, und deutete mit dem Kopf in Richtung seines Büros.

„Dein nächster Termin ist schon da. Madame Urbain wartet in deinem Büro.“

Klar, damit die Duftwolke dort den Raum verpestete und nicht den Empfangsbereich, über den Dominique herrschte. „Vielen Dank auch.“

Wie so oft wünschte Nicolas sich, sein Vorgänger hätte ihm eine modern eingerichtete Kanzlei hinterlassen mit großzügigen, hohen Räumen, an deren Wänden noch Platz für Bilder wäre. Stattdessen musste er sich mit den düsteren, engen Zimmern arrangieren, in denen sich alte Holzregale voller Aktenordner aneinanderreihten. Immerhin hatte er mit der Kanzlei einen beachtlichen Stamm von Mandanten übernehmen können, zu denen auch die Urbains gehörten. Gisèle und Hugo betrieben ein großes Autohaus am Stadtrand von Beaune, und er vertrat sie ab und zu bei Schadensersatzfällen und ähnlichen Angelegenheiten.

Aber schon als er Gisèle in dem Besuchersessel sitzen sah, ahnte er, was passiert war. Sie trug ein feuerrotes Kostüm und dazu passende High Heels, und sie hatte sich die Haare nicht nur pechschwarz färben, sondern auch auffallend kurz schneiden lassen.

Nicolas kannte diese Anzeichen, und er hasste sie. Trotzdem begrüßte er Gisèle betont lässig. „Madame Urbain, schön, Sie wiederzusehen! Sie sind heute allein hier? Ich hoffe, Ihrem Mann geht es gut?“

Gisèle verzog bitter das Gesicht. „Ich hingegen hoffe, er wird bald in der Hölle schmoren! Der Mistkerl betrügt mich mit dieser kleinen Blondine aus der Buchhaltung, und ich komme zu Ihnen, um die Scheidung einzureichen.“

Natürlich würde er den Fall übernehmen. Hätte er Gisèle unter einem Vorwand abgesagt, säße vermutlich ihr Mann morgen mit demselben Anliegen hier. Nun würde Hugo wahrscheinlich zu Patrice Durand gehen, der genau wie Nicolas einen guten Ruf als Scheidungsanwalt hatte und mit dem er sich häufig genug in solchen Fällen vor Gericht traf. Der Unterschied war, dass Patrice Scheidungsfälle gern übernahm und als eine Art Sport betrachtete, von dem Ehrgeiz angestachelt, für seine Mandanten möglichst viel herauszuholen.

Nicolas hingegen verabscheute Scheidungen, auch wenn er einen beträchtlichen Teil seines Einkommens damit erzielte. Es deprimierte ihn von Tag zu Tag mehr, mitzuerleben, wie sich Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen voneinander trennen wollten, nachdem sie sich zuvor doch gelobt hatten, in guten wie in schlechten Zeiten zusammenzuhalten.

Hugo zum Beispiel. Über zwanzig Jahre hatten Gisèle und er geackert, um sich das Geschäft aufzubauen, und nun setzte er alles aufs Spiel wegen einer Zwanzigjährigen. Vielleicht sollte jedoch auch Gisèle ihm nicht sofort den Krieg erklären, sondern erst einmal das Gespräch darüber suchen, was in ihrer Ehe schiefgelaufen war.

Aber er konnte die Menschen ja nicht zwingen, zusammenzubleiben.

Müde lüftete er sein Büro noch einen Moment, nachdem Gisèle gegangen war, und machte sich dann auf den kurzen Fußweg nach Hause. Es war ein lauer Sommerabend Ende Juni, und in der Altstadt herrschte noch viel Betrieb. Jedes Mal, wenn er das cremefarben gestrichene Haus mit den grauen Fensterläden erblickte, hob sich seine Stimmung. Es war ein absoluter Glücksfall gewesen, mitten in der Altstadt von Beaune eine erschwingliche Immobilie zu finden, die ihm genau das bot, was er gesucht hatte – und das auch noch zum richtigen Zeitpunkt. Nach dem Unfall, bei dem seine Mutter und seine Schwägerin ums Leben gekommen waren, hatte er es zu Hause auf dem Weingut nicht mehr ausgehalten.

Im Dachgeschoss der Stadtvilla hatte er sich ein Apartment ausgebaut, im Prinzip ein Loft, raffiniert in mehrere Bereiche unterteilt, mit einem großzügigen Balkon zum Innenhof. Die Wohnung in der ersten Etage bewohnte Louise Martin, die alte Dame, der das Haus vorher gehört hatte und die in dem Laden im Erdgeschoss ein Stoff- und Handarbeitsgeschäft betrieb. Aber im Oktober würde sie fünfundsiebzig werden, und sie hatte Nicolas gegenüber erklärt, dass sie zu diesem Zeitpunkt das Geschäft aufgeben wolle. Und dann …

Wie immer, wenn er auf das Haus zuging, stellte er sich vor, wie er das Ladenlokal umbauen würde, um daraus eine schicke, moderne Anwaltskanzlei zu machen. Dominique würde einen hellen, freundlichen Empfangsbereich bekommen, sämtliche Aktenschränke würden in den Lagerraum verbannt, der zum Hof hinausging, sein eigenes Büro wäre hell und freundlich, genau wie das seines Partners. Jawohl, er könnte endlich einen Partner aufnehmen, dem er vor allem die Scheidungsfälle überlassen würde – vielleicht hätte sogar Patrice Interesse, sich mit ihm zusammenzutun –, und er selbst könnte sich auf Bereiche konzentrieren, die ihm mehr Spaß machten.

Noch vier Monate, sagte sich Nicolas und zückte seinen Schlüssel, um den seitlich gelegenen Eingang aufzuschließen. Er schaute kurz im Briefkasten nach Post und hörte, wie sich die Tür der ersten Etage öffnete. Als er die Treppen hinaufging, erwartete Louise ihn bereits. „Nicolas, hast du Zeit für einen Aperitif?“

Das wäre an diesem warmen Juniabend genau das Richtige. „Aber gern!“

Er folgte ihr durch das Wohnzimmer auf den Balkon und blieb überrascht stehen. Am Geländer lehnte eine junge Frau, die sich nun zu ihm umdrehte und ihn anlächelte. Sie war groß und schlank, hatte schulterlanges Haar in einem sattbraunen Mahagoniton. Ihre Augen strahlten in einem geheimnisvollen Graugrün, ihre Gesichtszüge waren nicht die einer klassischen Schönheit, sondern eher etwas herb, aber auf jeden Fall erinnerungswürdig. Eine Frau, die überall auffiel, ohne viel dafür tun zu müssen.

„Ich glaube nicht, dass ihr euch kennt“, sagte Louise jetzt. „Nicolas, das ist meine Enkelin Alix, die heute aus Paris angereist ist.“

„Sehr erfreut“, sagte er. „Haben Sie vor, länger zu bleiben?“

„Das kommt darauf an“, erwiderte Alix. „Trinken Sie ein Glas Wein mit uns, Nicolas? Setz dich doch, Grandmère, ich kümmere mich darum.“ Sie glitt an ihm vorbei in die Wohnung. Er meinte, dabei den Hauch von Rosen und eine Spur Verbene wahrnehmen zu können – der absolute Gegensatz zu Gisèles aufdringlicher Duftwolke.

„Nimm Platz, Nicolas“, forderte Louise ihn auf und winkte ihn zu einem der Balkonstühle. „Ich muss etwas mit dir besprechen.“

Er erkannte an der angespannten Art, wie sie es sagte, dass es um mehr ging als die Bitte, das Schloss an der Wohnungstür auszuwechseln. „Was ist denn los, Louise?“

„Es geht um Alix.“ Louise warf einen nervösen Blick zur Balkontür. „Sie hat … ein Problem. Sagt dir der Name Georges Arnauld etwas?“

Er runzelte nachdenklich die Stirn. „Der angebliche Finanzguru, der mit seinem Schneeballsystem so viele Leute reingelegt hat?“

Sie nickte. „Genau der. Er ist Alix’ Mann.“

„Autsch.“ Diverse Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Dieser Arnauld musste deutlich älter sein als die Frau, die ihm gerade begegnet war. War sie mit in den Skandal verwickelt, der gerade durch alle Medien ging? Dann säße sie vermutlich schon längst in Paris in Untersuchungshaft. Oder … klar, natürlich wieder das. „Du möchtest, dass ich eine Scheidungsklage einreiche?“

„Nein, nein, das ist schon alles in die Wege geleitet“, entgegnete Louise. „Aber ich mache mir Gedanken um Alix’ Zukunft. Sie hat keinen Cent mehr, und ich überlege, wie ich ihr dauerhaft helfen kann. Aber alles, was ich ihr bieten kann, ist der Laden.“

„Der Laden?“, wiederholte Nicolas alarmiert. „Aber den wolltest du doch aufgeben!“

„Ich weiß“, antwortete sie bekümmert. „Deshalb wollte ich ja mit dir sprechen. Schau, ich habe das nicht kommen sehen. Ich dachte, Alix wäre gut versorgt, und deshalb habe ich von dem Geld, das ich von dir für das Haus bekommen habe, eine Eigentumswohnung für ihre Mutter in Paris gekauft. Die wird sie natürlich eines Tages erben, aber das hilft ihr jetzt nicht. Sie braucht etwas, wovon sie leben kann, eine Aufgabe.“

„Deine Enkelin arbeitet also auch im Textilbereich?“, fragte er, um Zeit zu gewinnen. Hatte er etwa einen Fehler gemacht, indem er die Abmachung nicht von vornherein vertraglich fixiert hatte?

