„Ich verstehe das nicht, Aldys.“
„Lord Soren hat es so befohlen“, erklärte ihre Dienerin.
Das ergab einfach keinen Sinn. In ihren Gemächern konnte sie schon kaum etwas tun, aber außerhalb war sie zu gar nichts zu gebrauchen. Außerdem gefiel ihr die Vorstellung nicht, sich auf eine würdelose Weise vor den Menschen zu zeigen, die ihr und ihrer Familie über Jahre hinweg gedient hatten. Vor allem aber wollte sie nicht unter Leuten sein, wenn sie nicht wusste, von wie vielen Menschen sie umgeben war und um wen es sich im Einzelnen handelte.
„Ich kann das nicht“, entschied sie.
„Mylady, Ihr müsst. Ich fürchte mich vor dem, was geschehen könnte, wenn Ihr hier in Euren Gemächern bleibt.“
Sybilla suchte nach einem Grund, wieso sie auf einmal ihr Quartier verlassen sollte, da wurde an der Tür geklopft. Ihre Dienerinnen stießen erschreckte Laute aus, und Sybilla begann unwillkürlich zu zittern. Fürchteten die beiden, ihr könnte etwas zustoßen? Aber was denn nur? Sie hörte, wie Aldys den Besucher mit sehr leiser Stimme begrüßte und ihn ins Zimmer bat.
„Ich wünsche Euch einen guten Morgen, Lady Sybilla. Ich bin es, Guermont“, fügte er dann noch an, damit sie auch sicher wusste, wer vor ihr stand. Taktvoll und zurückhaltend, so wie seine ganze Art.
„Guermont.“ Sie begrüßte ihn mit einem Nicken.
„Lord Soren bittet Sie, nach draußen auf den Hof zu kommen und die wärmende Sonne zu genießen, solange noch keine Wolke am Himmel zu sehen ist“, lud er sie ein.
„Das kann ich nicht, Sir. Bitte richten Sie das Ihrem Herrn aus“, erwiderte sie in – wie sie hoffte – ruhigem Tonfall. Dann auf einmal begannen ihre Hände zu zittern, und ihre Finger zerknitterten das Stück Pergament, das sie festhielt.
„Mylady, ich bedauere, aber ich kann nicht ohne Euch zu ihm zurückkehren“, machte er ihr klar. „So lauten meine Befehle.“
„Aldys, erkläre doch bitte Guermont, wieso es mir nicht möglich ist, seiner Einladung nachzukommen. Ich kann nichts sehen. Ich kann keine Treppe heruntergehen, ich kann mich außerhalb meiner Gemächer nirgendwohin bewegen.“ Sie hörte selbst, wie verzweifelt sie klang. Ob die anderen es auch hörten? „Bittet Euren Herrn, mir zu gestatten, hier in meinen Gemächern zu bleiben, bis mein Augenlicht zurückgekehrt ist.“
Die nachfolgende Stille sagte ihr mehr als noch so viele Worte. Keiner von ihnen glaubte daran, dass sie wieder würde sehen können. Sie selbst konnte und wollte eine solche Möglichkeit gar nicht erst in Erwägung ziehen. Beharrlich schüttelte sie den Kopf.
„Mylady, ich kann Euch anbieten, an meiner Seite zu gehen und Euch die Treppe hinunterzuführen. Wenn Ihr Euch weigert, werde ich Euch nach unten tragen, ganz gleich, ob Ihr das schweigend oder laut schreiend über Euch ergehen lasst. Ihr habt die Wahl.“
Der gleichmütige Tonfall des Mannes täuschte darüber hinweg, dass er jedes Wort ernst meinte. Sybilla versagte vor Entsetzen die Stimme. Warum wollte Lord Soren sie vor allen Leuten demütigen? War das seine Bestrafung, weil sie ihn darum gebeten hatte, ins Kloster gehen zu können? War er von ihrer Reaktion auf seinen Kuss so angewidert, dass er sie dafür in aller Öffentlichkeit erniedrigen wollte?
„Hier, Lady Sybilla“, sagte Guermont, während er ihr das Pergament abnahm und ihre zitternden Hände um seinen Arm legte. „Lasst mich Euer Begleiter sein.“
Das Kettenhemd drückte sich in ihre Haut, als sie seinen Arm fest umklammert hielt. Sogar jetzt, da der Angriff auf ihre Feste schon eine Weile zurücklag, trug er immer noch diese Art von Schutz. Galt das auch für Soren?
In ihre Überlegungen vertieft, verlor sie den Bezug dazu, wo sie sich eigentlich befand. Unerwartet blieb Guermont stehen. „Mylady, wir werden immer nur eine Stufe nach der anderen die Treppe hinuntergehen. Wenn ich zu schnell bin, sagt es einfach, dann werde ich langsamer gehen.“
Die Stufen, derentwegen sie früher nie langsamer geworden war, lauerten nun wie ein unendlich tiefer Abgrund vor ihr. Sybilla kam sich vor, als würde sie über einen Brunnenschacht gebeugt stehen und nur darauf warten, in die schwarze Tiefe zu stürzen.
