„Guten Morgen.“
Rico schlenderte in den Salon. Ben saß auf dem Boden und spielte mit einem ganzen Haufen bunter Bauklötze. Seine Tante saß neben ihm. Er nickte ihr zu und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder seinem Neffen zu.
„Was machst du da?“, fragte er.
„Ich baue den höchsten Turm der Welt“, verkündete der Junge. „Komm und sieh ihn dir an.“
Eine zweite Aufforderung brauchte Rico nicht. Der Anblick seines Neffen hatte seine Augen funkeln lassen, jedoch zugleich sein Herz zusammengeschnürt. Er erinnerte sich noch gut an Paolo in diesem Alter.
Ein Schatten flackerte über sein Gesicht. Paolo war immer anders gewesen als er und Luca. Als Erwachsener wusste Rico auch, warum. Luca war der Thronerbe. Es war seine Bestimmung, eines Tages über San Lucenzo zu herrschen. So wie es das Schicksal ihres Vaters Prinz Eduardo war, den Thron von seinem Vater zu erben. Seit achthundert Jahren regierten die Ceraldis das kleine Fürstentum, das sich stets der Eroberung durch andere Staaten oder Völker entzogen hatte. Selbst in den Zeiten der Europäischen Union hatte das kleine Land seine Unabhängigkeit bewahrt. Manche sahen es als eine altertümliche Anomalie an, andere als Steuerparadies und Spielwiese für Reiche. Aber für seinen Vater und seinen älteren Bruder war San Lucenzo ihr Vermächtnis, ihre Bestimmung.
Und dieses Erbe würde immer Schutz brauchen. Und der beste Schutz war Beständigkeit. In vielerlei Hinsicht war das kleine Fürstentum das persönliche Lebenswerk der Ceraldis. Das war auch der Grund, dass es nie seine Unabhängigkeit eingebüßt hatte. Ohne die Ceraldis wäre San Lucenzo mit Italien verschmolzen, so wie es die vielen anderen Fürstentümer und Stadtstaaten im neunzehnten Jahrhundert getan hatten.
Die Ceraldis waren lebensnotwendig für San Lucenzo. Sie waren für den Thronerben verantwortlich – und im Notfall für dessen Stellvertreter. Ricos Mund wurde zu einer schmalen Linie.
So verlangte es die Tradition. Und er war dieser Stellvertreter.
Sein ganzes Leben über hatte er gewusst, dass er nur wegen eines eventuell eintretenden Notfalls geboren worden war, um den Fortbestand der Linie der Ceraldis zu garantieren.
Aber Paolo … bei Paolo war es anders. Für ihre Eltern war er etwas Besonderes, ein unerwartetes Geschenk, geboren viele Jahre nach seinen beiden Brüdern. Paolo musste keine dynastische Funktion erfüllen und konnte deshalb nur Kind sein. Ein Sohn. Ein kleiner Junge mit einem fröhlichen Charakter, der sogar seinen puritanischen Vater und seine emotional distanzierte Mutter für sich eingenommen hatte.
Auch deshalb war sein frühzeitiger Tod eine solche Tragödie gewesen.
Rico ließ sich neben seinem Neffen auf den Boden gleiten. Ja, er war Paolos Sohn. Daran bestand nicht der geringste Zweifel. Ein DNA-Test war nicht nötig. Ein Blick auf ihn genügte, um zu erkennen, dass er ein Ceraldi war.
Benjamin. Der Gesegnete.
Wieder verspürte er einen Stich im Herzen. Ja, er war gesegnet. Noch wusste der Junge es nicht, aber bald. Und er war mehr als nur gesegnet, er war selbst ein Segen.
Der letzte Trost seiner Eltern für ihren Sohn, den sie auf so tragische Weise verloren hatten.
Lizzy zog sich zu einem Sessel zurück und setzte sich. Weil sie und Ben den Frühstücksraum für sich allein gehabt hatten, hatte sie gehofft, Prinz Enrico sei abgereist.