„Von wegen, die Enkelin hat keine Ahnung davon“, erklärte Alix spöttisch, die jetzt mit drei Gläsern auf den Balkon trat. „Die Enkelin hat vier Semester Kunstgeschichte studiert, und jeder weiß ja, dass einen das zu einer Universaldilettantin macht, die nichts Gescheites auf die Reihe bringt.“ Ihre Stimme klang sarkastisch.

„Man kann das lernen“, betonte Louise. „Du bist schließlich nicht dumm, Alix. Als dein Großvater damals so früh starb, habe ich es auch gelernt. Dieser Laden war meine Rettung, warum sollte er nicht auch deine sein?“

„Genau, warum nicht? Natürlich muss ich mir in Rekordgeschwindigkeit all das aneignen, was du damals bereits konntest.“ Alix verschwand wieder in die Wohnung.

Louise seufzte, während sie ihr nachsah. „Sie ist so verletzt, das arme Kind. Sie hatte keine Ahnung von den Machenschaften ihres Mannes. Eines Tages stand die Polizei vor der Tür und hat die ganze Wohnung durchsucht. Am nächsten Tag war es in der Boulevardpresse zu lesen. Seitdem …“

Alix erschien mit einer Flasche Chardonnay und schenkte ihnen ein. „Also, Nicolas, trinken wir auf die naivste Frau von Frankreich, auf ihre Großmutter, die sich in den Kopf gesetzt hat, ihr zu helfen, und deren Vermieter, der dieser gloriosen Idee zustimmen muss.“

Nicolas musste Louise innerlich korrigieren. Die Frau kam ihm nicht verletzt vor, sondern eher frustriert. Was verständlich war, wenn man sich in ihre Situation hineinversetzte – angenommen, es stimmte, was Louise erzählt hatte, und sie hatte wirklich keine Ahnung von den Machenschaften ihres Mannes gehabt. Nicolas tendierte von Berufs wegen dazu, das zu bezweifeln. Andererseits war es vermutlich schwierig für eine junge Studentin zu verstehen, wie die Art von Finanzgeschäften funktionierte, mit der sich der infame Monsieur Arnauld einen Namen gemacht und dann in unglaubliche Schwierigkeiten gebracht hatte.

Er seufzte. „Louise, du weißt, dass ich plane, mit meiner Kanzlei in das Ladenlokal zu ziehen. Ich brauche mehr Platz.“

„Aber es gibt keinen schriftlichen Vertrag darüber“, warf Alix ein. „Soweit ich weiß, hat meine Großmutter einen unbefristeten Mietvertrag.“

„Alix!“, rief Louise mahnend dazwischen. „Es gibt auch mündliche Verträge, die …“

Nicolas holte tief Luft. „Ich könnte jederzeit den Mietvertrag wegen Eigenbedarfs kündigen. Aber wir wollen doch jetzt nicht in juristische Details gehen. Mir stellt sich eher die Frage, wie du dir das praktisch vorstellst, wenn deine Enkelin ganz offen eingesteht, dass sie keine Ahnung von der Materie hat.“

„Wie gesagt, man kann das lernen“, beharrte die alte Dame. „Ich bin ja schließlich auch noch da und kann es ihr zeigen.“

„Und genau genommen habe ich keine andere Wahl“, fügte Alix hinzu. „Außer mir einen Schlafsack zu kaufen und unter eine Brücke zu ziehen. Wäre Ihnen das lieber?“

„Haben Sie das wenigstens mal durchgerechnet?“, fragte er überrascht. „Zwei Personen zu bezahlen bedeutet wesentlich höhere Kosten für das Geschäft.“

Louise machte eine wegwerfende Handbewegung. „So schlimm kann das doch nicht sein. Sie wird bei mir wohnen, also braucht sie kein Geld für Miete. Und wer weiß, vielleicht steigen ja auch die Umsätze, wenn eine junge Inhaberin mit frischen Ideen einsteigt? Ich gebe zu, ich habe in den vergangenen Jahren nicht mehr viel verändert. Ich habe meine Stammkundschaft, aber all die jungen Leute, die sich im Internet austauschen, die wollen vielleicht etwas ganz anderes.“

„Das habe ich mir bereits angesehen“, fügte Alix hinzu. „Nähen und Stricken stehen in den sozialen Medien hoch im Kurs. Da könnte man ansetzen.“

„Das mag sein“, räumte er ein. „Aber das setzt voraus, dass man ziemlich genau weiß, was die Kundschaft haben möchte.“

Alix kniff die Augen zusammen. „Klar, Sie trauen mir so was nicht zu! Wie sollte Ihnen auch jemand mit einem abgebrochenen Studium etwas erklären können?“

„Das habe ich nicht gesagt“, antwortete Nicolas müde. Er griff nach seinem Glas, trank es aus und erhob sich. „Ich glaube, wir sollten dieses Gespräch besser vertagen. Einen schönen Abend noch.“ Er nickte Louise freundlich zu, während sein Blickkontakt mit Alix deutlich kühler ausfiel, und verließ die Wohnung.

Louise hörte, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel, und sah ihre Enkelin vorwurfsvoll an. „Das war jetzt nicht besonders geschickt von dir, Kind.“

„Ich weiß“, murmelte Alix betreten. „Aber ich fühlte mich so … provoziert von ihm.“

„Was hat er dir denn getan? Soweit ich es gehört habe, hat er in erster Linie sachliche Fragen gestellt.“

Alix rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. „Ich kenne diese Typen, Grandmère. Attraktiv und erfolgreich, ja, aber auch so aalglatt, so überheblich, so erfolgsgeil … Siehst du das nicht auch?“

„Mir gegenüber ist er immer höflich und fair gewesen und keineswegs überheblich.“

„Hm“, brummte Alix unglücklich. Wenn sie es sich jetzt überlegte, war die ganze Sache von vornherein schiefgelaufen, und es war eindeutig, an wem das lag. Louise und Nicolas schienen sich gut zu verstehen. Vielleicht war es gerade das gewesen, was sie so deprimiert hatte. Sie war mal wieder die Außenseiterin gewesen. Und jetzt auch noch die arme Enkelin, der es unter die Arme zu greifen galt. Es hatte ihr nicht gepasst, dass Louise sofort mit offenen Karten gespielt und ihre bedauerliche Vorgeschichte offengelegt hatte.

Was musste dieser Anwalt jetzt von ihr denken? Dass sie viel zu gutgläubig und naiv gewesen war, was die Geschäfte ihres Mannes anging, stand sowieso außer Frage. Aber sich dann auch noch so unangemessen zu verhalten, war in der Tat kein geschickter Schachzug gewesen. Sie hatte nichts erreicht und dazu noch ihre Großmutter verärgert, den einzigen Menschen auf der Welt, der bereit war, sie zu unterstützen. Natürlich war ein Handarbeitsgeschäft in der burgundischen Provinz nicht ihr Traum gewesen, aber immerhin bot es ihr die Chance auf ein regelmäßiges Einkommen und den Neuanfang, den sie brauchte.

„Glaubst du, ich hab’s vermasselt?“, fragte sie ihre Großmutter. „Schreibt er uns morgen die Kündigung? Mir ist schon klar, dass er es grundsätzlich könnte.“

Louise schürzte nachdenklich die Lippen. „Ich halte ihn eigentlich nicht für einen nachtragenden Menschen. Aber wer so abrupt aufbricht, der hat sich schon geärgert. Insofern wäre es vielleicht nicht verkehrt, wenn du dich bei ihm entschuldigen würdest.“

Alix verdrehte die Augen. „Ich wusste, dass du das sagen würdest.“ Sie griff nach ihrem Glas. „Heute ist wohl nicht mein Tag.“

Genau genommen traf das auf jeden Tag zu, seitdem die Polizei vor ihrer Tür gestanden hatte. Früher, als sie noch bei ihrer Mutter gewohnt hatte, waren es eher die erbosten Hauswirte gewesen, die mal wieder die Wohnung kündigten, weil Catherine mit den Mietzahlungen in Rückstand geraten war. Es war ihrer Mutter schwergefallen, während ihrer depressiven Phasen einen Job zu behalten, deshalb war das Geld stets knapp gewesen.

Dann kam Georges und hatte sie glauben lassen, diese Zeiten wären für immer vorbei. Fast vier Jahre hatte sie in einer Traumwelt gelebt – um letztendlich wieder völlig abzustürzen. Im Grunde war ihre Großmutter der einzige Mensch, auf den sie noch bauen konnte. Umso schlechter fühlte sie sich bei dem Gedanken, dass sie es Louise in Bezug auf den Vermieter so schwer gemacht hatte.

