Du sollst meine Prinzessin sein - Kapitel 11

~ Kapitel 11 ~

Der Helikopter begann seinen Sinkflug zum Landeplatz im Innenhof des Palastes. Tausend Mal musste Rico eine solche Landung bereits mitgemacht haben. Er blickte auf die weißen Türme hinunter. Ein ihm völlig vertrauter Anblick.

    Und doch wirkte er auf einmal fremd.

    Rico wollte nicht hier sein, nicht die Konfrontation mit seinem Vater über sich ergehen lassen. Aber es musste getan werden. Je früher er es hinter sich brachte, desto besser.

    Wie hatte sich sein Vater entschieden? Entweder hatte Falieri es nicht gewusst, oder man hatte ihm strikte Befehle erteilt, nicht den leisesten Hinweis zu geben. Bald würde er es wissen.

    Der Helikopter setzte auf dem Boden auf, und der Lärm des Motors verstummte. Rico löste seinen Sicherheitsgurt, nickte dem Piloten zu und öffnete die Tür. Geschmeidig sprang er hinaus und duckte sich unter den Rotorblättern hindurch.

    Als er sich aufrichtete, verließen vier Wachen den Palast. Sie trugen ihre offiziellen Uniformen. Rico blieb stehen und erwartete die Männer.

    „Was ist los?“, fragte er scharf.

    Der dienstälteste der Wachleute blickte mit ausdrucksloser Miene starr an ihm vorbei.

    „Eure Hoheit, ich bedaure sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie unter Arrest stehen.“

 

Man brachte ihn in seine eigenen Gemächer und nahm ihm sein Handy ab. Auch alle anderen Kommunikationsmittel, wie Computer und Telefone, waren entfernt worden.

    Was zur Hölle geht hier vor? dachte er ungläubig. Ruhelos ging er im Wohnzimmer auf und ab.

    Unvermittelt wurde die Eingangstür von zwei Wachen geöffnet. Sein Vater betrat das Zimmer. Seine Augen blickten so kalt, wie Rico es noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte.

    „Was soll das?“, fragte er.

    „Ich habe dich unter Arrest gestellt“, erwiderte sein Vater, Prinz Eduardo.

    „Wie lautet die Anklage?“

    „Du hast ein Verbrechen gegen das Fürstentum San Lucenzo begangen“, seine Stimme war ebenso eisig wie sein Blick.

    Rico starrte ihn an. „Was?“

    „Dieses Gesetz stammt noch aus dem Mittelalter. Es betrifft die Eheschließungen der Herrscherfamilie.“

    „Ich verstehe nicht, was du meinst.“

    „Jedes Mitglied der königlichen Familie braucht die Zustimmung des regierenden Prinzen, um heiraten zu können. Du hast gegen dieses Gesetz verstoßen. Aus diesem Grund ist deine Ehe ungültig.“

    Rico ließ die Worte auf sich wirken, dann sah er seinen Vater an. „Warum tust du das? Bedeutet es dir gar nichts, dass der Junge Paolos Sohn ist?“

    „Paolo ist tot – wegen dieses Jungen. Wenn dieses ehrgeizige Mädchen ihn nicht in eine Falle gelockt hätte, hätte er nie sein Leben verloren.“

    Ungläubig schüttelte Rico den Kopf.

    „Wir wissen nichts über ihre Beziehung. Es kann sehr gut sein, dass sie sich geliebt haben. Auf jeden Fall hat Paolo sich wie ein Ehrenmann verhalten und sie um des ungeborenen Kindes willen geheiratet.“

    Kurz blitzte etwas in den Augen seines Vaters auf, doch gleich darauf war seine Miene wieder hart und kalt wie Marmor.

    „Er hatte kein Recht dazu. Zuallererst ist er seinem Namen verpflichtet. Aber ich gebe mir selbst die Schuld daran. Wir haben ihn als Kind zu sehr verwöhnt … und das waren die Konsequenzen.“

    Ein eisiger Schauer lief Rico über den Rücken. Sein Vater sprach wieder, und er zwang sich, ihm zuzuhören.