Sie versuchte, ihn nicht anzusehen, aber es war schwer, sich seiner überwältigenden Gegenwart zu entziehen. Selbst wenn in seinen Adern kein königliches Blut geflossen wäre, hätte man ihn unmöglich ignorieren können.
Bei Tag wirkte er noch größer. Das Licht, das durch die Fenster hereindrang, betonte seine Silhouette. Automatisch wurde ihr Blick von seinem verstörend guten Aussehen angezogen. Er trug Designerjeans und ein am Hals geöffnetes Hemd, offensichtlich maßgeschneidert. Sofort wurde ihr der Unterschied zu ihrer eigenen Kleidung bewusst. Ihr Rock und das Top aus einer preiswerten Ladenkette kosteten wahrscheinlich weniger als sein mit Monogramm verziertes Taschentuch.
Außer dem anfänglichen kurzen Nicken in ihre Richtung schenkte er ihr keinerlei Aufmerksamkeit. Prinz Enrico konzentrierte sich ganz auf Ben und den Bau ihres Turms.
Ben plauderte munter mit seinem Onkel, ohne das geringste Anzeichen von Schüchternheit erkennen zu lassen. In dieser Hinsicht ist er genau wie Maria, dachte Lizzy. Es schien ein Wunder zu sein, dass das sonnige Temperament ihrer Schwester nicht durch ihre Eltern verdorben worden war. Maria hatte immer gewusst, was sie wollte: Ein Model werden und ein aufregendes glamouröses Leben führen. Und genau das hatte sie getan. Mit einem glücklichen Lächeln hatte sie die Bestürzung ihrer Eltern ignoriert und war in ihr neues Leben getanzt.
Und zu dem Mann, den sie liebte.
Lizzy konnte es immer noch nicht glauben, dass ihre Schwester eine Affäre mit Prinz Paolo gehabt und niemand davon gewusst hatte.
Wie war ihnen das gelungen? Paolo musste ganz anders gewesen sein als sein Bruder. Auch wenn sie Prinz Enrico nicht erkannt hatte, hatte sie doch von ihm und seinem Ruf gehört. Der Playboy-Prinz. Einen Moment ließ sie ihren Blick auf ihm ruhen. Das richtige Äußere besaß er auf jeden Fall. Groß breite Schultern, schwarze Haare, ausgeprägte aristokratische Gesichtszüge.
Und die Augen.
Dunkel umrahmt von langen Wimpern, mit Sprenkeln von Gold, wenn man tief in sie hineinsah. Nicht dass sie das getan hätte … oder jemals tun würde.
Sie schaute weg. Sein Aussehen war vollkommen unwichtig. Alles, was sie interessieren sollte, war die Frage, wie lange sie und Ben sich noch hier verstecken mussten, bevor sie wieder nach Hause zurückgehen konnten.
Ben unterbrach die Bauarbeiten an seinem Turm. Neugierig sah er seinen Helfer an.
„Bist du wirklich mein Onkel?“
Sofort versteifte Lizzy sich.
„Ja“, erwiderte Rico. Er sprach sehr sachlich. „Du kannst mich Tio Rico nennen. Das bedeutet Onkel Rico. Dein Vater ist mein Bruder. Aber er ist gestorben. Zusammen mit deiner Mutter bei einem Verkehrsunfall.“
Ben nickte. „Ich bin in ihrem Bauch gewachsen. Als ich auf die Welt kam, ist sie gestorben.“
Der Prinz bedachte seinen Neffen mit einem vorsichtigen Blick. Mit angehaltenem Atem beobachtete Lizzy die beiden. Zu ihrer größten Erleichterung wechselte Ben das Thema.
„Der Turm ist fertig“, verkündete er. „Was machen wir jetzt?“
Rico erhob sich. „Es tut mir leid, Ben. So viel Zeit habe ich nicht mehr. Ich muss bald abreisen und vorher noch mit deiner Tante sprechen.“
Er blickte zu der angespannten Gestalt im Sessel hinüber. Hastig stand sie auf. Rico stellte fest, dass es ihm keinerlei Vergnügen bereitete, sie anzuschauen.
