Die Welt schien stehen zu bleiben. Und doch begann sich alles um sie herum so schnell zu drehen, dass ihr schwindelig wurde.
Es war unmöglich. Eine Illusion. Manchmal passierte so etwas: Menschen hörten Stimmen von Leuten, die gar nicht da waren.
Die ganz woanders waren, beispielsweise auf einer exklusiven Party in einer luxuriösen Villa oder auf einer Jacht, oder die mit einem wunderschönen Filmstar neben sich in einem Privatjet zu einer tropischen Insel flogen.
Keinesfalls befanden sie sich an einem Strand in Cornwall, an dem ein heftiger Wind vom Nordatlantik her wehte …
„Tio Rico!“, rief Ben voller Freude.
Sie neigte den Kopf, um ihre trügerische Vision abzuschütteln.
„Hallo, Ben. Ging es dir gut ohne mich?“
„Nein!“, antwortete der Junge. „Du warst nicht da. Warum warst du nicht da, Tio Rico?“
„Ich bin aufgehalten worden. Es tut mir leid. Aber jetzt bin ich hier.“
Lizzy spürte, wie er sich auf die Stranddecke setzte. Immer noch konnte sie keinen einzigen Muskel bewegen.
„Wirst du jetzt bei uns bleiben?“, fragte Ben ein wenig ängstlich.
„Solange du willst.“ Er hielt inne. „Wenn deine Mummy einverstanden ist.“
Er legte eine Hand auf ihre Schulter. „Lizzy?“
Sie blickte auf. Rico saß unmittelbar neben ihr, als wäre er schon immer dort gewesen.
„Du solltest nicht hier sein“, flüsterte sie mit belegter Stimme. „Captain Falieri hat mir alles erklärt. Er hat gesagt, es wäre dir verboten, Ben zu sehen.“
Der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich. „Nun, das kommt darauf an“, antwortete er und sah sie eindringlich an.
„Nein, es kommt auf gar nichts an. Seine Erklärung war sehr klar und deutlich. Du darfst Ben nicht mehr besuchen.“
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Ben das Gesicht verzog.
„Warum darf Tio Rico mich nicht mehr sehen?“, fragte er.
Rico streckte die Hand aus und strubbelte durch die Haare des Jungen. „Deine Mutter hat das falsch verstanden. Ich bin doch hier, oder nicht?“
Jetzt war es an ihr, das Gesicht zu verziehen. „Aber du solltest es nicht sein“, erwiderte sie finster.
Etwas blitzte in seinen Augen auf, was sie dort nicht sehen wollte. „Wo sollte ich sonst sein, wenn nicht bei meiner Frau und meinem Sohn?“, fragte er ruhig.
„Nein“, wehrte sie ab und schaukelte sanft vor und zurück. „Nein“, wiederholte sie noch einmal trotzig.
„Hast du wirklich gedacht, ich komme nicht wieder?“
Unvermittelt sprang Lizzy auf. „Du musst gehen!“, schrie sie ihn an. „Sofort. Captain Falieri hat mir alles erklärt. Also geh … geh!“
Rico ergriff ihre Hände und zog Lizzy wieder zu sich hinunter.
„Er hat mir alles gesagt“, herrschte sie ihn verzweifelt an. „Er hat mir von dem Gesetz erzählt, nach dem du ohne die Erlaubnis des regierenden Prinzen nicht heiraten darfst. Unsere Ehe ist ungültig.“
„Unsere Ehe ist rechtskräftig, Lizzy. Wir haben unser Versprechen vor einem Priester abgelegt. Niemand kann das rückgängig machen.“
„Doch, dein Vater kann … und er hat es getan.“
„Alles, was mein Vater tun kann, ist, unsere Ehe innerhalb von San Lucenzo nicht anzuerkennen. Aber er kann sie nicht aufheben. Er hat keine Macht über uns, Lizzy. Gar keine.“
„Das ist nicht wahr. Auch das hat Falieri mir gesagt. Dein Vater besitzt die absolute Macht über dich. Und wenn du ihm nicht gehorchst, wird er davon Gebrauch machen.“ Sie schluckte. Ein qualvoller dicker Kloß hatte sich in ihrer Kehle gebildet. Dennoch sprach sie weiter, sprach die Worte aus, die sich so schmerzlich in ihre Seele gebrannt hatten.
