Auch wenn sich die Düsternis nicht lichtete, die Sybillas Herz umgab, ließen die Verwirrung und die Kopfschmerzen im Lauf der nächsten Tage nach. Zumindest kam es ihr so vor, dass sich die Besserung über mehrere Tage erstreckt hatte. Ohne sehen zu können, wie die Sonne sich über den Himmel bewegte, wie es Abend, Nacht und wieder Morgen wurde, ohne die tagtäglichen Arbeiten, die ihr Leben vor der Ankunft dieses Mannes geregelt hatten, fehlte ihr jede Orientierung, wie viel Zeit vergangen war.
Sie gab sich der Trauer hin, die sich in ihrem Herzen und in ihrer Seele aufgestaut hatte, und sie vermochte nichts weiter zu tun als die Stunden damit zu verbringen, ihren Tränen freien Lauf zu lassen oder zu schlafen. Sie konnte nichts sehen und damit auch keine Arbeiten mehr erledigen. Außerdem besaß sie nichts mehr, da diese Invasoren ihr Heim zerstört und diejenigen gefangen genommen hatten, deren Pflicht es gewesen war, sie zu beschützen. Dieser Mann hatte die Aufgabe seines Königs und anderer ebenso dummer Mächtiger vollendet, ihr alles und jeden wegzunehmen, der ihr etwas bedeutet hatte. Die schlimmsten Augenblicke waren die, an die sie sich erinnern konnte, obwohl sie von einem Schleier aus Schmerz und Angst umgeben gewesen war. Vor allem wusste sie noch ganz genau, wann sie die Kontrolle über ihre Trauer und ihr Handeln verloren hatte.
Der Webstuhl.
Blind und nur von dem Gedanken angetrieben, irgendwie zu entkommen, war sie voller Angst durch ihr Gemach gestolpert, da sie nicht wusste, wohin sie lief. Auch wenn sie seit Jahren in diesen Räumlichkeiten lebte, verwandelten sie sich in ein gänzlich unbekanntes Gelände, kaum dass Sybilla nichts mehr sehen konnte.
Mit jedem verkehrten Schritt hatte sie etwas mehr von ihrer Selbstbeherrschung verloren, bis er sie gepackt und zum Bett geschleift hatte. Doch als sie dann hörte, wie er ihren Webstuhl an der Wand zerschmetterte, war auch ihre ganze Welt zerschmettert worden.
Dieser Webstuhl war das Letzte gewesen, was noch eine unmittelbare Verbindung zu ihrem Vater und ihrem Bruder dargestellt hatte. Beide hatten nach dem Tod der Mutter diesen Webstuhl gebaut, um so Sybillas Trauer zu lindern und sie wieder in den Alltag ihres Haushalts zurückzuholen. Es war ein erfolgreicher Versuch gewesen, denn die Arbeit am Webstuhl besänftigte ihr Herz und lenkte sie von ihren quälenden Gedanken ab.
Jetzt war auch noch bis auf sie selbst dieses letzte Überbleibsel ihrer Familie vernichtet worden. Nach den Drohungen zu urteilen, die er ausgesprochen hatte, war sie ebenfalls in Gefahr, ihr Leben zu verlieren – und das ausgerechnet durch den Mann, mit dem sie nun verheiratet war.
Mit jedem Tag schwand ihr Appetit etwas mehr. An Nahrung nahm sie nur das zu sich, was ihre Dienstmädchen in einen Becher füllen und ihr auf diese Weise eintrichtern konnten. Warum sollte sie sich die Mühe machen, etwas zu essen oder zu trinken, wenn es nichts mehr gab, wofür es sich zu leben lohnte? Außerdem gab es niemanden mehr, dem ihr Überleben etwas bedeuten konnte.
Jegliche Hoffnung war erloschen, als Teyen ihr den Verband abnahm und sie ihre angeschwollenen Augen aufschlug – und nichts als Schwärze vor sich sah.
Nur Schwärze.
Keine Spur von noch so schwacher Helligkeit, nicht einmal irgendwelche Konturen.
Nur völlige Schwärze.