    „Dennoch war ich bereit, die kurze Ehe und damit auch den Sohn anzuerkennen. Der Junge wäre hier im Palast angemessen erzogen worden und als Mitglied der königlichen Familie akzeptiert worden. Leider hat sich die Sturheit der Tante als ernstes Hindernis erwiesen.“

    „Sie ist mehr als eine Tante, sie ist seine Mutter. Ich habe doch wohl klar genug gemacht, dass man sie nicht von ihrem Sohn trennen darf. Dein Versuch, es trotzdem zu tun, ist verachtenswert.“

    „Hüte deine Zunge, so sprichst du nicht mit mir“, entgegnete sein Vater frostig. „Allerdings wird es dich freuen zu hören, dass der Junge für uns keine Handlungsnotwendigkeit mehr darstellt. Ich habe meine Meinung zu Paolos Ehe geändert und erkenne sie nicht mehr an. Aus diesem Grund ist der Junge nur noch ein uneheliches Kind. Seine Zukunft ist nicht länger von Interesse für mich.“

    „Er ist dein Enkelsohn“, sagte Rico.

    Die Miene seines Vaters blieb unverändert hart. „Königliche Bastarde kümmern mich nicht. Er hat keinen Anspruch auf Paolos Erbe. Natürlich werden wir trotzdem eine angemessene Summe für seinen Lebensunterhalt zur Verfügung stellen. Damit ist die Angelegenheit beendet. Luca wird sich mit den Anwälten besprechen und alles in die Wege leiten. Und was dich angeht“, fuhr er kalt fort, „du wirst keinen weiteren Kontakt zu der Frau oder dem Jungen aufnehmen. Stimmst du dieser Bedingung zu, wird der Arrest aufgehoben. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“

    Rico sah seinen Vater an, der nur ein paar Meter von ihm entfernt stand. Aber die Distanz zwischen ihnen hätte nicht größer sein können.

    Ohne ein weiteres Wort wandte Prinz Eduardo sich um und verließ den Raum. Hinter ihm schloss sich die Tür, Rico war wieder allein.

    Wie lange er einfach nur dort stand, wusste er nicht. Er fühlte überhaupt nichts mehr.

    Irgendwann erklangen vor der Tür Stimmen, die eine scharf, die andere respektvoll.

    Wieder öffnete sich die Tür, und dieses Mal betrat Luca das Zimmer.

    Die Blicke der Brüder trafen sich.

    „Warum hast du das getan?“, Lucas Frage klang fast resigniert. „Bist du komplett verrückt geworden … oder nur einfach bemerkenswert dumm? Wie konntest du heiraten und dann glauben, du könntest unseren Vater erpressen, deine Ehe anzuerkennen? Meine Güte, kennst du ihn immer noch nicht gut genug, um zu wissen, dass er niemals nachgibt?“

    „Ich dachte, ein offener Bruch mit mir und der folgende Skandal würden ihm mehr ausmachen, als das Richtige für Paolos Sohn zu tun.“

    „Das Richtige?“ Es schien, als würde ein Damm in Lucas Innerem brechen. „Mein Gott, Rico. Es ist deine Schuld, dass wir Paolos Sohn verloren haben. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie schwer es war, unseren Vater dazu zu bringen, Paolos Ehe zu akzeptieren? Seine erste Reaktion war, alles zu ignorieren. Irgendwann konnte ich ihn überzeugen, dass es das Beste wäre, den Jungen als eheliches Kind anzuerkennen. Und das bedeutete, der Junge konnte hierherkommen. Natürlich allein, das muss ich nicht extra betonen. Hast du wirklich geglaubt, unser Vater wollte auch nur für einen Moment etwas mit der Familie der Mutter zu tun haben?“

    Lucas Miene verfinsterte sich. „Aber wie zur Hölle hätte ich wissen können, dass sich dieses Mädchen so anstellt und du es ihr auch noch durchgehen lässt? Verdammt, Rico, sie hätte dir aus der Hand fressen sollen, nicht umgekehrt. Ich habe dich nie für einen Idioten gehalten, aber jetzt tue ich es. Und dank deiner Idiotie hast du Paolos Sohn für uns verloren. Du bist dafür verantwortlich, dass der Junge nun ein Bastard ist. Das ist es, was du erreicht hast, und das werde ich dir nicht so schnell verzeihen.“

    Bittere Wut mischte sich in seine Anschuldigung, dann blitzten seine Augen erneut.

