Du sollst meine Prinzessin sein - Kapitel 7

~ Kapitel 7 ~

Es erschien Rico wie grausame Ironie, dass sie immer noch davor zurückschreckte, ihn zu heiraten. Letzten Endes musste er drastische Worte finden.

    „Es ist die einzige Möglichkeit, Sie zu beschützen. Und Ben.“

    Lizzy starrte ihn an, ihr Gesicht vor Angst verzerrt.

    „Das ist ein Trick. Eine weitere Falle.“ Ihre Stimme klang hohl.

    „Nein. Ich schwöre, ich habe nicht gewusst, was meine Familie plant. Wenn ich könnte, würde ich Sie nach England zurückbringen, aber ich kann nicht. Italien war meine einzige Chance, denn jetzt ist mein Vater gezwungen, mit den italienischen Behörden zu verhandeln. Das verschafft uns ein wenig Zeit. Aber sollten Sie versuchen, nach England zurückzukehren, wird man Sie verhaften. Mein Vater wird alle italienischen Grenzen beobachten lassen. Und glauben Sie nicht, dass er das nicht kann. Sein Ziel ist es, Sie und Ben zu trennen. Sobald Sie getrennt sind, wird ein Gericht die Trennung unter irgendeinem Vorwand für rechtmäßig erklären.“

    Er tat einen tiefen Atemzug. „Der einzige Ausweg, sie beide zu beschützen, ist der, den ich gerade genannt habe. Wenn wir verheiratet sind, kann niemand Sie anrühren und Ben auch nicht. Nicht auf legalem Wege. Außerdem wird der Palast jede Publicity vermeiden wollen und deshalb die vollendeten Tatsachen akzeptieren müssen. Ich kenne meinen Vater. Einen offenen Bruch mit mir wird er nicht riskieren. Diese Art Skandal wird er auf keinen Fall heraufbeschwören.“

    Er blickte zu ihr hinüber, wie sie Ben fest in den Armen hielt, der in dem gleichmäßigen Schaukeln des Wagens eingeschlafen war. „Ich bin der einzige Mensch, der Sie beschützen kann.“

    „Warum?“ Fast unhörbar stellte sie ihre Frage. „Warum tun Sie das für uns?“

    „Ich habe Ihnen mein Wort gegeben“, erwiderte er.

    In seinem Kopf erklang Lucas Stimme. Er beschrieb die grauenhafte Kindheit, die er für Ben geplant hatte.

    Wut stieg in ihm auf. Wut über seinen Vater, seine Mutter, seinen Bruder … über die ganze verdammte, verdrehte, hartherzige, empfindungslose Familie.

    Wie hatten sie überhaupt nur daran denken können?

    Aber er wusste es längst. Pflicht und Ansehen waren das Einzige, was für die Ceraldis zählte. Jeder Skandal, jedes Aufsehen, jeder Eklat musste vermieden werden.

    Und um das zu erreichen, waren sie bereit, ein vierjähriges Kind aus den Armen seiner Mutter zu reißen.

    Wieder blickte er zu den beiden hinüber. Also hatte Luca ihn wie einen gutgläubigen Trottel hereingelegt? Hatte ihn ausgesandt, die Tante mit seinem Charme zu umgarnen, um ihr das Kind zu stehlen? Hatte ihm weisgemacht, er solle ihr die Ehe anbieten, damit sie sich in falscher Sicherheit wiegte? Er presste die Lippen zusammen.

    Danke für die Idee, Luca – sie ist wirklich gut.

 

Lizzy hatte das Gefühl, sie würde fallen. Als stürze sie in eine bodenlose Grube. Nur Ben war da, an dem sie sich festhalten konnte. Und es war wichtiger als alles andere, dass sie genau das tat. Wenn sie ihn losließ, wäre er für immer verloren.