Sie gab sich einen Ruck und stand auf. „Du hast recht, Grandmère. Ich gehe mal die Friedenspfeife suchen.“

Nicolas schloss seine Wohnungstür auf und warf missmutig den Schlüsselbund in die dafür vorgesehene Messingschale. Das war schon ein starkes Stück von den beiden Frauen – die eine kündigte mal eben eine Vereinbarung auf, die die Grundlage für seine zukünftige Planung darstellte, und die andere schob gleich noch ein paar satte Beleidigungen hinterher.

Natürlich war das Recht auf seiner Seite. Er war schließlich der Besitzer dieses Hauses und hatte Louise nie im Unklaren über seine Pläne gelassen. Dass sie das Geschäft nicht direkt zusammen mit dem Hausverkauf aufgab, sondern damit bis zu ihrem Jubiläum warten wollte, fand er akzeptabel, wenn auch ein wenig sentimental. Es hatte ihm immerhin ermöglicht, erst mal sein Apartment auszubauen und dort einzuziehen, ehe er die Verlegung der Kanzlei in Angriff nahm.

Normalerweise hätte er eine solche Vereinbarung schriftlich festgehalten. Aber Louise hatte so eindeutig erklärt, den Laden im Oktober zu räumen, dass er auf einen entsprechenden Vertrag verzichtet hatte. Was wieder mal bewies, dass man sich auf niemanden verlassen konnte.

Und jetzt? Sicher, er würde auch andere Geschäftsräume in Beaune finden, die sich eigneten. Aber vermutlich nicht in der romantischen Altstadt, die fast komplett von einer Stadtmauer umgeben war. Südlich, in Richtung Autobahn, gab es jede Menge Bürogebäude mit Angeboten in jeder gewünschten Größe – aber die besaßen längst nicht den Charme dieses Hauses, das für ihn mehr war als eine Kapitalanlage.

Trotzdem fühlte er sich in der Zwickmühle. Es ging um Louise. Die aufmüpfige Enkelin hatte jedenfalls nicht sein Mitleid erregt. Sollte sie ruhig wieder nach Paris gehen und sich den nächsten reichen Finanzhai angeln, wenn sich die Wogen um die Verhaftung von Georges Arnauld ein wenig gelegt hatten.

Kurz erwog er, seinen Bruder anzurufen. Alain würde sich alles in Ruhe anhören und ihm dann seine Meinung dazu mitteilen, und die war Nicolas immer wichtig gewesen. Aber zum einen war Alain frisch verliebt, und Nicolas wollte ihm nicht dazwischenplatzen, wenn er seine sowieso knappe Freizeit mit seiner neuen Freundin Elise verbrachte. Er gönnte seinem Bruder von Herzen, dass er nach dem Unfalltod seiner Frau endlich wieder jemanden kennengelernt hatte, auch wenn das Zusammensein nicht einfach zu organisieren war, weil sie wegen ihrer Musikkarriere oft unterwegs sein musste und Alain das Weingut nicht verlassen konnte.

Zum anderen war da das schlechte Gewissen, das Nicolas überkam, sobald er an seine Familie dachte. Er war seit März nicht auf dem Weingut gewesen. Er brachte es einfach nicht fertig, nach Hause zu fahren, seitdem … Er schüttelte den Kopf und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Abendessen vielleicht? Was könnte er sich zubereiten, das schnell ging und ihn auf andere Gedanken bringen würde?

In die Stille seiner Wohnung drang ein Klopfen. Kam das von seiner Wohnungstür? Wollte Louise noch einmal mit ihm sprechen? Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Schlecht gelaunt öffnete er die Tür und sah sich ihrer Enkelin gegenüber. Sie hielt eine Weinflasche in jeder Hand.

„Akzeptieren Sie auch Chardonnay als Friedensangebot, Nicolas?“

2. KAPITEL

Er sollte sie hinauswerfen. Er war müde und hatte Hunger, und die Sache mit dem Ladenlokal nagte an ihm. So gern er auch Chardonnay trank, wusste er doch, dass Wein – egal in welcher Menge – keins seiner Probleme lösen konnte. Aber es ging auch um Louise, die er nicht vor den Kopf stoßen wollte. Außerdem war es ihm schon immer schwergefallen, einer attraktiven Frau zu widerstehen, also trat er einen Schritt zurück und sagte: „Kommen Sie rein.“

Sie war eine dieser Frauen, die noch in einem Kartoffelsack elegant aussehen würden. Oder wie jetzt in Jeans und einem Leinenhemd, dessen Ärmel sie lässig hochgekrempelt hatte. Sie stellte beide Flaschen auf dem Couchtisch ab und sah sich neugierig um, von den hellen Ledersofas über die abstrakten Gemälde an der einzigen freien Wand bis zu den Regalen, die als Raumteiler fungierten.

„Schöne Wohnung“, sagte sie anerkennend. „Haben Sie die selbst eingerichtet?“

„Trauen Sie mir das nicht zu?“

„Oje, das kam schon wieder falsch rüber, was?“ Sie sah ihn bekümmert an. „Ich scheine im Moment nicht in der Lage zu sein, eine vernünftige Unterhaltung zu führen. Nein, es ist einfach so: Ich hätte liebend gern mal eine Wohnung eingerichtet, aber während ich mit meiner Mutter zusammenlebte, hatten wir wahrlich andere Probleme. Und für meinen Mann haben das immer irgendwelche angesagten Innenarchitekten gegen teures Geld erledigt.“

„Hat Ihnen denn wenigstens das Ergebnis zugesagt?“

Sie lächelte bitter. „Sagen wir so – Ihre Wohnung gefällt mir besser.“

„Nehmen Sie doch Platz. Ich wollte mir gerade etwas zu essen machen. Mögen Sie Paté?“ Er ging hinüber zur Küchenzeile und inspizierte seine Vorräte. „Baguette, Käse und Oliven sind auch noch da.“

„Klingt gut“, erwiderte Alix. „Und ich frag auch gar nicht erst, ob ich helfen soll. Ich habe den Eindruck, Sie haben alles im Griff.“

„Solange es um einfache Sachen geht, schon.“ Er holte zwei Weingläser aus dem Schrank und einen Korkenzieher aus der Schublade. „Dann können Sie sich ja derweil um die Getränke kümmern.“

„Ja, das kann ich hervorragend“, meinte sie spöttisch. „Nicht dass Sie denken, ich wäre alkoholkrank, aber ich habe ein paar Jahre Erfahrung darin, die aufmerksame Gastgeberin zu spielen.“ Und um das zu unterstreichen, öffnete sie routiniert die Flasche.

Nicolas stellte das Tablett mit dem Essen auf den Tisch, setzte sich und griff nach dem Glas, das sie ihm eingeschenkt hatte. „Ehrlich gesagt weiß ich nicht genau, auf was wir hier trinken.“

„Vielleicht auf einen zweiten Anlauf? Tut mir leid, dass ich gerade so unausstehlich war.“

„Immerhin ist es Ihnen aufgefallen“, stellte er trocken fest.

Sie hob ihr Glas. „Ich kann noch nicht mal versprechen, dass es nicht wieder vorkommen wird. Im Augenblick ist nichts mehr vorhersehbar für mich.“

„Kann ich mir vorstellen“, erwiderte er, prostete ihr zu und nahm den ersten Schluck. Ohne groß drum herum zu reden, fragte er dann: „Sie hatten wirklich keine Ahnung?“

Ihre Augen begegneten seinem Blick, große graugrüne Augen mit langen Wimpern und fein geschwungenen Brauen. Augen, in denen eindeutig Trauer zu lesen war. „Nein, auch wenn mir das niemand glauben will. Bis auf Grandmère vielleicht. Aber Sie sind Rechtsanwalt, Ihr Job ist es vermutlich immer, alles in Zweifel zu ziehen.“

„Das stimmt schon. Aber andererseits habe ich auch gelernt, dass im Leben die unwahrscheinlichsten Dinge passieren.“

„Ha!“, rief sie aus. „Ja, dafür bin ich der lebende Beweis.“ Sie griff nach einer Scheibe Baguette, legte ein Stück Brie darauf. „Vielleicht ist es gar nicht so abwegig, dass eine junge Frau wie ich auf einen solchen Kerl reinfällt. Vermutlich hat meine Großmutter Ihnen von meiner Mutter erzählt?“

„Louise hat mal erwähnt, dass ihre Tochter … psychisch instabil ist.“

Alix lachte bitter auf. „Das haben Sie aber sehr diplomatisch formuliert. Meine Mutter ist manisch-depressiv und hat sich mit neunzehn von einem Mann schwängern lassen, der danach nicht mehr auffindbar war.“

Nicolas ahnte, dass er mit Mitleidsbekundungen vorsichtig sein sollte. Alix wirkte nicht, als würde sie Sentimentalitäten gern annehmen. Also erwiderte er stattdessen: „Keine gute Voraussetzung, um ein Kind aufzuziehen, schätze ich.“

„Das können Sie laut sagen! Immerhin habe ich dadurch viel von Paris gesehen, denn je nachdem, wie meine Mutter drauf war, haben wir in den unterschiedlichsten Vierteln gelebt.“ Sie griff nach den Oliven und sah ihn dann wieder an. „Vermutlich hatten wir sehr unterschiedliche Kindheiten. Meine Großmutter sagt, Sie sind auf einem Weingut aufgewachsen?“

Vermutlich wollte sie mit der Frage ein wenig von sich ablenken. Bestimmt fiel es ihr schwer, sich ständig an ihre Vorgeschichte erinnern zu müssen. „Ja, das ist richtig. Mein älterer Bruder hat es übernommen“, antwortete er knapp.

