Tür an Tür mit dem Glück

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Natalia lässt die Großstadt und ihren übergriffigen Ex hinter sich, um im beschaulichen Wickham Falls neu anzufangen. Das Letzte, was sie da braucht, ist gleich die nächste Beziehung! Allerdings ist ihr Nachbar Seth einfach unwiderstehlich. Kann ein einziger Kuss ein Fehler sein?


  • Erscheinungstag 23.01.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751521284
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Klopf! Klopf! Klopf!

Natalia Hawkins öffnete die Augen und starrte an die Decke ihres Schlafzimmers. Das stakkatoartige Hämmern hatte sie aus ihrem wohlverdienten Schlaf gerissen. Warum hatte sie auch ausgerechnet in ein Haus ziehen müssen, in dessen Baum im Garten ein Specht wohnte?

Klopf! Klopf! Klopf! Klopf!

Nun fing das schon wieder an! Natalia setzte sich im Bett auf und schlug die Decke zurück. Als ihre nackten Füße den Boden berührten, wusste sie, dass ihre Nacht vorbei war. Als frühere Ärztin in der Notaufnahme eines unterbesetzten Krankenhauses in der Innenstadt von Philadelphia war sie daran gewöhnt, mit wenig Schlaf auszukommen.

Sie hatte gehofft, in Wickham Falls, einer abgelegenen Kleinstadt in den Appalachen mit weniger als fünftausend Einwohnern, nicht mehr von lautem Hupen, Sirenen oder ihrem Pager geweckt zu werden. Nun war sie also dem Großstadtlärm entkommen, nur, um in der Einöde von einem nervigen Vogel geweckt zu werden.

Natalia zog die Vorhänge auf, ließ die Morgensonne herein und blickte sich im Zimmer um. An den Wänden standen unausgepackte Umzugskartons mit Bettwäsche, Kleidung und Schuhen – genau wie im Nebenzimmer, der Küche, dem Bad, dem Wohn- und dem Esszimmer. Vor gerade mal sechs Wochen hatte sie die Entscheidung getroffen, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen und Kleinstadtärztin zu werden – etwas, was sie sich immer gewünscht hatte, sogar schon während ihres Medizinstudiums. Und nun war sie seit drei Tagen hier, in ihrem neuen Leben.

Sie schlüpfte in die plüschigen gelben SpongeBob-Pantoffeln, die sie von ihrer achtjährigen Nichte zu Weihnachten bekommen hatte, und ging ins Bad. Der Bungalow war zwar größer als das Apartment in dem luxuriösen Hochhaus, in dem sie in Philadelphia gewohnt hatte, doch es fehlte ihm die spektakuläre Aussicht. Das war ihr allerdings egal gewesen, denn im Gegensatz zu ihrem Apartment war der Bungalow ein sicheres Zuhause.

Beim Zähneputzen betrachtete sie sich in dem ovalen Spiegel. Sie sah eigentlich nicht anders aus als direkt nach dem Studium, doch sie war nicht mehr dieselbe wie damals. Ärztin war noch immer ihr Traumberuf, doch ihr Privatleben war eher ein Albtraum gewesen, seit sie sich in einen Mann verliebt hatte, der sie ohne Unterlass kritisiert und schikaniert hatte. Aus der gemeinsamen Wohnung war Daryl irgendwann ohne Vorwarnung ausgezogen und hatte ihren Verlobungsring und den Hund, den er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, mitgenommen.

Den Verlust des Rings und des Verlobten konnte sie locker verschmerzen. Die Beziehung hatte ihren Status schon lange nicht mehr verdient; sie hatten sich ständig gestritten und seit Ewigkeiten keinen Sex mehr gehabt. Doch Oreo fehlte ihr furchtbar. Der Zwergpudel mit dunkelbraun-weißem Fell war ihr in ihrer Einsamkeit ein großer Trost gewesen.

Natalia hatte nach Daryls Abgang sofort das Schloss austauschen lassen, und schon am ersten Morgen, an dem sie allein aufwachte, hatte sie sich wie neugeboren gefühlt. Sie musste nicht mehr jedes Wort auf die Goldwaage legen und ständig Angst haben, Daryl irgendwie zu verärgern. Von da war es nur ein kleiner Schritt gewesen, ihr Leben grundlegend zu ändern.

