Die Schöne und der Bastard - Kapitel 12

~ Kapitel 12 ~

Wenn der Krieg vor der Tür stand, konnte man eine Situation mit einem Mal in all ihren Details erfassen. Dieser Gedanke ging Soren durch den Kopf, als er hörte, dass die Angelsachsen sich den Toren näherten. Die Nachricht von ihrer Ankunft sprach sich schnell herum, und seine Männer gingen entlang der Mauer zügig in Stellung, nachdem die Gefangenen eingesperrt und die Frauen und Kinder im Inneren der Feste in einem sicheren Raum untergebracht worden waren. Als er nun beobachtete, wie die bewaffneten Truppen weiter vorrückten, war Soren in der Lage, die Stärken und Schwächen des Gegners besser einzuschätzen. Nachdem er zu dem Schluss gekommen war, dass sie ihnen allenfalls lästig, aber nicht gefährlich werden konnten, wandte sich Soren an die ungebetenen Besucher.

„Wer seid Ihr und was wollt Ihr hier?“

„Ich bin Maurin de Caen. Mein Land liegt einen Tagesritt südwestlich von hier, gleich hinter den Hügeln“, antwortete der erste Mann, der dem Namen nach von normannischer Herkunft zu sein schien.

„Und ich bin Wilfrid of Brougham, Lord Soren. Mein Land liegt in gleicher Richtung zwei Tagesritte von hier entfernt. Wir haben jeder einen Brief vom König erhalten, der die Rebellen betrifft, und wir sind hergekommen, um die Angelegenheit mit Euch zu besprechen.“

Soren sah zu Stephen und dann zu Guermont, der in Rüstung und mit Schwert wieder mehr nach dem Krieger aussah, der er eigentlich war, nicht aber nach dem Steward, zu dem er im Lauf der Zeit geworden war. Als beide zustimmend nickten, ging Soren die Stufen hinab und begab sich zum Tor, um den Männern Einlass zu gewähren. Seine eigenen Soldaten wussten nur zu gut, dass sie sich keinen Moment der Unachtsamkeit erlauben konnten. Vorsichtshalber würde er mit den Besuchern nur auf dem Hof reden, wo jeder sie im Auge behalten konnte. Vor allem aber würden sie dann in Reichweite seiner Bogenschützen sein, die an der Mauer in Position standen.

Er sah zu, wie die beiden Männer absaßen, nachdem sie auf den Hof geritten waren, und ging zu ihnen, wobei er die übliche Reaktion erwartete, die jeder zeigte, der ihm zum ersten Mal begegnete. Als keiner von ihnen seinem Gesicht mehr als nur flüchtig Beachtung schenkte, wusste er, sie waren vorgewarnt worden. Er zog die Handschuhe seiner Rüstung aus und hielt ihnen zum Gruß die Hand hin, die einer nach dem anderen schüttelte. Dann gab er ihnen ein Zeichen, damit sie ihm zu einem Tisch nahe dem Burgfried folgten.

Sie unterhielten sich über die Situation in den umliegenden Gebieten und über den Wunsch des Königs, dass die nördlichen Regionen Englands nicht vom schottischen König überfallen wurden, während Williams Augenmerk auf den Süden des Landes gerichtet war. Sie redeten auch über Morcar und Edwin, vormals der Earl of Mercia und der Earl of Northumbria, deren Ländereien Alston umgaben. Beide waren derzeit zusammen mit dem angelsächsischen Thronanwärter Gäste von William in der Normandie. Soren ließ Ale und Speisen bringen, und er bat Stephen und Guermont, sich zu ihnen zu setzen und sich der Unterhaltung anzuschließen, da sie dabei viel Wichtiges erfahren würden. Mehr als eine Stunde redeten sie über jedes Thema, das Soren wichtig erschien, mit Ausnahme einer einzigen Sache. Nachdem er seine Männer wieder weggeschickt hatte, wandte er sich mit den Fragen an seine Gäste, auf die er unbedingt eine Antwort erhalten wollte, während ihm alles andere längst bekannt gewesen war.