Plötzlich machte er einen Schritt und zog Sybilla mit sich nach unten.
„Vielleicht sollten wir die Stufen zählen, damit Ihr wisst, wie viele es sind“, schlug er vor.
„Mylady hat ihr ganzes Leben hier verbracht“, raunte Aldys ihm aufgebracht von hinten zu. „Glaubt Ihr, sie weiß nicht, wie viele Stufen es sind?“
Aber Sybilla hatte zuvor nie wissen müssen, wie viele Stufen ihre Gemächer vom Saal trennten. Da ihre Kehle wie zugeschnürt war und sie keinen Ton herausbrachte, nickte sie nur und hoffte, Guermont sah zu ihr. Als er gleich darauf zu zählen begann, wusste sie, dass er ihr Nicken bemerkt hatte. Bei zwanzig angekommen, blieb er stehen. Durch die Anstrengung und die Angst vor einem Sturz war sie außer Atem. Sie bemühte sich, Luft zu holen und wartete auf den nächsten Schritt.
„Im Saal hat man die Streu weggefegt, und alle Tische wurden aus dem Weg geräumt, Mylady“, berichtete Guermont. „Wir haben jetzt zwanzig Stufen zurückgelegt, aber ich vermute, es sind noch einmal doppelt so viele Schritte notwendig, bis wir draußen ankommen.“ Er gab ihr Hinweise auf den vor ihr liegenden Weg und auf die Veränderungen, die von den Normannen vorgenommen worden waren. „Wir werden langsam weitergehen, damit Ihr Euch orientieren könnt, Mylady.“
Und dann ging es weiter. Guermont legte seine Hand auf ihre und führte sie wieder, wobei er so leise zählte, dass außer ihr niemand etwas davon hören konnte. Nach nur ein paar Schritten geschah es.
Zuerst hörte sie, wie alle im Saal mit erstaunten Ausrufen reagierten, als sie Sybilla sahen, dann wurde ihr Name getuschelt, zunächst ganz leise, schließlich lauter, bis er von allen Seiten widerhallte. Sybilla geriet ins Stocken.
„Man freut sich, Euch zu sehen, Lady Sybilla“, beschrieb Guermont ihr die Szene.
„Wissen sie, dass ich … dass ich sie nicht sehen kann?“ Sie musste es fragen, weil Aldys und Gytha nie ein Wort darüber verloren hatten, was sie anderen über ihren Zustand erzählten. Sie wusste nicht, ob man sie für eine Gefangene hielt, oder ob man vielleicht sogar glaubte, sie sei tot.
„Aye, Mylady. Alle wissen über das Ausmaß Eurer Verletzung Bescheid. Viele von ihnen haben sogar in der Kapelle für Eure Genesung gebetet.“
Ihr stockte der Atem, Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie hatte befürchtet, dass man ihr die Schuld an der Situation geben würde, in der sie alle sich befanden. Wäre sie nicht so dumm gewesen, Gareth entscheiden zu lassen, dass sie sich gegen die Normannen wehren sollten, dann würden sie jetzt nicht um ihre Toten trauern müssen.
Sybilla zwinkerte und versuchte ihre Tränen aufzuhalten, aber die liefen ihr bereits über die Wangen. Als jemand ihr Kleid anfasste, ein anderer ihren Arm berührte und von allen Seiten ihr Name geflüstert wurde, gab es für ihre Tränen überhaupt kein Halten mehr. Guermont zählte währenddessen unbeirrt die Schritte, und als er bei dreiundvierzig angekommen war, blieb er stehen.
„Etwas mehr als vierzig Schritte, Mylady, und schon stehen wir an der Tür zum Hof. Wollt Ihr erst noch einmal durchatmen, bevor wir nach draußen gehen?“
Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und räusperte sich. Niemals hätte Sybilla eine solche Reaktion erwartet, weder von den Menschen noch von sich selbst. Überwältigt schüttelte sie den Kopf.
„Nein, Guermont, ich bin bereit. Gehen Sie voran“, antwortete sie.
„Wie Ihr wünscht, Mylady.“
Die Scharniere knarrten, als die Tür aufging, und gleich darauf stand Sybilla zum ersten Mal seit dem Angriff auf ihre Feste wieder unter freiem Himmel. Die Sommersonne schien angenehm warm auf ihr Gesicht, und auf dem Weg aus den Schatten im Saal musste sie kurz stehen bleiben, um Gott zu bitten und anzuflehen, sie doch wieder das Sonnenlicht sehen zu lassen. Es hätte ja schon genügt, nicht nur dieses unerbittliche Schwarz sehen zu müssen, sondern wenigstens ein paar hellere Schattierungen.
„Mylady?“, fragte Guermont leise, als hätte er den Grund für ihr kurzes Innehalten verstanden. Aber er konnte es nicht verstehen.
Nichts.
Das vollkommene Nichts lag vor ihr.
Kein Licht, kein Schatten, gar nichts.