Natalia ging ins Schlafzimmer zurück und machte das Bett. Normalerweise hätte sie sich jetzt einen Kaffee gekocht, aber sie hatte die Kaffeemaschine noch nicht ausgepackt. Auf ihrer To-do-Liste standen heute ein Frühstück in der Stadt und ein Besuch im Baumarkt, um Farbe und Malerzubehör zu kaufen, um die Küche zu streichen. Danach wollte sie Lebensmittel besorgen und sich den Rest des Tages dem Auspacken widmen, damit ihr neues Zuhause endlich wohnlich wurde.

Vor sich hin summend schüttelte sie ihr Kopfkissen auf und öffnete dann das Fenster, um die frische Morgenluft hereinzulassen. Draußen hämmerte es immer noch, doch dann hörte sie eine Reihe von herzhaften Flüchen. Das klang gar nicht nach einem Specht. Neugierig blickte sie hinaus und sah im Nachbarvorgarten einen Mann, der seine Hand umklammert hielt und munter weiterfluchte, wenn auch jetzt leiser.

Instinktiv eilte Natalie zur Haustür, um nachzuschauen, ob der Mann ernsthaft verletzt war. Es vergingen keine dreißig Sekunden, bis sie vor ihm stand und in hellbraune Augen blickte – auch, wenn sie dafür den Kopf in den Nacken legen musste. Mit seinen eins achtzig überragte er sie um gute fünfzehn Zentimeter, und sein weißes T-Shirt spannte sich über einer muskulösen Brust und breiten Schultern.

„Zeigen Sie mir bitte Ihre Hand“, sagte sie unbeeindruckt.

Seth Collier starrte die Frau an, die anscheinend aus dem Nichts aufgetaucht war. Der Schmerz in seinem linken Daumen steigerte sich zu einem intensiven Pochen im Takt seines Herzschlags.

„Wer sind Sie?“, fragte er.

„Ich bin Ärztin, und offenbar haben Sie sich an der Hand verletzt.“

„Was Sie nicht sagen“, murmelte Seth. Er hatte beim Versuch, den letzten Nagel in den Pfosten für sein Vogelhäuschen zu hämmern, seinen Daumen getroffen, und es tat so weh, dass er fürchtete, er wäre gebrochen.

Sein Blick wanderte von seiner Hand zu der zierlichen Frau mit dem kurz geschnittenen krausen Haar und dem makellosen dunklen Teint und dann unwillkürlich zu ihren festen Brüsten, die in dem blumenbedruckten Trägerhemdchen, das sie zu ihren roten Pyjamahosen trug, äußerst vorteilhaft zur Geltung kamen. Hastig schaute er woandershin, bevor sie ihn dabei ertappte, wie unverschämt er sie anstarrte.

„Soll ich mir Ihre Hand nun anschauen oder nicht?“, fragte sie. „Möglicherweise ist was gebrochen.“

Seth streckte die Hand aus und biss sich auf die Unterlippe – der Schmerz wurde immer unerträglicher. Es war das allererste Mal, dass er sich mit einem Hammer verletzt hatte – sein Vater war Handwerker gewesen und hatte ihm den sicheren Umgang mit weitaus gefährlicheren Werkzeugen beigebracht. Doch heute war er einfach unaufmerksam und abgelenkt gewesen. Er war im Morgengrauen aus Savannah zurückgekehrt, wo er eine Woche mit seiner Mutter und seinen Schwestern verbracht hatte, und hatte sofort den weißen SUV zur Kenntnis genommen, der nebenan parkte. Sein Nachbar war im Ausland, und das Haus stand seit einem Jahr leer; Seth hatte sich bereit erklärt, einen Blick darauf zu haben. Dass offenbar jemand eingezogen war, überraschte ihn, zumal es in Wickham Falls nicht viele Dinge gab, von denen er als Deputy Sheriff nicht wusste.

Als Zweites war ihm aufgefallen, dass sein Vogelhäuschen schon wieder auf dem Boden lag. Seth wusste, dass die beiden Jungs aus dem Haus hinter seinem lieber die Abkürzung über sein Grundstück nahmen, als um den Block zu laufen, und dabei ständig das Vogelhäuschen umstießen. Bis jetzt hatte er noch nicht mit ihren Großeltern gesprochen, bei denen sie wohnten, während die Eltern in einer turbulenten Scheidung steckten, aber jetzt musste er wohl eine ernsthafte Warnung ins Auge fassen.

„Tut das weh?“

„Nein“, sagte er, da die Ärztin seine Finger abtastete und nicht seinen Daumen. Zum Glück war er Rechtshänder, sonst hätte er in zwei Tagen nicht wie geplant wieder bei der Arbeit antreten können.

