Du sollst meine Prinzessin sein - Kapitel 6


~ Kapitel 6 ~

Der Jet ging in den Sinkflug über. Rico konnte die Veränderung deutlich spüren.

    „Wir landen gleich, Ben“, verkündete er.

    Vollkommen fasziniert starrte Ben aus dem Flugzeugfenster auf die winzig klein aussehenden Felder, Täler und Flüsse unter ihnen. Bislang hatte er die Reise spielend gemeistert und – zu Ricos größter Erleichterung – Lizzy ebenfalls.

    „Sind Sie wenigstens mit einem Besuch in San Lucenzo einverstanden?“, hatte er sie am nächsten Tag gefragt. „Damit meine Eltern und mein Bruder Ben kennenlernen? Ich muss Ihnen nicht sagen, wie sehr sie sich danach sehnen, ihn endlich zu treffen. Bitte verweigern Sie ihnen das nicht“, schloss er ruhig. „Für sie wird es ein sehr emotionaler Moment sein.“

    Lizzy nickte. Zwischen ihnen hatte sich etwas geändert. Er wusste nicht, was es war, aber es war einfacher geworden, mit ihr zu sprechen. Auch sie schien weniger angespannt zu sein und sich in seiner Gegenwart nicht mehr ganz so unbehaglich zu fühlen.

    Vielleicht, dachte er finster, war dieser emotionale Moment zwischen ihnen für die weitere Entwicklung gut gewesen.

    Was auch immer es war, er war dankbar darüber. Dankbar, dass sie dieser Reise zugestimmt und endlich ihre Verweigerungshaltung aufgegeben hatte.

    Am folgenden Morgen hatte er mit Luca telefoniert und ihm gesagt, dass sie am nächsten Tag nach San Lucenzo aufbrechen würden. Verheimlicht hatte er ihm allerdings, dass es nur ein Besuch sein würde, kein Aufenthalt für immer. In einem Gespräch unter vier Augen würde er ihm mitteilen, dass es keine Hochzeit geben würde. Es musste eine andere Lösung gefunden werden, eine, mit der Bens Adoptivmutter einverstanden wäre.

    Luca war nicht sonderlich gesprächig gewesen, hatte kaum mehr wissen wollen, als dass Ben endlich nach San Lucenzo käme. Er hatte angespannt und beschäftigt gewirkt.

    Nun, es war eine stressige Zeit, musste Rico zugeben. Ihr Vater war kein einfacher Mann. Und Rico empfand Mitleid mit seinem Bruder, weil dieser die volle Wucht seines Zorns abbekam. Was für ein Wunder Bens Existenz auch sein mochte, es musste ein Preis für sie bezahlt werden. Ein Preis, den sein Vater hasste: Die Aufmerksamkeit der Weltpresse richtete sich auf die privaten Angelegenheiten seiner Familie.

    Die Stewardess betrat die Kabine und bat die Passagiere, die Sicherheitsgurte anzulegen. Beruhigend lächelte Rico Lizzy zu. Äußerlich schien sie sehr ruhig zu sein, aber er fragte sich, wie viel davon echt war.

    Ben hingegen schien einfach nur glücklich zu sein.

    Irgendwie unfassbar, dachte Rico. Für Ben war der Flug aufregender als die Neuigkeiten, die sie ihm gestern Nachmittag vorsichtig beigebracht hatten. Nämlich dass er ein Prinz war.

    „Bekomme ich dann auch eine Krone?“, hatte seine einzige Frage gelautet. Zusammen mit der negativen Antwort hatte er jedes Interesse an der Neuigkeit verloren.

    Als sie auf dem Flugfeld in den wartenden Wagen einstiegen, flammte sein Interesse kurz noch einmal auf. Die Motorhaube des Wagens war mit einer bunten Flagge geschmückt, und Ben wollte wissen warum.

    „Das ist die Fahne deines Großvaters“, erwiderte Rico. „Er ist der Herrscher von San Lucenzo. Wir besuchen ihn und deine Großmutter und deinen anderen Onkel, von dem ich dir gestern erzählt habe.“

    Der Wagen setzte sich in Bewegung. Ben unterhielt sich mit Rico, stellte ihm Frage um Frage. Neben ihnen saß Lizzy und zwang sich, gelassen zu bleiben.

    Aber das fiel ihr sehr schwer.

