Die Schöne und der Bastard - Kapitel 11

~ Kapitel 11 ~

„Ich verstehe das nicht, Aldys.“

„Lord Soren hat es so befohlen“, erklärte ihre Dienerin.

Das ergab einfach keinen Sinn. In ihren Gemächern konnte sie schon kaum etwas tun, aber außerhalb war sie zu gar nichts zu gebrauchen. Außerdem gefiel ihr die Vorstellung nicht, sich auf eine würdelose Weise vor den Menschen zu zeigen, die ihr und ihrer Familie über Jahre hinweg gedient hatten. Vor allem aber wollte sie nicht unter Leuten sein, wenn sie nicht wusste, von wie vielen Menschen sie umgeben war und um wen es sich im Einzelnen handelte.

„Ich kann das nicht“, entschied sie.

„Mylady, Ihr müsst. Ich fürchte mich vor dem, was geschehen könnte, wenn Ihr hier in Euren Gemächern bleibt.“

Sybilla suchte nach einem Grund, wieso sie auf einmal ihr Quartier verlassen sollte, da wurde an der Tür geklopft. Ihre Dienerinnen stießen erschreckte Laute aus, und Sybilla begann unwillkürlich zu zittern. Fürchteten die beiden, ihr könnte etwas zustoßen? Aber was denn nur? Sie hörte, wie Aldys den Besucher mit sehr leiser Stimme begrüßte und ihn ins Zimmer bat.

„Ich wünsche Euch einen guten Morgen, Lady Sybilla. Ich bin es, Guermont“, fügte er dann noch an, damit sie auch sicher wusste, wer vor ihr stand. Taktvoll und zurückhaltend, so wie seine ganze Art.

„Guermont.“ Sie begrüßte ihn mit einem Nicken.

„Lord Soren bittet Sie, nach draußen auf den Hof zu kommen und die wärmende Sonne zu genießen, solange noch keine Wolke am Himmel zu sehen ist“, lud er sie ein.

„Das kann ich nicht, Sir. Bitte richten Sie das Ihrem Herrn aus“, erwiderte sie in – wie sie hoffte – ruhigem Tonfall. Dann auf einmal begannen ihre Hände zu zittern, und ihre Finger zerknitterten das Stück Pergament, das sie festhielt.

„Mylady, ich bedauere, aber ich kann nicht ohne Euch zu ihm zurückkehren“, machte er ihr klar. „So lauten meine Befehle.“

„Aldys, erkläre doch bitte Guermont, wieso es mir nicht möglich ist, seiner Einladung nachzukommen. Ich kann nichts sehen. Ich kann keine Treppe heruntergehen, ich kann mich außerhalb meiner Gemächer nirgendwohin bewegen.“ Sie hörte selbst, wie verzweifelt sie klang. Ob die anderen es auch hörten? „Bittet Euren Herrn, mir zu gestatten, hier in meinen Gemächern zu bleiben, bis mein Augenlicht zurückgekehrt ist.“

Die nachfolgende Stille sagte ihr mehr als noch so viele Worte. Keiner von ihnen glaubte daran, dass sie wieder würde sehen können. Sie selbst konnte und wollte eine solche Möglichkeit gar nicht erst in Erwägung ziehen. Beharrlich schüttelte sie den Kopf.

„Mylady, ich kann Euch anbieten, an meiner Seite zu gehen und Euch die Treppe hinunterzuführen. Wenn Ihr Euch weigert, werde ich Euch nach unten tragen, ganz gleich, ob Ihr das schweigend oder laut schreiend über Euch ergehen lasst. Ihr habt die Wahl.“

Der gleichmütige Tonfall des Mannes täuschte darüber hinweg, dass er jedes Wort ernst meinte. Sybilla versagte vor Entsetzen die Stimme. Warum wollte Lord Soren sie vor allen Leuten demütigen? War das seine Bestrafung, weil sie ihn darum gebeten hatte, ins Kloster gehen zu können? War er von ihrer Reaktion auf seinen Kuss so angewidert, dass er sie dafür in aller Öffentlichkeit erniedrigen wollte?