    Heiße Furcht strömte durch ihre Adern. Wieder und wieder durchlebte sie die entsetzlichen Ereignisse im Palast – als sie erkannt hatte, dass sie eingesperrt war und ihr klar wurde, dass das nur eines bedeuten konnte.

    Ihr Blick streifte den Mann, der neben ihr in der kühlen steinernen Kirche stand. Seine Miene war angespannt und verschlossen.

    Vertrauen Sie mir, hatte er gesagt.

    Ich habe Ihnen mein Wort gegeben, hatte er gesagt.

    Konnte sie ihm vertrauen? Wollte er sie wirklich retten? Oder bloß wieder in eine neue Falle locken?

    Doch was er vorhatte, veränderte auch sein Leben für immer. Er hatte sich seinem Vater widersetzt und seinen Bruder niedergeschlagen, damit er sie und Ben in Sicherheit bringen konnte.

    Er tut es für Ben. Weil er weiß, dass es grausam wäre, ihn von mir zu trennen. Und genau aus diesem Grund habe ich zugestimmt. Für Ben.

    Alles andere war unwichtig.

    Der Priester sagte etwas. Es war eine kleine Kirche, kaum mehr als eine Kapelle, irgendwo in den Bergen, sie hatte keine Ahnung, wo. Im Wagen hatte es eine leise Unterredung zwischen dem Prinzen und seinem Bodyguard gegeben, der nicht nur bedingungslos loyal zu seinem Herrn stand, sondern in dessen Verwandtschaft es offensichtlich auch einen Großonkel gab – eben jenen Priester.

    Der zerbrechlich wirkende ältere Mann umschloss die Hände des vor ihm stehenden Paares mit seinen eigenen und sprach feierliche Worte, die sie nicht verstand, die sie aber, das wusste sie, in dem heiligen Bund der Ehe mit dem Mann neben ihr verbanden.

 

Es war vollbracht. Ben und seine Mutter befanden sich in Sicherheit. Erleichterung breitete sich in Rico aus. Er dankte dem Priester und schwor sich insgeheim, er würde nicht zulassen, dass der Mann für seine Tat Ärger bekäme. Dann bedankte er sich bei der Haushälterin, die zusammen mit Gianni die Rolle der Trauzeugen übernommen hatte. Jetzt blieb nur noch eines zu tun.

    Er brachte Ben und Lizzy zurück in den Wagen. Gianni nahm auf dem Fahrersitz Platz. Er wusste, wohin die Reise ging.

    „Ich habe Hunger“, verkündete Ben. Er war aufgewacht und hatte an Giannis Seite die Zeremonie über sich ergehen lassen – ohne wirklich zu verstehen, was die Erwachsenen da taten.

    „Bald gibt es etwas zu essen, ich verspreche es“, erwiderte Rico und strubbelte ihm über die Haare. Es war noch nicht ganz dunkel, aber sie hatten noch einen weiten Weg vor sich. Natürlich wäre er lieber geflogen, aber das war viel zu gefährlich.

    Allerdings war dieser Wagen bereits wesentlich unauffälliger als der vorherige – Gianni hatte den Austausch vorgenommen. Der Mann hatte sich wirklich eine lebenslange Belohnung verdient. Und nun konnte er mit einem weiteren Trumpf aufwarten.

    „Magst du Pizza?“, fragte er und reichte eine große Plastiktüte nach hinten. „Mittlerweile ist sie zwar kalt, aber immer noch gut. Von der Haushälterin meines Großonkels, für den bambino.“

    Bens Miene hellte sich auf. „Ja, gerne“, sagte er.

    Rico sah zu, wie Lizzy das Essen auspackte und dem Kind ein Stück Pizza in einer Papierserviette reichte. Während sie aßen, zog er sein Handy aus der Hosentasche. Es dauerte eine Weile, bis sich am anderen Ende jemand meldete.

    „Jean-Paul, ich habe etwas für dich …“

    Die in hastigem Französisch geführte Unterhaltung dauerte eine Weile. Als Rico die Verbindung trennte, verspürte er eine neuerliche Woge der Erleichterung. Ebenso fühlte er jedoch auch die ängstlichen Blicke, die auf ihn gerichtet waren.

