Der Jet ging in den Sinkflug über. Rico konnte die Veränderung deutlich spüren.
„Wir landen gleich, Ben“, verkündete er.
Vollkommen fasziniert starrte Ben aus dem Flugzeugfenster auf die winzig klein aussehenden Felder, Täler und Flüsse unter ihnen. Bislang hatte er die Reise spielend gemeistert und – zu Ricos größter Erleichterung – Lizzy ebenfalls.
„Sind Sie wenigstens mit einem Besuch in San Lucenzo einverstanden?“, hatte er sie am nächsten Tag gefragt. „Damit meine Eltern und mein Bruder Ben kennenlernen? Ich muss Ihnen nicht sagen, wie sehr sie sich danach sehnen, ihn endlich zu treffen. Bitte verweigern Sie ihnen das nicht“, schloss er ruhig. „Für sie wird es ein sehr emotionaler Moment sein.“
Lizzy nickte. Zwischen ihnen hatte sich etwas geändert. Er wusste nicht, was es war, aber es war einfacher geworden, mit ihr zu sprechen. Auch sie schien weniger angespannt zu sein und sich in seiner Gegenwart nicht mehr ganz so unbehaglich zu fühlen.
Vielleicht, dachte er finster, war dieser emotionale Moment zwischen ihnen für die weitere Entwicklung gut gewesen.
Was auch immer es war, er war dankbar darüber. Dankbar, dass sie dieser Reise zugestimmt und endlich ihre Verweigerungshaltung aufgegeben hatte.
Am folgenden Morgen hatte er mit Luca telefoniert und ihm gesagt, dass sie am nächsten Tag nach San Lucenzo aufbrechen würden. Verheimlicht hatte er ihm allerdings, dass es nur ein Besuch sein würde, kein Aufenthalt für immer. In einem Gespräch unter vier Augen würde er ihm mitteilen, dass es keine Hochzeit geben würde. Es musste eine andere Lösung gefunden werden, eine, mit der Bens Adoptivmutter einverstanden wäre.
Luca war nicht sonderlich gesprächig gewesen, hatte kaum mehr wissen wollen, als dass Ben endlich nach San Lucenzo käme. Er hatte angespannt und beschäftigt gewirkt.
Nun, es war eine stressige Zeit, musste Rico zugeben. Ihr Vater war kein einfacher Mann. Und Rico empfand Mitleid mit seinem Bruder, weil dieser die volle Wucht seines Zorns abbekam. Was für ein Wunder Bens Existenz auch sein mochte, es musste ein Preis für sie bezahlt werden. Ein Preis, den sein Vater hasste: Die Aufmerksamkeit der Weltpresse richtete sich auf die privaten Angelegenheiten seiner Familie.
Die Stewardess betrat die Kabine und bat die Passagiere, die Sicherheitsgurte anzulegen. Beruhigend lächelte Rico Lizzy zu. Äußerlich schien sie sehr ruhig zu sein, aber er fragte sich, wie viel davon echt war.
Ben hingegen schien einfach nur glücklich zu sein.
Irgendwie unfassbar, dachte Rico. Für Ben war der Flug aufregender als die Neuigkeiten, die sie ihm gestern Nachmittag vorsichtig beigebracht hatten. Nämlich dass er ein Prinz war.
„Bekomme ich dann auch eine Krone?“, hatte seine einzige Frage gelautet. Zusammen mit der negativen Antwort hatte er jedes Interesse an der Neuigkeit verloren.
Als sie auf dem Flugfeld in den wartenden Wagen einstiegen, flammte sein Interesse kurz noch einmal auf. Die Motorhaube des Wagens war mit einer bunten Flagge geschmückt, und Ben wollte wissen warum.
„Das ist die Fahne deines Großvaters“, erwiderte Rico. „Er ist der Herrscher von San Lucenzo. Wir besuchen ihn und deine Großmutter und deinen anderen Onkel, von dem ich dir gestern erzählt habe.“
Der Wagen setzte sich in Bewegung. Ben unterhielt sich mit Rico, stellte ihm Frage um Frage. Neben ihnen saß Lizzy und zwang sich, gelassen zu bleiben.