    „Es ist Zeit, erwachsen zu werden, Rico, und Verantwortung zu übernehmen. Hör auf, dich von deinem überaktiven Liebesleben kontrollieren zu lassen. Denn den Fotos nach zu urteilen ist ja wieder genau das passiert. Du hast sie herrichten lassen und dann verführt. Ich kann nur hoffen, es hat sich gelohnt, denn es ist vorbei. Bis auf hundert Meilen darfst du dich ihr von nun an nicht mehr nähern. Vielleicht lernst du so, was Verantwortung heißt, Rico. Das solltest du zumindest, denn es ist deine letzte Chance. Unser Vater hat das sehr klargemacht. Du warst so kurz davor, eine Grenze zu übertreten. So kurz“, er verstummte, schwer lastete sein Blick auf seinem Bruder.

    „Verantwortung?“, wiederholte Rico langsam. „Ich hatte schon immer ein Problem mit Verantwortung. Weil ich nie welche hatte. Meine gesamte Verantwortung erstreckte sich darin, am Leben zu bleiben, das war alles. Falls du plötzlich tot umfallen solltest. Schwul wirst. Dich weigerst zu heiraten. Zeugungsunfähig bist. Bis dahin musste ich mir irgendwie die Zeit vertreiben. Wie und mit was auch immer. Denn mehr konnte ich nicht tun. Dann jedoch habe ich etwas gefunden, was nur ich tun konnte. Ich konnte Paolos Sohn retten.“

    Er hielt seinen Blick fest auf Luca gerichtet. „Ich konnte ihn vor der grauenhaften Kindheit bewahren, die ihr für ihn geplant hattet. Erinnerst du dich an unsere Kindheit, Luca, oder hast du die praktischerweise vergessen? Ich kann mich gut daran erinnern, und um nichts auf der Welt werde ich zulassen, dass Paolos Sohn dasselbe widerfährt. Niemals werde ich erlauben, dass man ihn von der Frau trennt, die er wie eine Mutter liebt. Ich habe es verhindert, und ich bereue nichts von dem, was ich getan habe. Gar nichts.“ Erst jetzt nahm seine Stimme einen unwirschen Tonfall an. „Auch wenn ich dafür entdecken musste, was für ein unmenschlicher Abschaum meine Familie in Wahrheit ist.“ Er atmete scharf ein. „Und wenn du nicht willst, dass ich dich wieder niederschlage, dann solltest du jetzt mein Zimmer verlassen.“

    „Hast du vor, wieder deinen Geheimgang zu benutzen und in die Hügel zu fliehen, Rico? Das wird dir nicht viel bringen. Damit wirst du nicht aus dem Loch kommen, in das du dich manövriert hast. Dir bleiben keine Möglichkeiten mehr. Deine Ehe ist für ungültig erklärt worden, und du stehst unter Arrest.“

    „Es interessiert mich einen …“

    „Erlaube mir“, unterbrach Luca ihn, „dir zu erklären, was das Gesetz von San Lucenzo dem regierenden Prinzen erlaubt.“

    Und mit sehr präzisen Worten tat er genau das.

    Rico hörte zu. Und während er zuhörte, erstarrte langsam seine Miene.

 

Lizzy saß ganz still. Ben hatte sie ins Spielzimmer geschickt, sich eine DVD anzuschauen, bis sie ihn rufen würde.