„Hier, Lady Sybilla“, sagte Guermont, während er ihr das Pergament abnahm und ihre zitternden Hände um seinen Arm legte. „Lasst mich Euer Begleiter sein.“

Das Kettenhemd drückte sich in ihre Haut, als sie seinen Arm fest umklammert hielt. Sogar jetzt, da der Angriff auf ihre Feste schon eine Weile zurücklag, trug er immer noch diese Art von Schutz. Galt das auch für Soren?

In ihre Überlegungen vertieft, verlor sie den Bezug dazu, wo sie sich eigentlich befand. Unerwartet blieb Guermont stehen. „Mylady, wir werden immer nur eine Stufe nach der anderen die Treppe hinuntergehen. Wenn ich zu schnell bin, sagt es einfach, dann werde ich langsamer gehen.“

Die Stufen, derentwegen sie früher nie langsamer geworden war, lauerten nun wie ein unendlich tiefer Abgrund vor ihr. Sybilla kam sich vor, als würde sie über einen Brunnenschacht gebeugt stehen und nur darauf warten, in die schwarze Tiefe zu stürzen.

Plötzlich machte er einen Schritt und zog Sybilla mit sich nach unten.

„Vielleicht sollten wir die Stufen zählen, damit Ihr wisst, wie viele es sind“, schlug er vor.

„Mylady hat ihr ganzes Leben hier verbracht“, raunte Aldys ihm aufgebracht von hinten zu. „Glaubt Ihr, sie weiß nicht, wie viele Stufen es sind?“

Aber Sybilla hatte zuvor nie wissen müssen, wie viele Stufen ihre Gemächer vom Saal trennten. Da ihre Kehle wie zugeschnürt war und sie keinen Ton herausbrachte, nickte sie nur und hoffte, Guermont sah zu ihr. Als er gleich darauf zu zählen begann, wusste sie, dass er ihr Nicken bemerkt hatte. Bei zwanzig angekommen, blieb er stehen. Durch die Anstrengung und die Angst vor einem Sturz war sie außer Atem. Sie bemühte sich, Luft zu holen und wartete auf den nächsten Schritt.

„Im Saal hat man die Streu weggefegt, und alle Tische wurden aus dem Weg geräumt, Mylady“, berichtete Guermont. „Wir haben jetzt zwanzig Stufen zurückgelegt, aber ich vermute, es sind noch einmal doppelt so viele Schritte notwendig, bis wir draußen ankommen.“ Er gab ihr Hinweise auf den vor ihr liegenden Weg und auf die Veränderungen, die von den Normannen vorgenommen worden waren. „Wir werden langsam weitergehen, damit Ihr Euch orientieren könnt, Mylady.“

Und dann ging es weiter. Guermont legte seine Hand auf ihre und führte sie wieder, wobei er so leise zählte, dass außer ihr niemand etwas davon hören konnte. Nach nur ein paar Schritten geschah es.

Zuerst hörte sie, wie alle im Saal mit erstaunten Ausrufen reagierten, als sie Sybilla sahen, dann wurde ihr Name getuschelt, zunächst ganz leise, schließlich lauter, bis er von allen Seiten widerhallte. Sybilla geriet ins Stocken.

„Man freut sich, Euch zu sehen, Lady Sybilla“, beschrieb Guermont ihr die Szene.

„Wissen sie, dass ich … dass ich sie nicht sehen kann?“ Sie musste es fragen, weil Aldys und Gytha nie ein Wort darüber verloren hatten, was sie anderen über ihren Zustand erzählten. Sie wusste nicht, ob man sie für eine Gefangene hielt, oder ob man vielleicht sogar glaubte, sie sei tot.