Aber das fiel ihr sehr schwer.
Bereits in England, in der Abgeschiedenheit des sicheren Hauses, war es hart gewesen, Bens Herkunft anzuerkennen. Hier jedoch, in San Lucenzo, wurde die Realität auf einmal übermächtig.
Sie gehörte hier nicht her. Der Flug in einem luxuriösen Jet, eine Stewardess, die Bens Onkel beständig mit seinem Titel ansprach, der Bodyguard Gianni, der neben dem uniformierten Chauffeur in der königlich beflaggten Limousine saß … all das sagte ihr, dass sie nicht in diese Welt gehörte.
„Alles wird gut verlaufen. Vertrauen Sie mir.“
In Prinz Ricos leiser Stimme schwang Respekt mit, ja sogar Freundlichkeit, an die sie nicht gewöhnt war. Vielleicht weil sie endlich tat, was die Ceraldis wollten.
Aber es schien mehr als das zu sein.
Und Lizzy wusste warum: Er empfindet Mitleid mit mir. Er weiß, dass ich weiß, dass diese Hochzeitsidee einfach nur grotesk ist.
Eigentlich sollte sie von seiner Freundlichkeit peinlich berührt sein. Doch seltsamerweise hatte sie den gegenteiligen Effekt.
Sie blickte zu ihm hinüber und lauschte seinen geduldigen Antworten auf Bens Fragen. Ben fühlte sich in seiner Gegenwart ganz offensichtlich wohl – und Rico in Bens. Er behandelte seinen Neffen warmherzig und liebevoll.
Sorgenvolle Gedanken nahmen von ihr Besitz. Wenn er so mit Ben umging, bedeutete das, dass seine Eltern und sein Bruder es auch tun würden. Gut, sie waren Adlige … aber was machte das schon? Sie würden Ben lieben, weil sie seinen Vater liebten, und das war alles, was zählte.
Alles würde gut werden, daran musste sie glauben.
Und wenn nicht? Mehr als einem kurzen Besuch hatte sie nicht zugestimmt. Ben und sie waren englische Staatsbürger, sie sein gesetzlicher Vormund. Ohne ihre Einwilligung passierte gar nichts.
Wieder richtete sie ihren Blick auf Bens Onkel.
Er hatte ihr sein Wort gegeben.
Er war ein Prinz, er würde nicht leichtfertig etwas versprechen.
Die Scheiben der Limousine waren dunkel getönt, sodass die Insassen zwar hinaussehen, die Menschen draußen aber nicht zu ihnen hineinblicken konnten.
„Die Einwohner hier sind an die Wagen der königlichen Familie gewöhnt“, erklärte Rico, als sich das Fahrzeug langsam durch die schmalen Straßen der Stadt dem Palast näherte.
„Weiß sonst noch jemand von unserem Kommen?“, fragte Lizzy.
Rico schüttelte den Kopf. „Die Bürgersteige wären von Paparazzi belagert“, entgegnete er. „Soweit die Presse informiert ist, sind Sie und Ben immer noch in England. Irgendwann wird es eine offizielle Verlautbarung geben, in der sowohl Bens Existenz als auch Ihre bestätigt wird. Er wird als Paolos Sohn und Mitglied der Königsfamilie anerkannt werden. Aber mein Vater wird sich nicht zu einer überstürzten Aktion hinreißen lassen.“
Ihre Anspannung ließ noch ein wenig nach. Aber nicht viel.
Der Wagen passierte bereits die großen Tore des Palastes und fuhr über einen weitläufigen Innenhof. Das weiße, von Türmchen gesäumte Schloss wirkt, als wäre es aus Süßigkeiten für Kinder gemacht, dachte Lizzy. Die Wachen vor dem Tor trugen malerische Uniformen und Helme aus längst vergangenen Zeiten.