„Leben Ihre Eltern noch?“

„Nur mein Vater, und der hat in letzter Zeit auch ein wenig abgebaut.“

„Aber Sie haben einen“, murmelte sie. „Das unterscheidet uns.“ Für einen Moment verstummte sie, dann fragte sie unvermittelt: „Wissen Sie, warum ich Georges geheiratet habe? Weil er so zuverlässig war.“

„Zuverlässig“, wiederholte Nicolas überrascht. Er hätte eher mit Begriffen wie „großzügig“ oder „selbstsicher“ gerechnet.

„Ja, wirklich! Mich hat das fasziniert, weil es etwas völlig Neues für mich war. Wenn er sagte, er kommt um sechs Uhr, dann war er stets pünktlich zur Stelle. Wenn er versprach, mit mir ins Theater zu gehen, dann trafen zwei Stunden später die Tickets per Kurier ein. Ich konnte mich hundertprozentig auf ihn verlassen, bis …“ Sie kniff die Lippen zusammen. „Na, Sie haben es bestimmt in der Zeitung gelesen. Mehrere Millionen Euro, die gar nicht existieren, und Hunderte von Anlegern, die ihr gesamtes Vermögen verloren haben. Ein Schneeball-System, das von Anfang an nicht funktionieren konnte. Wer macht so etwas?“

„Ich vermute, man rutscht schrittweise in so etwas hinein“, sagte er. „Wahrscheinlich geht niemand eines Tages ins Büro und beschließt: Ab sofort drehe ich den Leuten ein riesiges Betrugsgeschäft an. Es beginnt ganz klein, mit Versprechen, die man nicht halten kann, und Notlügen und Menschen, die sich nicht vorstellen können, dass ein so gutsituierter Geschäftsmann nicht vertrauenswürdig ist. Und irgendwann hat die Sache eine solche Dimension angenommen, dass man sie nicht mehr stoppen kann.“

„Vielleicht sollten Sie seine Verteidigung übernehmen“, schlug Alix spöttisch vor. „So wie Sie es erklären, klingt es sehr einleuchtend.“

„Ihnen leuchtet es nicht ein?“

„Nun ja, es könnte so gewesen sein. Aber ich nehme ihm übel, wie eiskalt er das durchgezogen hat. Man sollte meinen, er macht sich zwischendurch wenigstens mal Sorgen oder ist gestresst, weil er ahnt, dass das nicht auf Dauer klappen kann. Und das hätte ich gemerkt, da bin ich sicher. Aber noch ein paar Tage vor seiner Verhaftung hat er mir vorgeschlagen, nach Monaco zu fahren, wo sein Freund eine Jacht liegen hat, weil er überlegt, ob wir auch eine kaufen sollen! Es wäre doch viel angenehmer, mit dem eigenen Boot durch die Ägäis zu schippern, als immer darauf angewiesen zu sein, dass es angemessene Suiten im Hotel gibt, nicht wahr?“

Nicolas musste wider Willen grinsen. „So ein Leben haben Sie also geführt.“

Sie nickte und nahm einen großen Schluck. „Genau. Und das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Sie kennen die Geschichte von Ikarus, der so nah an die Sonne fliegt, dass das Wachs schmilzt, das seine Flügel zusammenhält?“

„Ein guter Vergleich. Mir scheint, er trifft es sehr genau.“

„Ja, literarische Anspielungen liegen mir. Immerhin habe ich ein paar Semester an der Sorbonne studiert. Worin ich nicht so gut bin, ist, nach so einem Absturz neu anzufangen.“

„Das würde wohl jedem schwerfallen, Alix.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich auf so einen … so einen Betrüger reingefallen bin. Ganz Paris zerreißt sich das Maul über die Frau von Georges Arnauld. Die einen nehmen mir übel, dass ich so einen Betrüger überhaupt geheiratet und mit ihm dieses Luxusleben geführt habe, die anderen sind entsetzt, dass ich jetzt nicht zu ihm stehe … Egal, was ich tue, es ist immer falsch.“

„Daran werden Sie sich gewöhnen müssen“, sagte Nicolas. Sein Glas war leer und ihres auch beinahe, also schenkte er ihnen nach.

„Ich weiß nicht, ob ich das kann. Früher dachte ich mal, vielleicht komme ich einmal mit einer Kunstkritik in die Zeitung, aber jetzt prangt mein Foto auf jedem Boulevard-Blatt … Das Einzige, was mir eingefallen ist, war Abhauen. Dabei stellte sich heraus, dass sie sogar mein Auto beschlagnahmt haben. Ich hatte gerade noch genug Geld für das Zugticket. Und jetzt muss ich bei meiner Großmutter unterkriechen, ist das nicht erbärmlich?“

„Das ist Ansichtssache, Alix. Vielleicht ist es in Ihrem Fall das Beste, was Sie tun konnten.“

Sie kniff die Augen zusammen. „Fangen Sie bloß nicht an, mich zu bemitleiden.“

„Was wäre Ihnen denn lieber?“, gab er ratlos zurück. „Wenn Sie wollen, empfehle ich Ihnen ein Sportstudio, in dem Sie mal eine Stunde gegen einen Sandsack boxen können. Vielleicht geht es Ihnen dann besser.“

„Möglicherweise.“ Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. „Wobei das vermutlich auch nicht lange vorhält.“

Nicolas betrachtete sie skeptisch. Was wollte sie eigentlich? Sein Mitgefühl offenbar nicht. Als sie vor seiner Tür aufgekreuzt war, hatte er eine Sekunde lang gedacht, sie sei gekommen, um ihn zu verführen und so seine Zustimmung für das Ladenprojekt zu gewinnen. Aber da hatte er sich getäuscht.

„Ich weiß nicht genau, was Sie von mir erwarten“, sagte er. „Aber ich habe mit der Angelegenheit nichts zu tun. Ich bin nicht schuld an Ihren Problemen.“

„Ich weiß“, antwortete sie. „Sieht aus, als müsste ich schon wieder um Entschuldigung bitten. Aber Sie gehören nun mal zu diesen Leuten, durch die ich mich augenblicklich so herausgefordert fühle, Sie wissen schon.“

„Nein, weiß ich nicht“, erklärte er ungeduldig. „Was für Leute sind das?“

Sie wedelte verächtlich mit den Händen. „Nun ja, diese immer Erfolgreichen, die so geradlinig ihren Weg gehen, denen alles gelingt. So einer sind Sie, nicht wahr, Nicolas?“

„Nein“, sagte er ärgerlich, „so einer bin ich nicht.“

„Ach!“ Ihr Gesicht nahm wieder diesen herausfordernden Ausdruck an, den er bereits kannte. „Sie sind nicht erfolgreich und angesehen und verdienen gut?“

„Wenn das ausreicht, um Ihr Feindbild auszufüllen, dann bitte. Mir war bisher nicht bewusst, dass das negative Eigenschaften sind. Und sie machen mich weder zu einem Überflieger, dem alles gelingt, noch zu einem skrupellosen Gesetzesbrecher.“

Sie starrte ihn an, als ob sie mit einer harschen Antwort wie dieser nicht gerechnet hätte. „Touché, Nicolas. Den Gesetzesbrecher unterstelle ich Ihnen nicht.“

„Aber den Überflieger?“

„Ja, den traue ich Ihnen zu.“

Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Diese Frau war wirklich das beste Beispiel dafür, weshalb man Single bleiben sollte. „Sie kennen mich überhaupt nicht, Alix. Wie können Sie sich anmaßen, so über mich zu urteilen?“

Sie sah ihn an und seufzte tief. „Na schön. Erzählen Sie mir etwas über sich.“

„Was meinen Sie damit?“

„Ich habe Ihnen meine Niederlagen gebeichtet. Nennen Sie mir etwas aus Ihrem Leben, das schiefgelaufen ist. Bei dem Sie genau wie ich gescheitert sind. Etwas, das Sie bereuen und nicht wiedergutmachen können.“

„Das ist jetzt nicht Ihr Ernst.“

„Verstehen Sie nicht, wie ich mich fühle, Nicolas? Sehen Sie, mein Scheitern unterhält ganz Frankreich, es kam sogar im Fernsehen. Und selbst wenn es vom nächsten Skandal überholt wird, sind da immer noch eine Menge Leute, die es nicht vergessen werden, weil ihr leeres Bankkonto sie immer wieder daran erinnert. Ihre Geschichte hingegen höre nur ich, das ist doch fast nichts im Vergleich dazu. Erzählen Sie es mir.“

Er verstand, was sie meinte, aber er war nicht bereit, darauf einzugehen. Sekundenlang starrten sie einander an. Nicolas wurde bewusst, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte.

