Dichter Nebel nahm ihr die Sicht. Das Zimmer begann sich um sie zu drehen. Instinktiv streckte Lizzy die Hand aus und bekam die Tischplatte zu fassen. Sie klammerte sich daran fest.
Nicht wahr.
Unwahr. Gelogen. Eine Lüge.
Wenn sie die Worte lange genug wiederholte, würde es wahr werden. Wahr, dass es nicht wahr war. Was dieser Mann gerade gesagt hatte, konnte nicht wahr sein. Es war absurd. Dumm. Unmöglich. Eine Lüge. Eine dumme, absurde, unmögliche Lüge … oder ein Scherz. Vielleicht war es ein Scherz. Genau, das musste es sein. Nur ein Scherz. Sie hob den Kopf, atmete tief ein und zwang sich, den Mann ihr gegenüber anzusehen.
„Das ist nicht wahr.“
Ihre Stimme war dünn. Sie klang genauso fassungslos wie er vorhin, als sie nicht wusste, wer er war.
„Nein“, sagte sie lauter. „Das ist ein Scherz. Es ist unmöglich. Es kann einfach nicht sein.“
„Es wäre besser, wenn Sie sich hinsetzen.“ Seine Stimme klang immer noch frostig, aber nicht mehr ganz so eisig wie vorhin.
Mit weit aufgerissenen Augen blickte Lizzy ihn an. In ihrem Kopf versuchte sie noch immer zu begreifen, was das alles zu bedeuten hatte.
Er hatte gesagt, Bens Vater sei der Sohn des Prinzen von San Lucenzo. Und er selbst sei Bens Onkel, der Bruder des Verstorbenen. Also hieß das, er …
Sie starrte ihn an. Das konnte doch unmöglich stimmen.
Er ließ sich von ihr anstarren, wich ihrem Blick nicht aus. Selbstbewusst stand er da, während sie sich in der Küche ihres kleinen Cottages in Cornwall an der Platte des Küchentischs festhielt.
„Ich bin Enrico Ceraldi“, klärte er sie auf.
Lizzy ließ sich auf den ihr am nächsten stehenden Stuhl sinken.
„Wussten Sie wirklich nicht, wer ich bin?“, fragte er fast neugierig. Irgendetwas flackerte in seinen Augen auf.
„Nein“, erwiderte sie mit erhobenem Kinn. „Ich habe Sie nicht erkannt. Natürlich habe ich von Ihnen gehört – es ist schwierig, das nicht zu tun.“ Ein Hauch Missbilligung stahl sich in ihre Stimme. „Aber nie Ihren Nachnamen. Immer nur den Vornamen und … Ihren Titel.“
Lizzy stand auf. Dass das Zimmer sich um sie herum immer noch drehte, ignorierte sie. In ihrem Kopf war eine Bombe explodiert und hatte die Welt, die sie kannte, in kleine Stücke gerissen. Aber sie musste irgendwie damit zurechtkommen. Sie straffte die Schultern.
„Es fällt mir schwer, damit umzugehen. Ich bin sicher, Sie haben Verständnis dafür. Bestimmt verstehen Sie auch, dass ich viele Fragen habe. Aber ich“, sie blickte ihm direkt in die Augen und verlieh ihrem Tonfall eine feste Note, „brauche Zeit, um alles zu begreifen. Schließlich sind diese Neuigkeiten ziemlich unglaublich.“
Immer noch sah sie in seine dunklen Augen. Augen, die sie von Bildern in Boulevardmagazinen und den Klatschseiten der Zeitungen her kannte.
Sie hatte ihn nicht erkannt. Sie hatte ihn einfach nicht erkannt. Sein Bild ist ständig in den Medien präsent, aber sie hatte ihn nicht wiedererkannt.
Und warum sollte sie auch? Warum sollte sie denken, dass jemand wie er hierherkäme und ihr sagte, dass Ben …
Fassungslos wirbelten diese Gedanken durch sie hindurch.
Lizzy senkte den Kopf. Plötzlich war es zu viel. Alles war viel zu viel.