    „Es tut mir sehr leid“, sagte Captain Falieri, „der Überbringer solch unerfreulicher Nachrichten zu sein.“

    Sie schluckte. Ein dicker Kloß hatte sich in ihrer Kehle gebildet. „Was … was passiert jetzt mit Ben und mir?“

    „Ich werde Sie und den Jungen zurück nach Cornwall bringen. Vielleicht möchten Sie das Personal anweisen zu packen? Natürlich …“, er zögerte einen Moment, „alle Dinge, die während Ihres Aufenthalts für Sie gekauft wurden, werden als Ihr Eigentum angesehen.“

    Sie sagte nichts darauf. Sie würde Ben ein paar Spielsachen auswählen lassen, aber nichts für sich selbst. Sie brauchte nicht mehr als die Dinge, mit denen sie hergekommen war.

    Unvermittelt stand Lizzy auf. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen …?“

    „Selbstverständlich. Jedoch …“, wieder zögerte er. „Ich habe die Anweisung, Sie ein bestimmtes Dokument unterzeichnen zu lassen.“ Aus seiner Brusttasche zog er einen dicken langen Briefumschlag, nahm ein Schriftstück heraus und legte es vor sie auf den Tisch.

    „Mit Ihrer Unterschrift verpflichten Sie sich, sich an bestimmte Auflagen zu halten. Weder Sie noch der Junge dürfen Ansprüche an das Erbe des verstorbenen Prinzen Paolo stellen. Sie dürfen keinen Kontakt zu der Presse aufnehmen. Anfragen der Presse an Sie sind an das persönliche Sekretariat von Prinz Eduardo weiterzuleiten. Stimmen Sie den Bedingungen zu, wird regelmäßig ein gewisser Betrag an Sie überwiesen, der den Lebensunterhalt für Sie und Ihren Neffen abdeckt. Wenn der Junge die Volljährigkeit erreicht, wird ihm eine größere Summe zur Verfügung gestellt.“

    Schweigend zog er einen Füller aus der Innentasche und schlug die letzte Seite des Dokuments auf.

    „Ich werde diese Papiere unterschreiben“, sagte Lizzy. „Aber Geld werde ich nicht annehmen. Bitte erklären Sie das dem Prinzen.“

    Sie unterzeichnete auf der vorgegebenen Linie und wartete, bis Captain Falieri als Zeuge ebenfalls unterschrieben hatte.

    Dann wandte sie sich zum Gehen. „Ich muss mit meinem Sohn sprechen.“

    Ernst neigte der Captain den Kopf und sah ihr nach.

 

Es regnete. Eine dicke Regenwand kam vom Nordatlantik herüber und rüttelte an den Fensterläden.

    In dem Cottage war es kalt und feucht.

    Captain Falieris Miene verdüsterte sich, als er Lizzy nach drinnen begleitete.

    „Hier können Sie nicht bleiben“, sagte er freiheraus. „Ich bringe Sie in ein Hotel.“

    Lizzy schüttelte den Kopf. „Nein, ich möchte lieber hierbleiben.“

    Sie drehte sich zu ihm um und streckte die Hand aus. „Danke“, sagte sie. „Dafür, dass Sie es für uns so einfach wie möglich gemacht haben.“

    Er nahm ihre Hand, schüttelte sie aber nicht, sondern verbeugte sich.

    „Ich wünschte …“, setzte er an, dann richtete er sich auf und blickte ihr in die Augen. „Ich wünschte, die Umstände wären andere.“

    Ihre Kehle verengte sich. Mit seiner Freundlichkeit konnte sie nicht umgehen. Und auch nicht mit seinem Mitgefühl.

    „Vielen Dank“, wiederholte sie. „Sie sollten jetzt besser gehen.“

    „Sind Sie sicher?“

    Sie nickte. „Das wäre das Beste für Ben.“ Sie schluckte. „Einen kompletten Bruch wird er am leichtesten verkraften.“

    War es wirklich erst ein paar Wochen her, dass sie zwei Fremde in ihr Haus gebeten hatte?