Schließlich war er es, der als Erster zur Seite schaute. „Nein“, sagte er. „Das werde ich nicht tun.“

„Nein? Jetzt weiß ich nicht, ob ich Sie verachten oder bewundern soll. Was meinen Sie, Nicolas?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ihre Entscheidung. Leute wie ich werden natürlich lieber bewundert, das wissen Sie doch.“

Zu seiner Überraschung lachte sie. „Okay, ich glaube, für heute haben Sie gewonnen. Ich sollte jetzt gehen, bevor ich mich noch unmöglicher benehme.“ Sie stand auf, aber statt die Wohnungstür anzusteuern, trat sie ans Fenster. „Von unserem Appartement aus konnte man den Eiffelturm sehen“, murmelte sie. „Hier sieht man nur Dächer und Baumkronen.“

Nicolas trat neben sie. „Man kann sich daran gewöhnen. Das Leben in einer Kleinstadt hat jedenfalls auch seine Vorteile.“

„Hoffentlich haben Sie recht“, seufzte sie und drehte sich zu ihm.

Auf einmal waren sie sich nah. Sehr nah. So nah, dass sich die Stimmung völlig veränderte.

Gegen jede Vernunft beugte er sich zu ihr. Und Alix legte eine Hand auf seine Schulter, hob ihr Gesicht zu seinem. Die Spannung, die sich die ganze Zeit zwischen ihnen aufgebaut hatte, entlud sich in einem völlig unvernünftigen Kuss.

Nicolas schmeckte den Chardonnay auf ihrer Zunge. Ließ seine Hand in ihr Haar gleiten, das weich wie Seide über seine Finger floss.

Dann war er vorbei, der Moment völliger Hingabe. In merkwürdiger Übereinstimmung lösten sie sich voneinander und sahen sich überrascht an.

„Entschuldige“, wisperte sie. „Ich weiß nicht, was da gerade passiert ist.“

„Der Tag war anstrengend“, antwortete er. „Ich glaube, wir beide sind nicht ganz bei Verstand. Es tut mir leid.“

Sie nickte ihm mit einem knappen Lächeln zu und verließ die Wohnung ohne ein weiteres Wort.

3. KAPITEL

Alix hatte sich nach einem kurzen Gespräch mit Louise ins Gästezimmer verabschiedet und sich ins Bett gelegt. Sie war sogar einigermaßen problemlos eingeschlafen. Aber am nächsten Morgen wachte sie mit Kopfschmerzen und trüben Gedanken auf.

Ihr war klar, dass ihr Verhalten absolut peinlich gewesen war. Mit zwei Flaschen Weißwein aus dem Supermarkt zu dem Sohn einer Winzerfamilie zu gehen. Eine halbherzige Entschuldigung auszusprechen und dann, statt geschickt das Thema zu wechseln, in rührselige Geschichten über ihre Kindheit einzutauchen. Ihn schließlich auch noch dazu herauszufordern, von seinen eigenen Blamagen zu berichten. Und dieser Kuss – dafür gab es nun absolut keine Erklärung mehr.

Außer vielleicht, dass er ein wirklich gut aussehender Mann war mit seinem dunklen Haar und den klassischen Zügen, mit dem charmanten Lächeln und seiner durchtrainierten Figur. Vermutlich hatte er ihr ein Fitness-Studio empfehlen wollen, weil er es selbst regelmäßig besuchte.

Alix seufzte. Sie sollte besser nicht weiter über die äußerlichen Vorzüge von Nicolas Charpentier nachdenken, denn nach diesem Auftritt würde er garantiert versuchen, sie sich mit allen Mitteln vom Leib zu halten. Und um sich noch ein wenig mehr zu geißeln, erinnerte sie sich auch daran, wie er ihre unsachlichen Angriffe mit erstaunlicher Gelassenheit pariert hatte.

Okay, er war Rechtsanwalt. Vielleicht hatte er eine Menge Klienten, die sich ebenso unangemessen verhielten wie sie gestern. Vielleicht gehörte es zu seinem Erfolgsgeheimnis, sich auf keinen Fall von der Gegenseite aus der Fassung bringen zu lassen. Und das war sie ja wohl – die Gegenseite. Sie wollte, dass er auf einen Anspruch verzichtete, der ihm im Prinzip zustand. Damit sie ihr völlig verkorkstes Leben wieder in die Spur bringen konnte.

Bisher hatte ihr Verhalten nicht gerade dazu beigetragen, sie diesem Ziel näherzubringen. Sie tappte ins Bad und blinzelte in den Spiegel. Die dunklen Schatten unter ihren Augen ließen sie krank aussehen. Wo war die attraktive, kluge Frau geblieben, für die sie sich bisher gehalten hatte?

Vermutlich hatte es sie nie gegeben. Sie hatte zwar bis vor Kurzem nicht gewusst, wie naiv sie war, aber von jetzt an würde sie es nie mehr vergessen. Für die Presse war es ein Fest gewesen, für die Pariser Gesellschaft der Beweis, dass sie nun genauso inakzeptabel war wie ihr Mann, der Betrüger. Dazu kam die Erkenntnis, dass sie quasi mittellos war, denn ohne die Zuwendungen von Georges besaß sie nichts außer mehreren Schränken voller Kleider und einigen Schmuckstücken. Allerdings hatte sie keine Idee, wie sie die zu Geld machen könnte. Ihre Mutter war ihr keine Hilfe gewesen. Es blieb nur noch die Flucht hierher, nach Beaune, zu ihrer Großmutter Louise.

Die vermutlich längst unten in ihrem Laden stand, denn es war schon spät, wie Alix mit Schrecken feststellte. Eilig sprang sie unter die Dusche, kramte die letzten beiden Aspirintabletten aus ihrer Tasche hervor und spülte sie in der Küche mit dem mittlerweile kalten Milchkaffee herunter, den Louise ihr hingestellt hatte, als sie die Wohnung verlassen hatte. Dann stürmte sie nach unten.

Seit ihrem letzten Besuch hatte sich bei Tissus Martin nicht viel verändert. Nostalgisch betrachtete Alix die hohen Regale entlang der Rückwand, in denen die Stoffballen lagerten. Davor stand der lange Tisch, auf dem die Stoffe ausgebreitet und zugeschnitten wurden, daneben die Glasvitrine mit den vielen Kleinigkeiten, die zum Nähen benötigt wurden. Die andere Hälfte des Ladens war der Wolle gewidmet. Die bunten Knäuel stapelten sich nach Qualitäten sortiert in den schier endlosen Regalfächern.

Als Kind hatte sie die Atmosphäre des Geschäfts geliebt – die knarrenden Holzdielen, die bunten Farben. Überall war es eng und vollgestellt, weil es hier so unendlich viel Schönes zu entdecken gab: kühle, glatte Baumwollstoffe und vorgedruckte Tischdecken zum Besticken, flauschige Angorawolle für warme Winterpullover und die altmodische Schaufensterpuppe, die immer ein von Louise selbst gefertigtes Probemodell trug. Das Hinterzimmer mit den Nähmaschinen, in dem Louise manchmal Nähkurse gab, roch immer noch ein wenig nach Staub und Bohnerwachs, und auch das Büro daneben mit seinen Aktenordnern und der Rechenmaschine, die aus den Achtzigerjahren stammen musste, sah aus wie früher. Alles trug Louises Handschrift und zeugte davon, mit wie viel Energie und Leidenschaft sie das Tissus Martin zu dem gemacht hatte, was es heute war. Würde sie das fortsetzen können?

Alix dachte daran, wie abfällig sich ihre Mutter oft über den Laden geäußert hatte, in dem sie praktisch aufgewachsen war. Das hatte sie nie verstanden, denn bei ihren eigenen Besuchen hatte sie sich hier sehr wohl gefühlt. Noch immer erinnerte sie sich gern an die Zeiten, als sie unter dem Zuschneidetisch mit ihren Stofftieren gespielt hatte, während Louise die Kunden bediente. Der Gedanke daran, dass sie bald die Verantwortung für das Lebenswerk ihrer Großmutter tragen würde, war schon beunruhigend. Der Unterschied war, dass ihre Mutter das niemals durchgehalten hätte. Aber sie würde die Energie dafür aufbringen. Schließlich hatte sie keine andere Wahl.

Sie beobachtete ihre Großmutter, die gerade eine Kundin beriet. Zuerst begutachteten sie ausführlich einen Schnittmusterumschlag, dann diskutierten sie die Vor- und Nachteile zweier Stoffe, die dafür infrage kamen. Schließlich entschied sich die Kundin, und Louise griff zu der hölzernen Elle, um drei Meter zwanzig abzumessen und sorgfältig abzuschneiden. Dazu wurde Nähgarn ausgesucht, ein Reißverschluss in passender Farbe und Länge, vier Knöpfe. Die Gesamtsumme, die die Ladenkasse schließlich anzeigte, betrug dreiundneunzig Euro achtzig.