    Bereits in England, in der Abgeschiedenheit des sicheren Hauses, war es hart gewesen, Bens Herkunft anzuerkennen. Hier jedoch, in San Lucenzo, wurde die Realität auf einmal übermächtig.

    Sie gehörte hier nicht her. Der Flug in einem luxuriösen Jet, eine Stewardess, die Bens Onkel beständig mit seinem Titel ansprach, der Bodyguard Gianni, der neben dem uniformierten Chauffeur in der königlich beflaggten Limousine saß … all das sagte ihr, dass sie nicht in diese Welt gehörte.

    „Alles wird gut verlaufen. Vertrauen Sie mir.“

    In Prinz Ricos leiser Stimme schwang Respekt mit, ja sogar Freundlichkeit, an die sie nicht gewöhnt war. Vielleicht weil sie endlich tat, was die Ceraldis wollten.

    Aber es schien mehr als das zu sein.

    Und Lizzy wusste warum: Er empfindet Mitleid mit mir. Er weiß, dass ich weiß, dass diese Hochzeitsidee einfach nur grotesk ist.

    Eigentlich sollte sie von seiner Freundlichkeit peinlich berührt sein. Doch seltsamerweise hatte sie den gegenteiligen Effekt.

    Sie blickte zu ihm hinüber und lauschte seinen geduldigen Antworten auf Bens Fragen. Ben fühlte sich in seiner Gegenwart ganz offensichtlich wohl – und Rico in Bens. Er behandelte seinen Neffen warmherzig und liebevoll.

    Sorgenvolle Gedanken nahmen von ihr Besitz. Wenn er so mit Ben umging, bedeutete das, dass seine Eltern und sein Bruder es auch tun würden. Gut, sie waren Adlige … aber was machte das schon? Sie würden Ben lieben, weil sie seinen Vater liebten, und das war alles, was zählte.

    Alles würde gut werden, daran musste sie glauben.

    Und wenn nicht? Mehr als einem kurzen Besuch hatte sie nicht zugestimmt. Ben und sie waren englische Staatsbürger, sie sein gesetzlicher Vormund. Ohne ihre Einwilligung passierte gar nichts.

    Wieder richtete sie ihren Blick auf Bens Onkel.

    Er hatte ihr sein Wort gegeben.

    Er war ein Prinz, er würde nicht leichtfertig etwas versprechen.

 

Die Scheiben der Limousine waren dunkel getönt, sodass die Insassen zwar hinaussehen, die Menschen draußen aber nicht zu ihnen hineinblicken konnten.

    „Die Einwohner hier sind an die Wagen der königlichen Familie gewöhnt“, erklärte Rico, als sich das Fahrzeug langsam durch die schmalen Straßen der Stadt dem Palast näherte.

    „Weiß sonst noch jemand von unserem Kommen?“, fragte Lizzy.

    Rico schüttelte den Kopf. „Die Bürgersteige wären von Paparazzi belagert“, entgegnete er. „Soweit die Presse informiert ist, sind Sie und Ben immer noch in England. Irgendwann wird es eine offizielle Verlautbarung geben, in der sowohl Bens Existenz als auch Ihre bestätigt wird. Er wird als Paolos Sohn und Mitglied der Königsfamilie anerkannt werden. Aber mein Vater wird sich nicht zu einer überstürzten Aktion hinreißen lassen.“

    Ihre Anspannung ließ noch ein wenig nach. Aber nicht viel.

    Der Wagen passierte bereits die großen Tore des Palastes und fuhr über einen weitläufigen Innenhof. Das weiße, von Türmchen gesäumte Schloss wirkt, als wäre es aus Süßigkeiten für Kinder gemacht, dachte Lizzy. Die Wachen vor dem Tor trugen malerische Uniformen und Helme aus längst vergangenen Zeiten.

    Am anderen Ende des mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Hofs hielt der Wagen vor einer hohen Eingangstür. Zwei Diener eilten aus dem Palast, einer öffnete die Tür des Wagens.

    Zuerst stieg Prinz Enrico aus, er wandte sich um und half Ben, dann bot er Lizzy seine Hand an. Sie kletterte aus dem Wagen, ohne sie zu nehmen.

    Nach der Fahrt in dem klimatisierten Wagen war es eine Wohltat, die warme mediterrane Luft in den Lungen zu spüren.