    Lizzy ging zur Küche hinüber. Niedergeschlagen saß Ben am Tisch.

    „Captain Falieri muss jetzt gehen, Ben. Komm und verabschiede dich von ihm.“

    Ben hob den Kopf. „Können wir nicht mit ihm kommen, Mummy? Mir gefällt es hier nicht mehr. Es ist kalt.“ Tränen hatten sich in seine Stimme geschlichen.

    „Nein, mein Schatz. Das ist unser Zuhause. Unsere Ferien sind vorbei.“

    Jetzt schimmerten wirkliche Tränen in Bens Augen.

    „Ich will nicht, dass sie vorbei sind“, sagte er.

    Es gab nichts, was sie darauf erwidern konnte. Am liebsten hätte sie sich neben ihn gesetzt und ihrer Trauer freien Lauf gelassen. Aber für Ben musste sie stark sein. Sie zwang sich zu einem Lächeln.

    „Alle Ferien enden, Ben. Und jetzt komm und verabschiede dich von Captain Falieri.“

    Sie nahm seine Hand und führte ihn in den Flur.

    „Auf Wiedersehen, Ben“, sagte Falieri ernst. Er streckte die Hand aus.

    Ben nahm sie nicht.

    „Bin ich wirklich kein Prinz mehr?“, fragte er stattdessen.

    Der Captain schüttelte den Kopf. „Ich fürchte nicht, Ben.“

    „Und Mummy ist keine Prinzessin mehr?“

    „Nein.“

    „Das galt nur während der Ferien, mein Schatz“, warf Lizzy ein. Es war die einzige Möglichkeit gewesen, Ben alles zu erklären.

    „Was ist mit Tio Rico? Ist er auch kein Prinz mehr?“

    Unwillkürlich verstärkte Lizzy den Griff um Bens Schulter. „Er wird immer ein Prinz bleiben, mein Schatz. Nichts kann daran etwas ändern.“

    Einen endlosen Moment hielt sie Captain Falieris Blick stand, dann wandte sie den Kopf ab.

    Sie wartete in der offenen Haustür, bis sie ein Motorengeräusch hörte. Der Wagen würde den Captain zum Flugplatz und zu dem bereits auf ihn wartenden Flugzeug bringen.

    Erst als eine heftige Windböe in den Flur drang, schloss sie die Tür. Lizzy fröstelte.

    „Wir können ein Feuer im Ofen anzünden, Ben. Dann wird uns schnell warm.“

    Doch innerlich würde ihr nie wieder warm werden. Eine tödliche Eiseskälte hatte sich auf ihre Seele gelegt.

    Wie soll ich das nur alles ertragen? Wie?

    Die Frage hallte durch ihren Kopf, aber sie hatte keine Antwort darauf.

    Sie ging zurück in die Küche. Mechanisch packte sie die Lebensmittel aus, die Captain Falieri im Supermarkt des Flughafens gekauft hatte. Dann setzte sie einen Topf mit Milch für Ben auf. Warme Milch würde ihm guttun.

    Es war noch nicht spät, aber das Unwetter verdunkelte den Himmel. Erst vor ein paar Stunden hatten sie die Villa verlassen.

    Mit all ihrer Kraft zwang sie sich, das Feuer im Ofen zu entzünden und sich um Bens Milch zu kümmern.

    Ben saß am Tisch, den Kopf auf die Arme gelegt. Das personifizierte Elend.

    Ich muss weitermachen. Mehr kann ich nicht tun. Nur weitermachen. Immer weiter – die Worte wurden ihr Mantra. Nur so überstand sie den Abend und den folgenden Tag. Und den Tag danach. Und es würde ihr auch durch den Tag danach helfen. Durch jeden Tag.

    Für den Rest ihres Lebens.

    Alles war unerträglich. Und doch musste sie die Situation ertragen.

    Es gab nichts, was sie sonst tun konnte. Irgendwann würde der Schmerz nachlassen. Irgendwann würde sie akzeptieren können, was passiert war. In ihrem Leben gab es eine kurze goldene Zeit. Aber diese Zeit war vorüber. Und sie würde nie wieder zurückkehren.

