Spiel der Sinnlichkeit

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Mit ihrer Schauspielertruppe reist Deborah durchs Land – bis sie einwilligt, für den unwiderstehlichen Duke of Cirencester zu lügen. Erst hat er sie in der Hand, dann in seinen starken Armen! Und wenn der Duke sie heiß liebt, wünscht Deb, der Vorhang dieses gefährlich sinnlichen Spiels würde niemals fallen …


  • Erscheinungstag 16.10.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512954
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Juni 1803

Deborah drückte sich an die efeuumrankte Hauswand und versuchte, nicht zusammenzuzucken, als kalte Regentropfen von der Krempe ihrer Kappe in den Jackenkragen rannen. Soeben war sie über die Grenzmauer des Anwesens geklettert und war durch das Gebüsch gepirscht, den Kopf vorsichtig gesenkt. Jetzt konnte sie sich umsehen und stellte fest, dass sich niemand in der Nähe aufhielt.

Hardgate Hall. Allein schon der Name genügte, um ihr einen Schauer über den Rücken zu jagen. Sie spähte zu dem kleinen Fenster im zweiten Stockwerk hinauf. Das musste ein achtloser Dienstbote offen gelassen haben. Fast sechzehn Jahre waren verstrichen, seit sie dieses Haus zum letzten Mal betreten hatte – eine verwirrte Sechsjährige an der Hand ihrer Mutter. Wenige Minuten später waren sie hinausgescheucht worden.

„Du hast damals deinen Entschluss gefasst, Emily!“, hatte Hugh Palfreyman schroff betont. Nur zu gut erinnerte Deb sich daran, denn ihre Mutter hatte geweint. „Wie man sich bettet, so liegt man …“

Jetzt war sie zweiundzwanzig, ihre Mutter längst gestorben. Aber Deb hatte diesen Ort nie vergessen, das Bild von Hardgate Hall stets in ihrer Fantasie gesehen. Unter einem grauen Himmel. So wie an diesem Tag. Sie blickte sich wieder um und bekämpfte ihre wachsende Angst.

Erleichtert atmete sie auf, als zwei vertraute Gestalten durch den Regen zu ihr rannten. „Luke, Francis, da seid ihr ja! Ich dachte schon …“

„Was, Miss Deb?“, fragte der junge Luke. Auf seinen Wangen klebten nasse blonde Strähnen.

Dass sie befürchtet hatte, das Personal ihres Onkels hätte die beiden geschnappt, behielt sie für sich. „Ihr habt euch Zeit gelassen. Gibt es Neuigkeiten?“

„So wie du es wolltest, haben wir uns vergewissert, dass niemand in der Nähe ist, Deborah“, erwiderte Francis. „Glücklicherweise wurden alle Gärtner anscheinend damit beauftragt, heute Nachmittag die Gewächshäuser zu reinigen. Und die liegen am anderen Ende des Südrasens.“

Deb nickte. „Also wird man uns hier nicht entdecken. Und die Wachhunde?“

Nun meldete Luke sich wieder zu Wort. „In der Ferne hörten wir sie bellen. So wie das klang, sind sie ziemlich groß“, fuhr er schaudernd fort. „Aber wie ich herausgefunden habe, werden sie in einem Zwinger bei den Ställen gehalten und erst rausgelassen, wenn’s dunkel wird. Dann streifen sie durch das Gelände, mit messerscharfen Zähnen, die einem riesige Fleischklumpen aus den Oberschenkeln reißen können und …“

„Danke, Luke, das genügt“, unterbrach sie ihn. Und zwar vollauf. „Sind wir hier erst mal sicher?“

„Je nachdem, was du mit ‚sicher‘ meinst, Deborah“, entgegnete Francis, und sie unterdrückte einen Seufzer.

Fast doppelt so alt wie Luke, war er ein treuer Freund. Doch er hatte von Anfang an gegen ihren Plan protestiert. Andererseits war es Francis gewesen, der bei einer gemeinsamen Beobachtung aus sicherer Entfernung verkündet hatte, dass die Räume im nördlichen Trakt des Gebäudes unbewohnt und dunkel wirkten. „Wenn du da hineinwillst – diese Efeuranken sind ein Glücksfall für jeden Einbrecher“, hatte er hinzugefügt.

„Ich bin keine Einbrecherin!“, hatte Deb empört widersprochen.

„Jedenfalls möchtest du in dieses Haus einsteigen“, hatte er mit ruhiger Stimme argumentiert. „Warum du so ein Risiko eingehst, obwohl der Besitzer ein Friedensrichter ist und uns allen mit einer Gefängnisstrafe gedroht hat, begreife ich nicht.“

Hätte er von ihrer Verwandtschaft mit Hugh Palfreyman erfahren, wäre er sprachlos gewesen.

„Mein Entschluss steht fest, ich kehre nicht um“, erklärte sie nun. „Für deine Ratschläge bin ich dankbar. Trotzdem hoffe ich, du hast nicht vergessen, was du meinem Stiefvater versprochen hast – dass du mir vertraust.“

„Außerdem versprach ich ihm, dich zu beschützen. Deshalb werden Luke und ich hier auf dich warten …“

„Nein.“

„Was?“, stieß Francis erbost hervor.

Entschieden schüttelte sie den Kopf. „Ich habe mich anders besonnen. Wenn ihr hier wartet, wäre es zu gefährlich.“ Vorerst hielt sich niemand in der Nähe auf. Doch das konnte sich ändern, wenn es zu regnen aufhörte. Und Francis war wegen seines breitkrempigen schwarzen Federhuts und des altmodischen rostroten Gehrocks unverwechselbar. Sollte etwas schieflaufen, fand sie, es sei besser, wenn nur sie selbst verhaftet wurde, nicht alle drei. „Geht zu den Pferden zurück und wartet auf mich.“

Von Oxford aus waren sie durch den Ashendale Forest hierher geritten, fast bis zur Grenze des Palfreyman-Landsitzes. Dort hatten sie die Pferde festgebunden, obwohl die alten Gäule wohl kaum davongaloppieren würden.