„Versuchen Sie mal, die Finger zu bewegen“, sagte sie leise, und er gehorchte. „Zum Glück ist nichts gebrochen“, fuhr sie fort. „Aber Sie haben den Daumen ziemlich hart getroffen, er wird also anschwellen. Ich werde ihn mit einem Spray behandeln, das den Schmerz dämpft, und Sie sollten ihn heute so oft wie möglich kühlen. Bleiben Sie hier, ich komme gleich mit dem Spray wieder.“

Trotz seines schmerzenden Daumens konnte Seth den Blick nicht abwenden von ihren sanft schwingenden Hüften in der sexy Pyjamahose, als sie ins Nachbarhaus eilte. Er ging zu dem weißen SUV und betrachtete den Parkaufkleber vom Philadelphia Zentralkrankenhaus – offenbar war sie also wirklich Ärztin. Unwillkürlich musste er lächeln. In diesem Moment war es sehr praktisch, eine Medizinerin als Nachbarin zu haben – sonst hätte er darauf warten müssen, dass Dr. Franklin seine Praxis aufmachte, oder die zehn Kilometer ins County-Krankenhaus einhändig fahren müssen.

Die hübsche Ärztin tauchte wieder auf – jetzt trug sie ein übergroßes T-Shirt mit dem verwaschenen Logo der Universität von Pennsylvania. Also hat sie auf einer Elite-Uni studiert, dachte Seth beeindruckt. Hoffentlich hatte sie nicht bemerkt, wie er auf ihre Brüste starrte – sie sollte nicht denken, dass neben ihr ein Perverser wohnte.

Vorsichtig griff sie nach seiner Hand und besprühte den Daumen mit einer eiskalten Flüssigkeit, die wundersamerweise den Schmerz abklingen ließ.

„Vergessen Sie aber nicht, ihn zu kühlen.“

Seth bewegte den Daumen und lächelte. „Was schulde ich Ihnen?“

„Nichts, es sei denn, Sie wecken mich noch einmal vor sieben am Morgen mit nervtötendem Hämmern.“

Seth setzte eine zerknirschte Miene auf. „Das tut mir leid. Die Kinder von der Woodfield Road sind über meinen Zaun gesprungen und haben dabei das Vogelhäuschen umgestoßen. Ich wollte das schnell reparieren.“

„Das hätte vielleicht auch Zeit bis später am Tag gehabt“, sagte sie leise, drehte sich um und ging davon.

„Wie heißen Sie, Miss?“, rief er ihr nach.

Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um. „Dr. Hawkins.“

„Vielen Dank, Dr. Hawkins.“

Als sie darauf nicht reagierte und ins Haus zurückging, murmelte er leise: „Gern geschehen.“

Normalerweise dauerte es ewig, bis in Wickham Falls mal etwas passierte, aber offenbar musste er nur mal eine Woche wegfahren, um eine neue Nachbarin zu bekommen. Ob die neue Ärztin Dr. Franklins Praxis übernehmen würde? Oder arbeitete sie im County-Krankenhaus?

Er griff nach dem Vogelhäuschen und lehnte es an die Hauswand. Vielleicht sollte er erst mit den Großeltern der beiden Racker sprechen und seinen Daumen schonen. Außerdem sollte er ihn ja kühlen. Seth legte den Hammer in die Garage zurück und ging ins Haus, um den Anweisungen seiner Ärztin zu folgen.

Natalia parkte ihren SUV vor dem Eisenwarenladen, dem örtlichen Äquivalent zu einem Baumarkt. In der Innenstadt von Wickham Falls schien die Zeit stehen geblieben zu sein. In der Hauptstraße waren neben vielen Einzelhandelsgeschäften eine Bank, ein kleiner Supermarkt, die Post, die Feuerwehr und die Amtsgebäude mit Rathaus, Gericht, Sheriffbüro und Gefängnis. Dr. Franklins Arztpraxis befand sich in einem einstöckigen Gebäude zwischen einer Rechtsanwaltskanzlei und einem Friseur.