Alix fragte sich, ob sie die Beratung bald auch so routiniert übernehmen könnte. Noch während Louise die Waren ihrer Kundin einpackte, erschien eine junge Frau im Laden und steuerte direkt auf sie zu. „Sagen Sie, haben Sie Jerseystoffe mit Kindermotiven in Bio-Qualität?“

Alix hatte keine Ahnung, was sie meinte. Hilflos wies sie auf das Regal hinter sich. „Vielleicht möchten Sie mal selber schauen?“

Die Kundin warf ihr einen irritierten Blick zu und sah sich bei den Stoffen um. Die Zeit, bis Louise ihr beispringen und die junge Frau bedienen konnte, erschien Alix endlos. Es gab so unglaublich viel zu lernen – wo sollte sie bloß anfangen?

Auch ihre Großmutter schien etwas nachdenklich geworden zu sein. „Am besten erkläre ich dir erst mal die Kasse, das ist nicht schwer“, schlug sie vor, als die Frau gegangen war. „Vielleicht können wir es zu Anfang eher so halten, dass ich die Leute berate, und du rechnest ab und packst ein, dafür muss man nicht so viel wissen.“

„Kann ich denn bis dahin trotzdem etwas tun?“, fragte Alix etwas hilflos.

Louise dachte nach. Dann leuchtete ihr Gesicht auf. „Ich habe eine Idee!“ Sie ging mit ihr in das Nähzimmer und zog einige Bücher aus dem Regal. „Schau mal, das sind Näh-Leitfäden für Anfänger. Darin steht auch eine Menge über Stoffe und Nähtechniken. Lies dich doch erst mal ein, und dann sehen wir weiter.“

Mit einer gewissen Erleichterung sank Alix auf einen der Stühle und schlug das erste Buch auf. Im Inhaltsverzeichnis fand sie das Schlagwort Materialkunde und blätterte zur entsprechenden Seite. „A wie Acetat“, murmelte sie.

Louise klopfte ihr ermutigend auf die Schulter. „Du schaffst das schon. Und wenn ich die Maschinen hier stehen sehe, dann scheint es mir eine gute Idee, dass du auch selbst nähen lernst. Man muss doch wissen, wovon man redet. Das gehen wir als Nächstes an.“

Schon klingelte wieder die Ladenglocke, und sie eilte zurück. Alix sah ihr mit einer gewissen Verzweiflung hinterher. Das konnte ja heiter werden.

Einmal im Monat traf sich Nicolas mit seinem Freund Franck zum Mittagessen. Weil Franck als Steuerberater auch seine Buchhaltung betreute, lief das normalerweise so ab, dass Nicolas zunächst in Francks Büro vorbeischaute und die monatlichen Belege einreichte. Danach zogen sie dann zusammen los – meistens zum Italiener an der Stadtmauer oder zu einem Chinesen, der spezielle Mittagsmenüs anbot.

„Heute könnten wir doch mal in das Lokal neben deiner Wohnung gehen“, schlug Franck dieses Mal vor, als sie schon vor der Tür seines Büros standen. „Ich habe danach einen Termin mit deiner Mieterin, die möchte etwas mit mir besprechen. Ich vermute, sie will den Vertrag kündigen, weil sie sich zur Ruhe setzt, oder? Hattest du nicht erwähnt, dass sie im Herbst aufhören möchte?“

„Louise?“ Nicolas verdrehte die Augen. „Ja, das war der Plan, aber das hat sich jetzt alles geändert. Sie will das Geschäft an ihre Enkelin übergeben.“

„Echt jetzt?“ Franck blieb verblüfft stehen. „Eine Enkelin? Wo kommt die denn her?“

„Aus Paris“, antwortete Nicolas. „Sie hat sich von ihrem Mann getrennt und sucht eine neue Herausforderung.“

„Ja, eine Herausforderung wird das sein“, brummte Franck.

Nicolas warf ihm einen neugierigen Blick zu. „Was meinst du damit?“

„Betriebsgeheimnis“, erwiderte sein Freund grinsend. „Davon verstehst du doch auch was.“

„Hör mal, wenn du so eine Bemerkung machst, dann kannst du ruhig auch eine Erklärung dazu abgeben. Es geht schließlich um den Laden, der sich in meinem Haus befindet. Wenn du also etwas weißt, das mich betrifft …“

„Also gut“, lenkte Franck ein. „Wie gesagt hatte ich ja erwartet, dass sie spätestens Ende des Jahres alles aufgibt, deswegen habe ich mir nicht so viele Gedanken darüber gemacht. Aber wenn jetzt eine Nachfolgerin da einsteigt, sieht es natürlich anders aus.“

„Was willst du damit sagen?“, drängte Nicolas. „Steht es nicht gut mit den Umsätzen?“

Sie hatten das Lokal erreicht und setzten sich an einen Tisch im Außenbereich. Der Kellner erschien umgehend, so- dass sie ihre Bestellung aufgeben konnten.

„Die Umsätze sind ordentlich“, erklärte Franck, als sie wieder unter sich waren. „Aber der Gewinn ist nicht berauschend. Im Prinzip müsste Louise an ihren Preisen etwas tun, das habe ich ihr schon mehrmals gesagt. Aber da will sie nicht drangehen, weil sie meint, dass ihre Kunden das nicht mitmachen.“

„Glaubst du, sie liegt damit richtig?“

Franck zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen. Ich habe schon mal mit meiner Frau darüber gesprochen, denn Esther kauft ja auch manchmal bei ihr Strickwolle. Sie meint, dass die Preise durchschnittlich sind. Na ja, ich habe nicht weiter gedrängt, denn bisher hat Louise immer noch schwarze Zahlen geschrieben, aber viel blieb da nicht übrig. Außerdem war ja das Ende abzusehen, aber jetzt …“

„Jetzt will die Enkelin davon leben“, folgerte Nicolas. „Und da hast du Bedenken?“

Franck zog ein skeptisches Gesicht. „Sieh mal, Louise bezieht Rente und lebt recht bescheiden. Sie hat kein Auto und keine teuren Hobbys. Wenn du nicht plötzlich die Miete für ihre Wohnung verdoppelst, dann kommt sie auch ohne den Laden gut zurecht. Aber wenn da jetzt jemand kommt, der aus dem Geschäft ein ordentliches Einkommen erwirtschaften will … Aber ich glaube, mehr sollte ich dazu nicht sagen. Man nennt es Diskretion.“

„Ja, das reicht mir auch schon“, brummte Nicolas. „Dann bin ich mal gespannt, wie es weitergeht.“

Franck nickte. „Ja, das bleibt abzuwarten. Vielleicht hat die Enkelin ja richtig gute Ideen und macht etwas ganz Tolles, Neues daraus. Besser wäre es wohl.“

„Du meinst damit, mehr, als die Preise zu erhöhen?“

„Allerdings. Weißt du, ich habe schon oft miterlebt, wie solche Geschäftsübergaben laufen. Esther sagt, die alte Dame hat so viel Erfahrung, dass viele Kunden extra ihretwegen herkommen, sogar aus Chalons und der gesamten Umgebung. Die verkauft ihnen nicht nur das Material, sondern erklärt dazu viel und berät sehr intensiv. Da entstehen persönliche Bindungen. Und die muss so eine Nachfolgerin erst mal aufbauen. Das geht nicht von selbst.“

„Da hast du recht“, bekräftigte Nicolas. „Das ging mir auch so, als ich die Kanzlei von Monsieur Thierry übernahm. Manche Mandanten sind abgesprungen, dafür habe ich dann andere gewinnen können.“

„Vor allem die Scheidungswilligen“, ergänzte Franck grinsend. „Weißt du, wenn ich mich mit Esther streite, reicht schon der Gedanke daran, dass sie zu dir geht, um sich scheiden zu lassen, und ich bin wieder bereit einzulenken.“

„Sie könnte auch zu Patrice Durand gehen, der würde dich genauso alt aussehen lassen“, behauptete Nicolas. „Und ich sag dir eins, mein Freund, wenn du dich von Esther scheiden lässt, dann rede ich kein Wort mehr mit euch beiden.“

„Wo denkst du hin, das würde ich niemals ernsthaft in Erwägung ziehen“, versicherte Franck. Er warf einen überraschten Blick zur anderen Seite. „Oh, là, là, ist das etwa die Enkelin?“

Nicolas folgte seiner Blickrichtung und erkannte Alix, die gerade die Verkaufsständer mit den reduzierten Sonderposten nach innen bugsierte, um das Geschäft über Mittag zu schließen. Sie trug ein Kleid, das auf den ersten Blick ganz schlicht wirkte, an ihr aber wundervoll aussah. Sofort fiel ihm wieder ihre Begegnung von gestern ein und wie fasziniert er von ihr gewesen war, obwohl sie ihm den letzten Nerv geraubt hatte. „Ganz recht, das ist Alix Arnauld.“