Diese neue Anweisung missfiel Francis gründlich. „So ein Unsinn! Wir sollen dich hier zurücklassen? Wenn du erwischt wirst …“

Als ob sie das nicht bedacht hätte … „Und was könntet ihr beide dagegen tun? Sobald ich nach oben klettere, müsst ihr verschwinden.“

„Aber …“

„Weißt du noch, was mein Stiefvater sagte, als er die Schauspieler der Lambeth-Truppe ein letztes Mal zusammenrief?“ Obwohl Gerald O’Hara bereits vor zwei Jahren gestorben war, drohte ihre Stimme zu brechen, wann immer sie seinen Namen aussprach.

Auch Francis war sichtlich bewegt. „Oh ja, er übertrug dir die Leitung der Lambeth-Truppe.“

„Und er wies euch alle an, meine Anweisungen zu befolgen.“ Deb musterte Francis und Luke mit strengem Blick. „Werdet ihr im Wald auf mich warten?“

Beklommen wandte Luke sich dem Älteren zu, der immer noch zauderte.

„Also gut“, gab Francis schließlich nach, „aber …“

„Ich danke euch beiden“, fiel sie ihm rasch ins Wort. „Wenn ich bis fünf Uhr nicht bei euch auftauche, reitet ihr nach Oxford zu den anderen zurück. Habt ihr mich verstanden?“

Sofort verdüsterte sich Francis’ Miene wieder, und er öffnete den Mund, um eine neue Warnung zu äußern.

Das verübelte Deb ihm nicht, weil sie ihre eigenen Bedenken hegte. „Erinnerst du dich an unser Abkommen, Francis? Nur unter der Bedingung, dass ihr mir ausnahmslos gehorcht, habe ich euch erlaubt, mich hierher zu begleiten. Und wie lautet das Lambeth-Motto?“

„Triumph über alle Widrigkeiten“, deklamierte Luke.

„Genau. Je früher ich da hinaufgelange …“ Sie zeigte auf den Efeu. „Desto eher bin ich wieder bei euch.“ Zu ihrer Erleichterung hörte sie keinen weiteren Protest. Sie ergriff die Ranken und begann, nach oben zu steigen, drehte sich um und nickte den beiden aufmunternd zu. „Fort mit euch! Sorgt euch nicht um mich, alles wird gut!“

Sie sah die beiden über den Rasen und ins regennasse Gebüsch laufen. Jeden Moment fürchtete sie, das Gekläff von Hugh Palfreymans Wachhunden oder das Geschrei seiner Dienstboten zu hören. Zum Glück herrschte weiterhin tiefe Stille, und sie beobachtete, wie Francis und Luke sich über die rettende Grenzmauer schwangen.

Sehr gut! Nach einem tiefen Atemzug zog sie die Kappe so weit wie möglich über ihre dichten kupferroten Locken hinab und setzte die wichtigste Klettertour ihres Lebens fort.

Triumph über alle Widrigkeiten – ein passendes Motto für die Wandertruppe. Alljährlich reisten sie von März bis Dezember von einem Rummelplatz oder Viehmarkt zum anderen, die alten Karren voller Kostüme und Bühnenausstattungen. Die Lambeth-Schauspieler waren ihre Familie, ihr Lebensinhalt.

Ursprünglich hatte sie sich vorgenommen, ihr Abenteuer zu bestehen, ohne irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen zu verraten. Aber zu ihrem Pech war es Francis nicht entgangen, dass sie vor dem Gasthof Angel Inn am Stadtrand von Oxford, wo die Truppe logierte, ein Pferd gesattelt hatte.

Da hatte er natürlich wissen wollen, wohin sie reiten würde. „Wir haben Gerald O’Hara geschworen, auf dich zu achten, Deborah“, hatte er wieder einmal betont.

Wohl oder übel hatte sie ihm mitteilen müssen, sie beabsichtige, Hardgate Hall aufzusuchen und heimlich in das Haus einzudringen, hatte sich jedoch geweigert, den Grund ihres Vorhabens zu nennen. Es sei ein Kinderspiel, innerhalb kürzester Zeit hinein- und hinauszuschleichen, hatte sie beteuert, was er verständlicherweise bezweifelte. Entsetzt hatte er sie auf die Gefahren hingewiesen, die ihr drohten. Schließlich hatte sie Francis und Luke gestattet, sie durch den Ashendale Forest zu begleiten, und schweren Herzens erkannt, dass ihr Plan vielleicht doch keine so gute Idee war.

Der Regen komplizierte das Wagnis. Wenn sie an der nassen Mauer abrutschte oder die Efeuranken rissen … Wie tief würde sie hinabstürzen? Und wenn jemand auf diese Seite des Hauses kam, ein Gärtner oder sogar ein Wildhüter mit einem Gewehr … Denk nicht dran, schau nicht runter. Vorsichtig ertastete sie mit den Spitzen ihrer Stiefel einen sicheren Halt nach dem anderen, geschickt wie ein Junge.

„An Ihnen ist gar nichts dran, Mädchen“, hatte die Gastwirtin gestern Abend konstatiert und im schäbigen Schankraum eine Schüssel mit ziemlich fettigem Eintopf auf den Tisch gestellt. „Sehen Sie zu, dass Sie richtig Fleisch auf die Rippen kriegen. Sonst werden Sie keinen Mann bekommen.“

In diesem Moment war der Wirt eingetreten, ein ruppiger Kerl mit Bierbauch, dem sein selbst gebrautes Ale viel zu gut schmeckte, und Deb hatte ihn gemustert. So einen Mann? Nein, danke.

Sie wollte nicht heiraten. Stattdessen träumte sie von einem richtigen Theater für ihre Schauspieler. Am besten in London. Dann würden sie nicht mehr von einem Ort zum anderen reisen müssen. Und nach diesem Tag würde sie ihr Ziel verwirklichen.

„Magst du auch ein Friedensrichter sein, Hugh Palfreyman“, flüsterte sie, während sie am Efeu emporkletterte. „Mir bedeutest du nichts. Und du wirst bald merken, dass man sich nicht ungestraft mit der Lambeth-Truppe anlegt.“

Endlich erreichte sie das kleine Fenster, stieß es weiter auf und stieg über das Sims.