    „Das war ein Freund von mir, derjenige, der mich vor der Geschichte über Paolos verschollenen Sohn gewarnt hat. Ich vertraue ihm. Ich habe ihm erzählt, dass wir gerade geheiratet haben und eine Familie für Ben sein werden. Er wird die Geschichte zurückhalten, bis ich ihm mein Okay zur Veröffentlichung gebe. Das ist das Druckmittel, das ich gegen meinen Vater einsetzen kann. Ich werde ihm ein bisschen Zeit geben, die neuen Fakten zu akzeptieren. Doch wenn er weiterhin stur bleibt, darf Jean-Paul die Geschichte drucken – ohne Einverständnis des Palastes. Das ist die einzige Wahl, die ich meinem Vater lasse.“

    Sein Tonfall war finster, als er endete. Er ließ das Telefon in die Tasche gleiten.

    „Ich kann immer noch nicht fassen, was mein Vater getan hat. Meine Eltern haben Paolo geliebt, er war der Einzige von uns Dreien, den sie nicht wie einen Prinzen, sondern wie einen Sohn behandelt haben. Deshalb dachte ich …“, er schwieg einen Moment. „Ich dachte, sie würden Ben ebenso lieben.“

    Ein kummervoller Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. „Ich schäme mich für sie. Schäme mich für das, was sie getan haben.“

    Plötzlich berührte er Lizzys Arm. Nur für einen Moment.

    „Und ich schäme mich für mich selbst.“

    Mitgefühl schimmerte in ihren Augen. „Es tut mir so leid, es tut mir so unendlich leid, dass Sie tun mussten … was Sie getan haben. Ich werde versuchen, nicht …“, sie schluckte und verstummte.

    Was sollte sie sagen? Ich werde versuchen, Ihnen keine allzu groteske Ehefrau zu sein?

    „Es kann funktionieren“, meinte er nach einem Augenblick. „All die Gründe, die ich Ihnen in England genannt habe, sind immer noch gültig.“

    Sie konnte nicht antworten. Was hätte sie auch sagen können?

    Dass sie ihn aus denselben Gründen wie damals nicht hatte heiraten wollen?

    Dafür war es zu spät.

    Der Wagen glitt durch die Nacht. Neben ihr hatte Ben seine Pizza aufgegessen. Nachdem sie die Reste beiseitegeräumt hatte, kuschelte er sich auf ihren Schoß und war bald eingeschlafen.

    Ich habe das Richtige getan. Das einzig Richtige. Das einzig Mögliche, um ihn zu beschützen, versicherte sie sich leise.

    Ihr Blick traf den seines Onkels.

    Ein seltsames Gefühl ergriff von Rico Besitz.

    Ich habe getan, was ich tun musste. Das ist alles. Es war meine Pflicht, fuhr es ihm durch den Kopf.

    Pflicht. Aber sie unterschied sich von seinen bisherigen Verpflichtungen.

    Er empfand sie nicht als Last.

    Für Paolo, für dessen Sohn und für die Frau, die nun unter seinem Schutz standen, hatte er das Richtige getan. Nur er hatte es tun können. Das seltsame Gefühl wurde intensiver. Er versuchte herauszufinden, was es war.

    Sinnvoll. Er hatte etwas Nützliches getan.

 

„Wo sind wir?“, fragte Lizzy mit matter Stimme. Als der Wagen hielt, war sie aus einem tiefen, schweren Schlaf erwacht. Sie fühlte sich steif und streckte sich. Ben schlief noch immer auf ihrem Schoß.