Schon bei ihrem ersten Besuch in der Stadt, als sie zu ihrem Vorstellungsgespräch mit Dr. Franklin angereist war, war ihr aufgefallen, dass es in Wickham Falls keine Starbucks-Filialen, Modeketten oder Fast Food-Restaurants gab. Die Aussicht, meilenweit von Sushibars oder einem anständigen Einkaufszentrum entfernt zu sein, hatte sie kurz daran zweifeln lassen, ob sie wirklich fürs Kleinstadtleben geeignet war. Erst eine ausgedehnte Rundfahrt mit einer Maklerin hatte ihr die Augen für den verschlafenen Charme des Städtchens geöffnet. Statt Staus und Verkehrsgetümmel gab es hier nur zwei Ampeln, und selbst in der Innenstadt war es angenehm ruhig.

Die Maklerin hatte ihr zwei Häuser gezeigt, die zum Verkauf standen, doch Natalia war noch nicht bereit, sich derart festzulegen. Sie hatte nach einem Mietobjekt gefragt, das sie vielleicht in einem Jahr kaufen könnte, und kaum hatte sie das renovierte, möblierte Häuschen mit den weißen Wänden und der perfekt ausgestatteten Küche betreten, wusste sie, dass es genau das Richtige für sie war. Der Besitzer unterrichtete momentan mehrere Semester an einer japanischen Universität und würde erst in zwölf Monaten zurückkommen – bis dahin würde Natalia wissen, ob sie in Wickham Falls bleiben wollte oder nicht.

Es war kurz nach neun, und in der Hauptstraße erwachte das Leben: Die Ladenbesitzer fegten gemütlich die Bürgersteige vor ihren Türen. Natalie würde ein bisschen brauchen, bis sie sich an diesen langsameren Lebensstil gewöhnt hatte. Sie hatte zwanzig Kilometer zu einem Restaurant an der Schnellstraße fahren müssen, um zu frühstücken, weil Ruthie’s, der örtliche Diner, erst um elf öffnete.

Sie betrat Grand Hardware und begegnete einem Mann, der wie der Weihnachtsmann aussah, wenn er auch nicht so gekleidet war.

„Guten Morgen, Ma’am. Was kann ich heute für Sie tun?“

Natalia erwiderte sein freundliches Lächeln. „Ich brauche zehn Liter Latex-Farbe, mehrere Pinsel und Farbroller mit ausziehbaren Stielen, Abdeckfolie und Klebeband“, sagte sie.

„Welche Farbe möchten Sie denn?“

Die Küche war schneeweiß und für ihren Geschmack damit viel zu steril. „Hätten Sie ein paar Farbmuster?“

In nur fünf Minuten hatte sie sich für eine Farbe entschieden, die „Hafennebel“ hieß, ein helles Blau-Grau, das gut zu den Schränken aus gekalkter Fichte passen würde.

„Überdeckt die Farbe auch Flecken?“, fragte sie.

„Ich mische eine Grundierung mit rein, dann müssen Sie nur einmal streichen“, erwiderte der freundliche Verkäufer.

Vierzig Minuten später hatte Natalia alles, was sie brauchte, um die Küche zu streichen, packte die Sachen in den Kofferraum und fuhr die Straße hinunter zum Supermarkt. Die reiche Auswahl an frischem Fleisch und Geflügel war ebenso beeindruckend wie die große Obst- und Gemüseabteilung. Es war Ewigkeiten her, dass Natalias Arbeitszeiten es ihr erlaubt hatten, sich zu Hause frisch etwas zu kochen – meist hatte sie in der Cafeteria des Krankenhauses gegessen und nur wenig Abwechslung gehabt.

Als sie nach Hause zurückfuhr, war die Hauptgeschäftsstraße schon viel belebter. Während in Philadelphia an diesem ersten Mai noch winterliche Temperaturen herrschten, war hier schon der Frühling da. Das milde Wetter sorgte dafür, dass die Bäume in voller Blüte standen, die Blumenrabatten ihre ganze Farbenpracht entfalteten und die Vögel um die Wette sangen.

Ich denke, es wird mir hier gefallen, dachte sie, als sie den Wagen vor ihrem Haus abstellte. Beim Aussteigen sah sie ihren Nachbarn auf seiner Verandatreppe sitzen.

„Wie geht es dem Daumen?“, rief sie hinüber.

Er stand auf und lehnte sich über das Geländer. „Er ist noch geschwollen, also kühle ich ihn, wie Sie gesagt haben.“

Natalia lächelte. „Sehr gut.“

„Brauchen Sie Hilfe beim Ausladen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, danke.“

„Ich glaube, doch“, widersprach er, als sie die ersten Tüten auf den Boden stellte.