„Erzählt mir von Durward of Alston“, sagte er.

Die beiden sahen sich kurz an, dann begann Maurin, wobei ihm anzumerken war, dass er sich in seiner Wortwahl zurückhielt. „Obwohl ein großer Teil der Ländereien hier oben im Norden vom schottischen König beansprucht wird, erhielt Durward das Gut von König Edward, und Harold legte das urkundlich fest. Harold hatte seine Zweifel an Morcar und Edwin, auch wenn er durch die Heirat mit deren Schwester mit ihnen verwandt war. Er benutzte Durward, um diese wichtige Region zu halten.“

„Schuldete er Mercia oder Northumbria in irgendeiner Weise Lehnstreue?“

Alston bildete den Zugangsweg zu verschiedenen alten Königreichen, die alle sehr begehrt waren und um deren Anspruch eine Generation nach der anderen rang. Während Soren auf eine Antwort wartete, konnte er beobachten, wie die beiden ein weiteres Mal Blicke austauschten.

„Keine Lehnstreue, Lord Soren, aber ein Band von einer anderen Art“, erwiderte Wilfrid. „Eine Verlobung zwischen Durwards Sohn und einer Nichte von Godwinson war bereits arrangiert worden, aber der Tod des Jungen und die Schlacht bei Hastings setzten allen Hoffnungen ein Ende, die beiden Häuser miteinander zu verbinden.“

Wilfrid redete nicht weiter, doch Soren merkte ihm an, dass er noch nicht fertig war. „Aber …?“, hakte er von sich aus nach.

„Morcar hatte bereits angeboten, seinen Sohn mit Durwards Tochter zu verheiraten.“

„Sybilla?“, fragte Soren. Beide nickten. „Weiß sie davon?“

„Sehr wahrscheinlich nicht. Durward hatte sich in der Angelegenheit noch nicht entschieden, als der Befehl einging, den Nordmännern bei York gegenüberzutreten. Als Harolds Vasall musste er Soldaten hinschicken, die von seinem Sohn angeführt wurden. Bedauerlicherweise traf er auf Morcar und Edwin, bevor Harold von Süden aus dazustoßen konnte.“

Soren war mit den verheerenden Folgen vertraut. Die Engländer verloren die Schlacht und erlitten schwere Verluste, wie ihm zu Ohren kam, während er sich zwecks seiner Genesung in der Nähe von London aufhielt. Doch der Versuch, die beiden Häuser miteinander zu verbinden, war ihm neu. Diese Tatsache konnte von Nutzen sein, um die Rebellen aufzuspüren, die eindeutig von mächtigen Leuten hier oben im Norden Unterstützung erhielten. Brice hatte ihm eine Nachricht zukommen lassen, dass Edmund Haroldson in der Nähe von Shildon gesehen worden war und sich in Richtung Norden bewegte. Es wurde vermutet, dass er sich die Unterstützung von Malcolm in Schottland sichern wollte, und auf dem Weg dorthin sollte er hier vorbeikommen.

Damit wurde Soren auch klar, was Giles und Brice gemeint hatten, als sie davon sprachen, dass die ihnen versprochenen Ländereien zu den gefährlichsten in Williams neuem Königreich gehörten. Sie riskierten wahrhaftig ihr Leben und ihre Zukunft bei dem Versuch, diese Territorien zu halten. Bei so vielen Feinden zu allen Seiten und so wenigen wirklich vertrauenswürdigen Verbündeten stellte sich Soren die Frage, ob er überhaupt lange genug leben würde, um Söhne zu zeugen.

„Sie sind immer noch auf dem Hof und reden, Mylady“, berichtete Gytha, die am Fenster in Sybillas Gemächern in Stellung gegangen war.