    „Capo d’Angeli. Jean-Paul hat hier eine Villa für uns gemietet. Wir können so lange bleiben, wie wir wollen. Niemand wird uns stören.“

    Den schlafenden Ben auf den Armen stieg sie aus dem Wagen. Ein kühler Wind wehte durch die Nacht. Alles, was sie sehen konnte, waren ein Haus und die kiesbedeckte Einfahrt, auf der sie stand. Die Tür wurde geöffnet. Nach einem kurzen Wortwechsel auf Italienisch wurden sie und Ben ins Haus geführt.

    Schlaftrunken folgte sie einem fremden Mann in ein Schlafzimmer, in dessen Mitte ein großes Bett stand. Ein Mädchen schlug bereits die Decken zurück. Und binnen weniger Minuten konnte Lizzy ihren Kopf auf das Kissen neben ihrem schlafenden Neffen betten und die Augen schließen.

    Sie wollte für immer schlafen und nie wieder aufwachen. Niemals dem, was sie getan hatte, ins Auge sehen.

    Dass sie den Prinzen Enrico von San Lucenzo geheiratet hatte.

 

Unten im Erdgeschoss zog Rico sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer.

    Luca meldete sich sofort. Seine Stimme vibrierte vor Zorn und Unverständnis. Rücksichtslos unterbrach Rico seine Tirade, indem er seinen Bruder mit einem Wort bezeichnete, das er noch nie zu ihm gesagt hatte. Es brachte Luca lange genug zum Schweigen, um ihm die neue Situation erklären zu können.

    „Rico … es ist noch nicht zu spät“, antwortete sein Bruder schließlich langsam. „Wir schicken einen Hubschrauber, und du und der Junge könntet morgen früh hier sein. Wir bereiten eine sofortige Annullierung der Ehe vor. Auch um die Frau kümmern wir uns, wir können sie aus Italien ausweisen lassen. Wir können …“

    „Wieder falsch.“ In Ricos Stimme schwang eine bedrohliche Note mit. „Alles, was du und unser Vater tun könnt, ist …“ Er machte einen wutentbrannten Vorschlag, der sehr unverschämt war. „Und jetzt, wenn du die Güte besitzt, kannst du meinem geschätzten Vater ausrichten, werde ich meine Flitterwochen beginnen, mit meiner Braut und meinem Sohn. Und es gibt nichts, was du dagegen unternehmen kannst. Hast du verstanden? Nichts. Sie stehen nun unter meinem Schutz. Und wenn du einen Funken Ehre im Leib hättest, würdest du danach nie wieder mit unserem Vater sprechen.“

    Damit unterbrach er die Verbindung.

 

Lizzy träumte. Sie war wieder bei ihrer Schwester im Krankenhaus. Aber ihre Schwester lag nicht im Koma, sondern saß aufrecht im Bett und hielt ein Baby in den Armen. Ein junger Mann war ebenfalls dort. Beide hatten den Blick fest auf das Baby gerichtet. Lizzy sahen sie nicht. Sie schauten nicht einmal auf.

    Dann betraten ihre Eltern das Zimmer. Sie gingen an Lizzy vorbei, den Arm voller in hellblauem Papier eingepackter Geschenke. Sie versuchte, einen Schritt nach vorn zu machen, doch es gelang ihr nicht. Auch sie trug ein Geschenk für das Baby, aber das ganze Bett war schon übersät mit Geschenken, und nur noch am Fußende gab es Platz. Das Päckchen glitt zu Boden. Ihre Mutter sah sie böse an. „Was tust du denn hier?“, fragte sie. „Maria braucht dich nicht. Niemand braucht dich. Und es will dich auch niemand.“

    Dann griff ihre Mutter nach dem Vorhang, zog ihn um Marias Bett und schloss Lizzy aus.

    Lizzy erwachte. Sie fühlte sich schuldig.

    Sie hatte etwas genommen, was ihr nicht gehörte. Sie wandte den Kopf. Ben schlief noch auf der anderen Seite des Doppelbetts, sein kleiner Körper halb unter den leichten Decken verborgen. Ben, der Sohn ihrer Schwester. Lizzy hatte ihn einfach an sich genommen, obwohl sie kein Recht dazu hatte.