Sie war wahrhaftig blind, und auch wenn ihre treuen Dienerinnen ihr zunächst hatten einreden können, das würde sich mit der Zeit wieder legen, wusste sie jetzt, dass es nicht stimmte. Also tauchte sie jeden Tag ein wenig tiefer in diese vollkommene Dunkelheit ein, von der sie umgeben war. Sie versteckte sich vor all den Menschen, denen sie ihren Schutz versprochen hatte, weil sie ihnen in diesem Zustand nicht gegenübertreten wollte und weil sie ihnen jetzt, da sie alles verloren hatte, auch nichts mehr bieten konnte. Gerade als sie glaubte, ihr bleibe nichts anderes mehr zu tun als weiterhin in diesem finsteren Vergessen ihr Dasein zu fristen, da drang er einmal mehr in ihre Welt ein, indem er diesen Jungen benutzte, um ihr seine Befehle zu überbringen.
Ihre Dienstmädchen waren nervöser als sie selbst, sie eilten in Sybillas Gemächern hin und her, stellten Dinge um und rückten sie gerade, korrigierten etliche Male den Sitz ihrer Frisur und ihrer Kleidung, so als ob ihr Erscheinungsbild noch wichtig wäre, wenn doch längst auch alles andere nicht mehr zählte.
Sybilla saß schweigend in ihrer Finsternis da und wartete auf seine Ankunft. Seine Schritte, die allmählich näher kamen, dröhnten so laut wie Donnerschläge, doch bei ihr konnten sie weder viel Angst noch sonst ein Gefühl auslösen. In den letzten Tagen hatte sie sich von ihrer Trauer und von allen anderen Gefühlsregungen befreit, sodass in ihr nur noch Leere herrschte.
Die Tür wurde geöffnet, wobei ihr auffiel, dass die Scharniere dringend geschmiert werden mussten. Dann kehrte wieder Stille ein. Das flache Atmen der Dienerinnen links und rechts von ihr erinnerte sie an das leise Schnauben der Pferde im Stall, wenn sie sie an einem kalten Wintermorgen besuchte. Je mehr Zeit verging, umso schneller und unregelmäßiger ging der Atem.
„Raus“, befahl er in schroffem Tonfall.
Ein Wort von ihm, und schon überließen ihre treuen Dienerinnen sie ihrem Schicksal. Ihr war klar, dass dieser Gehorsam nur einen Grund haben konnte. Angst. Todesangst. Man hatte ihr seine schrecklichen Gesichtsverletzungen in allen blutigen Einzelheiten geschildert und sie mal wegen ihrer Heirat mit ihm bedauert, mal für ihre Erlösung gebetet. Im Flüsterton kursierten Gerüchte über seine schändlichen Taten, mit denen er ohne jede Gnade unschuldige Menschen zermalmte. Sie redeten freimütig über ihre eigenen Ängste, ganz ohne Rücksicht darauf, was sie damit womöglich bei Sybilla auslösten. Doch ihr war es egal, denn sie fühlte gar nichts mehr.
Er schloss die Tür hinter sich und versuchte nicht einmal, möglichst leise zu sein. Genauso laut waren seine Schritte, die sich ihr langsam näherten, bis er dicht neben ihr stehen blieb. Sie wusste, er war neben ihr, weil sie seinen Atem deutlich hören konnte. Als sie im Saal vor ihm gestanden hatte, war sie sich winzig vorgekommen, doch als sie jetzt auf ihrem Stuhl saß, da hatte sie das Gefühl, ein Hund zu sein, der seinem Herrn zu Füßen lag. Am liebsten wäre sie aufgestanden, doch sie fühlte sich noch immer zu unsicher auf den Beinen. Ihr Gleichgewichtssinn war dadurch gestört, dass sie nichts sehen konnte.
„Sybilla“, sagte er in einem Tonfall, der viel respektvoller klang, als sie es nach ihrer letzten Begegnung für möglich gehalten hatte. „Geht es dir gut?“
„Was hat Euer Heiler Euch berichtet?“, entgegnete sie. Ihre Stimme klang fremd, weil sie sie schon so lange nicht mehr gehört hatte. In den letzten Tagen hatte es für sie kaum einmal einen Anlass gegeben, etwas zu sagen.
„Teyen berichtet, dass deine Wunde nicht mehr blutet und dass das Schwindelgefühl nachgelassen hat. Stimmt das?“