Sybilla ließ sich weiter auf den Hof führen. Dort waren Leute, denn sie konnte die Stimmen von Männern, Frauen und sogar Kindern hören. Der Duft von blühendem Geißblatt stieg ihr in die Nase, als sie einatmete und dabei versuchte, nicht über die Enttäuschung nachzudenken, die sie verspürte. Die Erde unter ihren Füßen, die Bäume und Blumen trugen alle ihren Teil zu der Fülle an Aromen bei, die die Luft erfüllten.
„Da drüben unter dem Baum nahe der Mauer steht eine Bank“, sagte Guermont. „Dort könnt Ihr die Wärme der Sonne spüren, sitzt aber trotzdem im Schatten, Mylady. Bis dahin dürften es noch einmal vierzig Schritte sein.“
Er führte sie gut und sorgte dafür, dass sie ohne Zwischenfälle die Bank erreichten. Eine kurze Bemerkung, wenn der Untergrund uneben war, eine weitere, wenn sie um eine Pfütze herumgehen mussten. An der Bank angekommen, nahm er ihre Hand von seinem Arm, drehte sich um und half ihr sich hinzusetzen. Aldys machte sich bemerkbar, um sie wissen zu lassen, dass sie auch in der Nähe war.
Sybilla musste erst einmal wieder zu Atem kommen, und es erstaunte sie, wie anstrengend diese kurze Strecke gewesen war. Früher hatte sie diesen Weg viele Male am Tag genommen, und bislang hatte sie das nicht als so kräfteraubend empfunden, dass ihr die Luft wegblieb. Aber sie hatte schon so lange Zeit nur in ihren Gemächern gesessen und den ganzen Tag über nichts getan, dass diese eigentlich unbedeutende körperliche Betätigung für sie nun so strapaziös ausfiel. Aber auch wenn es mühsam gewesen war, den Weg bis hierher zur Bank zurückzulegen, musste sie versuchen, sich für die nächste Herausforderung zu wappnen – eine weitere Begegnung mit Lord Soren, und das so kurz nach dem Debakel am Abend zuvor.
Sie konnte nur hoffen, dass er sie nicht hier demütigen würde, wo jeder zusah. Aldys reichte ihr ein Leinentuch, mit dem sie sich übers Gesicht wischte. Zum ersten Mal seit Tagen verspürte sie Durst, und dabei fiel ihr auf, dass ihre Dienerin nicht wie sonst üblich unentwegt versuchte, ihr etwas zu essen oder zu trinken aufzudrängen. Sie hätte nach etwas Wasser gefragt, doch in diesem Moment kam am anderen Ende des Hofs Unruhe auf, die schnell lauter wurde. Was nur bedeuten konnte, dass Lord Soren auf dem Weg zu ihr war.
Befehle wurden gerufen, hastige Schritte zeugten davon, dass Soldaten loseilten, um diese Befehle auszuführen. Leute schrien und riefen ihren Namen. Es war so, als würde sie noch einmal den Tag des Angriffs miterleben, nur diesmal viel schlimmer, da sie nichts sehen konnte.
„Ist das Lord Soren?“, fragte sie. Als niemand antwortete, rief sie gereizt: „Kann mir bitte jemand sagen, was los ist?“
„Einige Gefangene versuchen, zu Euch zu gelangen“, beschrieb Guermont die Szene. „Aber die Wachen wollen sie daran hindern.“
„Gefangene?“, wiederholte sie, dann erst wurde ihr klar, dass von ihren Leuten, ihren Soldaten die Rede war. „Aldys! Sag ihnen, sie sollen sofort damit aufhören, bevor er …“ Weiter kam sie nicht, da er sich laut zu Wort meldete.
„Stephen!“, rief Soren. „Lass sie zu ihr gehen!“
Einmal mehr kapitulierte er in ihrer Gegenwart, was sich allem Anschein nach zu einer Angewohnheit entwickelte. Soren nickte Stephen zu, der seinerseits den Wachen den Befehl erteilte, die Gefangenen nicht länger aufzuhalten. Die zögerten zunächst, weil sie wohl Vergeltungsmaßnahmen für ihren Ungehorsam befürchteten. Doch dann führte Gareth sie über den Hof zur Bank, auf der Sybilla saß. Nur Augenblicke später war sie von einer Menschenmenge umgeben, immer wieder fiel ihr Name, während jeder versuchte, ihre Hand oder zumindest ihr Kleid zu berühren.
Guermont stand unverrückbar neben ihr, damit er nicht um ihre Sicherheit bangen musste. Nicht dass er um sie besorgt gewesen wäre, doch bei Gefangenen durfte man nicht darauf vertrauen, dass sie stets harmlos waren, weil sie immer nach einem Weg suchten, wie sie sich von ihren Ketten befreien konnten.
Ihm fiel auf, dass Gareth sich vor ihr hingekniet hatte und sich nicht von der Stelle rührte, während andere zu ihr gingen, sie begrüßten und dann Platz für den Nächsten machten. Soren blieb in der Nähe der Ställe stehen und beobachtete das Treiben.