    Und nun hatte sie schon wieder etwas genommen, zu dem sie kein Recht hatte. Etwas, das sie ganz und gar nicht verdiente.

    Und doch war ihr zugleich bitter bewusst, dass der Diebstahl seine eigene grausame Strafe bereits mit sich gebracht hatte. Grotesk hatte sie die Idee einer Hochzeit genannt, die Idee einer Ehe zwischen den unterschiedlichsten Menschen der Welt.

    Ben regte sich und schlug die Augen auf. Vertrauensvoll. Sofort glücklich, sie zu sehen. Er wusste, wenn Lizzy da war, war alles gut.

    Kälte fuhr durch ihre Adern. Es hätte alles ganz anders kommen können.

    Sie hätte auf dem Rückweg nach England sein können. Des Landes verwiesen. Ben eingesperrt im Palast. Niemals hätte er sie wiedergesehen.

    Das Entsetzen über das, was hätte sein können, lähmte ihre Sinne.

    Aber Prinz Enrico hatte sie gerettet.

    Neuerliche Schuldgefühle stiegen in Lizzy auf. Er hatte sie gerettet, und sie belohnte ihn damit, dass sie ihn an sich fesselte.

    „Mummy?“ Ben setzte sich auf. „Ist es schon Zeit fürs Frühstück?“, fragte er fröhlich. „Ist Tio Rico hier?“ Er sah sich erwartungsvoll um. „Wo sind wir, Mummy? Wieder in dem Palast?“

    Sie schüttelte den Kopf. „Nein, mein Schatz. Dorthin gehen wir nie wieder zurück.“ Sie schlüpfte aus dem Bett. „Lass uns herausfinden, wo es Frühstück gibt. Ich sterbe vor Hunger.“

    Erst jetzt sah sie sich um. Das Zimmer war groß und luftig. Sonnenlicht drang durch die hellen Jalousien. Die Möbel waren schlicht, aber elegant, die Wände weiß, helle Fliesen bedeckten den Boden. Ihre Stimmung verbesserte sich.

    Capo d’Angeli. Sie hatte davon gehört. Ein Ort, an den nur reiche Menschen kamen, diskret und stilvoll. Eine exklusive luxuriöse Rückzugsmöglichkeit an der italienischen Küste. Hier gab es keine Hotels, nur Villen auf großen Privatgrundstücken mit Blick auf das Meer.

    Jemand hatte ihren Koffer ins Zimmer gebracht. Mit einem freudigen Aufschrei stürzte Ben sich auf seinen Teddybären und seine Lieblingseisenbahnen.

    Sie brauchten nicht lange, um sich anzuziehen. Als sie fertig waren, zog Lizzy die Jalousien zurück. Dahinter befand sich eine Terrassentür, dahinter eine weitläufige Veranda und dahinter …

    „Mummy! Das Meer! Es ist viel blauer als das zu Hause.“

    Sie öffnete die verglaste Tür. Warme Luft umfing sie wie eine Umarmung. Ben rannte zu der steinernen Brüstung und blickte über die Wipfel der Pinienbäume auf das türkisblaue Wasser, das in der Morgensonne glitzerte.

    „Glaubst du, es gibt einen Strand?“, fragte er aufgeregt.

    „Oh ja, es gibt einen Strand.“

    Die Stimme kam von dem anderen Ende der Terrasse. Ein schmiedeeiserner Tisch stand dort unter einem blau gestreiften Sonnenschirm. Auf dem Tisch war ein üppiges Frühstück aufgebaut. Aber Lizzy bemerkte das Essen gar nicht, sie hatte nur Augen für den Mann, der dort im Schatten saß.