„Aye, Mylady. Alle wissen über das Ausmaß Eurer Verletzung Bescheid. Viele von ihnen haben sogar in der Kapelle für Eure Genesung gebetet.“

Ihr stockte der Atem, Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie hatte befürchtet, dass man ihr die Schuld an der Situation geben würde, in der sie alle sich befanden. Wäre sie nicht so dumm gewesen, Gareth entscheiden zu lassen, dass sie sich gegen die Normannen wehren sollten, dann würden sie jetzt nicht um ihre Toten trauern müssen.

Sybilla zwinkerte und versuchte ihre Tränen aufzuhalten, aber die liefen ihr bereits über die Wangen. Als jemand ihr Kleid anfasste, ein anderer ihren Arm berührte und von allen Seiten ihr Name geflüstert wurde, gab es für ihre Tränen überhaupt kein Halten mehr. Guermont zählte währenddessen unbeirrt die Schritte, und als er bei dreiundvierzig angekommen war, blieb er stehen.

„Etwas mehr als vierzig Schritte, Mylady, und schon stehen wir an der Tür zum Hof. Wollt Ihr erst noch einmal durchatmen, bevor wir nach draußen gehen?“

Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und räusperte sich. Niemals hätte Sybilla eine solche Reaktion erwartet, weder von den Menschen noch von sich selbst. Überwältigt schüttelte sie den Kopf.

„Nein, Guermont, ich bin bereit. Gehen Sie voran“, antwortete sie.

„Wie Ihr wünscht, Mylady.“

Die Scharniere knarrten, als die Tür aufging, und gleich darauf stand Sybilla zum ersten Mal seit dem Angriff auf ihre Feste wieder unter freiem Himmel. Die Sommersonne schien angenehm warm auf ihr Gesicht, und auf dem Weg aus den Schatten im Saal musste sie kurz stehen bleiben, um Gott zu bitten und anzuflehen, sie doch wieder das Sonnenlicht sehen zu lassen. Es hätte ja schon genügt, nicht nur dieses unerbittliche Schwarz sehen zu müssen, sondern wenigstens ein paar hellere Schattierungen.

„Mylady?“, fragte Guermont leise, als hätte er den Grund für ihr kurzes Innehalten verstanden. Aber er konnte es nicht verstehen.

Nichts.

Das vollkommene Nichts lag vor ihr.

Kein Licht, kein Schatten, gar nichts.

Sybilla ließ sich weiter auf den Hof führen. Dort waren Leute, denn sie konnte die Stimmen von Männern, Frauen und sogar Kindern hören. Der Duft von blühendem Geißblatt stieg ihr in die Nase, als sie einatmete und dabei versuchte, nicht über die Enttäuschung nachzudenken, die sie verspürte. Die Erde unter ihren Füßen, die Bäume und Blumen trugen alle ihren Teil zu der Fülle an Aromen bei, die die Luft erfüllten.

„Da drüben unter dem Baum nahe der Mauer steht eine Bank“, sagte Guermont. „Dort könnt Ihr die Wärme der Sonne spüren, sitzt aber trotzdem im Schatten, Mylady. Bis dahin dürften es noch einmal vierzig Schritte sein.“

Er führte sie gut und sorgte dafür, dass sie ohne Zwischenfälle die Bank erreichten. Eine kurze Bemerkung, wenn der Untergrund uneben war, eine weitere, wenn sie um eine Pfütze herumgehen mussten. An der Bank angekommen, nahm er ihre Hand von seinem Arm, drehte sich um und half ihr sich hinzusetzen. Aldys machte sich bemerkbar, um sie wissen zu lassen, dass sie auch in der Nähe war.

Sybilla musste erst einmal wieder zu Atem kommen, und es erstaunte sie, wie anstrengend diese kurze Strecke gewesen war. Früher hatte sie diesen Weg viele Male am Tag genommen, und bislang hatte sie das nicht als so kräfteraubend empfunden, dass ihr die Luft wegblieb. Aber sie hatte schon so lange Zeit nur in ihren Gemächern gesessen und den ganzen Tag über nichts getan, dass diese eigentlich unbedeutende körperliche Betätigung für sie nun so strapaziös ausfiel. Aber auch wenn es mühsam gewesen war, den Weg bis hierher zur Bank zurückzulegen, musste sie versuchen, sich für die nächste Herausforderung zu wappnen – eine weitere Begegnung mit Lord Soren, und das so kurz nach dem Debakel am Abend zuvor.