Offenbar waren die Besucher harmlos genug, um sie bis auf den Hof vorzulassen, aber wohl nicht so eindeutig ungefährlich, dass man ihnen den Zutritt in den Burgfried erlaubt hätte. Nachdem diesen Gästen Einlass gewährt worden war, hatte man ihr und ihren Dienerinnen gestattet, die Küche zu verlassen und in ihre Gemächer zurückzukehren. Es klang zwar nach einem guten Plan, aber Sybilla fürchtete sich davor, die Treppe hochzugehen, während sich um sie herum so vieles abspielte, das sie nicht sehen konnte.

Die Treppe hatte sie dann doch überwunden, und nun standen Gytha und Aldys abwechselnd am Fenster und berichteten ihr genau, was sich auf dem Hof abspielte – ohne Rücksicht darauf, ob sie es überhaupt wissen wollte. Sie glaubte, früher schon einmal Lord Maurin und Lord Wilfrid begegnet zu sein, weshalb sie für deren Identität hätte bürgen können, doch Lord Soren hatte sie gar nicht erst gefragt. Seit dem Zwischenfall auf dem Hof vor einigen Tagen war es zwischen ihnen zu keiner weiteren Unterhaltung gekommen. Sie blieb im Schutz ihrer Gemächer und wurde nicht wieder aufgefordert, nach draußen zu gehen. Allerdings war ihr das auch nicht verboten worden, und ihre Tür war auch nicht verriegelt.

Der Geschmack der frischen Luft und die wärmende Sonne führten sie jedoch in Versuchung, es noch einmal zu wagen. Sybilla befürchtete allerdings, dass das Ende ihres perfekt inszenierten Auftritts zugunsten ihrer eigenen Leute dauerhaft dadurch verdorben worden war, dass sie den Grund für Sorens Hass auf ihren Vater und auf sie erfahren hatte. Sie versuchte sich vor Augen zu halten, dass der Krieg ein gehässiges, grausames Geschäft war, das seinen Preis überall dort forderte, wo es Leben und Fleisch vorfand. Und dennoch konnte sich Sybilla einfach nicht vorstellen, dass ihr Vater zu einem so hinterhältigen Angriff fähig gewesen sein sollte.

Da alle seine Männer ihm Treue geschworen hatten, würde sie niemanden finden, der seiner Darstellung widersprach. Daher überlegte sie, dass sie wohl mehr über diesen Kampf erfahren würde, wenn sie mit Wilfrid oder Maurin redete. Aber konnte sie es wagen, die beiden darauf anzusprechen? Nicht einmal ihren Dienerinnen hatte sie ein Wort davon gesagt.

„Ist Lord Soren da?“, fragte sie. „Oder Guermont oder Stephen?“

Gytha reagierte mit einem Seufzer, der Sybilla bereits vertraut war, da er davon zeugte, wie sehr die junge Frau den normannischen Ritter Stephen anhimmelte. „Lord Soren ist da, die anderen sind gegangen.“

„Such nach Guermont, Aldys. Bring ihn zu mir, wenn es irgendwie möglich ist.“ Sofort verließ Aldys den Raum und lief nach unten, um den Steward ausfindig zu machen.

„Stephen hat mir erzählt, dass Lord Soren daheim als der ‚schöne Bastard‘ bezeichnet wurde“, verriet Gytha und flehte sogleich: „Oh, verzeiht mir meine unüberlegten Worte, Mylady.“ Offenbar war ihr aufgefallen, wie unpassend ihre Bemerkung gewesen war.

Sybilla erkannte, dass sie den völlig falschen Weg gewählt hatte, denn die Dienerschaft wusste immer mehr, als sie zugeben wollte. Man konnte darauf zählen, dass sie in jedem Haushalt eine Fülle an Wissen zusammenzutragen vermochten.