    Doch schon betraten sie das Schloss, und die Kühle der marmornen Flure umfing sie. Mit Ben in der Mitte schritten sie durch die weitläufige Eingangshalle.

    Ich bin in einem Palast, dachte Lizzy. Der Gedanke kam ihr bizarr und irreal vor.

    Einer der Diener ging ihnen voraus, der andere folgte ihnen. Ben bestürmte seinen Onkel immer noch unentwegt mit Fragen. Verstohlen blickte Lizzy sich um, betrachtete die verzierten Wände und die vielen Nischen, in denen Statuen standen.

    Vor ihnen befand sich eine riesige Treppe, deren Stufen mit einem Teppich in Königsblau belegt waren. Leichtfüßig ging Prinz Enrico hinauf.

    Das ist sein Zuhause … er macht das jeden Tag seines Lebens, schoss es ihr durch den Kopf.

    Ihr Gefühl von Irrealität wuchs. Ebenso nahm die Beklemmung zu, die wie ein schweres Gewicht auf ihr lastete.

    Das Ende der Treppe führte zu einem weiteren, endlos wirkenden Flur. Auf einer Seite waren immer wieder doppelflüglige Türen sichtbar.

    Überall konnte sie Marmor und goldene Ornamente sehen. Und über allem lag ein für Museen typisches Schweigen.

    Aus einer Türöffnung trat ein Mann, den Lizzy gar nicht bemerkt hatte, und verbeugte sich leicht vor Prinz Enrico. Er trug einen Anzug, eine Brille verbarg seine Augen. Nach einem kurzen Blick auf Ben sprach er Rico an. Lizzy ignorierte er.

    Was bin ich? Unsichtbar? Ihr scherzhafter Gedanke trug nur dazu bei, ihre Nervosität zu vergrößern.

    Stirnrunzelnd erwiderte Rico etwas in scharfem Italienisch. Die Miene des anderen Mannes blieb ausdruckslos. Unlesbar.

    „Mein Vater und meine Mutter möchten Ben zunächst allein treffen“, wandte Rico sich schließlich an Lizzy. „Bitte fassen Sie das nicht als Kränkung auf. In Ihrer Anwesenheit wären sie gezwungen, sich dem Protokoll gemäß förmlich zu verhalten. Ich hoffe, Sie verstehen das?“

    Furcht flackerte in ihren Augen auf. Zu ihrer größten Verwunderung ergriff er ihre Hand.

    „Es ist alles in Ordnung. Ich verspreche es.“

    Seine Hand fühlte sich warm auf ihrer an. In seinen Augen schimmerte Verständnis und Mitgefühl.

    „Vertrauen Sie mir“, sagte er leise. „Sie brauchen keine Angst zu haben.“

    Langsam, sehr zögernd, nickte sie.

    Rico ließ ihre Hand los.

    „Man wird Sie zu Ihren Räumlichkeiten führen. Dort können Sie sich frisch machen und ein wenig ausruhen. Wenn ich mit Ben zurückkomme, zeige ich Ihnen den Palast.“

    Er blickte zu Ben hinunter. „Wir treffen jetzt deine Großeltern, Ben, und deinen anderen Onkel. Danach holen wir deine Mummy ab und erforschen das Schloss. Es gibt hier eine Menge zu sehen.“ Er beugte sich verschwörerisch vor. „Sogar einen Geheimgang.“

    Bens Augen weiteten sich. Er nahm die Hand seines Onkels, und die beiden marschierten los.

    Lizzy sah ihnen nach.

„Signorina?“, sprach der Mann im Anzug sie an. „Ich werde Sie in Ihr Quartier bringen.“

 

Verwundert blickte Rico sich um. Das private Wohnzimmer seiner Eltern war leer. Man hatte ihm gesagt, er solle Ben sofort hierher bringen. Wo waren alle?

    „Rico … endlich.“

    Abrupt wandte er sich um. Aus einem der Nebenräume kam Luca. Sein Blick wanderte zu der kleinen Gestalt an Ricos Hand und verharrte dort für eine Weile.