Sie konnte nur hoffen, dass er sie nicht hier demütigen würde, wo jeder zusah. Aldys reichte ihr ein Leinentuch, mit dem sie sich übers Gesicht wischte. Zum ersten Mal seit Tagen verspürte sie Durst, und dabei fiel ihr auf, dass ihre Dienerin nicht wie sonst üblich unentwegt versuchte, ihr etwas zu essen oder zu trinken aufzudrängen. Sie hätte nach etwas Wasser gefragt, doch in diesem Moment kam am anderen Ende des Hofs Unruhe auf, die schnell lauter wurde. Was nur bedeuten konnte, dass Lord Soren auf dem Weg zu ihr war.

Befehle wurden gerufen, hastige Schritte zeugten davon, dass Soldaten loseilten, um diese Befehle auszuführen. Leute schrien und riefen ihren Namen. Es war so, als würde sie noch einmal den Tag des Angriffs miterleben, nur diesmal viel schlimmer, da sie nichts sehen konnte.

„Ist das Lord Soren?“, fragte sie. Als niemand antwortete, rief sie gereizt: „Kann mir bitte jemand sagen, was los ist?“

„Einige Gefangene versuchen, zu Euch zu gelangen“, beschrieb Guermont die Szene. „Aber die Wachen wollen sie daran hindern.“

„Gefangene?“, wiederholte sie, dann erst wurde ihr klar, dass von ihren Leuten, ihren Soldaten die Rede war. „Aldys! Sag ihnen, sie sollen sofort damit aufhören, bevor er …“ Weiter kam sie nicht, da er sich laut zu Wort meldete.

„Stephen!“, rief Soren. „Lass sie zu ihr gehen!“

 

Einmal mehr kapitulierte er in ihrer Gegenwart, was sich allem Anschein nach zu einer Angewohnheit entwickelte. Soren nickte Stephen zu, der seinerseits den Wachen den Befehl erteilte, die Gefangenen nicht länger aufzuhalten. Die zögerten zunächst, weil sie wohl Vergeltungsmaßnahmen für ihren Ungehorsam befürchteten. Doch dann führte Gareth sie über den Hof zur Bank, auf der Sybilla saß. Nur Augenblicke später war sie von einer Menschenmenge umgeben, immer wieder fiel ihr Name, während jeder versuchte, ihre Hand oder zumindest ihr Kleid zu berühren.

Guermont stand unverrückbar neben ihr, damit er nicht um ihre Sicherheit bangen musste. Nicht dass er um sie besorgt gewesen wäre, doch bei Gefangenen durfte man nicht darauf vertrauen, dass sie stets harmlos waren, weil sie immer nach einem Weg suchten, wie sie sich von ihren Ketten befreien konnten.

Ihm fiel auf, dass Gareth sich vor ihr hingekniet hatte und sich nicht von der Stelle rührte, während andere zu ihr gingen, sie begrüßten und dann Platz für den Nächsten machten. Soren blieb in der Nähe der Ställe stehen und beobachtete das Treiben.

„Eine kluge Machtdemonstration“, sagte Larenz, als er sich ihm näherte. „Und eine gute dazu.“

Von der Bemerkung überrascht, drehte sich Soren zu ihm um. Von Larenz hatte er viel gelernt, was ein Ritter beherrschen musste, um auf dem Schlachtfeld zu kämpfen und zu siegen. Simon, jetzt der Count of Rennes, hatte ihm in Anerkennung seiner langjährigen Dienste für das Haus Rennes angeboten, einem der drei Treue zu schwören. Aus irgendeinem Grund war Larenz’ Entscheidung auf ihn gefallen.

