Du sollst meine Prinzessin sein - Kapitel 8

~ Kapitel 8 ~

„Möchtest du Wein?“ Rico hielt eine Flasche gekühlten Weißwein über Lizzys Glas.

    „Ja … danke“, erwiderte sie zögerlich, und er schenkte ihr ein Glas ein.

    Sie saßen wieder an dem Tisch auf der Terrasse, doch mittlerweile senkte sich die Abendsonne in einem spektakulären Schauspiel aus Rot und Gold über dem Meer.

    Rico hob sein Weinglas und schaute in die Runde. „Auf unseren ersten Tag!“ Ben tat es ihm nach und erhob sein Glas mit Orangensaft. „Hatten wir einen schönen Tag?“

    „Ja“, bestätigte Ben.

    „Er war wunderschön“, erwiderte auch Lizzy.

    Und das war er tatsächlich. Lizzy hatte nicht erwartet, dass es so einfach werden würde. Sie verbrachten die Zeit am Strand, kehrten für das Mittagessen in die Villa zurück und hielten, trotz langer Proteste von Ben, danach eine Siesta. Kaum war Ben erwacht, gingen sie wieder hinunter zum Strand. Am späten Nachmittag kamen sie ins Haus zurück, und nachdem Ben im Pool geschwommen war, war es auch schon Zeit, sich für das Abendessen umzuziehen.

    Es hatte nur einen einzigen unbehaglichen Moment gegeben, nämlich als Ben, der zusammen mit seinem Onkel im warmen seichten Wasser des Meeres planschte, gerufen hatte: „Mummy, kommst du auch?“

    Lizzy schüttelte den Kopf. Der Gedanke, sich nur im Badeanzug zu präsentieren, ließ sie zusammenzucken. Es war schon schlimm genug, mit einem Mann am Strand zu sein, dessen schlanker muskulöser Körper, verhüllt nur durch eine Badehose, ihre Blicke wie magisch anzuziehen schien.

    „Ich schwimme nächstes Mal“, hatte sie ausweichend geantwortet und sich vermeintlich interessiert wieder ihrem Buch gewidmet.

    Abgesehen davon war es ein wirklich schöner Tag gewesen. Jetzt, umgeben von einem wundervollen Sonnenuntergang, fühlte sie sich entspannter, als sie je für möglich gehalten hatte.

    „Entspricht der Wein deinem Geschmack?“, fragte Rico.

    „Ja … er ist … sehr gut. Aber ich verstehe nicht wirklich etwas von Wein.“

    „Das lernst du mit ein wenig Übung.“ Er lächelte. „Und noch etwas wirst du üben“, fuhr er fort und trank einen Schluck Wein, „mich bei meinem Namen zu nennen.“

    Lizzy erstarrte. Das konnte sie nicht tun. Die ganze Angelegenheit war ihr so unangenehm, dass sie es stets vermieden hatte, ihn direkt anzusprechen.

    „Und ich muss es auch lernen. Also …“, er atmete tief ein. „Lizzy. Da, ich habe es gesagt. Jetzt bist du an der Reihe.“

    „Ich kann nicht“, erwiderte sie und errötete vor Verlegenheit.

    „Trink noch einen Schluck Wein, und dann versuche es.“

    Sie trank.

    „Rico“, murmelte sie, ohne ihn anzusehen.

    „Bene“, lobte er leise. „Siehst du … alles ist möglich.“ Einen Moment hielt er ihren Blick mit seinen Augen gefangen, dann erregte etwas seine Aufmerksamkeit. „Ah, das Abendessen kommt.“

 

Die folgenden Tage verbrachten sie überwiegend genauso wie den ersten. Und das entsprach Ricos Absicht. Er wollte Lizzy die Zeit geben, die sie brauchte.

    „Wir werden es ruhig angehen, einen Schritt nach dem andern“, meinte er. „Wir denken nicht an die Welt da draußen, wir denken an gar nichts. Wir akzeptieren nur die Gegenwart und entspannen uns, gewöhnen uns an die Tatsachen … lernen einander kennen.“

    Irgendwie ist es eine Ironie des Schicksals, ging es ihm durch den Kopf. Sein ganzes Leben lang hatte er eine Distanz zwischen sich und der Welt aufrechterhalten. Diese Grenze war notwendig gewesen. Aber sie bedeutete zugleich, dass es nur sehr wenige Menschen gab, in deren Gegenwart er ganz er selbst sein konnte. Jean-Paul war einer davon, die meisten anderen waren Sportler, für die seine Herkunft nicht zählte, nur seine Fähigkeiten und seine Hingabe zum Sport.

    Aber niemals bei Frauen – auch nicht in der Intimität des Bettes.

    Und er hatte viele Frauen in seinem Bett gehabt und sie körperlich mit allen Sinnen genossen. Und natürlich darauf geachtet, dass auch sie ihren Spaß mit ihm hatten.

    Aber mehr nicht. Die Sicherheit der Quantität, hatte er Luca gestanden. Und das entsprach der Wahrheit.

    Seine Mundwinkel zuckten. Hätte er einer dieser Frauen die Ehe angeboten, hätte sie nichts lieber getan, als seinen Antrag anzunehmen. Keine hätte der Aussicht, Principessa Enrico Ceraldi zu werden, widerstehen können.

    Nur die Frau, die er tatsächlich geheiratet hatte, hatte auf diese Zukunft mit Entsetzen reagiert.

    Er wusste, dass es die äußerlichen Unterschiede zwischen ihnen waren, die ihr so zu schaffen machten. Und doch hatte ihre Haltung ihm gegenüber noch einen anderen Effekt.