In der verbotenen Domäne des Onkels begann ihr Herz, schneller zu pochen, und Deb erinnerte sich wieder an den Besuch in Hardgate Hall vor sechzehn Jahren.

Danach hatte sie sich in die Arme ihrer schluchzenden Mutter geschmiegt. „Mama? Mama?“

„Mein liebes Mädchen …“ Ganz fest hatte die Mutter sie an sich gedrückt. „Ich hätte dich nicht hierherbringen dürfen. Aber ich dachte … ich hoffte …“

„Ist er ein böser Mensch, der Mann in dem großen Haus?“

„Das ist mein Bruder, er ist viele Jahre älter als ich. Er wurde bereits der Herr von Hardgate Hall, da war ich noch ein Kind. Ich nahm an, inzwischen hätte er sich geändert. Doch das war ein Irrtum.“

„Warum war er so grausam, Mama?“

„Weil er sehr unglücklich ist. Ich glaube, das war er schon immer. So oft ritt er allein aus. Oder er schloss sich stundenlang in einem Zimmer im zweiten Stockwerk ein. Wahrscheinlich hat er Geheimnisse. Welche das sind, wollte ich nie herausfinden …“

Einige Monate später hatte Deb gehört, wie ihre Mutter diese Geschichte Gerald O’Hara erzählte.

„Ich wunderte mich, warum er niemandem erlaubte, dieses Zimmer im Nordflügel zu betreten“, hatte Mama berichtet, „nicht einmal den Dienstboten. Stets blieb die Tür versperrt. Nur er besaß einen Schlüssel …“

Vorsichtig huschte Deb durch den Korridor und probierte eine Tür nach der anderen aus. Keine war verschlossen, die Räume enthielten nur alte, von Staubschonern geschützte Möbel. Als sie schon fürchtete, sie würde das Wagnis vergeblich unternehmen, erreichte sie endlich eine versperrte Tür. Hastig zog sie ihr kleines, spitzes Messer hervor, öffnete geschickt das Schloss und überquerte die Schwelle.

In der Mitte des Zimmers stand ein großer Mahagonischreibtisch, dahinter ein Ledersessel. Dunkelrote Samtvorhänge verhüllten die Fenster nur zur Hälfte. An den anderen Wänden reichten Bücherregale bis zur Decke hinauf.

Wie Deb nur zu gut wusste, gab es in dieser Bibliothek keine klassische Literatur oder wissenschaftliche Werke. Vor etwa einer Woche hatte sie den Stand eines reisenden Buchhändlers auf dem Oxford-Markt besucht, auf der Suche nach halb vergessenen Theaterstücken für ihre Kompanie – Komödien oder Tragödien, die das Publikum begeistern würden.

„Sind Sie nicht die junge Dame von der Lambeth-Truppe?“, hatte sich der Buchhändler erkundigt. „Gestern Abend sah ich Sie auf dem Hauptplatz in der Kampfszene von Marlowes ‚Tamerlan der Große‘. Einfach fabelhaft!“

„Freut mich, dass es Ihnen gefallen hat.“ Deb inspizierte ein paar Bücher auf dem Ladentisch. Weil sie nichts Interessantes fand, wollte sie zu einer Kiste im Hintergrund des Marktstands gehen.

Aber der Buchhändler hielt sie zurück. „Oh nein, Miss, das ist nichts für Sie“, behauptete er und räusperte sich. „Ernsthafte Literatur. Nur für meine Privatkunden.“

Sie hatte bereits ein paar Titel gelesen. Ernsthafte Literatur? Wie lächerlich … „Die Kunstschätze der Venus“, „Unterhaltsame klassische Sammlung für Gentlemen“, und so weiter. Offenbar erotische Texte. „Dafür werden Sie sicher gute Preis erzielen, Sir“, meinte sie in sanftem Ton und schlenderte davon.

Etwas später ging sie noch einmal an seinem Stand vorbei und sah ihn in ein Gespräch mit Hugh Palfreyman vertieft. Obwohl sie ihren Onkel als sechsjähriges Mädchen zum letzten Mal gesehen hatte, erkannte sie ihn sofort an seiner ausgeprägten Hakennase. Der Buchhändler wickelte einige schmale Bände in braunes Papier, reichte ihm das Päckchen und nahm mehrere Münzen entgegen.

Mit schnellen Schritten hatte sich sein Kunde entfernt, und Deb war nachdenklich stehen geblieben. Anscheinend bevorzugte der Bruder ihrer Mutter – ein Friedensrichter – jene Literatur, die man in gehobenen Kreisen „anregend“ nannte.

Jetzt nahm sie ein paar Bücher aus den Regalen in seiner Bibliothek und legte sie auf den Schreibtisch. Sie enthielten nur kurze Texte, teilweise in Englisch, auch in Italienisch und Französisch. Doch auf die kam es nicht an, sondern auf die zahlreichen eindeutigen Illustrationen. Schockiert riss Deb die Augen auf. Und dann schlug ihr Herz höher. Denn in jedem der schön gebundenen Werke mit edlem Goldschnitt stand der Name des Eigentümers auf dem Vorsatzblatt: Hugh Palfreyman.

Welch ein Narr … Einerseits hielt er seine Leidenschaft streng geheim, andererseits sorgte er für unwiderlegbare Beweise. Und welch ein Triumph für sie, Deborah O’Hara! Deb hatte gehofft, ihrem Onkel, der ihre Mutter und sie selbst so grausam aus dem Haus gewiesen hatte, nie mehr zu begegnen. Eines Samstags, vor fast zwei Wochen, hatte sich das geändert. Eine nette alte Dame war zu ihr in den Gasthof gekommen und hatte erklärt, ihr Ehemann sei ein großer Bewunderer von Shakespeare, aber zu gebrechlich, um eine Freilichtaufführung der Lambeth-Truppe zu genießen. Wären einige Schauspieler so freundlich, ihn zu besuchen und ein paar Stellen aus seinen Lieblingsstücken vorzulesen?