Der alte Mann war nach der Schlacht bei ihm geblieben und hatte ihn durch sein schreckliches Martyrium begleitet. Larenz hatte ihn in seinen besten und in seinen schlechtesten Zeiten erlebt, und jetzt war er auch dabei, als Soren vor einem Scheideweg stand, bei dem ihm selbst nicht klar war, wohin die verschiedenen Wege führten. Da ihm dies Unbehagen bereitete, wechselte er schnell das Thema.

„Wie geht es dem Jungen?“, fragte er.

„Er ist ein guter Junge, Soren“, antwortete Larenz und betrachtete interessiert das Schauspiel am anderen Ende des Hofs. „Eine weitere gute Entscheidung von dir.“

„Wo ist er? Seit gestern Morgen habe ich ihn nicht mehr gesehen.“

Als Larenz zu lachen begann, sah sich Soren einem weiteren Augenblick der Wahrheit gegenüber. „Du weißt, dass er die falsche Botschaft überbracht hat?“

„Aye, Soren, das weiß ich.“ Larenz deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung der Ställe. „Er versteckt sich vor deinem Zorn.“

Soren atmete schnaubend aus und warf Larenz einen wütenden Blick zu. War hier eigentlich jeder der Meinung, er würde ein Kind foltern wollen?

„In den letzten Monaten hast du kein großes Interesse daran gezeigt, Gnade walten zu lassen, Soren. Jeder, der dir heute dient, kennt deine Pläne und weiß, welche Methoden du anwendest, um sie in die Tat umzusetzen.“

„Du setzt viel aufs Spiel, alter Mann, wenn du an deine eigenen Worte glaubst“, warnte Soren ihn, ballte die Hände zu Fäusten und ärgerte sich über das Verhalten dieses Mannes. Er hatte gewusst, was vorgefallen war, und trotzdem hatte er weder versucht, diese Entwicklung abzuwenden, noch hatte er Soren eine Warnung zukommen lassen. „Warum hast du mir nichts gesagt?“

„Weil es an der Zeit ist, Soren“, antwortete Larenz ruhig. „Weil es an der Zeit ist, dass du sie zu deiner Frau machst.“

Bei jeder anderen Sache hätte er auf den Rat dieses Mannes gehört, doch bei einer so persönlichen und so wichtigen Angelegenheit wollte er davon nichts wissen. Hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, dem anderen Mann einen Fausthieb zu verpassen oder einfach wortlos davonzugehen, ruhte Sorens Blick weiter auf der Frau, die von ihren Untergebenen umschwärmt und bewundert wurde. Seine Männlichkeit regte sich beim bloßen Gedanken an sie. So gern er diese Reaktion auf seine monatelange Abstinenz geschoben hätte, wusste er doch zu gut, dass es damit nicht oder zumindest so gut wie gar nicht zusammenhing. Aber nur weil sein Körper mit dieser Frau einverstanden war, bedeutete das noch lange nicht, dass es die richtige Vorgehensweise gewesen wäre.

„Denk nicht an die Rachegefühle, die du gegen ihren Vater hegst. Denk zurück an den jungen Mann, der an jenem Tag an der Seite von William in die Schlacht gezogen ist. Denk an die Pläne, die ihr drei hattet, und an die Zukunft, für die ihr gekämpft habt. Soll das hier stattdessen dein Weg sein?“

„Du riskierst sehr viel, Larenz“, presste Soren heraus.

„So viel auch wieder nicht“, gab der ältere Mann zurück. „Gautier würde mich in meinen Albträumen verfolgen, wenn ich dir in einem Moment wie diesem nicht meine Meinung sagen würde.“

Die Erinnerung an seinen Pflegevater, ein Mann, der bei ihnen beiden hohes Ansehen genoss, ließ seine Wut abebben. Er drehte sich zu Larenz um und bemerkte eine Ähnlichkeit, die ihm nie zuvor aufgefallen war. „Du hast dich gerade angehört wie Gautier.“

„Das sollte dich nicht verwundern, Soren. Er war mein Bruder.“

Das Wort „überrascht“ konnte nicht einmal annähernd beschreiben, was Soren bei dieser Enthüllung empfand. Nie wäre er auf einen solchen Gedanken gekommen. Und da nie offen darüber gesprochen wurde, konnte das nur eines bedeuten.