„Nein, Gytha, sag mir, was Stephen dir sonst noch erzählt hat“, beharrte sie. Sie konnte den Grund für Sorens Hass verstehen, war er doch offenbar schrecklich entstellt worden. Außerdem begegneten ihm die Menschen überall mit Abscheu und Angst, was seinen Zorn weiter steigerte. Aber sie hatte von Zeit zu Zeit das Gefühl gehabt, einen ganz anderen Mann vor sich zu haben, und sie fragte sich nun, ob das nur Einbildung gewesen war.

„Mylady, vielleicht sollte ich Euch besser nicht von solchen Dingen erzählen.“

Sybilla kannte Gytha gut genug, um zu wissen, dass sie ihr alles am liebsten sofort gesagt hätte. Sie war eine wahre Klatschbase – keine von der gehässigen Sorte, die über andere herzog – und konnte eine Neuigkeit normalerweise nicht lange für sich behalten. Dass sie über ihr jüngstes Wissen schwieg, konnte nur bedeuten, dass Aldys sie gewarnt hatte, sie solle besser den Mund halten.

„Der ‚schöne Bastard‘?“, fragte sie leise und wartete ab.

„Aye, Mylady“, sagte Gytha und kam näher. „Er kommt aus Britannien, anders als die meisten anderen ist er kein Normanne. Und er ist von niederer Herkunft. Geehrt wurde er von seinem König erst nach … nach …“

„Aye, Gytha, nach der Schlacht bei Hastings.“

„Er und zwei andere wurden an ihrem Geburtsort Rennes von einem Adligen als Pflegesöhne aufgenommen, und zusammen mit dem Erben des Adligen wurden sie großgezogen. Seltsame Sache“, merkte sie an.

Sehr seltsam. Auch wenn leibliche Kinder zu vielen Zwecken eingesetzt werden konnten, war das doch ungewöhnlich. „Und?“, bohrte sie nach.

„Sie wurden zu Rittern ausgebildet.“

Am liebsten hätte Sybilla die junge Frau gepackt und geschüttelt, damit sie endlich zum Kern der Geschichte kam, doch stattdessen atmete sie tief durch und betete dafür, die Geduld zu bewahren.

„Stephen sagt, sie seien für ihr kämpferisches Können bekannt, aber auch dafür, dass sie keine Kostverächter sind. Lord Soren soll jede Nacht eine andere Frau in seinem Bett gehabt haben, verheiratete und ledige, hübsche und schlichte. Es war ihm gleich. Sein Aussehen, das besser war als das seiner Freunde, zog die Frauen magisch an.“ Gytha seufzte sehnsüchtig. „Jetzt dagegen erkennt man ihn nicht wieder, so anders sieht er aus.“

Das war der Kern der Geschichte. Wie Soren gesagt hatte, war es die Attacke ihres Vaters gewesen, die seinen Körper und sein Leben zerstört hatte.

„Stephen schwätzt wie ein altes Waschweib.“

Sybilla und Gytha zuckten zusammen, als ihre private Unterhaltung abrupt gestört wurde. Guermont hatte zumindest einen Teil davon mitbekommen.

„Guermont, ich danke Euch, dass Ihr hergekommen seid“, sagte Sybilla, ging über den Inhalt ihres Gesprächs mit Gytha hinweg und stellte sich hin. „Ist es mir gestattet, jetzt meine Gemächer zu verlassen?“

„Aye, Mylady“, antwortete er und kam näher. „Darf ich Euch irgendwohin begleiten?“

Sie hielt ihm ihre Hand hin. „Ich möchte auf den Hof, wenn möglich. Ich würde gern mit Maurin und Wilfrid reden.“ Sie versuchte die Namen so selbstverständlich auszusprechen, als hätte sie mit zwei alten Bekannten zu tun.

Guermont antwortete nicht sofort, sondern dachte zunächst über ihr Anliegen nach. Schließlich nahm er ihre Hand und legte sie auf die schwere Rüstung, die seinen Arm bedeckte. Das kalte Metall erschreckte sie im ersten Moment, doch sie gewöhnte sich schnell daran.