„Das geht schon, wirklich.“

Er ignorierte ihren Protest, kam heran und stellte sich neben sie.

„Ich schlage vor, Sie schließen die Tür auf, und ich trage alles rein.“

Natalia legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Mann mit den ebenmäßigen Gesichtszügen und den großen, goldbraunen Augen. Der leichte Bartschatten auf seinem kantigen Kinn betonte seine Männlichkeit noch.

Sie hatte in ihrer Karriere mehr nackte Männer gesehen, als sie zählen konnte, doch etwas am Aussehen ihres Nachbarn ließ sie an die Perfektion des menschlichen Körpers denken. Womöglich lag es auch an diesem weißen T-Shirt, unter dem sich nicht ein Gramm Fett, sondern nur beeindruckende Muskeln abzeichneten.

„Ist schon gut, Mr. …?“

„Collier“, sagte er. „Ich bin Seth Collier. Und Sie sind …? Als meine neue Nachbarin muss ich Sie vielleicht nicht mit Dr. Hawkins ansprechen.“

„Ich bin Natalia. Aber ich schaffe das mit den Einkäufen wirklich allein. Schließlich will ich nicht, dass Ihr Daumen sich wieder verschlimmert.“

Seth lächelte und ließ dabei ebenmäßige, weiße Zähne sehen. „Aber dann könnten Sie sich wieder um mich kümmern.“

„Dann müsste ich Ihnen aber eine Rechnung schicken“, erwiderte sie mit ebenso freundlichem Lächeln.

„Das geht in Ordnung, ich bin versichert. Und jetzt schließen Sie bitte die Tür auf, damit ich Ihnen die Einkäufe reintragen kann.“ Er deutete auf eine der Tüten. „Sie müssen die frischen Sachen in den Kühlschrank packen, bevor sie schlecht werden.“

„Na schön.“

Sie ging zur Haustür und schloss sie auf, und Seth folgte ihr mit vier Tüten, die er im Wohnzimmer auf den Boden stellte, bevor er wieder hinausging.

„Was soll denn gestrichen werden?“, fragte er, als er mit den Farbeimern zurückkehrte.

„Die Küche.“

Seth verschränkte die Arme vor der Brust. „Und wer wird das machen?“

„Na, ich natürlich.“ Natalia griff nach der Tasche mit den Milchprodukten und ging in die Küche.

„Das ist aber ein größeres Unterfangen.“

Sie lächelte ihm über die Schulter zu. „Ich weiß. Ich denke, ich werde ein paar Tage brauchen, bis ich fertig bin. Aber immerhin musste ich keine Leiter kaufen. Im Abstellraum stand eine.“

„Sie würden schneller fertig werden, wenn ich Ihnen helfe.“

Nachdenklich blickte Natalia ihn an. Sie fand ihn weder abstoßend noch bedrohlich, aber sie war es nicht gewohnt, dass Fremde ihr bei der zweiten Begegnung ihre Hilfe anboten.

„Haben Sie nichts anderes zu tun, Mr. Collier?“

„Seth, bitte, und ja, ich bin schon berufstätig. Aber im Moment habe ich Urlaub, also versuche ich, ein guter Nachbar zu sein – auch als Gegenleistung für Ihre Hilfe mit meinem Daumen. Wenn Sie nicht gewesen wären, hätte ich entweder den Vormittag in der Notaufnahme verbracht oder mich vor Schmerzen gewunden, bis Dr. Franklin seine Praxis aufgemacht hätte. Sie sind neu hier, und Sie sollten wissen, dass es hier üblich ist, seinen Nachbarn zur Hand zu gehen.“

Sie nickte. „Stimmt, ich bin neu hier, und es wird eine Weile dauern, bis ich mich an die Gepflogenheiten einer Kleinstadt gewöhnt habe. Und wenn ich Ihre Hilfe beim Streichen annehme, wie revanchiere ich mich dann?“

Seth lächelte charmant. „Mit einem selbst gekochten Essen.“

Unwillkürlich musste Natalia lachen. „Sie wollen, dass ich für Sie koche?“

Als er nickte, fügte sie hinzu: „Sie wissen ja nicht mal, ob ich etwas Genießbares zustande bringe.“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Sie haben all diese frischen Sachen doch nicht gekauft, weil sie im Kühlschrank hübsch aussehen. Wenn Sie nicht kochen könnten, hätten Sie Fertigmahlzeiten besorgt.“