    „Ja, seine Herkunft ist nicht zu leugnen. Er sieht Paolo wirklich ähnlich“, sagte er schließlich. „Wir haben schon geglaubt, du würdest ihn nie zu uns bringen.“

    „Wo sind unsere Eltern?“

    Spöttisch hob sein Bruder die Augenbrauen. „Heute tagt der Hohe Rat. Du weißt doch, unser Vater versäumt nie eine Versammlung. Und unsere Mutter begibt sich um diese Jahreszeit immer nach Andovaria für ihren vierzehntägigen Wellnessurlaub. Hast du das etwa vergessen?“

    Rico starrte ihn an. „Was? Di Finori hat mir gerade gesagt, ich soll Ben sofort herbringen.“

    „Selbstverständlich“, erwiderte Luca ungeduldig. „Wir mussten lange genug auf ihn warten. Aber“, fuhr er schmallippig fort, „endlich haben wir ihn. Also können wir jetzt alle entspannen.“ Seine Stimme veränderte sich. „Vor allem du. Armer Rico. Du hast tatsächlich den Kopf hingehalten, hast wirklich das ultimative Opfer erbracht … ein Eheversprechen. Und das bei so einer Braut! Ich habe sie eben auf den Überwachungskameras gesehen. Dio, wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte selbst ich noch einmal darüber nachgedacht, dir das anzutun. Aber es hat seinen Zweck erfüllt – wie ich es vorausgesehen habe. Sie muss deine Hand geschnappt haben, kaum dass du das Märchen von der Vernunftehe über die Lippen gebracht hast.“

    „Du hattest nie die Absicht, es mich tatsächlich tun zu lassen?“ Ricos Stimme war schneidend wie eine Messerklinge.

    Luca lachte kurz auf. „Schlag mich, wenn du willst, Rico, aber du hast uns keine andere Wahl gelassen. Ich musste sichergehen, dass du glaubst, du würdest sie wirklich heiraten müssen.“ Sein Mund wurde zu einer schmalen Linie. „Warum du dieser Lizzy Mitchell allerdings dein Wort gegeben hast, du würdest ihr den Jungen niemals wegnehmen, übersteigt meinen Verstand. Bei so etwas lügt man nicht. Aus diesem Grund wollte ich dich nicht in eine Position bringen, in der du wissentlich in Bezug auf dieses Eheversprechen lügen müsstest.“

    Etwas flackerte in Ricos Augen auf. „Ich habe ihr mein Wort gegeben. Sie vertraut mir.“

    „Schlechter Schachzug.“ Luca schüttelte den Kopf. „Du kannst froh sein, dass ich unserem Vater nichts davon erzählt habe. Ich habe ihm nur gesagt, wir hätten eine Lösung gefunden. Und jetzt können wir endlich mit diesem verdammten Chaos aufräumen.“

    Er richtete seinen Blick auf Ben, auf dessen Gesicht sich Verwirrung über das auf Italienisch geführte Gespräch abzeichnete. Dann sah er wieder seinen Bruder an.

    „Der persönliche Haushalt des Jungen steht bereit und wartet auf ihn“, sagte Luca in glattem geschäftsmäßigem Tonfall. „Zunächst wird er hier im Palast leben, wo die Sicherheitsmaßnahmen schärfer sind. Später wird er an einen abgelegeneren Ort gebracht, vielleicht irgendwo in den Bergen, um ihn der Weltöffentlichkeit zu entziehen. Wenn er älter ist, kann er auf ein Internat gehen, im Moment jedoch kümmern sich Kindermädchen und Erzieher um ihn. Es wird alles getan werden, um seine Anwesenheit so gut wie möglich zu verbergen.“ Luca stieß ein raues wütendes Schnauben aus. „Dio, was für ein grauenhaftes Durcheinander! Es war die Hölle, alles zu arrangieren, das kann ich dir versichern!“

    „Ich hatte das Gefühl“, meinte Rico, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, „dass ein Enkelsohn willkommen wäre.“

    Luca lachte humorlos. „Du hast zu viele romantische Geschichten in den Zeitungen gelesen. Natürlich ist das die Schlagzeile, auf die sich die Presse liebend gern stürzen wird. Rührselige Sentimentalitäten! Du glaubst doch nicht ernsthaft, unsere Eltern würden jemals die Nachricht begrüßen, dass Paolo Schande über sich – und uns – gebracht hat, indem er ein Flittchen geschwängert und dann geheiratet hat?“

    Rico zuckte die Schultern. „Es könnte schlimmer sein. Die Frau könnte noch leben. So wie es aussieht, gibt es nur noch die Tante. Was wird nun eigentlich aus ihr?“, fragte er beiläufig.