„Wir hatten den gleichen Vater, aber es lagen viele Jahre zwischen uns.“

Das erklärte einiges: Larenz’ Bitte, mit ihnen zu dienen, und seine Bereitschaft, drei Bastarde auszubilden, die auf nichts einen Anspruch anmelden konnten. Ehe Soren jedoch etwas erwidern konnte, rief Stephen ihm etwas zu, und er nickte zustimmend.

Stephen und die anderen Männer schickten die Gefangenen fort von Sybilla und zurück zu ihrer Arbeit. Bis auf einen kamen sie alle den Aufforderungen nach, lediglich Gareth kniete weiter vor Sybilla, die sich von den anderen verabschiedete. Stephen packte ihn und wollte ihn wegziehen, doch der Mann sträubte sich dagegen, sodass Guermont dazukommen musste, damit sie sich gemeinsam um ihn kümmern konnten.

„Schmieden sie Pläne gegen dich, Soren?“, wollte Larenz wissen.

„Nein, ich glaube nicht“, sagte er.

Er vermutete, dass Sybilla bislang noch nicht in der Lage gewesen war, sich die von Gareth zusammengestellte Liste vorlesen zu lassen, und dass sie Gareth selbst darum bitten würde. Sorens Erlaubnis würde sie dafür nicht einholen wollen, da sie so die Gelegenheit bekam, die Wahrheit zu erfahren, ohne dabei zu viel von ihrem Stolz aufzugeben.

„Lasst ihn“, rief Soren.

Stephen ließ Gareth los, Guermont machte einen Schritt weg von dem Mann, sodass Mylady ungestört mit dem ehemaligen Befehlshaber ihrer Wachen reden konnte. Gareth blieb auf Abstand zu ihr, während er redete, doch Soren machte den Moment aus, als er ihr die Namen der Gefallenen nannte.

„Ich muss mich wieder um meine Pflichten kümmern, Soren“, warf Larenz ein. „Soll ich den Männern sagen, dass du dich bald zu ihnen gesellen wirst?“

„Zum Teufel mit dir, alter Mann“, knurrte er. „Du weißt genau, dass ich das nicht machen werde.“

Lachend ging Larenz fort, doch Soren sagte nichts dazu. Stattdessen sah er mit an, wie sich Traurigkeit einem Nebel gleich über Sybilla legte. Gareth wahrte seinen Abstand, auch als Sybilla unübersehbar zu schluchzen begann. Nicht einmal ihre Dienerinnen liefen zu ihr.

Seine Beine setzten sich in Bewegung, noch bevor er überhaupt den Entschluss gefasst hatte, etwas zu unternehmen, und noch bevor sein Verstand sich überlegt hatte, was genau er überhaupt für sie tun konnte. Dann fiel sein Blick auf den Eimer am Brunnenrand. Er ging hin, tauchte die Schöpfkelle ein und näherte sich dann Sybilla. Nur ein paar Schritte von ihr entfernt blieb er stehen.

„Hast du mit deiner Herrin geregelt, was zu regeln war?“, fragte er Gareth. Der Mann stand auf und nickte. „Dann zurück an deine Arbeit.“

„Trauert nicht, Lady Sybilla“, sagte Gareth leise zu ihr, ehe er sich zurückzog.

Sie saß da, den Kopf gesenkt, und schwieg. Er konnte sehen, dass ihr Tränen über die Wangen gelaufen waren. Soren schaute kurz in die Ferne und atmete tief durch. Er wollte nicht dieses Mitleid empfinden, das ihm in diesem Moment einen Stich durchs Herz jagte.