„Und was ist mit Ihrer Freundin oder Frau? Kocht die nicht für Sie?“

„Nein, und ich habe weder eine Freundin noch eine Frau. Ich selbst bin durchschnittlich begabt am Herd, und wenn ich mir nicht selbst was koche, gehe ich zu Ruthie’s oder in den Wolfsbau. An Ruthie’s müssten Sie auf dem Weg zum Supermarkt vorbeigekommen sein. Und der Wolfsbau ist eine Sportbar auf dem Weg nach Mineral Springs.“

Natalia hatte damit angefangen, die Milchprodukte in den Kühlschrank zu räumen, und zerbrach sich dabei den Kopf darüber, warum ein gut aussehender Mann wie Seth nicht verheiratet oder zumindest vergeben war.

„Was machen Sie denn beruflich, wenn Sie nicht gerade Urlaub haben?“

„Ich bin Deputy.“

Überrascht blinzelte sie „Sie sind stellvertretender Polizeidirektor?“

„Nein, ich bin der Deputy Sheriff von Wickham Falls. Und was führt Sie in unsere hübsche Stadt?“

„Ich werde als Assistentin von Dr. Franklin arbeiten.“

Anerkennend pfiff Seth durch die Zähne. „Das wurde aber auch mal Zeit, dass der alte Herr sich Hilfe holt. Man muss stundenlang warten, bis man bei ihm drankommt, und das ist mit Termin. Ohne …“

„Er ist eben sehr gründlich“, verteidigte Natalia ihren neuen Chef.

„Gründlich und ziemlich langsam“, erwiderte Seth. „Wann wollten Sie mit dem Streichen anfangen?“

„Heute.“

„Wenn wir uns die Arbeit gut aufteilen, werden wir heute bestimmt fertig.“

Natalia wollte einwerfen, dass sie auch noch Kartons auspacken musste, aber das wäre ihr undankbar erschienen. „Wenn wir heute den ganzen Nachmittag streichen, kann ich danach aber nicht mehr für Sie kochen.“

„Das macht nichts. Heute nehme ich Sie in den Wolfsbau mit, und dann können Sie morgen für mich kochen.“

Natalia traute ihren Ohren kaum. Der Mann redete, als wäre es völlig selbstverständlich, dass er sie zum Essen ausführte. Hoffentlich dachte er nicht auch noch, es wäre ein Date, denn sie war im Augenblick nicht an Männern interessiert. Nicht einmal an so attraktiven wie diesem Mr. Collier.

„Auf das selbst gekochte Essen haben Sie es ja wirklich abgesehen.“

„Na ja, es ist eine Weile her, dass ich bekocht wurde.“

„Und deshalb bieten Sie sich in Ihrer Freizeit als Malergeselle an?“

Seth lachte laut. „Nicht grundsätzlich. Aber mein Dad war der hiesige Allroundhandwerker.“

Als Natalia den Mund öffnete, hob er die linke Hand. „Sagen Sie es nicht“, warnte er sie leise.

„Was soll ich nicht sagen?“, fragte sie und versuchte, dabei ernst zu bleiben.

„Sie wollen mich darauf hinweisen, dass ich statt eines Nagels meinen Daumen getroffen haben.“

„Das war ein Unfall“, gab sie zurück. „Geben Sie mir zwanzig Minuten, die restlichen Einkäufe zu verstauen und mich umzuziehen, dann können wir anfangen. Ich lasse die Haustür offen.“

Ihre Blicke trafen sich, und Natalia starrte ihren neuen Nachbarn wie gebannt an, bevor sie den Kopf senkte. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an, und sie war froh, dass ihr dunkler Teint ihr Rotwerden verbarg. Außerdem hoffte sie inständig, dass es Seth nicht aufgefallen war, dass sie sich wie ein verknallter Teenager aufführte.

Seth salutierte gekonnt. „Dann bis gleich.“

Als er die Küche verlassen hatte, atmete sie hörbar auf. Sie war nach Wickham Falls gezogen, um Kleinstadtärztin zu werden, nicht, um sich von ihrem sexy Nachbarn den Kopf verdrehen zu lassen.

Autor

Rochelle Alers
Seit 1988 hat die US-amerikanische Bestsellerautorin Rochelle Alers mehr als achtzig Bücher und Kurzgeschichten geschrieben. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Zora Neale Hurston Literary Award, den Vivian Stephens Award for Excellence in Romance Writing sowie einen Career Achievement Award von RT Book Reviers. Die Vollzeitautorin ist Mitglied der...
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