Die Schöne und der Bastard - Kapitel 7

~ Kapitel 7 ~

Sybilla versuchte, sich ganz der Stille zu überlassen, aber ihr Verstand schleuderte ihr eine Frage nach der anderen entgegen, jetzt, nachdem er gegangen war. Warum hatte er sie zum Nachdenken aufgefordert, wenn sie doch nichts anderes wollte als von der tonlosen Finsternis geschluckt zu werden, die sie umgab? Warum hatte sie ihn überhaupt nach den Toten gefragt? Sybilla wusste, es war ein Fehler gewesen, was ja auch gleich darauf bestätigt worden war.

Gerade als sie glaubte, sie könnte diese Fragen endlich verstummen lassen, da drang seine Stimme durch ein offenes Fenster zu ihr. Kaum war auf dem Hof Ruhe eingekehrt, war seine tiefe, kraftvolle Stimme so deutlich zu hören, als wäre er nur ein paar Schritte von ihr entfernt. Er tobte und drohte wieder irgendjemandem. Da unten auf dem Hof zwang er jenen seinen Willen auf, die sich ihm nicht widersetzen konnten.

Ihr Kopf dröhnte vor Schmerzen, und sie rieb in dem Bemühen über ihre Stirn, diese Schmerzen zu lindern.

„Hier, Mylady“, sagte Aldys. „Ein wenig Ale für Euch.“

Die Dienerin wollte ihr einen Krug in die Hand drücken, aber Sybilla schüttelte den Kopf, da sie jetzt nichts trinken wollte. Diesmal beharrte Aldys nicht darauf, und Sybilla hörte, wie der Krug auf den Tisch gestellt wurde. Dann entfernten sich die Schritte ihrer Dienerin. Aldys und Gytha unterhielten sich im Flüsterton, doch das Tuscheln wurde immer lauter und entwickelte sich zu einem Streit zwischen den beiden, den sie nicht länger überhören konnte und wollte. Sie schob ihr Interesse auf seine Fragen, die er ihr früher an diesem Tag gestellt hatte, weil dadurch erst so viele verschiedene Gedanken in ihrem Kopf aufgewirbelt worden waren.

Unerwünschte Gedanken.

Überflüssige Überlegungen.

Unbehagliches Interesse.

Gedanken führten zu Worten, die wiederum führten zu Fragen, die sie lieber für sich behalten wollte, die aber ohne Vorwarnung einfach herausplatzten.

„Was ist passiert, dass ihr beide wie die Hennen gackert?“

Als sie erschrocken nach Luft schnappten, wurde Sybilla bewusst, dass sie nicht mehr von sich aus gesprochen hatte seit … seit dem Tag, an dem er nach Alston gekommen war.

„Mylady, er hat …“, begann Gytha, aber Aldys fiel ihr sofort ins Wort.

„Kind!“

Sybilla seufzte. Es war immer das Gleiche mit den beiden. „Aldys, sag es mir.“

Wieder folgte eine Pause, und Sybilla sah vor ihrem geistigen Auge, wie die zwei sich wieder nur mit Blicken verständigten, ehe Aldys antwortete: „Der neue Herr hat Gareth geschlagen und ihn wegbringen lassen, Mylady.“

Gareth lebte noch?

Sorge erfasste sie. Offenbar hatte Gareth den Kampf irgendwie überlebt, und nun musste er sterben, weil sie dem Eroberer nicht geben wollte, was der von ihr forderte. Jetzt machte er seine Drohung wahr, und alles nur, weil sie ihm nicht gehorcht hatte. Verkrampft hielt sie sich an den Armlehnen ihres Stuhls fest. Sie glaubte nicht daran, dass es ihr gelingen würde, ihn von seinen Grausamkeiten abzuhalten, doch zum ersten Mal seit Tagen wollte sie sich einmischen.

„Bringt mich zu ihm“, befahl sie mit ruhiger Stimme, die nichts davon verriet, dass sich ihr vor Aufregung fast der Magen umdrehte.

Nach Tagen in einem Fegefeuer, befreit von allen Gefühlen und Bedenken, erfüllte es sie mit Entsetzen, wie schnell diese verschollenen Empfindungen zu ihr zurückkehrten und Herz und Seele überspülten.