„Streck die Hände aus, Sybilla.“

Zwar kam sie seiner Aufforderung nach, doch sie zitterte so sehr, dass sie alles Wasser verschüttet hätte, noch bevor die Schöpfkelle ihre Lippen erreichen würde. Also legte er eine Hand unter ihre Hände, in die er dann die Kelle platzierte.

„Was … was ist das?“, fragte sie und hob den Kopf in seine Richtung.

„Heute ist ein warmer Tag, und ich dachte, du möchtest vielleicht ein wenig Wasser trinken.“

 

Es war, als würde sich etwas fast Greifbares zwischen ihnen befinden, ein Augenblick in der Zeit, bei dem man spüren konnte, wie er vorbeizog und wie er den Moment markierte, in dem sich alles änderte und nichts je wieder so sein würde wie zuvor. So unerfahren Sybilla auch sein mochte, kam ihr dieser Moment so vor, als würde der Mann, der hergekommen war, um sie zu töten und alles auszulöschen, was an ihren Vater erinnerte, sich ihr gegenüber unerwartet freundlich zeigen.

Genau genommen war das sogar eine weitere freundliche Geste, nachdem er ihr erlaubt hatte, mit Gareth und den anderen zu reden.

Sybilla setzte die Kelle an die Lippen, wobei seine Hand ihre führte. Sie nippte an dem kühlen Wasser, das ihrer Kehle guttat. Auch wenn sie wusste, dass dieser Mann nichts ohne Hintergedanken machte, konnte sie das nicht davon abhalten, das Wasser zu genießen und sich über seine Aufmerksamkeit zu freuen. Allerdings sagte ihr Gefühl, dass er selbst seine Geste der Aufmerksamkeit nicht wahrhaben wollte.

Sie setzte die Kelle ab und gab sie ihm zurück. „Ich danke Euch, Lord Soren“, sagte sie leise.

Zwar hörte sie in einiger Entfernung Stimmen, aber sie konnte nicht herausfinden, ob sich außer ihm noch jemand in ihrer Nähe aufhielt. Die sommerliche Brise ließ die Blätter der Baumkrone über ihr rascheln, und fast hätte sie sich selbst weismachen können, dass sie in diesem Augenblick eine schöne Zeit erlebte, nicht aber die schlimmste ihres gesamten Daseins.

Ihre Neugierde über seine wahren Absichten wuchs allmählich. So wie gestern Abend tat er alles aus einem bestimmten Grund, und sie fragte sich, ob sie ihm wohl jetzt schon wieder etwas Falsches unterstellte. War er wirklich nur nett zu ihr, oder war das hier eine Art Vorspiel? Aber ein Vorspiel für was? Sie lauschte angestrengt, aber sie konnte nicht feststellen, ob er noch vor ihr stand oder ob er zurück zum Brunnen gegangen war.

„Lord Soren?“

„Aye, Sybilla?“

Wieso war ihr noch nie seine ansprechende tiefe Stimme aufgefallen? Als sie an ihre bisherigen Begegnungen zurückdachte, kam sie zu der Erkenntnis, dass sie ihn bislang meistens hatte brüllen oder wütend fauchen hören. Wenn sie miteinander geredet hatten, dann nur selten in einem ganz normalen Tonfall. Ausgenommen am gestrigen Abend, als sie bei ihrer Unterhaltung zu viel gesagt hatte. Und dennoch wollte sie es wissen.

„Warum habt Ihr das erlaubt?“

„Redest du von Gareth und den anderen? Es wurde einfach Zeit, dass es passierte.“

„Ich verstehe nicht. Wieso wurde es Zeit?“, hakte sie nach. Sie hatte durchaus eine Ahnung, was der Grund für sein Verhalten war, doch sie wollte seine Erklärung hören, um seine Beweggründe begreifen zu können. Sie waren miteinander verheiratet, und das würde auch so bleiben, sofern er ihr nicht die Erlaubnis gab, ins Kloster zu gehen.