„Alix Arnauld“, wiederholte Franck mit andächtigem Gesichtsausdruck, als würde er seinem großen Idol Jean-Paul Belmondo vorgestellt. Aber dann runzelte er verdutzt die Stirn. „Arnauld? Wie Georges Arnauld?“

Augenblicklich bereute Nicolas, dass er ihren Namen genannt hatte. „Hör mal, geht’s auch ein bisschen leiser?“

Franck nickte, während er aufmerksam verfolgte, wie sie den letzten Wühlkorb nach drinnen holte. „Ist sie seine Tochter?“

„Seine Ex-Frau. Aber das bleibt unter uns, verstanden? Sie ist hierhergekommen, um vor dem Skandal in Paris zu fliehen. Sie braucht jetzt kein Aufsehen.“

„Schon klar“, sagte Franck, weiterhin sehr beeindruckt. „Aber das wird nicht lange ein Geheimnis bleiben, das verspreche ich dir. So eine Frau fällt einfach auf.“

Nicolas konnte ihm da nur zustimmen. Sie war schon eine ungewöhnliche Erscheinung – ausgesprochen attraktiv und dickköpfig zugleich. Nach wie vor fühlte er sich hin- und hergerissen. Wieso sollte er ihr zuliebe auf seine Pläne verzichten? Andererseits kam er sich beinahe wie ein Ungeheuer vor bei dem Gedanken, Louise ihren Wunsch abzuschlagen.

„Junge, Junge“, murmelte Franck. „Alix Arnauld versteckt sich ausgerechnet hier in Beaune! Wenn ich das Esther erzähle …“

„Franck!“, warnte Nicolas ihn.

Sein Freund verzog mitleidheischend das Gesicht. „Nicolas, wenn ich ihr das nicht erzähle und sie kriegt mit, dass ich es wusste, dann … dann könnte es doch noch Arbeit für Patrice Durand und dich geben. Und überhaupt, was hast du damit zu tun?“

„Abgesehen davon, dass sie meine Mieterin ist?“

„Ach ja, ich vergaß. Aber sag mal, wolltest du nicht eigentlich selbst das Ladenlokal für deine Kanzlei nutzen?“

„Ja, das war der Plan. Und deswegen bin ich etwas beunruhigt über diese Entwicklungen.“

„Du könntest mit Fug und Recht Einspruch erheben – niemand kann dich zwingen, das Mietverhältnis fortzuführen.“

„Ich weiß.“ Nicolas spielte nachdenklich mit seinem Besteck. „Aber ich kann Louise das einfach nicht antun, weil ich merke, wie wichtig es ihr ist. Weißt du, sie war von Anfang an so entgegenkommend, als es um den Verkauf des Hauses ging. Mindestens einmal die Woche trinken wir ein Glas Wein zusammen. Sie ist wie die Großmutter, die ich nie hatte, weil meine eigenen Großeltern so früh verstorben sind.“

„Das kann ich gut nachvollziehen“, sagte Franck verständnisvoll. „Aber damit schaffst du dir natürlich ein ziemliches Problem. Deine Räumlichkeiten sind wirklich nicht mehr zeitgemäß, und die Frage ist, wie lange du noch mit einem Umzug warten kannst.“

„So ist es. Eine ziemlich vertrackte Situation.“

„Vielleicht hast du ja Glück und die junge Dame setzt die Sache schnell in den Sand.“

Nicolas hob erschrocken den Kopf. „Das nennst du Glück?“

„Für dich wäre es doch am günstigsten“, erwiderte Franck ungerührt. „Meiner Meinung nach wird das Projekt nur klappen, wenn sie fachlich gut ist, ihre Zahlen im Blick hat und fit ist im Marketing. Traust du ihr das zu?“

Die Antwort war klar. „Nein. Die Frau hat Kunstgeschichte studiert und dann einen reichen Mann geheiratet.“

Franck zog die Augenbrauen in die Höhe. „Wenn das so ist, dann kannst du beruhigt deinen Innenarchitekten beauftragen. Das wird nicht funktionieren.“

4. KAPITEL

Nach dem Essen verabschiedete Franck sich eilig, um den Termin mit Louise wahrzunehmen. Nicolas bestellte sich noch einen Kaffee, um über all das nachzudenken, was sein Freund gesagt hatte. Natürlich wäre es für ihn das Einfachste, wenn Francks Prognose eintreffen und Alix mit der Fortführung des Geschäfts scheitern würde.

Aber er hatte schon mehrere Mandanten in vergleichbaren Situationen kennengelernt und ahnte, wie das ablaufen würde. Statt rechtzeitig die Notbremse zu ziehen und einzusehen, dass es so nicht weitergehen konnte, wurden oft Häuser beliehen und letzte Notreserven aufgebraucht. Bestimmt würde Louise ihre Ersparnisse einsetzen, bevor Alix aufgeben müsste. Und das wollte er unbedingt verhindern.

Noch während er über seine Möglichkeiten nachgrübelte, kam ein älterer Mann auf ihn zu. „Nicolas! Wie schön, Sie zu treffen! Wie geht es Ihnen?“

„Hallo Christophe! Möchten Sie sich zu mir setzen?“ Der alte Herr war nicht nur ein Freund seines Vaters, sondern auch ein bekannter Mäzen der Stadt. Lange Zeit war er für die jährliche Weinversteigerung zuständig gewesen, deren Erlöse dem Hôtel-Dieu zugutekamen. Das prächtige Gebäude mit den bunten Dachziegeln, inzwischen die bekannteste Sehenswürdigkeit der Region, existierte seit dem Mittelalter und war einst als Hospiz für mittellose Kranke errichtet worden. Inzwischen war es längst von einem modernen Krankenhaus abgelöst worden, aber die traditionsreichen Versteigerungen wurden von Leuten wie Christophe mit großem Einsatz weitergeführt. Es war nie verkehrt, sich von ihm die aktuellen Neuigkeiten erzählen zu lassen.

„Ein kleiner Kaffee wäre mir jetzt recht“, meinte Christophe und nahm auf dem Stuhl Platz, den Franck kurz zuvor verlassen hatte. „Das war ja eine Sache mit Ihrem Vater! Ist einfach die Treppe hinuntergestürzt!“

„Ja, das war ein Schreck“, sagte Nicolas. Das Thema war ihm etwas unangenehm, weil der Sturz ausgerechnet bei dem Besuch in seiner Kanzlei vor ein paar Wochen passiert war. „Aber zum Glück war es ein einfacher Bruch. Es hätte schlimmer ausgehen können.“

„In der Tat. Ich habe kürzlich mit ihm telefoniert“, fuhr Christophe fort, „und es scheint ihm wieder ganz gut zu gehen. Jetzt wartet er sehnsüchtig darauf, dass die junge Dame aus England wiederkommt, die ihn so nett betreut hat. Die kennen Sie sicher auch? Wie hieß sie gleich – Eleonore?“

„Elise“, korrigierte Nicolas. Bestimmt wartete nicht nur sein Vater sehnsüchtig auf ihre Rückkehr, sondern auch sein Bruder Alain. Der schien wie verwandelt durch die neue Beziehung, nachdem der Tod seiner Frau vor drei Jahren ihn so hart getroffen hatte. Seit Elise sich auf dem Weingut eingemietet und die Betreuung ihres Vaters übernommen hatte, schien auf dem Hof endlich wieder ein wenig Glück Einzug zu halten. Und Nicolas war froh, dass er der schönen Musikerin helfen konnte, aus dem Knebelvertrag auszusteigen, den ihr Manager ihr aufgezwungen hatte.

„Richtig, Elise. Eine sehr sympathische junge Frau, so interessiert und freundlich. Sie wissen nicht zufällig, ob sie Lust hätte, für unsere Museumsverwaltung zu arbeiten? Jemanden, der mehrere Sprachen spricht, könnten wir gut gebrauchen.“

„Das wird wohl nichts werden, Christophe.“ Nicolas lächelte bedauernd. „Da bin ich mir ziemlich sicher, denn Elise hat berufliche Verpflichtungen in London. Wie ich hörte, plant sie gerade ein neues Album mit eigenen Stücken.“

„Tja, das ist schade. Wir wollten eigentlich eine Bewerberin aus der Schweiz einstellen, aber die hat leider sehr kurzfristig abgesagt.“

Nicolas horchte auf, weil ihm gerade eine Idee kam. „Also suchen Sie immer noch jemanden für den Job?“

„Kennen Sie vielleicht jemanden, der infrage kommt? Derjenige sollte sich unbedingt bei mir melden!“

„Das gebe ich gern weiter, Christophe.“

Der alte Herr strahlte. „Das wäre großartig. Hoffen wir mal, dass es klappt, die Saison ist ja schon in vollem Gange. Und wenn Sie Ihren Vater sehen, dann richten Sie ihm noch mal viele Grüße von mir aus und gute Besserung.“

„Natürlich“, sagte Nicolas. Mit schlechtem Gewissen, denn er wusste nicht, wann das sein würde.