Die Dienerinnen begannen erneut zu streiten, woraufhin sich Sybilla aus eigener Kraft von ihrem Stuhl erhob und einen vorsichtigen Schritt in Richtung Tür machte. Dann folgte ein zweiter Schritt, und gleich darauf waren die beiden Frauen auch schon bei ihr, um ihr Halt zu geben und sie in die richtige Richtung zu führen, während sie alles versuchten, ihr dieses Vorhaben auszureden. Es war einfach erschreckend, zu gehen, ohne dabei den Weg zu sehen, dem man folgen musste. Ihre Handflächen waren schweißnass, ihr Herz pochte mit jedem Schritt etwas lauter.

Schlimmer noch war aber, dass die Angst vor einer Konfrontation mit dem Mann, der so viele Menschen getötet hatte, um Alston für sich zu beanspruchen, jeden ihrer Schritte zu lähmen versuchte. Bei seiner Größe und seiner Kraft, gepaart mit jenem abgrundtiefen Hass gegen sie und ihre Familie, genügte ein einziger Schlag, um sie zu töten – falls er beschloss, sie zu schlagen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken bei der Erinnerung an den Moment, als sie hatte hören können, wie er sein Schwert zog. Da hatte sie gewusst, er würde nicht zögern und sich auch nicht zurückhalten, wenn er entschied, sie zu töten.

Würde es heute so weit sein? Wäre der Tod einfacher als der Versuch zu leben, blind und auf die Gnade eines Mannes angewiesen, der genau diese Eigenschaft gar nicht besaß? Sie schluckte ihre Angst herunter und streckte die Hand aus, um nach dem Riegel zu suchen.

Sybilla öffnete die Tür und hörte Schritte, die sie auf die Anwesenheit von Wachen vor ihren Gemächern aufmerksam machte. Beide Männer standen so dicht vor ihr, dass sie mit ihren Schuhspitzen die des einen Wachmanns berührte.

„Mylady?“, fragte er.

„Ich möchte Euren Herrn sprechen. Bringt mich sofort zu ihm“, sagte sie und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall, der darüber hinwegtäuschen sollte, dass ihr vor innerer Unruhe fast übel war.

„Das kann ich nicht machen, Mylady“, erwiderte er. Noch bevor er eine Erklärung dazu abgeben konnte, verfiel Sybilla auf eine andere Taktik.

„Aldys, mach dich auf die Suche nach unserem neuen Herrn und bring ihn her“, befahl sie und hoffte, dass ihre Stimme immer noch so klang, als beherrschte sie die Lage.

„Sie kann auch nicht weggehen, Mylady.“

Ihre Wut, die tagelang in einer Art Tiefschlaf gelegen hatte, begann sich zu regen. Erstaunlich, wie etwas nicht Benutztes so schnell und so unverhofft wieder zum Leben erwachen konnte.

„Meine Dienerinnen hatten die Erlaubnis, sich um mich zu kümmern, seit Euer Herr hier eingetroffen ist. Wer gibt Euch das Recht, ihnen diese Erlaubnis jetzt zu verweigern?“

Schweigen schlug ihr entgegen, während die Wachen unschlüssig von einem Fuß auf den anderen traten, da sie nicht wussten, was sie ihr antworten sollten.

„Lord Soren gibt ihnen das Recht, und daran halten sie sich, Mylady“, ertönte eine andere Stimme, die ihren Ursprung irgendwo im Flur hatte.

Sie drehte sich zur Seite und lauschte den Schritten, die sich zielstrebig näherten. Nervös ballte sie die Hände zu Fäusten und atmete einige Male tief durch, wobei sie mit jedem Atemzug etwas ruhiger wurde. Dann war der Mann bei ihr angekommen. Sie schluckte angestrengt, rührte sich aber nicht von der Stelle.

„Lady Sybilla, geht es Euch gut?“

„Ich muss mit Eurem Herrn sprechen“, wiederholte sie und trat einen Schritt vor, obwohl sie nicht einschätzen konnte, wo sich dieser Mann und die Wachen aufhielten. „Ihr seid …?“

„Ich bin Guermont, ich diene als Steward von Lord Soren.“

Jetzt berührte sie seine Fußspitzen, womit klar war, dass sie sehr dicht vor ihm stand. Als sie seinen Namen hörte, wurde sie an ihr Scheitern erinnert.

Guermont diente jetzt als Steward, weil Algar tot war.

