Fassungslos starrte Rico seinen Bruder an. Bereits am folgenden Morgen war er von ihm nach San Lucenzo zurückbeordert worden. Und gerade hatte Luca seine Bombe platzen lassen.
„Das ist ein Scherz, nicht wahr? Und er ist überhaupt nicht lustig.“
Der Kronprinz von San Lucenzo sah ihn mit leidenschaftslosen Augen an. Distanz aufbauen kann er gut, dachte Rico wütend. Er ist großartig darin, irrsinnige Ideen als Banalität zu verkaufen.
„Es würde unser Problem lösen.“
„Bist du verrückt? Es geht dabei nicht darum, ein Problem zu lösen, sondern um mein Leben! Und ich werde es nicht aus diesen Gründen opfern.“
„Es ist ja kein dauerhaftes Opfer. Außerdem hast du doch gesagt, du magst den Jungen.“
Ricos Augen blitzten vor Zorn. „Das bedeutet nicht, dass ich …“
Sein Bruder hob eine Hand. „Ja, ich verstehe. Aber hör mir zu, Rico … welche andere Möglichkeit bleibt uns? Sie ist der gesetzliche Vormund von Paolos Sohn, und sie wird das Kind nicht aufgeben. Die einzige Chance, unseren Neffen zu bekommen, ist, sie ebenfalls aufzunehmen. Aber wie? Es ist unmöglich, dass eine englische unverheiratete Mutter, eine Bürgerliche, hier im Palast wohnt und die Verantwortung für ein Kind hat, das zufällig unser Neffe und demnach ein königlicher Prinz ist.“ Seine Miene verhärtete sich. „Das würde ernsthafte Probleme mit dem Protokoll und der Sicherheit bedeuten. Mein Vorschlag umgeht all diese Schwierigkeiten.“ Dann änderten sich sein Tonfall und sein Gesichtsausdruck. „Ich muss dir nicht erst sagen, dass unser Vater deine Kooperationsbereitschaft sehr schätzen würde. Wir sprechen über ein Jahr, Rico, vielleicht achtzehn Monate. Das ist alles. Genug, um den Schein zu wahren und alles abzusichern.“
Sein Blick ruhte auf seinem jüngeren Bruder.
„Du wolltest immer einen aktiveren Part in den Angelegenheiten von San Lucenzo übernehmen, wolltest Verantwortung. Dein ganzes Leben lang hast du dich darüber beschwert, lediglich der Stellvertreter zu sein. Jetzt ist es so weit. Niemand außer dir kann es tun, Rico. Nur du. Und du weißt es.“
Einen endlosen Moment erwiderte Rico den durchdringenden Blick seines Bruders, dann wandte er den Kopf ab.
„Dafür sollst du in die Hölle kommen, Luca.“
Spöttisch hob Luca die Augenbrauen. „Verfluch mich, soviel du magst – aber tu es für uns“, erwiderte er kühl.
„Ich tue es für Paolo“, entgegnete Rico frostig.
Der schnittige Wagen legte die Meilen zwischen Flughafen und dem gemieteten Haus mit hohem Tempo zurück. Aber für Rico war es immer noch zu langsam. Er wollte schneller fahren, viel schneller.
Und in die andere Richtung.
Stattdessen steuerte er direkt auf einen Käfig zu. Er würde seinen Kopf in eine Schlinge stecken und zulassen, dass sie zugezogen wurde.
Seine Stimmung war finster. Auf dem Beifahrersitz saß Captain Falieri und schwieg. Rico war dankbar dafür. Entweder Luca oder sein Vater hatten den Captain in ihre Pläne eingeweiht, deshalb wusste er genau, was Rico vorhatte.
„Sagen Sie mir, dass ich verrückt bin“, befahl er.
„Was Sie zu tun gedenken, macht durchaus Sinn“, erwiderte Falieri ruhig.
„Wirklich?“, entgegnete Rico bitter. „Bitte erinnern Sie mich ab und zu daran.“
„Sie tun es für den Jungen“, meinte Falieri. „Und für Ihren verstorbenen Bruder.“
„Erinnern Sie mich auch daran …“
Er trat heftig auf die Bremse, legte einen anderen Gang ein und lenkte den Wagen um eine Kurve.
Weiter auf die Schlinge zu.
Ben begrüßte ihn mit einem freudigen Aufschrei. Rico hob ihn hoch. Der Junge legte die Arme um seinen Nacken und drückte sich gegen seine Brust. Das harte, enge Band um sein Herz schien sich ein wenig zu lösen.
Ich kann es tun. Für Paolo. Für Ben, schoss es ihm durch den Kopf.
Vorsichtig ließ er seinen Neffen wieder zu Boden gleiten. Sein Blick wanderte an ihm vorbei zu der Gestalt, die hinter dem Jungen stand und die wie immer völlig fehl am Platz wirkte.
Dio, sie sah furchtbarer aus denn je. Ihre Haut war gerötet, das Haar spröde und krisslig. Sie trug verschlissene Hosen aus Baumwolle und ein schlecht sitzendes Top.
Widerwille stieg in ihm auf.
Doch er schob das Gefühl beiseite. Er hatte dem Plan zugestimmt, und nun gab es kein Entkommen mehr. Vielleicht war er verrückt, aber er hatte es versprochen.
Und es machte keinen Sinn, es noch länger hinauszuzögern. Er musste es jetzt tun, bevor er kalte Füße bekam. Also sah er sie direkt an.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte er.
Sie zuckte halbherzig mit den Schultern und wich seinem Blick aus. Sie schaut mir nie in die Augen, fiel ihm auf. Außer, als sie ihn angeschrien hatte, dass sie Bens Mutter war und niemals zulassen würde, dass man ihr Ben wegnahm.