    Sie verspürte ein flaues Gefühl im Magen. Rico sah fantastisch aus. Sein weißer Morgenmantel bildete einen wunderbaren Kontrast zu der sonnengebräunten Haut. Der tiefe Ausschnitt zeigte die glatte muskulöse Brust. Hastig wandte sie den Blick ab. Nicht dass es viel geholfen hätte, ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Teil seines Körpers zu lenken. Auch seine Unterarme waren entblößt, weil er die Ärmel hochgekrempelt hatte. Seine feuchten Haare trockneten in der Sonne. Und sein Gesicht …

    Wieder dieses Gefühl im Magen. Er war ein atemberaubend attraktiver Mann, aber bislang hatte er stets formelle Kleidung getragen. Ihn jetzt so zu sehen, frisch geduscht, war …

    Anders.

    Vollkommen anders.

    Und auch er selbst schien anders zu sein. Die Anspannung, die ihn in dem sicheren Haus umgeben und ihren Höhepunkt während ihrer Flucht aus dem Palast erreicht hatte, war verschwunden.

    Nun wirkte er … entspannt.

    Sorglos.

    Ben lief auf ihn zu. „Tio Rico“, rief er fröhlich, „können wir zum Strand gehen?“

    Sein Onkel lachte. Lizzys Magen flatterte. Das Lachen brachte sein Gesicht zum Leuchten, zeichnete winzige Linien um seinen Mund und seine Augen, ließ seine weißen Zähne aufblitzen. Machte ihn noch viel, viel anziehender, nahezu unwiderstehlich …

    Wie sollte sie das nur ertragen?

    Verzweiflung erfüllte sie, und mit einem übermäßig unbehaglichen Gefühl trat sie auf die Terrasse hinaus.

    „Buon giorno“, grüßte er. In seinen Augen schimmerte immer noch ein Lächeln.

    Lizzy schluckte und nickte halb. Sie konnte ihn nicht ansehen – konnte ihm nicht mit dem Wissen in die Augen schauen, dass sie letzte Nacht in einer irrealen, traumhaften und panischen Zeremonie seine Frau geworden war.

    Sie setzte sich auf einen der Stühle.

    „Hast du gut geschlafen?“ In seiner Stimme schien aufrichtige Sorge mitzuschwingen.

    Wieder nickte sie. Unbeholfen griff sie nach dem Krug mit Orangensaft und schenkte sich ein Glas ein. Ben unterhielt sich bereits lebhaft mit seinem Onkel. Der jetzt sein Stiefvater war. Würde er ihr nicht aus dieser Rolle heraus Ben wegnehmen können?

    Die Vorstellung schnürte Lizzy die Kehle zu. Panik stieg in ihr auf. War sie in eine weitere Falle getappt?

    „Schau mich nicht so an.“ Seine Stimme war leise, durchdrang aber dennoch ihre Panik. „Alles wird gut werden. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Vertrau mir.“

    Seine dunklen Augen strahlten Ruhe und Zuversicht aus. „Ich habe es dir versprochen“, sagte er. „Ich werde dich und Ben beschützen. Ich habe dir mein Wort gegeben.“

    Und langsam, ganz langsam verebbte die Panik, die Furcht löste sich auf. Rico hielt ihren Blick noch ein wenig länger fest, dann wandte er sich mit einem winzigen amüsierten Zucken seiner Mundwinkel wieder Ben zu, der an seinem Ärmel zupfte, um seine Aufmerksamkeit zu erhaschen.

    „Zuerst das Frühstück, junger Mann“, antwortete Rico auf seine ungeduldigen Fragen, ob sie nicht doch jetzt sofort an den Strand gehen könnten. „Dann begeben wir uns auf Entdeckungsreise. Sobald meine Kleider angekommen sind.“ Er sah zu Lizzy hinüber, die an ihrem Orangensaft nippte. „Ich habe veranlasst, dass man uns neue Kleidung schickt. Die Boutiquen werden auch für dich und Ben etwas zusammenstellen.“

    „Oh nein, bitte nicht. Wir kommen mit dem aus, was wir mitgebracht haben“, sagte Lizzy hastig.