„Ich kann nicht mehr.“
Eine Minute lang starrte sie blickleer den Mann vor sich an. Den Bruder von Bens Vater. Der tot war. Der ein Sohn des regierenden Prinzen von San Lucenzo war. Der wiederum auch der Vater des Mannes ihr gegenüber war.
Der deshalb ein Prinz war.
Der in ihrer Küche stand.
„Ich kann nicht mehr“, wiederholte sie.
Rico wandte den Kopf und blickte hinter sich. Hin und wieder tauchten die Scheinwerfer des Gegenverkehrs den Rücksitz des Wagens in helles Licht.
Lizzy schlief. Ebenso der Junge, der in einem Kindersitz sicher untergebracht war. Sie hielt seine Hand.
Er presste die Lippen zusammen und sah wieder weg, schaute auf den Strom roter Rücklichter vor ihm. Neben ihm steuerte Falieri den großen Geländewagen ruhig, aber mit hoher Geschwindigkeit durch den nächtlichen Verkehr.
Rico starrte auf die Autobahn.
Paolos Sohn. Paolos Sohn befand sich in diesem Wagen. Niemand aus der Familie hatte von diesem Sohn gewusst.
Wie hatte das passieren können?
Die Frage kreiste in seinem Kopf, seit Jean-Paul ihm die Nachricht von dem neuesten Coup der Presse erzählt hatte. Es schien unmöglich, dass Paolos Sohn einfach so hatte verschwinden können, ohne dass irgendjemand von seiner Existenz wusste. Und doch konnte Rico vor seinem geistigen Auge sehen, wie vor vielen Jahren bei dem grauenhaften Verkehrsunfall in Frankreich die Retter das noch lebende und offensichtlich schwangere Mädchen fanden und aus dem Wrack des zerschmetterten Wagens schnitten. In aller Eile hatte man sie in ein Krankenhaus gefahren. Stunden später war Paolos Leiche in ein anderes Krankenhaus überführt worden.
Nacktes Entsetzen stieg in ihm auf. In dem blutigen Chaos hatte niemand die beiden in Verbindung gebracht – den toten Prinzen Paolo und die im Koma liegende unbekannte junge Frau.
Sie hatte nie das Bewusstsein wiedererlangt und hatte nie preisgeben können, wer der Vater ihres Kindes war.
Deshalb hatte es niemand gewusst. Nicht, bis ein findiger Reporter die Tragödie um Paolos Tod wieder ans Licht gezerrt hatte. Und entgegen allen Erwartungen hatten seine Recherchen einen französischen Feuerwehrmann zutage gefördert, der eine junge Frau erwähnte, die er aus den Trümmern von Paolos Sportwagen befreit hatte. Von diesem winzigen Detail ausgehend, hatte der Reporter tiefer und tiefer gegraben, bis er die ganze unglaubliche Geschichte zusammengesetzt hatte.
Prinz Paolo Ceraldi hatte einen Sohn hinterlassen.
Die Nachricht würde die Klatschzeitungen im Sturm erobern.
„Hol den Jungen!“
Lucas Befehl hallte in Ricos Kopf. Unmittelbar nach dem Gespräch mit Jean-Paul hatte er Luca angerufen.
„Wir müssen den Jungen finden, bevor die Presse es tut“, hatte Luca gesagt. „Setz Falieri sofort darauf an. Es muss jedoch den Anschein haben, wir wüssten von der ganzen Geschichte nichts. Das ist von allergrößter Wichtigkeit, Rico. Wenn die Presse glaubt, wir wollten etwas vertuschen, bringen sie die Nachricht sofort. In der Zwischenzeit“, sein Tonfall wurde härter, „spreche ich mit Christabel. Ich werde ihren Vater um einen Gefallen bitten müssen … es wird die Geschichte nicht verhindern, aber ein bisschen verzögern können. So bleibt Falieri genug Zeit, den Jungen in Sicherheit zu bringen“, er hielt inne. Als er weitersprach, klang seine Stimme trocken. „Es hat den Anschein, Rico, dass deine Nähe zur Presse doch endlich einmal von Nutzen ist.“