„Vergesst nicht, dass wir zwanzig Stufen vor uns haben, Mylady.“

Seine umgängliche Art und die Gelassenheit, mit der er sie führte, ließ sie vergessen, dass sie heute erst das dritte Mal diese Treppe bewältigte, seit sie blind war. Als sie an der obersten Stufe stand, machte sie sich diesmal keine Sorgen, sie könnte kopfüber in den Tod stürzen, daher beschloss sie, auf dem Weg nach unten auch Guermont ein wenig auszufragen. Da sie nichts sehen konnte, musste sie so viel wie möglich in Erfahrung bringen, was sie sonst durch Beobachtung hätte herausfinden können.

„Wie lange dient Ihr schon Lord Soren, Guermont?“, erkundigte sie sich. Zweifellos eine harmlose Frage.

„Wir haben in den letzten sechs Jahren überall in unserer Heimat Britannien Seite an Seite gekämpft, als wir Gautier of Rennes gedient haben, anschließend hier in England unter der Flagge von Alain Fergeant, einem entfernten Cousin von Gautier. In Sorens Diensten stehe ich erst seit zwei Monaten.“

Also seit der König Soren dieses Land übertragen hatte.

Während sie überlegte, was sie noch fragen konnte, kam Guermont ihr zuvor.

„Warum fragt Ihr nicht Lord Soren selbst, wenn Ihr etwas über seine Heimat erfahren wollt?“ Abrupt blieb er stehen, und wenn sie sich nicht irrte, standen sie nun genau vor der Tür, die hinaus auf den Hof führte. „Verlasst Euch nicht auf Stephen, wenn es um die Wahrheit über Soren geht.“

„Ich bezweifle, dass Lord Soren überhaupt noch mit mir redet, nachdem er mir die Wahrheit über das Verhalten meines Vaters enthüllt hat, Guermont. Mich wundert, dass ich noch lebe und weiter mit ihm verheiratet bin, wenn ich angesichts dieser Ereignisse doch eigentlich tot sein oder zumindest in Ketten gelegt werden müsste.“

Guermont fluchte leise, und Sybilla war froh, dass sie seine Sprache nicht verstand, wenn er so schnell redete. „Er hat es Euch gesagt?“

„Aye. Ich habe ihn gefragt, er hat geantwortet.“

Ein weiterer geflüsterter Fluch folgte, dann eine ebenso leise Entschuldigung. Jemand vor ihnen öffnete die Tür, ein leichter Windhauch schlug Sybilla entgegen. Guermont bewegte den Arm, um sie zu warnen, dann machten sie den ersten Schritt auf den Hof. Schweigend gingen sie nebeneinander her, und sie spürte, wie verwundert Guermont darüber war, dass Lord Soren über die Gründe für seine Rache gesprochen hatte. Sie hörte Sorens tiefe Stimme, der sie sich näherten. Als er verstummte, blieb Guermont stehen.

„Sybilla, darf ich dich mit Lord Maurin de Caen und Lord Wilfrid of Brougham bekannt machen?“, empfing Soren sie in einem Tonfall, als würde es sich um ein Zusammentreffen alter Freunde handeln, nicht aber um den Kriegsrat, den sie in Wahrheit vermutete.

„Mylords“, sagte sie und nickte in Richtung von Sorens Stimme.

„Mylady“, wandte sich einer von ihnen an sie. „Ich habe Euch nicht mehr gesehen, seit Ihr ein Kind wart.“ Er hob ihre Hand an seine Lippen, und sie spürte einen leichten Kuss auf ihren Knöcheln.

„Ich hatte noch nicht das Vergnügen, Eure Bekanntschaft zu machen, aber ich möchte Euch zu Eurer Heirat mit Lord Soren beglückwünschen“, sagte der andere, der ihr ebenfalls einen Handkuss gab.