„Bringt mich zu Eurem Herrn“, beharrte sie. „Auf der Stelle.“

Einer der Wachleute hüstelte, der andere räusperte sich. Die Geräusche ließen sie erkennen, wie nah die beiden waren. Da Aldys und Gytha links und rechts von ihr standen, war sie mehr oder weniger eingekesselt.

„Bitte kehrt in Eure Gemächer zurück, dann werde ich ihm die Nachricht zukommen lassen, dass Ihr ihn zu sprechen wünscht“, bot der Mann ihr an.

Das genügte ihr nicht, weil sein Herr sich womöglich erst bequemte, mit ihr zu reden, wenn Gareth bereits tot war.

„Es ist wichtig, dass ich jetzt mit ihm rede, Guermont!“ Ihre Hände zitterten vor Angst, er könnte ihr den Wunsch weiterhin verweigern. „Das Leben eines Mannes steht auf dem Spiel.“

Eine Pattsituation. Ob in einem Gefecht oder bei der Führung von Leibeigenen, es waren immer die Macht und die Ungewissheit, die miteinander um die Vorherrschaft kämpften. Deshalb wusste sie, dass Guermont in diesem Moment abwägte, wie er sich entscheiden sollte. Als sie ihn schließlich seufzen hörte, wusste sie, er würde nachgeben.

Doch eine laute, erzürnte Stimme, die durch den Gang zwischen ihren Gemächern und der Treppe schallte, besagte etwas ganz anderes. Lord Soren war zurückgekehrt, voller Zorn, voller Drohungen, voller Kraft, und sie stand da und konnte ihm nicht Platz machen. Sie begann zu zittern, da sie damit rechnete, dass er gleich von Gareths Tod erzählte, den er ihm mit bloßen Händen beschert hatte.

Aber schlimmer noch war ihr Wissen, dass sie durch ihre eigene Schüchternheit und Tatenlosigkeit und durch den Schleier aus Leid und Trauer über ihre eigene Verfassung diesen Tod verursacht hatte. Er wäre zu verhindern gewesen, hätte sie nur rechtzeitig den Mund aufgemacht. Sie stolperte ein Stück weit zurück, weg von der Tür, weg von ihm. Ihre Dienerinnen versuchten vergeblich, sie dorthin zu führen, wohin sie wollte.

Guermont unterhielt sich leise mit Soren, dennoch hörte sie, dass er ihm von ihrer Bitte berichtete, ihn sprechen zu wollen. Soren antwortete mit einem Brummen, das alles bedeuten konnte, dann benutzte er das eine Wort, vielleicht sein Lieblingswort, mit dem er wohl im Handumdrehen jeden vertreiben konnte.

„Raus.“

Sybilla stand da und wagte kaum zu atmen, als er mit schweren Schritten ihr Gemach betrat und sich ihr näherte. Das Schlagen der Tür lenkte sie einen Moment lang ab, dennoch hätte sie schwören können, dass sie die Hitze seines Körpers spürte, die ihr seine Nähe verriet, noch bevor er ein Wort sagte. Jetzt, da ihr Herz und ihre Seele aus einem friedlichen Schlummer erwacht waren, machte Sybilla sich auf diese neue, schreckliche Welt gefasst, die er ihr bringen würde.

Doch zu ihrer Überraschung drückte er ihr ein kleines Stück Pergament in die Hand. Sie strich mit den Fingern darüber und versuchte zu verstehen, was sie da festhielt, doch es gelang ihr nicht. Sie hob das Pergament hoch und schüttelte den Kopf.

„Ihr wisst, ich kann nichts sehen“, sagte sie. „Macht Ihr das, um mich daran zu erinnern, wo meine Grenzen liegen?“ Zwar wusste sie von seinem Hass auf sie, aber so ein kleinliches Verhalten war doch wohl unter seiner Würde.

„Das“, entgegnete er und schloss ihre Finger um das Pergament, „ist das, was du von mir verlangt hast als Gegenleistung dafür, dass du meiner Bitte entsprichst.“ Seine Stimme, die sogar dann sehr tief klang, wenn er nur flüsterte, ließ ihr ein Kribbeln über den Rücken laufen.

„Was ich verlangt habe?“ Sollte das bedeuten …?

„Du hast eine Liste deiner Toten verlangt. Diese Liste steht auf dem Pergament in deiner Hand.“

Sie hielt das Schriftstück so fest umschlossen, dass es in ihrer Hand zerknitterte, ehe sie ihren Griff wieder lockern konnte. Für Gareths Tod gab es allerdings keine Entschuldigung. Wie sollte sie auch ihre Untätigkeit rechtfertigen, die die Liste ihrer Sünden und Fehlleistungen um einen Namen länger werden ließ?