„Er wird es tun, Rico. Er wird dir deinen königlichen Rang absprechen. Er wird dich enterben und dich von der Thronfolge ausschließen. Deine Konten in San Lucenzo werden eingefroren. Er wird dir alles wegnehmen … alles.“
In ihrem Kopf konnte sie immer noch die Worte des Captains hören. Die Worte, die alle ihre Hoffnungen zerstört hatten. Die sie überwältigt und ihr Herz in tausend Scherben hatten zerspringen lassen.
Der seltsame Ausdruck auf Ricos Gesicht machte ihr Angst. Seine Miene war ruhig. Sehr ruhig. Zu ruhig.
„Falieri hatte unrecht. Es gibt etwas, das mein Vater mir nie wegnehmen kann.“ Er schwieg einen Moment. „Dich. Du bist meine Frau, Ben mein Adoptivsohn. Und niemand, keine Macht der Welt, wird mir euch nehmen.“
„Nein“, schrie sie. „Das darfst du nicht sagen. Ich werde es nicht zulassen. Du musst sofort gehen.“
„Was für eine korrupte Frau du doch bist“, meinte er lächelnd. „Du wolltest mich nur wegen meines Titels, nicht wahr?“ Er verschränkte seine Finger mit ihren. „Nun, dann habe ich schlechte Nachrichten für dich, Signora Ceraldi …“
„Hör auf. Noch ist es nicht zu spät. Geh jetzt.“
Rico zog sie an seine Brust. „Dafür ist es zu spät, viel zu spät.“
Er küsste sie.
Der Kuss dauerte sehr lange. Und endlich ergab Lizzy sich ihm. Sie schmolz in seinen Armen, während Tränen über ihre Wangen liefen.
„Mummy? Mummy?“
Eine kleine Hand zupfte an ihrem Ärmel. Rico ließ Lizzy ein wenig los und schloss Ben ebenfalls in seine Arme.
„Und jetzt sag mir die Wahrheit“, wandte er sich an Ben. „Was möchtest du lieber? Soll ich weggehen oder hier bei dir und Mummy bleiben, obwohl ich dann kein Prinz mehr bin?“
„Würdest du denn weggehen?“, fragte Ben.
Rico schüttelte den Kopf. „Niemals. Nur manchmal muss ich fort … um zu arbeiten. Vielleicht für ein paar Tage in der Woche. Aber wir würden zusammenleben – mit Mummy natürlich. Würde dir das gefallen?“
„Wo würden wir denn wohnen?“
„Wo auch immer du magst. Außer in einem Palast.“
„Ich will hier leben und in dem Ferienhaus mit dem Swimmingpool“, forderte Ben. „Mit dir und Mummy. Für immer und immer.“
„Abgemacht“, erwiderte Rico. „Gib mir Fünf und sag Ja.“
Begeistert schlug Ben seine kleine Hand gegen Ricos große. „Ja“, rief er. „Ja, ja, ja!“
Sein kleines Gesicht glühte vor Freude.
Lizzys Gesicht hingegen war feucht vor Tränen.
„Du kannst das nicht tun. Es ist unmöglich“, weinte sie.
Rico schloss sie fester in seine Arme. „Zu spät“, erwiderte er. „Es ist bereits beschlossene Sache, Signora Ceraldi.“ Tief sah er ihr in die Augen. „Sag mir nicht, dass mein Titel das Einzige war, was dich an mir interessiert hat. Das verkraftet mein Ego nicht.“
Sie schluckte. „Ben …“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Warum fängst du nicht schon einmal an, den neuen Bahnhof zu bauen? Tio Rico und ich müssen uns ein wenig unterhalten.“
„Okay“, erwiderte Ben.