Wie konnte eine Frau so furchtbar aussehen? Die sackartigen Kleider, das ungeschminkte Gesicht und die krissligen Haare. Er wandte den Kopf ab. So bemerkte er nicht, wie sie heftig errötete.
„Folgen Sie mir bitte“, sagte er und ging auf eine Tür zu.
Rico betrat die Bibliothek und hielt höflich die Tür für Lizzy auf, die rasch an ihm vorbeieilte. Dann stellte er sich an den Kamin, während sie unbeholfen in der Mitte des Zimmers stehen blieb.
„Bitte nehmen Sie Platz.“
Seine Stimme klang kühl und distanziert. Sehr förmlich.
Lizzy versteifte sich noch mehr. Seine Unbeschwertheit, die er im Spiel mit Ben gezeigt hatte, war gänzlich verschwunden.
Worüber wollte er mit ihr reden? Hoffentlich sagte er einfach nur, wie lange sie noch mit Ben in diesem Haus ausharren musste.
Auf einem großen Ledersofa einige Meter vor dem Kamin nahm sie Platz. Der Prinz jedoch blieb stehen. Er wirkte nun noch größer. Lizzy wünschte sich, sie hätte sich nicht hingesetzt.
„Ich hoffe, Sie haben sich an die notwendigen Veränderungen gewöhnt. Es muss ein großer Schock für Sie gewesen sein, das muss ich zugeben.“
„Es fällt mir wirklich schwer, alles zu glauben“, hörte Lizzy sich sagen. „Wie um alles in der Welt hat Maria einen Prinzen kennengelernt?“
Prinz Enrico zog eine Augenbraue hoch. „Die Modelkarriere Ihrer Schwester wird sie in soziale Kreise geführt haben, die auch mein Bruder besucht hat.“
Lizzy verstand genau, was er meinte. Marias Leben hatte sich in einer ganz anderen Welt abgespielt als ihres.
„Da Ihnen nun jedoch die neue Situation bewusst ist, werden Sie einsehen, dass Bens Wohlergehen an erster Stelle stehen muss.“
Ihre Miene verhärtete sich. Glaubte er, sie würde an etwas anderes denken?
„Wie lange müssen wir hierbleiben?“
Der Prinz antwortete nicht sofort. Aber es war ihr egal, ob sie ihn mit ihrer vorschnellen Frage beleidigte oder ihm auf die Nerven ging. Mit ihm allein im selben Zimmer zu sein, weckte in ihr den Wunsch, die Zeit so kurz wie möglich zu halten.
„Die Nachricht wird wohl bald in den Klatschzeitungen erscheinen“, teilte er ihr angespannt mit. „Ich bezweifle, dass man sie noch länger zurückhalten kann. Aber wie lange die Geschichte überleben wird, hängt davon ab, mit wie vielen weiteren Informationen die Presse gefüttert wird.“
Lizzys Augen blitzten auf. Zielte die Bemerkung darauf ab, ob sie mit den Journalisten reden würde, wenn sie wieder nach Hause kam?
Doch Rico sprach bereits weiter.
„Die Zeitungen schreiben alle voneinander ab. Jede versucht, die andere zu übertrumpfen, indem sie jeweils eine neue enthüllende Komponente hinzufügt.“
Eine bittere Note hatte sich in seine Stimme geschlichen. Offensichtlich sprach er aus eigener Erfahrung. Einen Moment empfand sie Mitleid mit ihm, dann schob sie das Gefühl beiseite. Prinz Enrico von San Lucenzo war nicht zu seinem Playboy-Lebensstil gezwungen worden. Wenn es ihm nicht gefiel, von der Presse gejagt zu werden, sollte er nicht dieses Leben führen. Ben jedoch war ein unschuldiges Kind.
„Wie lange müssen wir hierbleiben?“, fragte sie noch einmal.
„So lange, wie es nötig ist. Mehr kann ich nicht sagen.“