Am nächsten Nachmittag war Deb mit drei Darstellern in das Haus des Ehepaars gegangen, und sie hatten die wunderbare letzte Szene von Shakespeares „Sturm“ aufgeführt. Voller Freude hatten die Augen des alten Herrn aufgeleuchtet. Nach der Darbietung hatte seine dankbare Gemahlin den Schauspielern Geld zustecken wollen, was diese jedoch abgelehnt hatten. Erstens war es verboten, an einem Sonntag aufzutreten, und zweitens wollten sie sich für eine gute Tat nicht bezahlen lassen.

Irgendwie hatte Palfreyman von der Aufführung erfahren. Und er war der Vorsitzende der Friedensrichter von Oxfordshire.

„Schauspielerei, an einem Sonntag!“, hatte er getobt. So hatte es einer seiner Bediensteten auf dem Markt in Oxford geschildert. „Ein dreister Verstoß gegen das Gesetz!“ In seiner moralischen Entrüstung hatte er der Wanderbühne ein enormes Bußgeld angedroht, sogar eine Gefängnisstrafe.

Glücklicherweise wusste er nicht, dass die Leiterin der Lambeth-Truppe seine Nichte war.

Deb suchte drei schmale, besonders obszöne erotische Bände aus, nahm einen Zettel und einen Bleistift aus der Innentasche ihrer Jacke und setzte sich an den Schreibtisch.

An Mr. Palfreyman, begann sie zu schreiben. Es wäre in Ihrem Interesse, Ihre Anschuldigungen gegen die Lambeth-Theatertruppe zurückzunehmen. Um meine Gründe zu erläutern, lege ich etwas aus Ihrem Besitz bei. Bitte erklären Sie Ihre Drohungen schriftlich für null und nichtig. Verstecken Sie Ihren Brief spätestens bis morgen früh um zehn Uhr unter dem steinernen Pferdetrog neben der Friedhofsmauer von St. Mary’s.

Nun holte sie ihr Taschenmesser hervor und blätterte in den Büchern, die sie ausgewählt hatte. Oh Gott, sie fand das italienische am schlimmsten. Von einem gewissen Aretino illustriert. Ist so etwas anatomisch überhaupt durchführbar? Schließlich schnitt sie eine Seite heraus, ohne sie genauer zu betrachten, und faltete sie mit dem Brief zusammen. Dann verschloss sie ihn mit einer mitgebrachten Siegelmarke, schrieb Palfreymans Namen darauf und schob ihn in eine Innentasche ihrer Jacke. In einer anderen Tasche verstaute sie die drei schmalen Bände, bevor sie die Bibliothek verließ und durch das kleine Fenster hinauskletterte.

Der Abstieg an den Efeuranken fiel ihr leicht. Geduckt lief sie an der Hausmauer entlang zum Vordereingang und warf die Nachricht in den Briefkasten. Mit langen Schritten eilte sie zur anderen Seite zurück.

Im strömenden Regen kämpfte sie sich zwischen Flieder- und Rosenbüschen hindurch. Erst nachdem sie die Grenzmauer überwunden hatte, atmete sie erleichtert auf und gratulierte sich selbst zu ihrem Erfolg.

Während Damian Beaumaris durch den Wald ritt, rann der Regen von den drei Schulterumhängen seines langen Mantels über die Flanken seines großen braunen Wallachs hinab. Davon ließ sich Beaumaris, den seine Freunde Beau nannten, nicht beirren. Vor zwei Wochen hatte er an Palfreyman geschrieben und ein sofortiges Treffen in London verlangt. Das hatte der Mann mit der Ausrede abgelehnt, sein schlechter Gesundheitszustand hindere ihn daran, seinen Landsitz in Oxfordshire zu verlassen. Daraufhin hatte Beau seinen tüchtigen Sekretär Nathaniel Armitage beauftragt, Palfreyman anzukündigen, sein Herr würde nach Oxfordshire reisen und am 13. Juni um vier Uhr nachmittags in Hardgate Hall eintreffen.

Armitage hatte eingewendet, der 13. Juni sei ein Freitag. Aber Beau hatte betont, in seinem Leben spiele der Aberglaube keine Rolle. Nach diesem Gespräch mit seinem Sekretär hatte er allerdings überlegt: Hugh Palfreyman, den er für einen feigen, tückischen Schurken hielt, würde in dem Datum wohl ein böses Omen sehen.

Am Morgen des 12. Juni war Beau in seiner brandneuen Reisekutsche aufgebrochen, die William Barry, sein treuer Fahrer, voller Stolz gesteuert hatte. Die Nacht hatten sie im Greyhound Hotel in Reading verbracht und am nächsten Morgen die Reise mit frischen Pferden fortgesetzt. Beau plante, in Oxford zu Mittag zu essen und dann nach Hardgate Hall zu fahren.

Aber als die Türme von Oxford im Blickfeld erschienen, verursachte die Hinterachse des Wagens ein unheilvolles knirschendes Geräusch. Sofort zügelte William das Gespann, sprang vom Kutschbock, um den Grund des Missgeschicks zu erforschen, und Beau stieg aus und folgte ihm.

Bedrückt schüttelte William den Kopf. „Sieht gar nicht gut aus, Sir.“ Immerhin konnte er das teure Vehikel vorsichtig bis zu einer Schmiede am Stadtrand lenken.

Der Eigentümer des Betriebs – Joe Hucksby, wie ein Schild über dem Eingang verriet – inspizierte den Schaden. „Für die Reparatur dieser Achse brauchen wir mindestens drei Stunden, Sir“, erklärte er Beau. „Am besten nehmen Sie eine Mahlzeit in einem Gasthaus ein. Insbesondere weil es gleich regnen wird.“

„So viel Zeit habe ich nicht. Heute Nachmittag werde ich in Hardgate Hall erwartet.“

„Besuchen Sie Mr. Palfreyman?“ Erstaunt hob Joe Hucksby die Brauen. „So ein Zufall! Gerade steht eins seiner schönen Reitpferde in unserem Stall. Mr. Palfreyman ließ es gestern hier, um es beschlagen zu lassen, und …“

„Kann es geritten werden?“

„Oh ja, Sir, Mr. Palfreyman bat mich, noch heute einen Burschen mit dem Wallach nach Hardgate Hall zu schicken.“

„Nicht nötig, das werde ich übernehmen.“

Joe Hucksby blinzelte verwirrt. „Aber dieses Tier ist sehr temperamentvoll, Sir. Während ich’s beschlagen hab, mussten zwei Männer es festhalten …“

„Sicher komme ich mit ihm zurecht“, fiel Beau ihm ins Wort. Dann drehte er sich zu seinem Fahrer um. „William, suchen Sie inzwischen ein geeignetes Hotel in Oxford, buchen Sie zwei Zimmer und gönnen Sie sich einen Lunch.“

„Und Sie, Sir?“, fragte der Kutscher besorgt. „Seit dem Frühstück haben Sie nichts mehr gegessen.“

„Gewiss wird Hugh Palfreyman mir eine Erfrischung anbieten.“ Im Flüsterton fügte Beau hinzu: „Und erzählen Sie niemandem mehr als unbedingt nötig von mir und meinen Geschäften, die Hardgate Hall betreffen, verstanden?“

„Sehr wohl, Sir.“ William nickte.