 

Die Nächte waren am schlimmsten. Stunde um Stunde starrte Lizzy in die Dunkelheit. Und erinnerte sich.

    Mehr war ihr nicht geblieben. Nur ihre Erinnerungen.

    Und ihre Erinnerungen waren quälend lebendig. Dennoch wusste sie, und davor hatte sie noch größere Angst, dass sie allmählich verblassen würden. Wie alte Fotos, deren Farbe Jahr um Jahr mehr ausbleichte. Irgendwann würden sie verschwimmen und dann verloren gehen.

    So wie Rico aus ihrem Leben verschwunden war.

    In ihren Gedanken konnte sie ihn noch fassen, erreichte ihn durch das Schweigen und die Dunkelheit hindurch, über Land und Meer hinweg.

    Doch wo er wirklich war, wusste sie nicht.

    Und was würde es auch für einen Unterschied machen? Was würde sich ändern, wenn sie wüsste, wo er war? Seine Welt hatte ihn wieder aufgenommen. Für ihn war sie nur ein Zwischenspiel. Was er getan hatte, hatte er getan, um Ben zu beschützen. Ben war jetzt in Sicherheit. Ben brauchte ihn nicht mehr. Rico konnte in sein altes Leben zurückkehren, so wie Ben in seines.

    Und sie hatte ihres.

    Ohne ihn.

    Nur Erinnerungen. Bloß Erinnerungen.

 

Eine bleiche Sonne kämpfte sich durch die Wolken. Nach vielen, vielen Regentagen klarte der Himmel endlich auf. Regentropfen glitzerten noch auf den Ästen der Bäume, und ein leichter Wind war aufgekommen, der den Geruch des Meeres mit sich brachte.

    „Komm schon, Ben, gehen wir an den Strand“, Lizzy legte eine Fröhlichkeit in ihre Stimme, die sie ganz und gar nicht empfand.

    „Ich will nicht“, gab Ben zurück. „Ich möchte zu Tio Rico und der Villa.“

    „Dort verbringen jetzt andere Menschen ihre Ferien. Unsere Ferien sind vorbei. Wir leben jetzt wieder hier in Cornwall.“

    Bens Unterlippe begann zu zittern. Er schluckte, dann hob er den Kopf. „Mummy, will Tio Rico uns nicht mehr?“

    Sie versuchte, darauf zu antworten. Versuchte, Worte zu finden, die ein vierjähriger Junge verstehen konnte. Aber ihr fielen nur grausame harte Worte ein. Doch was hätte sie sonst sagen sollen? War es nicht noch grausamer, falsche Hoffnungen zu wecken?

    „Dein Onkel hat keine Zeit mehr für uns, Ben“, begann sie vorsichtig. „Er muss wieder seinen Pflichten nachkommen. Wir haben nur einen Urlaub mit ihm verbracht.“

    Ferien. Mehr war es nicht gewesen. Eine verzauberte Zeit voller Magie, Staunen und Glück. Und die Erkenntnis, dass diese Zeit nie wiederkommen würde, machte alles so entsetzlich.

    Die einzige Möglichkeit, den Rest ihres Lebens zu ertragen, war, nicht daran zu denken.

    Mit einer resoluten Bewegung fuhr sie fort, die Badesachen in die Strandtasche zu packen.

 

Trotz seiner Proteste ging sie mit Ben an den Strand. Lizzy hatte ganz vergessen, wie frisch der Wind am Anfang des Sommers noch war. Im Schutz der Felsen breitete sie die große Decke mit den bunten Fransen aus.

    Dann blickte sie hinaus aufs Meer.

    Wo ist er jetzt? fragte sie sich unwillkürlich. In einem anderen angesagten Zufluchtsort? Monte Carlo? Vielleicht in der Karibik? Feierte er eine Party mit anderen Menschen der High Society? Traf er sich mit wunderschönen Frauen? Führte er wieder das Leben des Playboy-Prinzen, für das er geboren war?