„Und um zu beweisen, dass Ihr nun hier das Sagen habt, musstet Ihr einen weiteren Mann töten? Nur um dafür zu sorgen, dass ich alle Eure Befehle und Forderungen erfülle?“ Es waren kühne Worte, doch gleichzeitig schlug ihr Herz so schrecklich laut, dass er es sicher hören musste.

„Einen weiteren Mann töten? Von wem redet ihr? Von denen abgesehen, die ihre Waffen gegen mich erhoben haben und die im Kampf gefallen sind, habe ich niemanden in den Tod geschickt.“

Nach vermutlich einer Woche in der finsteren Welt der Blindheit begann Sybilla auf andere Signale zu achten, die auf Gefahren hinwiesen. Sein Tonfall war ein solches Signal, und mit jeder Faser ihres Körpers machte sie sich jetzt darauf gefasst, von der geballten Wucht seiner Wut getroffen zu werden. Ihr war klar, dass sie ihn auf irgendeine Weise beleidigt hatte, und dafür würde sie teuer bezahlen. Als er sie an den Schultern packte und sie hochhob, bis nur noch ihre Zehenspitzen den Boden berührten, da konnte sie die Gefahr für ihr Leben sogar in seinen Händen spüren.

„Ich habe deine Forderung erfüllt, Sybilla, und nun sagst du mir, wo die Aufzeichnungen und Bücher versteckt sind.“

Sie musste gegen ihre Angst ankämpfen, um einen Ton herauszubringen. „In einer kleinen Kammer neben der Küche. Ein kleiner Vorratsschrank, der in den Stein gehauen ist … dort finden sich alle wichtigen Unterlagen über Alston und meine Familie.“

„Wer weiß noch von diesem Versteck?“, fragte er und schüttelte sie leicht.

„Nur meine Familie und Algar.“

„Sonst niemand? Gareth vielleicht?“

„Gareth? Nein.“ Das Entsetzen jagte ihr einen Stich durchs Herz. „Habt Ihr versucht, ihm dieses Geheimnis durch Folter zu entlocken, bevor Ihr ihn getötet habt?“

 

Jede neue Begegnung mit ihr weckte neue Gefühle in ihm, aber er wusste nie, ob es Wut, Hass, Mitleid, Unentschlossenheit oder sogar gute, unverfälschte Lust sein würde. Es nicht zu wissen, hieß für ihn, so unvorbereitet zu sein wie in diesem Augenblick. Was ihm Unbehagen bereitete, da er nicht wusste, wie er mit ihr umgehen musste, um seine Ziele zu erreichen. Auf ihrem herzförmigen Gesicht diesen schmerzverzerrten Ausdruck zu sehen, nur weil sie glaubte, er habe Gareth hinrichten lassen, genügte bereits, ihn fast seinen Vorsatz vergessen zu lassen, in ihr nur die Tochter seines ärgsten Feindes zu sehen. Das Einzige, was ihn letztlich davor bewahrte, war das Wissen, dass sie ihn nicht sehen konnte und daher auch nicht wusste, wie sehr er in diesem Moment mit sich selbst rang. Er setzte sie wieder ab und machte einen Schritt weg von ihr.

Er würde sein Handeln nicht erklären, erst recht nicht ihr gegenüber, auch wenn ihm die entsprechenden Worte auf der Zunge lagen. So sehr hatte er in der letzten Zeit sein ganzes Leben von seinem Streben nach Vergeltung bestimmen lassen, dass die Weisheiten in Vergessenheit geraten waren, die er von Lord Gautier of Rennes gelernt hatte. Jetzt, da er die Frau betrachtete, die all sein Sinnen auf Rache verkörperte, hörte er in seinem Kopf den älteren Mann reden: „Hass ist die perfekte Waffe, denn sie verschafft deinem Feind Macht über dich, die du ihm auf andere Weise niemals überlassen würdest.“

Hatte er nicht genau das getan?

Er betrachtete Sybilla, die ihr Gleichgewicht wiederzufinden versuchte und dabei mit den Armen ruderte. Einen Moment lang wartete er ab, dann griff er nach ihr, da sie zu sehr in eine Richtung kippte und beinahe hingefallen wäre.