Beau wandte sich wieder an den Schmied. „Heute Abend hole ich meine Kutsche ab, Hucksby. Hier haben Sie eine Anzahlung.“ Er griff in seine Manteltasche und drückte ein paar Münzen in die große Hand des Mannes.

„Oh, Sie sind sehr großzügig, Mr…“

„Beaumaris.“

Der Mann nickte, sichtlich enttäuscht, weil sein Kunde nicht einmal ein Lord war. „Vielen Dank, Mr. Beaumaris. Wäre Mr. Palfreyman hier, würde er Ihnen sicher selber vorschlagen, sein Pferd zu benutzen.“

Daran zweifelte Beau. Wie auch immer, zehn Minuten später war ein hübscher brauner Wallach mit einem weißen Fleck auf der Stirn gesattelt.

Hucksby überreichte ihm eine Peitsche. „Die werden Sie brauchen, Sir. Mr. Palfreyman hat uns vor den Launen des Biests gewarnt.“

Beim Anblick der Peitsche versuchte der Braune, den zwei Burschen festhielten, sich aufzubäumen, und wieherte angstvoll. Was hatte Palfreyman dem armen Wallach angetan? Als Beau ihn genauer betrachtete, entdeckte er Striemen an seinen Flanken, die auf eine erst kürzlich erfolgte Misshandlung hinwiesen.

Sofort gab Beau dem Schmied die Peitsche zurück. „Wer sich solcher Mittel bedienen muss, verdient es nicht, dass man ihm ein Pferd anvertraut.“ Er stieg auf, bedeutete den Burschen, das Zaumzeug loszulassen, und zeigte dem Tier mit einem Druck muskulöser Schenkel, wer es jetzt kontrollierte. Gleichzeitig streichelte er seinen Hals. „Alles ist gut“, redete er ihm zu, „ganz ruhig …“

Nach einer kleinen Weile setzte sich das Pferd bereitwillig in Bewegung.

Mit einer gewissen Genugtuung sah Beau, wie der Schmied und seine Gehilfen ihn entgeistert anstarrten. „Wie komme ich am besten nach Hardgate Hall?“, rief er über die Schulter und zügelte den Braunen.

„Durch den Ashendale Forest, Sir“, antwortete einer der Burschen, „das wäre am schnellsten. Folgen Sie der Straße nach Reading. Die finden Sie direkt hinter der Kirche. Bei der ersten Kreuzung biegen Sie nach links ab, dann reiten Sie über die Brücke in den Wald …“

Hucksby unterbrach seinen Gehilfen. „Diese Strecke würde ich Ihnen nicht empfehlen, Mr. Beaumaris. Da kann man sich leicht verirren, und manchmal stößt man auf Wegelagerer.“

„Ist es weiter, wenn ich die Straße nehme?“

„Oh ja, Sir!“, hatte der Bursche eifrig bestätigt. „Mindestens um eine Meile!“

„Dann reite ich durch den Wald.“

Es war leicht gewesen, den Beschreibungen des jungen Mannes zu folgen. Wie Beau zufrieden feststellte, trabte das kräftig gebaute Pferd schnell dahin, nachdem er sein Vertrauen gewonnen hatte. Die Zügel in einer Hand, zog er mit der anderen seine Taschenuhr hervor. Kurz vor halb vier. Also würde er pünktlich in Hardgate Hall eintreffen. Die einzige Unannehmlichkeit war der Regen, den der Wind ihm ins Gesicht trieb und der sich mit jeder Minute verstärkte. Bald musste er das Tempo drosseln. Aber er verschwendete keinen Gedanken an eine Umkehr, weil das Treffen mit Palfreyman überfällig war. Der Kerl musste endlich einige Fragen beantworten und gewisse Konsequenzen tragen.

Die Stirn gerunzelt, erinnerte Beau sich an Simons Begräbnis vor zwei Monaten. Damals hatte es genauso heftig geregnet wie heute. Unaufhörlich waren Wassermassen auf den Sarg seines Bruders und die schwarz gekleidete Trauergäste herabgefallen.

Und jetzt werde ich endlich mit Palfreyman abrechnen. Noch länger würde er die fadenscheinigen Ausreden des Feiglings nichts hinnehmen. Er spornte den Wallach wieder an. Trotz des Regens war der Weg zwischen den alten Eichen deutlich zu erkennen. Das feuchte Unterholz zu beiden Seiten beachtete er nicht.

Das war ein Fehler. Denn er übersah die beiden dunklen Gestalten, die ihn beobachteten, seit er seine Uhr hervorgeholt hatte, und nun entlang des Pfades durch das Gestrüpp eilten – vom prasselnden Regen geschützt, der die raschelnden Geräusche übertönte.

Erst als es zu spät war, bemerkte er den quer über den Weg gespannten Strick. Das Pferd strauchelte, Beau straffte die Zügel und bewahrte es vor einem Sturz. Aber im nächsten Augenblick landete er selbst auf dem nassen Waldboden.

2. KAPITEL

Während Deb durch den Wald lief, wischte sie vom derben Wollstoff ihrer Jacke und den Kord-Breeches die Kiefernnadeln, die seit der Landung auf der anderen Seite der Grenzmauer von Hardgate Hall daran hafteten.