Sie konnte die beiden nicht unterscheiden und sich auch nicht daran erinnern, dass ihre Namen einmal von ihrem Vater oder ihrem Bruder erwähnt worden waren. Aber der Unterton in ihren Stimmen ließ Sybilla aufhorchen. Etwas stimmte hier nicht. Zum Glück stand Guermont dicht hinter ihr, was ihr ein Gefühl von Sicherheit gab.

Es schloss sich eine Pause an, in der niemand ein Wort sagte. Angestrengt suchte Sybilla nach einem Gesprächsthema, doch Soren kam ihr zuvor.

„Lady Sybilla hat eine Augenverletzung erlitten, Mylords. Sie kann nichts sehen“, erklärte Soren leise.

Im ersten Moment fragte sie sich, warum er sie auf diese Weise vorführte, doch dann erinnerte sie sich an sein Versprechen: Er wollte ihr alles wegnehmen, und dazu gehörte offenbar auch ihre Würde, was er zudem auch noch in der Gegenwart von Fremden tat.

„Mylady!“, rief der eine. „Das ist ja schrecklich!“

„Ich bin mir sicher, es ist nur vorübergehend, Mylords. Ich gehe davon aus, dass ich meine Sehkraft in vollem Umfang zurückerlangen werde“, verkündete sie voller Überzeugung, die sie in Wahrheit gar nicht verspürte.

„Wir können nur beten, dass es so kommen wird“, ergänzte Lord Soren, auch wenn er sich unüberhörbar nicht so sicher war wie sie. Genau genommen hätte er auch gleich sagen können, dass er eigentlich gar nicht an seine eigenen Worte glaubte.

Würde sie aus diesem Mann wohl jemals schlau werden? Gab es Momente, in denen er die Wahrheit sprach, oder gehörte das alles zu seinem Plan, sie zu vernichten? Da sie nicht so recht wusste, wie sie weiter vorgehen sollte, schwieg sie und wartete, dass Lord Soren sich wieder zu Wort meldete.

„Wünschst du irgendetwas Bestimmtes, Sybilla? Oder wolltest du dich nur davon überzeugen, dass ich unsere Besucher gastfreundlich empfangen habe?“ Hätte sie nicht gewusst, was er wirklich mit ihr vorhatte, dann wäre sie davon überzeugt gewesen, einen liebevollen und fürsorglichen Ehemann vor sich zu haben. So aber klangen seine Worte, als hätte er ihr eine schallende Ohrfeige gegeben. Ein Rückzug war jetzt das Einzige, was ihr noch blieb.

„Genau das war mein Anliegen, Lord Soren“, erwiderte sie und lächelte so überzeugend wie möglich.

„Guermont, begleite sie zurück in ihre Gemächer“, sagte er dann.

Der griff wortlos nach ihrer Hand und legte sie wieder auf seinen Arm. Sybilla verbeugte sich und machte mit Guermont zusammen kehrt. Sie war so verärgert über Sorens Verhalten ihr gegenüber, dass sie kein Wort mehr sprach, bis sie zurück in ihren Gemächern war. Guermont wies nur darauf hin, ob sie sich einer Tür näherten oder ob die Treppe vor ihr lag.

Unterwegs fiel ihr auf, dass Guermont ebenfalls wütend war. Sie merkte es an der angespannten Haltung seines Arms, und vor allem erkannte sie es daran, dass er leise vor sich hin murmelte. Es gab keinen Zweifel daran, dass er Sorens Verhalten weder nachvollziehen noch gutheißen konnte.

Damit waren sie schon zu zweit.

 

„Er hat es ihr gesagt“, wandte sich Guermont an Larenz, der über die Schulter zu jenem Tisch schaute, an dem Soren mit seinen beiden Besuchern saß.

„Das war nur eine Frage der Zeit“, erwiderte Larenz nickend. „Früher oder später kommt die Wahrheit immer ans Licht.“

Guermont, Stephen und ein paar andere waren seit Jahren mit Soren, Brice und Giles befreundet, sie kämpften an ihrer Seite, sie gaben ihnen Rückendeckung – bei Hastings und anderswo. Während seines Dienstes bei Gautier in Rennes hatte er sie zu Männern heranwachsen sehen.