Nach einigem Nachdenken hatte Nicolas beschlossen, noch einmal mit Louise über die Angelegenheit zu sprechen. Im Prinzip widerstrebte es ihm, sich einzumischen. Er war ein Mensch, der sich mit einem gewissen Abstand zu den anderen am wohlsten fühlte. Ja, er hatte Freunde und genoss es auch, ab und zu mit ihnen etwas zu unternehmen. Aber in den letzten Jahren bevorzugte er es, diese Kontakte nicht zu intensiv werden zu lassen – erfahrungsgemäß führten sie irgendwann immer zu stressigen oder unerfreulichen Situationen, die er möglichst zu vermeiden suchte. Aber in diesem Fall musste er handeln.

Louise freute sich wie immer, ihn zu sehen. Das Geschäft hatte bereits geschlossen, also klingelte er an ihrer Haustür.

„Komm herein, Nicolas! Höchste Zeit, dass wir uns noch einmal in Ruhe unterhalten.“ Sie lotste ihn direkt auf ihren Balkon und kredenzte ihm den üblichen Chardonnay.

„Ist Alix nicht da?“

„Oh, die sitzt noch unten und arbeitet.“

„Sie arbeitet?“, fragte er verblüfft. „Der Laden ist doch längst zu.“

Louise lächelte. „Sie muss viel lernen, Nicolas. Sie hat zwar ein Gefühl für Stil, aber sie verfügt leider über sehr wenig Ahnung, was Material und Verarbeitung angeht. Und das braucht man nun einmal, wenn man in diesem Bereich tätig ist. Also habe ich ihr einiges zu tun gegeben, und das nimmt sie auch sehr ernst.“

„Bist du eine strenge Lehrmeisterin?“, fragte er mit spitzbübischem Lächeln.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich gebe mir Mühe, ihr so viel beizubringen, wie ich kann. Die jungen Leute lernen das heutzutage ja nicht mehr so selbstverständlich wie wir früher. Aber weil sie den Grips hat, wird es ihr nicht schwerfallen, sich in die Theorie einzuarbeiten.“

„Und was ist mit der Praxis?“

„Oh, daran arbeiten wir auch. Sie muss wissen, wovon sie spricht, wenn sie Stoffe verkauft.“

Nachdenklich trank er einen Schluck. „Braucht man dazu Talent oder ist es reines Handwerk?“

„Das ist eine gute Frage.“ Louise starrte eine Weile über das Balkongeländer in die Weite. „Ich hatte immer Freude daran, etwas mit meinen Händen herzustellen. Niemand musste mich zwingen, es war mir eher ein Bedürfnis. Das kennt Alix leider so nicht. Ich weiß, sie hätte sich das freiwillig nicht ausgesucht, aber ich glaube, sie ist schon in der Lage, sich in die Materie einzuarbeiten und irgendwann das Tissus Martin auch ohne mich zu betreiben.“

„Die Frage ist, ob sie das auch will“, sagte er.

Louise nickte. „Gewiss hatte sie sich ihr Leben anders vorgestellt. Aber sie besitzt Ehrgeiz und Zielstrebigkeit, und darauf kommt es meiner Meinung nach an. Auf jeden Fall will sie sich etwas Eigenes aufbauen. Es war ein schrecklicher Fehler, ihre ganze Zukunft von diesem Mann abhängig zu machen, aber … nun ja, wenn man alles vorher wüsste, dann würde man manche Entscheidung anders treffen, nicht wahr?“

„Was hast du denn damals darüber gedacht? Hat niemand versucht, ihr das auszureden?“

„Ha!“ Jetzt lachte sie belustigt auf. „Glaubst du, man kann Alix so einfach etwas ausreden? Sie musste früh genug lernen, ihre Entscheidungen selbst zu treffen.“

„Vermutlich nicht“, gab er zu. So wie er Alix inzwischen einschätzte, müsste man sich auf einiges gefasst machen, wenn man es versuchte.

Louise wurde wieder ernst. „Ich kannte Georges nicht. Das spielte sich ja alles in Paris ab, und da war ich nicht oft. Aber ich kann mir vorstellen, wie es abgelaufen ist. Ältere Männer können sehr anziehend sein, vor allem für eine junge Frau, die so eine Vorgeschichte hat wie sie. Das uneheliche Kind mit einer Mutter, die sich dafür schämt und es ihr ganzes Leben lang nicht schafft, ihrer Tochter Nestwärme und finanzielle Sicherheit zu geben. Ich wollte die beiden ja hierher zurückholen, aber das hat Catherine abgelehnt. Sie wollte nicht in der Stadt leben, in der jeder sie kennt und dafür verachtet, dass sie unverheiratet schwanger wurde.“

Nicolas runzelte die Stirn. „Ich dachte, diese Zeiten wären längst vorbei.“

„Ja, gewiss, aber legt nicht letztlich jeder selbst aus, was akzeptabel ist und was nicht? Schließe nie von dir auf andere, Nicolas.“

„Ein weiser Spruch, Louise. Du meinst also, dass diese Vorgeschichte deine Enkelin dazu brachte, Georges Arnauld zu heiraten?“

„Ich bin sicher, dass es zu dem Zeitpunkt für Alix das Richtige zu sein schien. Und versteh mich nicht falsch, ich erzähle dir das nicht, um zu tratschen, sondern weil ich möchte, dass du ein wenig besser verstehst, warum sie so ist, wie sie ist.“

Und das klingt bisher alles sehr plausibel, dachte er. „Und du möchtest, dass ich das weiß, bevor ich eine endgültige Entscheidung wegen des Ladenlokals treffe.“

Louise nickte. „Ich weiß, ich verlange viel von dir. Du hast Pläne gemacht, das ist mir bewusst, und ich kann nur an dein Herz appellieren. Bestimmt gibt es in Beaune auch noch andere Möglichkeiten für eine größere Kanzlei. Aber ich wüsste nicht, wie ich den Laden woandershin verlegen könnte. Seit vierunddreißig Jahren existiert er an diesem Ort und ist für viele meiner Kunden die erste Anlaufstelle.“

„Ich weiß, und ich denke darüber nach. Vielleicht sollte ich auch mit Alix noch einmal sprechen.“

„Auf jeden Fall!“, versicherte sie. „Ich weiß, ihr hattet keinen so guten Start, und dazu hat sie auch von mir etwas zu hören bekommen. Ich bin froh, dass ihr euch doch noch wieder vertragen habt.“

Hatten sie sich vertragen? Das hatte er ein wenig anders in Erinnerung. Aber es half ja nichts, sie brauchten eine Einigung, und es lag an ihm, die Bedingungen vorzugeben.

Nicolas leerte sein Glas. „Also, Louise, dann verlasse ich dich jetzt und versuche, mit deiner Enkelin ein vernünftiges Gespräch zu führen.“

„Eine gute Idee!“, stimmte sie ihm zu.

Hoffentlich hatte sie recht. Denn er hatte einen Vorschlag, der das Problem auf völlig andere Weise lösen könnte.

Alix war in der Nähwerkstatt schon seit geraumer Zeit damit beschäftigt, ihre Karteikarten zu sortieren, und schreckte hoch, als sie ein Klopfen hörte. Wer konnte das sein? Ihre Großmutter würde bestimmt einfach hereinkommen.

„Hallo?“ Nicolas steckte den Kopf zur Tür herein. „Hast du einen Moment?“

„Ich glaube, ich kann eine kleine Ablenkung vertragen“, seufzte sie und schob den Kartenstapel auf dem großen Arbeitstisch von sich weg.

Er kam näher. „Was machst du denn da?“

„Ich versuche, mir eine mehrjährige Ausbildung über Nacht anzueignen.“ Sie fächerte die Karten wieder auf. „Grandmère meint, ich muss alle Produkte im Laden kennen. Deshalb bin ich gerade dabei, kleine Stoffstücke auf Karteikarten zu kleben und dazuzuschreiben, wie man das Material nennt und was man daraus machen kann. Wenn du dir zum Beispiel ein Oberhemd nähen möchtest, dann würde ich dir … Moment, wo habe ich es denn … diesen Baumwollpopeline empfehlen. Den gibt es übrigens auch in Blaugestreift.“ Sie reichte ihm eins der Kärtchen.

„Ist der bügelfrei?“, fragte er zurück.

„Keine Ahnung.“ Sie verzog unzufrieden das Gesicht. „Musst du mich ausgerechnet was fragen, was nicht auf meiner Karte steht?“

„Na ja, ich dachte, ich schaffe eine möglichst realistische Situation.“ Er lehnte sich mit amüsierter Miene gegen die Tischkante und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Wie realistisch ist es denn, dass du dir ein Oberhemd nä...

Autor

Rona Wickstead
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Charlotte Hawkes
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Jennifer Taylor

Jennifer Taylor ist Bibliothekarin und nahm nach der Geburt ihres Sohnes eine Halbtagsstelle in einer öffentlichen Bibliothek an, wo sie die Liebesromane von Mills & Boon entdeckte. Bis dato hatte sie noch nie Bücher aus diesem Genre gelesen, wurde aber sofort in ihren Bann gezogen. Je mehr Bücher Sie las,...

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