Auf dem Weg zwischen den alten Eichen zu der Lichtung, wo die Pferde warteten, stellte sie sich vor, was für ein Gesicht der Onkel machen würde, wenn er ihren Brief las. Und wenn er sah, welche Seite sie aus einem seiner Bücher entfernt hatte …

Obwohl sie lächeln musste, empfand sie neuen Ekel und sog die frische Waldluft tief in ihre Lungen, um den Abscheu zu verscheuchen, den Hugh Palfreymans lasterhaftes Geheimnis ausgelöst hatte.

Und dann fragte sie sich wieder einmal, warum ihre Mutter so eifrig bestrebt gewesen war, eine Versöhnung mit einem Bruder zu erzielen, der sie so grausam aus ihrem Elternhaus gejagt hatte.

In ihrem neuen Leben war Mama nicht unglücklich gewesen. Sie hatte ihre Tochter innig geliebt, ebenso ihren Ehemann, Gerald O’Hara, den Schauspieler und Leiter der Lambeth-Truppe. Auch Deb hatte ihren klugen, fürsorglichen Stiefvater sehr geliebt. Vor zwei Jahren hatte sie, einige Zeit nach dem Tod der Mutter, einen weiteren Schicksalsschlag verkraften müssen, denn Gerald war einer schweren Lungenkrankheit erlegen. Kurz davor hatte er ihr die Verantwortung für die Wanderbühne übertragen.

„Oh nein, Gerald, diese Pflicht darfst du mir nicht aufbürden. So etwas kann ich nicht, dafür bin ich zu jung.“ Verzweifelt hatte sie neben dem Krankenlager gekniet und sich so schrecklich allein gefühlt. Bitte, stirb nicht, beschwor sie in Gedanken den Mann, der ihr ein so wunderbarer Vater gewesen war. Lass mich nicht auch noch allein …

„Natürlich kannst du es, mein tapferes Mädchen.“ Trotz seiner Schwäche umklammerte er ihre Hand. „Seit mich diese verdammte Krankheit heimgesucht hat, hältst du die Truppe zusammen. Glaubst du, ich merke nicht, wie oft alle Schauspieler zu dir kommen und dich nach deiner Meinung fragen? ‚Gehen wir zu Miss Deb‘, höre ich sie immer wieder sagen, ‚sie wird es wissen.‘“

„Sollte nicht Francis Calladine die Leitung übernehmen? Er hat die meisten Erfahrungen gesammelt. Immerhin ist er in London am Drury Lane aufgetreten.“

„Und er wird nicht müde, uns ständig darauf hinzuweisen.“ Ein ironisches Lächeln verzog Geralds wachsbleiches Gesicht. „Nein. Francis ist ein großartiger Tragöde. Aber die Leute wollen unterhalten werden, und dafür besitzt du genau den richtigen Instinkt. Außerdem bist du eine ebenso gute Darstellerin wie all die eleganten Diven am Drury Lane.“

Deb seufzte tief auf. „Danke für das Kompliment, Gerald. Trotzdem traue ich mir die Rolle der Leiterin nicht zu und …“

„Eines Tages wirst du London im Sturm erobern, mein Mädchen“, unterbrach er sie. „Ja, eines Tages …“

Plötzlich begann er zu husten. Voller Sorge hielt sie ein Glas Wasser an seine Lippen.

Seit Jahren träumten sie von einem eigenen Theater in London. Wenn die Lambeth-Truppe einen reichen, großzügigen Gönner fände, betonte Gerald immer wieder, könnten sie das mühsame Dasein einer Wanderbühne aufgeben. Ein kleines Theater am Stadtrand würde ihnen genügen. „Stell dir vor, was für großartige Stücke wir in unserem eigenen Haus aufführen würden, Deb …“

Die anderen Mitglieder der Truppe gaben sich mit den alljährlichen Rundreisen zufrieden. Auf Jahrmärkten und vor Pferderennbahnen errichteten sie ihre Bühne und amüsierten das Publikum erfolgreich mit verschiedenen Komödien, Singspielen und Dramen. Shakespeare war Geralds Favorit. Aber ein altes Gesetz verbot kleinen Theaterkompanien die Aufführung ganzer Shakespeare-Stücke. Deshalb studierte Gerald mit seinen Schauspielern einzelne Szenen ein: Macbeth und die drei Hexen, die Rede Henrys des Fünften vor der Schlacht von Agincourt, Romeos und Julias Balkon-Szene.

„Irgendwann, Deb“, hatte er einmal zu ihr gesagt, „wenn wir unser eigenes Theater haben, führen wir die ganzen Shakespeare-Dramen auf, und die Londoner Gesellschaft wird uns zu Füßen liegen.“

Doch dann war er gestorben. Die Mutter in so jungen Jahren zu verlieren, hatte Deb das Herz zerrissen. Nun musste sie auch noch ohne den geliebten Stiefvater in die Zukunft blicken, ohne ihren Beschützer und Lehrer, dem sie so viele geistige Anregungen verdankte. Am Tag nach der Beerdigung hatte sie vor dem Grab gekniet und geflüstert: „Ich kann unmöglich deine Nachfolge antreten, Gerald. Mit meinen zwanzig Jahren bin ich viel zu jung dafür.“

Das hatte sie noch am selben Abend den Lambeth-Schauspielern zu erklären versucht. Um nach Geralds Tod über die gemeinsame Zukunft zu beraten, hatten sie sich in einer Taverne versammelt. Und es war Francis, der loyale Francis, der sich für sie eingesetzt hatte. „Natürlich muss eine O’Hara das Zepter schwingen.“

Ihre Weigerung war entschieden ignoriert worden, alle hatten ihr uneingeschränktes Vertrauen ausgesprochen. Da war ihr nichts anderes übriggeblieben, als Geralds Wunsch zu erfüllen. Gerührt hatte sie sich geschlagen gegeben und beschlossen, ihr Bestes zu tun, um den Fortbestand der Lambeth-Truppe zu sichern.

Und heute war ihr ein verheißungsvoller Anfang gelungen. Frohen Mutes eilte sie durch den Wald zur Lichtung und konnte es kaum erwarten, Francis und Luke von ihrem Erfolg in Palfreymans Bibliothek zu erzählen.