Am anderen Ende des mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Hofs hielt der Wagen vor einer hohen Eingangstür. Zwei Diener eilten aus dem Palast, einer öffnete die Tür des Wagens.
Zuerst stieg Prinz Enrico aus, er wandte sich um und half Ben, dann bot er Lizzy seine Hand an. Sie kletterte aus dem Wagen, ohne sie zu nehmen.
Nach der Fahrt in dem klimatisierten Wagen war es eine Wohltat, die warme mediterrane Luft in den Lungen zu spüren.
Doch schon betraten sie das Schloss, und die Kühle der marmornen Flure umfing sie. Mit Ben in der Mitte schritten sie durch die weitläufige Eingangshalle.
Ich bin in einem Palast, dachte Lizzy. Der Gedanke kam ihr bizarr und irreal vor.
Einer der Diener ging ihnen voraus, der andere folgte ihnen. Ben bestürmte seinen Onkel immer noch unentwegt mit Fragen. Verstohlen blickte Lizzy sich um, betrachtete die verzierten Wände und die vielen Nischen, in denen Statuen standen.
Vor ihnen befand sich eine riesige Treppe, deren Stufen mit einem Teppich in Königsblau belegt waren. Leichtfüßig ging Prinz Enrico hinauf.
Das ist sein Zuhause … er macht das jeden Tag seines Lebens, schoss es ihr durch den Kopf.
Ihr Gefühl von Irrealität wuchs. Ebenso nahm die Beklemmung zu, die wie ein schweres Gewicht auf ihr lastete.
Das Ende der Treppe führte zu einem weiteren, endlos wirkenden Flur. Auf einer Seite waren immer wieder doppelflüglige Türen sichtbar.
Überall konnte sie Marmor und goldene Ornamente sehen. Und über allem lag ein für Museen typisches Schweigen.
Aus einer Türöffnung trat ein Mann, den Lizzy gar nicht bemerkt hatte, und verbeugte sich leicht vor Prinz Enrico. Er trug einen Anzug, eine Brille verbarg seine Augen. Nach einem kurzen Blick auf Ben sprach er Rico an. Lizzy ignorierte er.
Was bin ich? Unsichtbar? Ihr scherzhafter Gedanke trug nur dazu bei, ihre Nervosität zu vergrößern.
Stirnrunzelnd erwiderte Rico etwas in scharfem Italienisch. Die Miene des anderen Mannes blieb ausdruckslos. Unlesbar.
„Mein Vater und meine Mutter möchten Ben zunächst allein treffen“, wandte Rico sich schließlich an Lizzy. „Bitte fassen Sie das nicht als Kränkung auf. In Ihrer Anwesenheit wären sie gezwungen, sich dem Protokoll gemäß förmlich zu verhalten. Ich hoffe, Sie verstehen das?“
Furcht flackerte in ihren Augen auf. Zu ihrer größten Verwunderung ergriff er ihre Hand.
„Es ist alles in Ordnung. Ich verspreche es.“
Seine Hand fühlte sich warm auf ihrer an. In seinen Augen schimmerte Verständnis und Mitgefühl.
„Vertrauen Sie mir“, sagte er leise. „Sie brauchen keine Angst zu haben.“
Langsam, sehr zögernd, nickte sie.
Rico ließ ihre Hand los.
„Man wird Sie zu Ihren Räumlichkeiten führen. Dort können Sie sich frisch machen und ein wenig ausruhen. Wenn ich mit Ben zurückkomme, zeige ich Ihnen den Palast.“
Er blickte zu Ben hinunter. „Wir treffen jetzt deine Großeltern, Ben, und deinen anderen Onkel. Danach holen wir deine Mummy ab und erforschen das Schloss. Es gibt hier eine Menge zu sehen.“ Er beugte sich verschwörerisch vor. „Sogar einen Geheimgang.“
Bens Augen weiteten sich. Er nahm die Hand seines Onkels, und die beiden marschierten los.
Lizzy sah ihnen nach.