Es schien, dass die Menschen, die früher nur gut über ihn gedacht hatten, ihm inzwischen aufgrund seines Aussehens nur noch alles erdenklich Schlechte zutrauten. Er war zu einem Gefangenen seiner Wut und seines zerfetzten Gesichts geworden.

Soren wartete, bis sie ihre Balance wiedergefunden hatte, dann wandte er sich zum Gehen, da er weder in der Laune war, ihr falsches Urteil über ihn richtigzustellen, noch Lust hatte, sie über sein wahres Handeln aufzuklären.

„Du bist hier nicht gefangen“, sagte er zu ihr. „Du kannst deine Gemächer verlassen und betreten, wann immer du willst, und das gilt auch für deine Dienstmädchen.“

Es wurde Zeit für ihn, sich wieder seinen Plänen zu widmen, von denen sie ungeachtet seiner ursprünglichen Absichten auch ein Teil war. Das umliegende Land musste gesichert werden, die Schäden an der Feste mussten behoben, Befestigungen verstärkt und Vorräte aufgestockt werden. Anhand der Informationen aus den Aufzeichnungen des Verwalters konnte er herausfinden, wer dem Herrn von Alston seine Dienste, sein Getreide oder andere Waren schuldete.

An der Tür angekommen, schaute er über die Schulter und sah Sybillas betrübte Miene. Auch wenn sie eine Augenbinde trug, verrieten die heruntergezogenen Mundwinkel, was in ihr vorging. Verdammt! Soren konnte sich nicht erklären, warum er das tat, aber als er ihr Gemach verließ, sprach er die tröstenden Worte aus, von denen er wusste, dass sie sie hören musste.

„Gareth ist nicht tot.“

Dann zog er in aller Eile die Tür hinter sich zu und rief seine Männer zu sich, damit sie ihm halfen, so schnell wie möglich diesen Vorratsschrank und die dringend benötigten Unterlagen zu finden.

„Das reicht!“

Stephen winkte ab und zog die Kappe von seinem Kopf. Mit seiner Kapitulation gab es für Soren keinen Gegner mehr, mit dem er kämpfen konnte. Jeder der Männer, die um ihn herum auf dem Übungsgelände standen, war mittlerweile sein Kontrahent gewesen. Das Gelände draußen vor der Mauer, aber in Sichtweite der Feste und ihrer Tore war eine ebene Fläche entlang der Baumlinie, die sich hervorragend dafür eignete, Kraft und Ausdauer zu schulen und die kämpferischen Fähigkeiten zu üben. Normalerweise machte es ihm großen Spaß, seine Muskeln spielen zu lassen und Körper und Geist bis an die Grenzen zu belasten und dann noch ein wenig darüber hinauszugehen, um seine ohnehin schon überragende Verfassung noch etwas zu verbessern.

Während die anderen diese Übungen lässiger angingen und dabei auf manches schwere Kettenhemd und auf dicke Steppwesten verzichteten, blieb er vollständig angezogen. Schweiß lief ihm in Strömen in den Nacken und über seinen ganzen Körper, aber vor seinen Männern würde er nicht ein Kleidungsstück ablegen. Es war nicht so wie früher, als sein Körper noch ein Musterexemplar für männliche Schönheit gewesen und von anderen bewundert worden war – von Männern für die ihm innewohnende Stärke, von Frauen für die Lust, die er versprach.

Heute dagegen war sein Leib vom Kopf bis zur Hüfte von einem wirren Geflecht aus Narben übersät, allesamt Überbleibsel jener Spur der Verwüstung, die die Axt in sein Fleisch gerissen hatte. Da der Schnitt hatte dafür gesorgt, dass die Haut spannte und immer wieder schmerzte.

Sein Blick wanderte über den angrenzenden Wald, und ihm fiel ein, dass sie auf dem Weg hierher einen Wasserlauf überquert hatten. Das entsprach genau seinen Bedürfnissen.

Soren ließ Stephen seinen Plan wissen, dann stieß er einen Pfiff aus und holte so sein Pferd zu sich. Er saß auf dem schwarzen Ungeheuer auf, zeigte in Richtung der Bäume und berührte mit den Stiefeln nur leicht die Flanken des Tieres. Dann überquerten sie auch schon in hohem Tempo das Feld, um in die Schatten zwischen den Bäumen einzutauchen. Er dirigierte das Tier tiefer in den Wald hinein, bis er das Rauschen des Flusses hören konnte.