Als es zwischen den Bäumen etwas heller wurde, beschleunigte sie ihre Schritte. Mittlerweile hatte es zu regnen aufgehört. Bald sah sie Francis und Luke, die ihr den Rücken zuwandten, in ein lebhaftes Gespräch vertieft.

Etwas abseits grasten die alte Stute und die beiden Ponys – und …

Verwirrt hielt Deb inne. Neben den Pferden stand ein viertes, das sie nie zuvor gesehen hatte: ein großer, schöner Brauner mit einem weißen Fleck auf der Stirn. Ein kostbares Tier. Seltsam … Und dann sah sie etwas, das ihr das Blut fast gefrieren ließ. Mitten auf der Lichtung lag ein regloser Mann, an den Handgelenken und Beinen mit Stricken gefesselt. Ein seidenes Halstuch war benutzt worden, um ihm die Augen zu verbinden.

Großer Gott, atmet er noch?

Ganz langsam wandte Deb sich zu ihren beiden Gefährten, die sie entdeckt hatten und zu ihr rannten. „Francis! Luke! Was, um Himmels willen …“

„Wir haben ihn, Miss Deb!“, jubelte Luke.

„Ja“, bestätigte Francis und zeigte auf den Gefangenen. „Wir mussten uns beeilen, denn er galoppierte durch den Wald. Direkt in die Richtung von Hardgate Hall! Da wussten wir, dass wir etwas tun mussten, Deborah. Sonst wärst du ihm begegnet.“

In wachsendem Entsetzen musterte sie wieder den offenbar bewusstlosen Gefesselten. „Und … und was glaubt ihr, wer das ist?“, stammelte sie.

„Natürlich Hugh Palfreyman!“, verkündete Luke triumphierend.

Deb starrte den Fremden sprachlos an. Um die Dreißig, schätzte sie, groß und schlank, wie ein reicher Gentleman gekleidet. Unter dem aufgeknöpften Mantel trug er einen geöffneten Reitrock aus edlem Tuch und ein feines Leinenhemd mit spitzenbesetzten Rüschen an den Handgelenken. Der Hut war ihm vom Kopf gefallen, sein dichtes schwarzes Haar glänzte vom Regen.

Und sein Gesicht … Wegen des Seidentuchs sah sie seine Augen nicht – aber ein markantes Kinn und eine ebenso prägnante Nase. Beides schien auf Arroganz und Dominanz hinzuweisen. Das steigerte ihre Angst. Gleichzeitig weckte es ihren Zorn. „Das ist nicht Hugh Palfreyman!“, erklärte sie ihren Gefährten.

Lukes Kinnlade klappte nach unten. „Aber er muss es sein, Miss Deb.“

„Warum?“, fragte sie in täuschend ruhigem Ton.

„Weil er auf Palfreymans Pferd saß. Da drüben sehen Sie’s. Erst heute Morgen haben Francis und ich es am Rand von Oxford bewundert, während es vor der Schmiede beschlagen wurde. Zwei Burschen mussten das lebhafte Tier festhalten. Danach erzählte uns einer, wem es gehört …“ Lukes Stimme erstarb, als er sah, wie Deb ihn anfunkelte.

„Glaubst du wirklich, in ganz Oxfordshire gibt es nur einen einzigen Braunen mit einem weißen Fleck auf der Stirn, Luke?“ Ebenso wie Francis schwieg der Junge. Seufzend wies Deb auf den Gefangenen. „Das ist nicht Hugh Palfreyman. Dem sieht er nicht einmal ähnlich. Und außerdem – selbst wenn er es wäre? Seit wann sind wir Wegelagerer? Wieso musstet ihr ihn bewusstlos schlagen?“

„Das haben wir nicht getan!“, protestierte Francis gekränkt. „Wir wollten nur sein Pferd aufhalten, damit du ihm nicht über den Weg läufst. Aber er ritt sehr schnell, und da … und da …“

„Da stürzte er auf den Boden, Miss“, ergänzte Luke.

„Und dann?“ Deb erschauerte.

„Dann dachten wir natürlich“, fuhr Francis fort, „wir sollten ihn besser fesseln und ihm die Augen verbinden. Denn er durfte dich nicht sehen, wenn du hier auftauchen würdest, nicht wahr?“

„Wird er jemals wieder zu sich kommen?“, murmelte sie. Wie konnten sie nur so eine Riesendummheit machen?

Nun wurde Luke nervös. „Er atmet noch. Das haben wir festgestellt.“

Deb lief zu dem ohnmächtigen Mann, kniete neben ihm nieder und neigte sich zu ihm hinab. Prüfend strich sie über seine Gliedmaßen. Anscheinend war er nicht schwer verletzt, die Knochen wirkten weder gebrochen noch verrenkt, und sie sah kein Blut. Als sie die Innenseite eines Handgelenks berührte, spürte sie starke, gleichmäßige Pulsschläge. Aber – oh Gott, was würde geschehen, wenn er erwachte und seine Fesseln bemerkte? Und wer um alles in der Welt ist er?

Vorsichtig griff sie in die Tasche seines Reitrocks und fand eine Kette mit einer goldenen Uhr, die sehr alt und kostbar sein musste. Deb drehte sie um und entdeckte auf der Rückseite einen verblassten eingravierten Namenszug. Im trüben Tageslicht kniff sie die Augen zusammen. „Damian Beaumaris“, las sie vor.

Wer immer Damian Beaumaris sein mochte – sie ahnte, dass sie es mit einem neuen gefährlichen Feind aufnehmen musste.

In allen Gliedern spürte Beau heftige Schmerzen, und sein Schädel brummte, als hätte jemand mit einem Hammer daraufgeschlagen. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war sein Ritt durch den Ashendale Forest auf Palfreymans Pferd. Trotz des Regens war er schnell vorangekommen, bis er – zu spät – einen quer über den Weg gespannten Strick gesehen hatte.

Jetzt lag er gefesselt, mit verbundenen Augen, auf kaltem, schlammigem Boden.