    Sie musste damit aufhören. Es spielte keine Rolle.

    Es war egal, wo er war, mit wem er zusammen war oder was er tat.

    Es war unwichtig. Und es würde für den Rest ihres Lebens nicht mehr wichtig sein.

    Lizzy beschwerte die Ecken der Decke mit einem Buch, einem Schuh und der Tasche.

    „Was hältst du von Schwimmen?“, fragte sie Ben.

    „Es ist zu kalt“, antwortete dieser, setzte sich auf die Decke und wickelte sich in ein Handtuch.

    „Dann bauen wir die Spur für die Eisenbahn. Welche Loks hast du mitgebracht?“

    „Damit will ich nicht spielen. Ich will mein Fort, das Tio Rico und ich gemacht haben.“

    Allmählich verließ Lizzy der Mut. „Du weißt doch, wir konnten es nicht mitnehmen. Es war zu groß, Ben. Aber wir haben die Ritter mitgebracht, sind die nicht das Wichtigste?“

    „Aber ich will das Fort. Es hat eine Brücke und ein Gitter, das man hochziehen konnte, und zwei Türme.“

    Die aufsteigende Erinnerung schmerzte wie ein Messerstich mitten ins Herz. Lizzy war wieder die hässliche Schwester, die sich auf so wundersame Weise in Cinderella verwandelt hatte. Sie war Dornröschen und wartete darauf, von dem schönsten Prinzen der Welt wachgeküsst zu werden.

    Nein. Sie durfte nicht daran denken, sich nicht daran erinnern. Es war vorbei. Wie ein Traum.

    Wie ein Märchen, das zu Ende war.

    Sie atmete tief ein. Sie durfte nicht an Märchen denken. Märchen waren nicht real.

    Das hier war die Realität: sie und Ben, hier und jetzt. Und sie würde nicht zulassen, dass er noch länger schmollte. Was hatte das auch für einen Sinn? Sie mussten ihr Leben weiterleben.

    „Das Fort ist nicht mehr da, aber wir haben die Eisenbahn. Also bauen wir die Wege für die Loks“, sagte sie mit erzwungener Entschlossenheit.

    Sie begann, im Sand zu graben, legte einen Weg für die Eisenbahn an, wie Ben es früher immer gerne getan hatte. Der Sand unter der Oberfläche war kalt und nass. In Capo d’Angeli war der Sand immer warm und trocken gewesen.

    Und Rico hatte ihnen geholfen.

    „Komm schon, Ben, mach mit.“

    Missmutig schaufelte auch er ein wenig Sand beiseite. Lizzy ignorierte seine unglückliche Miene. Um weitermachen zu können, musste sie wieder fröhlich werden. Welche Alternativen gab es schon? Sie kniete sich mit dem Gesicht zum Meer, ließ den Wind ihre Haare zerzausen, in denen sich bereits erste krisslige Strähnen zeigten.

    Ohne die kostspieligen Behandlungen der Schönheitsexperten und Stylisten verwandelte sie sich wieder zurück in ihr altes Ich. Sie wusste es, aber es war ihr gleichgültig.

    Was kümmerte es Ben, wie sie aussah?

    Und es war niemand sonst da, der auf ihr Äußeres Wert legte.

    „Wo soll der Bahnhof hin?“, fragte sie, richtete sich auf und ließ die vom Wind getriebenen Sandkörner auf ihren Wangen prickeln.

    „Mir egal“, entgegnete Ben. Auch er setzte sich auf. „Das ist eine blöde Spur, und mir ist egal, wo der blöde Bahnhof ist. Alles ist blöd, blöd, blöd.“ Er stieß die Schaufel in den Sand und verwirbelte ihn in alle Richtungen.

    „Also ich würde ihn direkt vor die Gabelung bauen. Das ist ein guter Platz für einen Bahnhof“, sagte eine warme tiefe Stimme hinter ihnen.


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