    „Im Moment wird sie in den Südturm gebracht. Später lassen wir sie als Persona non grata aus dem Fürstentum ausweisen. Sobald sie jenseits der Grenze ist, kann sie tun, was sie will. Sie wird den Jungen nicht zurückbekommen. Selbst wenn sich die Presse aus Gründen der Publicity auf ihre Seite schlägt, wird es Jahre dauern. Solange sie und der Junge in England lebten, waren uns die Hände gebunden. Das Gesetz stand auf ihrer Seite. Aber jetzt sieht die Sache anders aus. Sie befindet sich in unserem Machtbereich, und das ist es, was zählt. Sie ist erledigt. Und du, mein lieber Bruder“, in seinen Augen erschien wieder das vertraute sarkastische Funkeln, „bist frei und kannst deine gute Arbeit feiern. Mission erfüllt.“

    „Noch nicht ganz“, entgegnete Rico.

    Er ließ Ben los, ballte die rechte Hand zur Faust und schlug sie mit ganzer Kraft seinem Bruder an die Schläfe. Bewusstlos sackte Luca zu Boden.

    Ben rang nach Luft, aber Rico ergriff schon wieder seine Hand und zog ihn zur Tür.

    „Kleine Planänderung, Ben“, sagte er mit vor Wut belegter Stimme.

 

Die Korridore schienen kein Ende zu nehmen. Sie kam sich vor wie in einem Labyrinth. Nahezu willenlos folgte Lizzy dem Mann im Anzug, der mit einer Geschwindigkeit vor ihr herging, die ein bisschen zu schnell für sie war. Sie gingen Treppen hinauf, folgten noch mehr Fluren, dann wieder Treppen, die immer weiter nach oben führten.

    Mit jedem Korridor wurden die Verzierungen weniger prunkvoll. Schließlich erreichten sie einen Flur, der einem Palast vollkommen unangemessen schien und zudem den Eindruck von jahrelanger Unbenutztheit vermittelte. Auf dem Boden lag eine dünne Staubschicht, und die Luft roch muffig und abgestanden.

    „Signorina?“

    Der Mann hatte eine Tür geöffnet und wartete darauf, dass sie das Zimmer betrat. Lizzy zögerte einen Moment, doch dann, da sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, ging sie hinein. Der Raum erinnerte eher an ein billiges Hotel als an einen Palast. Die Möbel waren sehr schlicht, und ein schmutziges Fenster ging auf eine Art Ladezone hinaus.

    Ihr Koffer stand auf dem abgenutzten Teppich neben dem Bett.

    Es war ein Einzelbett. Verwirrt sah sie sich um. Ihr Blick fiel auf eine weitere Tür, doch als sie diese öffnete, sah sie sich einem kleinen fensterlosen Badezimmer gegenüber. Sie wirbelte herum.

    „Wo ist das Schlafzimmer meines Sohns?“, fragte sie in scharfem Tonfall.

    Doch der war vergebens. Die Tür zum Flur schloss sich bereits. Lizzy konnte nur noch ein leises Klicken hören.

    In ihrem Kopf begannen Alarmglocken zu schrillen. Hastig rannte sie zur Tür und rüttelte an der Klinke.

    Die Tür war verschlossen.

 

Der Korridor war schmutzig und offensichtlich seit Langem nicht mehr benutzt worden. Heftige Gefühle durchfuhren Rico, doch er drängte sie beiseite. Jetzt war nicht die Zeit dafür. Methodisch ging er den Gang entlang und drückte jede Türklinke nieder. Doch alle Türen führten in leere Räume. Früher mussten das die Quartiere der Dienerschaft gewesen sein.

    Die fünfte Tür ließ sich nicht öffnen. Er blieb stehen und lauschte. Es herrschte absolute Stille. Hatte sie versucht zu schreien? Oder hatte sie gewusst, dass es sinnlos sein würde? Hier würde sie niemand hören.

    Rico drückte noch einmal die Klinke nieder, versuchte die Stärke des Schlosses einzuschätzen und trat einen Schritt zurück.

    Es tat weh. In Filmen schien es nie wehzutun. Aber der stechende Schmerz in seiner Schulter, als sich die Tür krachend öffnete, war vollkommen irrelevant.