Stimmen drangen zu ihm, die sorgenvoll klangen. Zweifellos mit gutem Grund. Beau presste die Zähne zusammen. Dann runzelte er die Stirn, weil eine andere Erinnerung zurückkehrte. An Hände, die federleicht über seine Kleidung geglitten waren – an einen zarten Finger auf seinem Handgelenk. Und er glaubte, er hätte Zitronenduft eingeatmet, seidiges Frauenhaar an seiner Wange gespürt …

Er musste seine Gedanken ordnen, denn die Stimmen näherten sich. Reglos lag er da und schätzte seine Situation ein. Offenbar hatten dreiste Halunken sein geliehenes Pferd absichtlich zum Straucheln gebracht. Nach dem vergeblichen Versuch, das Tier zu kontrollieren, war er abgeworfen worden. Kurz vor dem harten Aufprall am Boden hatte er zwei Gestalten im Unterholz gesehen, einen älteren Mann in einem altmodischen roten Leibrock mit schwarzem Hut und einen blonden Jungen.

Nun hörte Beau jemanden beteuern: „Wir dachten wirklich, es wäre Palfreyman.“ Das musste der Ältere der beiden Schurken sein. „Wegen des braunen Wallachs.“

Interessant … Aber es war die Antwort, die Beau faszinierte. Eine Mädchenstimme, die teils energisch, teils angstvoll klang.

„Wenn ich diese Rechtfertigung noch ein einziges Mal höre, fessle ich dich mit deinen eigenen Stricken, Francis Calladine. Dieser Mann ist nicht Hugh Palfreyman, er heißt Damian Beaumaris. Und was zum Teufel sollen wir jetzt mit ihm machen?“

Also eine Verwechslung, dachte Beau. Diese Leute hielten ihn für Palfreyman, der offenbar nicht ihr Freund war. Und derzeit bin ich ihnen ausgeliefert … Aber nicht mehr lange.

„Wir sollten ihn losbinden und schleunigst wegreiten, Deborah“, schlug der ältere Mann in drängendem Ton vor. „Wenn er zu sich kommt, wird er glauben, er hätte einen Unfall erlitten. Dass er unser Gefangener war, wird er nie erfahren.“

„Und wenn er nicht erwacht, Francis?“, fragte die junge Frau namens Deborah. „Wenn er ernsthaft verletzt ist? Wenn wir ihn hier liegen lassen und er erholt sich nicht?“

In dem Schweigen, das nun folgte, erinnerte Beau sich an den Gedanken, der ihm durch den Sinn gegangen war, als er ihre Stimme gehört hatte. Die meisten Frauen, die mit Straßenräuberbanden durchs Land zogen, waren so raubeinig wie ihre Spießgesellen. Für Deborah schien das nicht zu gelten. Ihre Stimme klang kultiviert, und sie drückte sich gewählt aus.

Erstaunlich … Das musste geklärt werden. Er bewegte sich, soweit es seine Fesseln gestatteten, und stöhnte leise. Wie er es gehofft hatte, rief Deborah sofort: „Oh Gott, er hat Schmerzen! Hast du das gehört, Francis?“ Kleider raschelten. Dann roch er wieder den schwachen Duft nach Seife und frisch gewaschenem Haar. Das Mädchen legte eine Hand auf seine Stirn – eine weiche, kühle Hand …

Vielleicht ist sie hässlich wie die Sünde, warnte er sich selber, eine stark geschminkte Dirne mit Zahnstümpfen, die bereits mit der ganzen Gaunerbande im Bett gewesen war. Aber so, wie sie redete, müsste sie eher in einen Londoner Salon passen. Wie auch immer, kein weibliches Wesen würde die Oberhand über ihn gewinnen. Regungslos lag er da und stellte sich wieder bewusstlos.

„Bitte, Deborah, wir sollten wirklich von hier verschwinden. Reiten wir zum nächsten Gasthaus.“ Die Stimme des Mannes namens Francis klang immer angespannter. „Dort erwähnen wir ein gesatteltes streunendes Pferd, das wir im Wald gesehen haben, und man wird jemanden losschicken, der sich umschaut und …“

Entschieden unterbrach sie ihn. „Wir dürfen ihn nicht allein lassen, solange er ohnmächtig ist, Francis. Jetzt werde ich seine Fesseln lockern, und wir warten, bis er aufwacht. Sobald er wieder bei Sinnen ist und wir sicher sein können, dass er sich zurechtfindet, reiten wir möglichst schnell davon.“

„Und wenn er auf seinen Wallach steigt und uns nachgaloppiert?“, wandte der Junge ein. „Der Braune würde uns bald einholen.“

Auch für dieses Problem fand das Mädchen eine Lösung. „Den nehmen wir mit und lassen ihn nach einer halben Meile frei. Kümmere dich um die Pferde, Francis. Und du, Luke, musst alle Spuren entfernen, die unsere Anwesenheit auf der Lichtung verraten würden. Zum Beispiel die Asche eures Lagerfeuers da drüben unter dem Baum.“

„Aber … ich habe einige Markierungen hinterlassen“, gestand Luke. „Falls Sie uns nicht finden würden, Miss Deb.“

„Was für Markierungen?“, fragte sie.

„Zettel mit unserem Markenzeichen. L und T für Lambeth-Truppe an den Zweigen. Vom Weg bis hierher. Ich wollte Ihnen nur helfen!“

„Oh, du Trottel!“, schimpfte Francis.

„Lauf zurück und beseitige diese Zettel!“, befahl Deb erbost. Zur Hölle mit Luke und seinen Spielereien … „Jeden einzelnen! Und danach machst du hier Ordnung.“

Ihre beiden Gefährten eilten davon. Langsam ging sie zu dem Gefangenen, kniete wieder neben ihm nieder und beobachtete, wie sich seine breite Brust hob und senkte. Glücklicherweise atmete er noch.

Gewiss, Francis und Luke wollten mir nur helfen, entschied sie. Sogar mit gutem Grund, denn wäre er tatsächlich Palfreyman, hätte sie beim Klettern über seine Grenzmauer ertappt und die entwendeten Bücher in ihren Taschen entdeckt, würde sie jetzt hinter Schloss und Riegel sitzen. Er hätte ihren Brief gelesen und ihren Plan vereitelt. Dann wäre sie in ernsthaften Schwierigkeiten.

Bin ich das jetzt nicht?

Autor

Lucy Ashford
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