    „Das ist aber nicht mehr nötig.“ Seine Miene erstarrte für einen Augenblick. „Ich weiß, dass es schwer für dich ist, aber es hat sich alles geändert. Allerdings müssen wir uns erst an die neuen Umstände gewöhnen. Ich denke, wir haben uns ein wenig Ruhe nach dem Sturm verdient. Also, sag mir, was hältst du von der Villa?“

    „Es ist unglaublich schön hier.“

    Rico nickte. „Ja, Jean-Paul hat eine gute Wahl getroffen. Das Areal hier gehört zu den abgeschiedensten von ganz Capo d’Angeli. Wegen meiner drakonischen Sicherheitsmaßnahmen brauchen wir uns jedoch sowieso keine Sorgen zu machen, dass wir hier entdeckt werden könnten. Und was das Personal angeht – die Angestellten sind mit Gästen vertraut, die auf absolute Diskretion bedacht sind. Wir können uns hier völlig entspannen. Sogar Gianni habe ich in einen wohlverdienten Urlaub geschickt.“

    Er lächelte beruhigend.

    Auf einen Wink hin erschien ein Diener auf der Terrasse, ein Tablett mit frischen Brötchen und dampfendem Kaffee in Händen. Ohne weitere Aufmunterung fing Ben glücklich an zu essen.

    „Er scheint alles gut verkraftet zu haben“, meinte Rico nachdenklich. „Ich denke, ihm wird es hier gefallen.“ Er schaute zu Lizzy hinüber. „Uns allen wird es hier gefallen.“

    Sie sah ihm in die Augen. Es wurde einfacher, in seiner Nähe zu sein. Nicht einfach, aber einfacher.

    „Vielen Dank“, sagte sie leise und eindringlich. „Danke für alles.“

    „Wir haben getan, was wir tun mussten. Es gab keine andere Möglichkeit. Und jetzt möchte ich nichts mehr davon hören. Wir haben eine Menge durchgemacht und uns unsere Ferien redlich verdient.“

    Plötzlich grinste er, und tief in ihrem Inneren fühlte Lizzy wieder diese völlig unangemessene Reaktion ihres Körpers. Sie verdrängte sie, so gut sie konnte, trotzdem stieg Furcht in ihr auf. Wie sollte sie nur auf Dauer damit zurechtkommen?

    Sie zwang sich zur Ruhe. Prinz Enrico würde mit der Situation fertigwerden, also konnte sie das auch.

    „Was machen wir heute?“, traute sie sich zu fragen.

    „Wir müssen mit Ben an den Strand gehen – sonst steht uns eine Revolution ins Haus. Der Strand unterhalb der Villa ist privat, dort sind wir absolut ungestört. Natürlich gibt es auch einen Swimmingpool, und das Kinderzimmer der Villa ist hervorragend mit Spielsachen ausgestattet. Alles andere können wir per Internet bestellen. Du siehst, für perfekte Ferien sollte es uns an nichts mangeln.“

    Er lächelte sie warmherzig an, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Ben zu. „Wie gut bist du im Sandburgenbauen?“, fragte er.

    „Wirklich gut“, entgegnete Ben enthusiastisch. „Zu Hause bauen wir sie, wenn die Flut kommt. Wir machen hohe Wände, um sie vor den Wellen zu beschützen. Aber am Ende gewinnt immer das Meer.“

    Rico verzog das Gesicht. „Hier gibt es keine Gezeiten. Das Mittelmeer ist zu klein für Ebbe und Flut. Und auch die Wellen sind nicht sonderlich hoch. Dafür ist das Wasser angenehm warm. Wir können schwimmen gehen. Oder mit dem Boot fahren.“

    „Heute?“

    „Nein. Vielleicht morgen. Wir werden sehen.“

    Bens Miene verdüsterte sich. „Das heißt nein“, sagte er trübsinnig.