Am Ufer angekommen, sprang Soren von seinem Pferd und band die Zügel an einem Ast fest. Dann wartete er eine Weile und lauschte aufmerksam auf jedes Geräusch, weil er wissen wollte, ob sich sonst noch jemand in der Nähe aufhielt. Nachdem er Gewissheit hatte, dass der Wald nur von Vögeln und ähnlichen Geschöpfen bevölkert wurde, ging Soren bis dicht ans Ufer und machte sich daran, seine Rüstung und die Kleidung abzulegen.

Als er schließlich nackt war, streckte er sich ein paar Mal in dem Bemühen, die vernarbte Haut ein wenig geschmeidig zu machen. Dann machte er einen Schritt in den Strom, und fast hätte er keine Luft mehr bekommen, weil das Wasser so kalt war. Dieses ganze Land war viel kälter als seine Heimat in Britannien. Dort wurde die Luft von sanften Brisen gewärmt, die vom Meer herüberwehten, und am Tag beherrschte die Sonne anstelle der hiesigen Wolken den Himmel. Hier dagegen war es so kalt, dass einem glatt die Männlichkeit abfrieren konnte.

Er ließ sich durch die Kälte aber nicht abschrecken und ging weiter, bis ihm das Wasser bis zur Taille stand. Dann tauchte er den Kopf ein und wusch sich den Schweiß von der Haut. Nach den Anstrengungen dieses Tages wirkte das kalte Wasser auf seinem Körper erfrischend. Weil er dieses Bad nicht geplant hatte, war er auch nicht auf die Idee gekommen, ein Fläschchen Seife mitzubringen. Beim nächsten Mal … verdammt, nein! Beim nächsten Mal würde er in der Feste in warmem Wasser baden! Sybilla würde dagegen sicher nichts einzuwenden haben.

Er ging zurück in Richtung Ufer und wischte sich das Wasser von der Haut. Dann beugte er sich vor, griff in sein Haar und begann es auszuwringen, damit es nicht mehr triefend nass war. Dabei erblickte er in der Wasseroberfläche am ruhigen Uferrand sein Spiegelbild. Er konnte nicht anders als das Monster anzustarren, das jeder zu sehen bekam, der dem schönen Bastard Soren begegnete.

Wenn er den Kopf zur einen Seite drehte, sah sein Gesicht nahezu unberührt aus, während die andere Hälfte mit ganzer Wucht jenen Axthieb abbekommen hatte, der ihn fast das Leben gekostet hätte. Es war diese Hälfte, seine rechte, die andere Menschen mit Entsetzen und Abscheu reagieren ließ. Soren war so darin vertieft, sein Spiegelbild zu betrachten, dass er fast überhört hätte, wie sich jemand durch den angrenzenden Wald schlich und dabei unachtsam auf trockenes Laub trat.

Aber nur fast.

Er ging in die Hocke und griff nach Schwert und Dolch, sofort bereit, sich jeder Bedrohung zu stellen.

„Wer da?“, rief er.

„Raed“, ertönte eine Stimme aus dem Gebüsch rechts von ihm.

„Geh zurück zur Feste, ich werde bald folgen“, befahl er ihm und achtete darauf, sich nicht allzu weit in die Richtung des Jungen umzudrehen, damit der nicht zu viel von seinen Narben zu sehen bekam – sonst würde er noch wochenlang unter Albträumen leiden. Außerdem wäre er als Knappe zu nichts mehr zu gebrauchen, wenn er schon vor seinem ersten Gefecht vor Augen geführt bekam, was einem beim Kampf widerfahren konnte.

„Aye, Lord Soren“, rief der Junge, ohne sich ihm zu zeigen.

Soren griff nach seiner Kleidung und zog nur das Nötigste an, um seinen Körper für den Ritt zur Feste zu bedecken. Was ihn während des Ritts störte, war die Erkenntnis, dass sich erneut sanftere Gefühle in ihm regten, so zum Beispiel Sympathie für den Jungen … und Bewunderung für seine Ehefrau.

Als sie ihn in den folgenden Nächten immer wieder in seinen Träumen verfolgte, wusste er, dass Veränderungen bevorstanden. Er konnte nur hoffen, dass seine Seele das überleben würde.


Mondscheinküsse für Miss Dara

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