Seine Welt war wieder in Ordnung. Glücklich marschierte er zurück zu der begonnenen Eisenbahnanlage und machte sich an die Arbeit. Lizzy hingegen entzog sich vorsichtig Ricos Umarmung und setzte sich in die am weitesten entfernte Ecke der Decke.
„Du kannst das nicht tun“, wiederholte sie mit fester gewordener Stimme. Sie wählte einen ruhigen und vernünftigen Tonfall. „Ich erlaube es dir nicht. Ich lasse nicht zu, dass du für Ben alles aufgibst. Er ist noch jung, er wird dich bald vergessen. Am Anfang wird es schwer sein, aber irgendwann bist du nur noch eine Erinnerung, und auch die wird verblassen.“
„Ja, aber ich werde mich immer an ihn erinnern. Ich werde ihn nicht vergessen. Und ich werde ihn bestimmt nicht aufgeben. Er ist der Sohn meines Bruders. Er würde wollen, dass ich der Vater für Ben bin, der er nie sein durfte. Genauso wie du Ben eine Mutter bist, wie es deiner Schwester nicht erlaubt war. Und obwohl wir ihren schrecklichen Tod nicht ungeschehen machen können, können wir doch für ihren Sohn eine liebevolle Familie sein. Denn wir beide lieben ihn … und wir lieben uns, nicht wahr, Lizzy?“
Sie öffnete den Mund, aber kein Laut drang über ihre Lippen.
„Du kannst keinen Mann so küssen, wenn du ihn nicht liebst. Du kannst nicht so über einen Mann weinen, wenn du ihn nicht liebst. Und ganz sicher kannst du einem Prinzen nicht sagen, er darf seinen Titel nicht für die Frau aufgeben, die er liebt, wenn du ihn nicht liebst. Ich habe dich in allen drei Punkten überführt, Signora Ceraldi. Aber ich habe noch mehr Beweise. Jede Nacht, die wir zusammen verbracht haben, jeder Moment, den wir zusammen waren, jeder Blick, jede Berührung, alles, was wir zueinander gesagt haben, jede Mahlzeit, die wir geteilt haben, jedes Lächeln, das wir uns zugeworfen haben, einfach alles beweist, dass du mich liebst.“
Nachdenklich schüttelte Rico den Kopf. „Hier hat alles angefangen, obwohl ich es damals nicht wusste. Als ich dich gesehen habe, wie liebevoll du mit Ben umgegangen bist. Und dann …“, er schwieg einen Moment. „Dann hast du dieses grausame Wort benutzt, um dich und unsere Ehe zu beschreiben. Und ich wollte alles tun, damit dieses Wort nie wieder über deine Lippen kommt.“ Sein Blick wurde weich. „Und dafür habe ich eine fantastische Belohnung erhalten. Seit du auf der Terrasse auf mich zugegangen bist und so wunderschön ausgesehen hast, war ich verloren und dir verfallen. Aber hier geht es nicht um dein Äußeres, denn auch wenn du kein Make-up trägst und sich deine Haare kriseln und du diese unförmigen T-Shirts anziehst, möchte ich dich festhalten und nie, nie wieder loslassen. Was glaubst du, warum das so ist?“
Sie spielte mit den Fransen der Decke und weigerte sich, ihn anzusehen.
„Es war nur etwas Neues für dich, mehr nicht.“
Rico stieß ein einzelnes Wort auf Italienisch aus. Sie hatte keine Ahnung, was es bedeutete, war sich aber sicher, dass sie es niemals aus Bens Mund hören wollte.
„Es war Liebe. Und weißt du, woher ich das weiß? Als mein Vater mir gesagt hat, meine Ehe sei ungültig, wollte ich ihn schlagen.“
„Er hat versucht, dich zu manipulieren. Es ist kein Wunder, dass du wütend geworden bist.“
„Er wollte dich mir wegnehmen. Aber das werde ich nicht zulassen.“
„Er wollte dir Ben wegnehmen.“