„Du musstest endlich einmal deine Gemächer verlassen, und deine Leute mussten dich sehen. Es kursierten zu viele Gerüchte, weil keiner etwas über deinen Verbleib und deinen Zustand wusste. Also habe ich dich herkommen lassen, damit ihre Bedenken zerstreut werden. Und …“ Auf einmal hielt er inne.

„Und?“

„Wenn sie sehen, dass du lebst und dass das Monster gut für dich sorgt, das jetzt auf Durwards Thron sitzt, wird sie das davon überzeugen, dass sie von mir auch nichts zu befürchten haben.“

„Ah“, sagte sie und verstand. „Ihr habt also für Eure Ehefrau einen weiteren Verwendungszweck gefunden. Zuchtstute und nun auch noch Alibi für Eure Fürsorglichkeit.“

Er erwiderte nichts, wahrscheinlich weil sie die Wahrheit ausgesprochen hatte. Seine freundliche Art war nur gespielt, um andere das glauben zu machen, was sie nach seinen Vorstellungen von ihm glauben sollten. Wut stieg in ihr auf und verlieh ihr den Mut, die Frage nach dem Sinn des Ganzen zu stellen. Die eine Frage, die ihr oft durch den Kopf gegangen war, die sie aber bislang nicht zu stellen gewagt hatte.

„Wieso, Lord Soren? Sagt mir, wieso Ihr meinen Vater so sehr gehasst habt. Weshalb seid ihr hergekommen und zerstört meine Familie und alles, was noch von meinem Vater geblieben ist?“

„Sybilla, treib es nicht zu weit“, knurrte er wütend.

Sie hörte seine Schritte und wusste, er ging fort, ohne ihre Frage zu beantworten. Daraufhin stand sie auf und ging ein Stück weit hinter ihm her. „Lord Soren, ich muss es wissen!“

Er blieb stehen und drehte sich um, sein Atem ging schnell und flach, als er zu ihr zurückkam. Sie wappnete sich für das, was er sagen würde, weil sie schon jetzt wusste, dass es ihr nicht gefallen würde. Oh, warum hatte sie ihn überhaupt gefragt?

„Weil dein Vater aus mir das Monster gemacht hat, das ich heute bin, Sybilla.“

Erschrocken schnappte sie nach Luft. Niemals hätte sie sich träumen lassen, dass das der Grund war. Aber er war noch nicht fertig damit, ihr Herz und ihre Seele in Stücke zu reißen.

„Dein Vater hat mich hinterrücks angegriffen und mein Fleisch so zerfetzt, dass ich nur mit viel Glück überlebt habe.“

Sybilla hatte das Gefühl, umfallen zu müssen, so schwindlig wurde ihr von dieser Neuigkeit. Er bekam sie an ihrem Mantel zu fassen und stützte sie, während er weiterredete.

„Und jetzt werde ich dir alles, was er mir angetan hat, ebenfalls antun.“

Ihr war nicht klar, dass er sie nach unten drückte, bis sie auf einmal auf der harten Bank saß. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken, die sich mit dem befassten, was er gesagt hatte.

Ihr Vater hätte so etwas niemals getan. Er hätte unter keinen Umständen so feige gehandelt. Er … Unzählige Fragen kamen ihr in den Sinn, doch im Angesicht seines Zorns war sie unfähig, auch nur eine einzige laut auszusprechen. Sie hörte ihn einatmen und machte sich darauf gefasst, noch mehr vorgeworfen zu bekommen.

Dass sie dann aber seine Schritte hörte, die sich eilig entfernten, erschreckte sie zutiefst.

Sie wartete, dass er zurückkehrte oder irgendjemandem Befehle zurief, was mit ihr zu geschehen habe. Schweigend saß sie eine Weile da, bis sie sich schließlich zusammenriss, aufstand und sich auf den Weg zurück zu ihren Gemächern machte.


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