„Wie hat Ihr Vater die Nachricht aufgenommen?“, Lizzy schluckte. „Dass ich mich niemals von Ben trennen werde?“
„Eine andere Lösung der Situation ist gefunden worden.“
Ihre Augen blitzten auf. „Alles, was eine Trennung von mir und Ben beinhaltet …“
Er hob eine Hand und brachte sie zum Schweigen.
„Das wird nicht passieren. Jedoch ist hier nicht der richtige Ort, um die Angelegenheit zu besprechen.“ Er warf einen vielsagenden Blick auf Ben, der zurück zu seiner Eisenbahn gegangen war und sich mit den Gleisen beschäftigte. „Haben Sie schon zu Abend gegessen?“
„Ja, mit Ben zusammen.“
„Nun, ich noch nicht. Also schlage ich vor, ich hole das nach, während Ben sein Bad nimmt. Sobald er eingeschlafen ist, werden wir uns über seine Zukunft unterhalten.“
In ihren Augen erschien ein nervöser Ausdruck, und sie wandte den Kopf ab. In diesem Moment meldete sich Ben zu Wort.
„Die neue Strecke ist fertig. Komm und spiel mit mir“, lud der Junge seinen Onkel ein. „Fahren wir ein Rennen.“
Rico grinste, seine Miene hellte sich auf. „Ein Rennen? Dann mach dich darauf gefasst zu verlieren, junger Mann.“
Er erntete einen schiefen Blick. „Du Dummer. Ich habe doch den Schnellzug“, erklärte Ben ihm mitleidig.
Aus dem Augenwinkel sah Rico, wie Lizzy aus dem Zimmer schlüpfte. Er setzte sich auf den Boden, um mit seinem Neffen zu spielen. Alles war viel einfacher, wenn sie nicht in der Nähe war.
Dann fiel ihm sein Versprechen wieder ein. Sein Herz wurde schwer wie ein Stein.
Ben war eingeschlafen. Normalerweise würde Lizzy jetzt ebenfalls ein Bad nehmen und dann in ihrem Bett lesen, bis der Schlaf sie übermannte. Ben war ein Frühaufsteher, also kam Ausschlafen sowieso nicht infrage.
Heute Abend jedoch musste sie wieder nach unten gehen.
Und mit dem Prinzen sprechen.
Sie hatte keine Ahnung, wie seine neue Lösung aussehen sollte.
Er erwartete sie im Salon und starrte aus dem Fenster in den nächtlichen Garten hinaus. In der Hand hielt er ein Glas Brandy, wie Lizzy bemerkte.
Und sie bemerkte noch etwas, das sie sofort beiseiteschieben wollte. Doch das war unmöglich.
Unmöglich für sie und jede andere Frau auf der Welt. Es war schlicht unmöglich zu ignorieren, dass er der atemberaubendste Mann war, den sie je gesehen hatte.
Ein Gefühl der Verlegenheit breitete sich in ihr aus. Es schien falsch zu sein, dass sie sich seines Aussehens so überaus bewusst war.
Und mit diesem nachdenklichen Gesichtsausdruck wirkte er noch anziehender.
Er wandte sich um, als sie das Zimmer betrat. Sofort röteten sich ihre Wangen, wie sie es immer taten, wenn sie seinen Blicken ausgesetzt war.
Sie fühlte sich hässlicher denn je, wenn er sie so ansah, und wusste nicht, was sie dagegen tun konnte. Innerlich flehte sie ihn an, seinen Blick abzuwenden.
„Möchten Sie sich nicht setzen?“
Unbehaglich nahm Lizzy auf dem Sofa Platz. Der Prinz durchquerte den Raum und ließ sich ihr gegenüber nieder. Einen Moment schwenkte er sein Brandyglas und blickte es aufmerksam an. Dann hob er den Kopf.
„Ich weiß, es fällt Ihnen schwer zu akzeptieren, was passiert ist“, setzte er langsam und vorsichtig an, „aber ich hoffe, Sie begreifen allmählich die Situation, in der Sie sich befinden. Und Sie verstehen, dass Bens Leben nicht so weitergehen kann wie bisher.“
Sie öffnete den Mund, um zu antworten, aber er war noch nicht fertig.
„Hören Sie mich an, bevor Sie etwas sagen.“ Er atmete tief ein. „Wie gesagt, ich weiß, dass das alles schwer zu akzeptieren ist, aber Sie müssen … Ihnen bleibt keine andere Wahl. Ben ist nicht mehr der Junge, für den Sie ihn hielten. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, Sie können seine Herkunft nicht leugnen. Ben ist ein Prinz des Hauses Ceraldi. Auf dieser Tatsache muss sich seine Zukunft gründen.“ Wieder atmete er scharf ein. „Und das bedeutet, dass sein altes Leben vorbei ist. Er muss nach San Lucenzo kommen. Mit Ihnen.“
Sie war blass geworden. Ihr Atem ging ungleichmäßig. Zumindest unterbrach sie ihn nicht mehr. Rico nahm einen weiteren Schluck Brandy. Der Alkohol brannte in seiner Kehle.
„Es gibt einen einfachen Ausweg. Zugegeben, es ist eine drastische Lösung, doch unter den gegebenen Umständen bleibt uns keine andere Möglichkeit.“
Kälte stieg in ihm auf und drohte, seine Füße in Eis zu verwandeln. Er musste es sagen – jetzt. Bevor er aufstand und wegrannte. Rannte, als seien alle Teufel der Hölle hinter ihm her.
Er blickte die Frau an, die ihm gegenübersaß. Eine Frau, die ihm völlig fremd war. Aber zu der er die folgenden Worte gezwungenermaßen sagen musste.
„Wir heiraten“, stieß er hervor.