Auch wenn jeder von ihnen Soren hatte helfen wollen, war keinem von ihnen in den Sinn gekommen, wie man das am besten anstellen sollte, sodass am Ende niemand etwas unternommen hatte. Als Folge davon war Soren immer tiefer in seine von Rachegelüsten getriebene Welt versunken, womit er sich mehr und mehr von ihnen allen abschottete.

„Außerdem hat er ihnen gesagt“, fuhr Guermont fort und deutete auf die beiden Besucher, „dass sie blind ist. Warum stellt er sie vor Fremden derart bloß?“

Guermont war eindeutig Sybillas Zauber verfallen. Das wäre niemandem schwergefallen, schon gar nicht unter diesen Umständen, aber es war gefährlich, wenn man dieser Entwicklung freien Lauf ließ. Sie war eine wunderschöne Frau, und sie besaß ein bemerkenswertes Temperament. Wenn Soren doch nur …

„Soren ist ein intelligenter Mann und ein noch besserer Krieger. Er hat seine Gründe“, antwortete Larenz, der seine eigenen Worte zu glauben schien. Guermont schnaubte ungläubig. Ehe er aber etwas entgegnen konnte, legte Larenz eine Hand auf seinen Arm.

„Der Mann, der Soren einmal war, liegt jetzt unter Hass, Rachsucht und Schmerz begraben. Aber er ist noch da, und er stellt seinen Weg infrage. Wir müssen ihm bei dieser schweren Aufgabe beistehen, Guermont!“

„Und Lady Sybilla?“

„Sie bewegt sich auf einem ganz ähnlichen Pfad wie Soren. Ich glaube, sie wird diejenige sein, die den wahren Soren hervorholen kann.“

Guermont schüttelte den Kopf. „Aber sie ist blind, Larenz.“

„Sie ist blind, das ist richtig. Aber in diesem Fall wird die Blinde mehr sehen als der Einäugige.“

„Wenn du das sagst, Larenz.“ Guermont nickte, auch wenn er nicht der Meinung des anderen Mannes war und er ihn auch nicht so ganz verstanden hatte. „Du warst schon immer in der Lage, das Gute im Menschen zu sehen. Lord Gautier sagte einmal, du wärst ein guter Priester geworden, weil du in die Seele des Menschen blicken kannst.“

„Ich liebe Frauen viel zu sehr, als dass ich je ein guter Priester sein könnte, Guermont! Daran solltest du nie zweifeln!“ Larenz gab ihm einen kräftigen Klaps auf die Schulter, und Guermont widmete sich wieder seinen Aufgaben.

Larenz schaute ihm nach und musste unwillkürlich lächeln. Seine Fähigkeit, in die Seele der Menschen zu blicken, war nichts Besonderes, dafür musste man nur jahrelang die Leute beobachten, von denen man umgeben war, das Markante an ihrem Verhalten erkennen und die selbstgeschaffenen Muster betrachten, an denen sie sich orientierten. Ein gutes Gedächtnis und ausgeprägte Neugier waren die Grundlagen, um diese Fähigkeit zu entwickeln. Gautier hatte seine Begabung erkannt und ihn in seine Dienste gestellt.

Sein Bruder hatte für einige vor langer Zeit begangene Sünden Buße getan, und Larenz hatte ihn dabei unterstützt. Sie unterhielten sich nie über die Gründe, nur über das, was Gautier tun wollte und welchen jungen Männern dabei sein Augenmerk galt. Jetzt stand der Klügste von den dreien vor ihm, angeschlagen und auf der Suche nach seiner Seele und nach dem Mann, der aus ihm werden sollte. Aus Respekt und brüderlicher Liebe heraus würde Larenz seine Arbeit fortsetzen, bis Soren seinen Weg gefunden hatte.


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