    „Es bedeutet, ich weiß es noch nicht. Wir machen Ferien, Ben. Keine Hektik, kein Stress. Wir planen immer nur für einen Tag, okay?“

    Ricos Blick wanderte zu Lizzy.

    „Immer nur einen Tag“, wiederholte er. „Das gilt auch für uns.“

    Einen langen Moment hielt er ihren Blick gefangen, dann lenkte Ben ihn mit einer weiteren Frage ab.

    Lizzy brauchte Zeit, das wusste Rico. Es war so viel passiert, seit er in ihrem heruntergekommenen Cottage in Cornwall aufgetaucht war. Und für sie, musste er sich eingestehen, hat sich alles nur verschlechtert. Das Leben, das sie kannte, war ihr genommen worden. Es gab kein Zurück mehr.

    Vage keimte eine Idee in ihm auf. Er wollte ihr Leben besser machen. Furcht und Angst sollten von nun an vorbei sein. Wieder schaute er zu ihr hinüber. Dieses Mal bemerkte sie es nicht, sondern schenkte weiter Kaffee ein. Wenn er sie so betrachtete, glaubte er nicht, dass sie so hässlich aussehen musste. Das konnte einfach nicht sein.

    Verstohlen musterte er sie. Von ihrer Figur war kaum etwas zu sehen, da sie trotz der Hitze ein sackartiges Oberteil mit langen Ärmeln und eine unförmige Baumwollhose trug. Beide Kleidungsstücke waren billig und abgetragen. Bequemlichkeit war ihr wichtig, nicht ihr Aussehen. Sie war kein dürres Model, das war sicher, aber wie übergewichtig war sie wirklich? Und gut geschnittene Kleider konnten diesen Makel doch sicher leicht kaschieren.

    Auch ihre Gesichtszüge waren schwer einzuschätzen. Das spröde, kaum zu bändigende Haar schien ihr Gesicht zu erdrücken, selbst wenn es zu einem festen Zopf gebunden war. Er versuchte sich ihr Gesicht ohne die Haare vorzustellen. Jedoch blieb es mit den dichten Augenbrauen und der blassen Haut schwierig, die Züge genau zu beurteilen. Allerdings sah er nichts wirklich Hässliches, ihre Nase war gerade, das Kinn wohlgeformt, die Zähne ebenmäßig. Nur war eben alles so … unbestimmbar.

    Würde sie mit Make-up besser aussehen? Frauen sahen mit Make-up immer besser aus, oder? Make-up und Pflegeprodukte für Hunderte von Euros und Kleider und Accessoires für Tausende von Euros.

    Nun, Geld spielte in ihrem Leben keine Rolle mehr. Rico konnte sie überreichlich verwöhnen.

    Abrupt wurde sein Mund zu einer schmalen Linie. In seinem Kopf konnte er Luca über ihr Aussehen spotten hören. Das machte ihn wütend. Wie zur Hölle konnte Luca es wagen, die Frau zu verhöhnen, die das Kind ihrer toten Schwester aufgenommen und ihm ihr Leben gewidmet hatte? Eine alleinerziehende Mutter mit einem geringen Einkommen zu sein war kein Zuckerschlecken. Und was bedeutete es schon, wenn sie nicht wunderschön war? Was kümmerte es Ben?

    In diesem Moment fasste er einen Entschluss: Mich kümmert es auch nicht. Ich sorge dafür, dass sie so gut wie möglich aussieht – weil sie es verdient. Sie wird sich viel selbstsicherer fühlen. Und sie wird mit dem, was wir getan haben, sehr viel besser zurechtkommen, wenn sie nur dieses schreckliche Wort aus ihrem Gedächtnis verbannen kann.

    Er hörte es wieder in seinem Kopf, grausam und hässlich – grotesk.

    Es war Zeit, dieses Wort in den Mülleimer zu werfen. Und dort hatte es gefälligst zu bleiben. Rico würde nicht zulassen, dass Lizzy es je wieder aussprach.


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