    Nicht jedoch die schmale Gestalt auf dem Bett. Selbst von der Türschwelle aus konnte er die Angst auf ihrem Gesicht sehen. Und die Tränenspuren.

    „Ich habe Ben, gehen wir.“ Sein Tonfall war drängend. „Uns bleibt keine Zeit. Wir müssen los. Sofort.“ Er sah ihr fest in die Augen. „Vertrauen Sie mir.“

    In ihren Augen lag eine Empfindung, die er nie wieder bei einer Frau sehen wollte. Zorn. Und glühende Verzweiflung. Abrupt setzte sie sich in Bewegung.

    „Wo ist er?“

    „Am Ende des Korridors und hält Wache. Er glaubt, alles sei ein Spiel. Er hat keine Ahnung, was passiert ist. Stellen Sie mir jetzt keine Fragen. Wir haben nur eine Chance, den Palast zu verlassen.“

    Wie lange würde Luca bewusstlos bleiben? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass wertvolle Minuten verstrichen. Es war, als sei er in zwei Persönlichkeiten gespalten. Die eine tobte vor Wut, die andere war tödlich ruhig. Im Moment behielt die Letztere die Oberhand.

    „Ben!“

    Rico sah, wie sich das Kind am anderen Ende des Flurs umdrehte.

    „Mummy … komm schon.“ Er winkte ihr aufgeregt zu.

    Der Palast war wie ein Irrgarten, aber Rico kannte ihn wie seine Westentasche. Er wusste, welche Flure am ehesten verlassen sein würden. Den Koffer in der einen Hand, Bens Hand in der anderen, marschierten sie durch die Gänge. Lizzy folgte ihnen. Keiner sprach. Jede Ecke bedeutete ein Risiko, doch sie gelangten unentdeckt zum Eingang zu seinen eigenen Gemächern.

    Fast unsanft schob er Ben und Lizzy hinein, zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte eine Nummer.

    Gott sei Dank, Gianni war in Position. Unmittelbar nachdem er Luca niedergeschlagen hatte, hatte er ihn angerufen und ihm einige Anweisungen erteilt. Er klappte das Handy zu und wandte sich an Ben.

    „Möchtest du jetzt den Geheimgang sehen?“, fragte er.

    Staunend öffnete Ben den Mund.

    „Hier ist er“, sagte Rico und ging zur gegenüberliegenden Wand hinüber, in die ein Kamin eingelassen war. Er tastete nach dem verborgenen Kopf, mit dem sich eine Tür öffnen ließ. Er hatte den Gang schon eine Weile nicht mehr benutzt, aber der Mechanismus funktionierte tadellos. Ein Teil der Wand schwang zur Seite und gab eine kleine Treppe frei.

    Plötzlich heiterte sich seine Laune für eine kurze Sekunde auf, und er musste grinsen.

    „Das ist der Grund, warum ich mir als Teenager diese Zimmer ausgesucht habe. Eine erstklassige Möglichkeit, Hausarrest zu umgehen. Und jetzt kommt.“

    Ben brauchte keine zweite Einladung. Er stürmte in den Geheimgang, während Rico das Licht einschaltete und hinter Lizzy die Tür wieder schloss.

    Der Gang führte auf eine kleine unbelebte Seitenstraße hinaus. Der Wagen wartete bereits. Trotz der getönten Scheiben bestand Rico darauf, dass sich Lizzy und Ben auf den Boden legten.

    „Fahren Sie“, befahl er Gianni.

    Erst als er sich in seinem Sitz zurücklehnte und spürte, wie Ben sich an seinem Bein festhielt, als erlebe er das großartigste Abenteuer aller Zeiten, kehrten seine unterdrückten Gefühle zurück.

    Ihre Stärke erschütterte ihn zutiefst.

 

In weniger als zwanzig Minuten erreichten sie die italienische Grenze.

    „Wir sind draußen“, sagte Rico. Er bückte sich und zog Ben zu sich auf die Sitzbank, dann seine Tante.

    „Was passiert nun?“, fragte Lizzy. Ihre Stimme klang ausdruckslos, aber Rico spürte dennoch das Zittern darin. Hörte die Furcht. Und die Angst.

    Er blickte sie an. Ihr Gesicht war bleich. Wieder wallten Gefühle in ihm auf, die er rücksichtslos verdrängte.

    „Wir suchen einen Priester“, antwortete er.


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