    Rico fühlte sich sicher.

    Weil sie wie keine andere Frau war, die er kannte.

    Alles, was sie von ihm wollte, war Schutz für Ben … mehr nicht.

    Ein anderer Gedanke kam ihm, eine weitere seltsame Erkenntnis.

    Bei ihr konnte er ganz er selbst sein. Er musste sie nicht auf Distanz halten. Denn sie verlangte von ihm nichts.

    Rico spürte, wie Erleichterung in ihm aufstieg. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich … frei.

 

Lizzy saß im Schatten des blau-weiß gestreiften Sonnensegels und beobachtete Ben und seinen Onkel beim Spielen im Pool. Ben kreischte vor Vergnügen. Ihr wurde warm ums Herz. Er war so glücklich. Jeder Tag war eine einzige Freude für ihn.

    Und für sie?

    Es war merkwürdig. Nach all den furchtbaren Ereignissen, die ihr Leben auf den Kopf gestellt hatten, fühlte sie sich sorglos.

    Entspannt.

    In Anbetracht ihrer panischen Ankunft schien das unmöglich zu sein. Die Ausmaße dessen, was passiert war, was sie getan hatte, waren so überwältigend. Und doch war sie hier, an diesem wunderschönen Ort, und hatte einen tiefen Frieden gefunden, wie sie ihn nie für möglich gehalten hatte.

    Ihr Blick wanderte zu dem Mann, der mit Ben spielte. Sie empfand Dankbarkeit … und Erstaunen. Er war so freundlich zu ihr. Und das nicht nur wegen Ben. Er war nett und geduldig um ihrer selbst willen. Sein Image als Playboy-Prinz hatte ihr ein ganz anderes Bild vermittelt.

    Lizzy hatte ihn falsch eingeschätzt, das wusste sie. Sie hatte nur das Bild gesehen, nicht den Mann dahinter.

    Und er schien Ben wirklich zu lieben.

    Ihr Herz klopfte schneller, als sie beobachtete, wie Rico sich aus dem Pool stemmte. Wie Diamanten glitzerten die Wassertropfen auf seinem Körper in der Sonne. Er beugte sich vor, ließ Ben seine Arme ergreifen und zog den Jungen mit Leichtigkeit aus dem Wasser.

    „Noch einmal!“, rief Ben und sprang wieder in den Pool.

    Rico wiederholte die Prozedur und hob Ben in hohem Bogen aus dem Wasser, bevor er ihn vorsichtig auf dem Beckenrand niederließ.

    Ben rannte zu Lizzy.

    „Ich habe fünf Tore gemacht!“, rief er aufgeregt.

    „Das ist fantastisch, mein Schatz“, sie lächelte.

    „Warum schwimmst du nicht mit uns, Mummy?“

    „Weil sie erst einen neuen Badeanzug braucht, Ben. Und viele andere neue Kleider. Kleider, die einer Prinzessin würdig sind.“ Rico gesellte sich zu ihnen.

    Ben neigte den Kopf zu einer Seite. „Dann ist Mummy wirklich eine Prinzessin?“

    „Ja“, erwiderte Rico und trocknete sich mit einem Handtuch ab. „Als ich sie geheiratet habe, ist sie eine Prinzessin geworden.“

    „Hat sie auch eine Krone?“, fragte Ben interessiert. In seiner Vorstellung waren Prinzessinnen und Kronen untrennbar miteinander verbunden.

    „Wenn sie zu einem Ball geht, kann sie eine Tiara tragen.“

    Bens Augen leuchteten. „Wie Cinderella?“

    „Genau“, entgegnete Rico. Er sah Lizzy an, dann verdüsterte sich seine Miene. Da war ein Ausdruck in ihren Augen, den er dort nicht sehen wollte. Aber er ahnte, was sich dahinter verbarg.

    Lizzy wandte den Kopf ab. Für sie gab es bei Cinderella nur eine ideale Rolle. Die der hässlichen Schwester.

    Maria war Cinderella. Und sie hat einen Märchenprinzen geheiratet. Aber ihre Kutsche hatte einen Unfall gehabt.

    Rico konnte förmlich ihre Gedanken lesen. Er presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Es war Zeit, etwas zu verändern.

Es stellte sich heraus, dass sein Vorhaben ziemlich leicht zu arrangieren war. Capo d’Angeli hatte im Dienste der Schönheit wirklich alles zu bieten. Kleider, Haare, Entspannung und Massagen, Maniküre … was auch immer begehrt wurde, es wurde geliefert.

    Er buchte eine Menge Experten und Behandlungen. Am nächsten Morgen verkündete er beim Frühstück seine Pläne.

    „Heute werde ich mich um Ben kümmern. Du wirst zu beschäftigt sein.“

    Verwundert sah Lizzy ihn an. „Beschäftigt?“, fragte sie.

    Rico lächelte geheimnisvoll: „Sogar sehr beschäftigt.“ Innerhalb der nächsten Stunde fand sie heraus, wie recht er hatte.

 

Lizzy hatte die Augen geschlossen. Es klang, als führten die vielen Menschen, die in ihr Schlafzimmer eingedrungen waren, einen heftigen Streit. Das war nicht der Fall, das wusste sie. Sie diskutierten nur auf typisch italienische Weise mit lauten vehementen Ausrufen. Sie verstand auch, warum. Man hatte ihnen eine unmögliche Aufgabe gestellt: Stroh zu Gold zu spinnen.

    Eine Seidenhandtasche aus einem Schweineohr zu machen.

    Angst stieg in ihr auf. Sie hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde. Denn wie verzweifelt auch die Umstände ihrer Hochzeit gewesen sein mochten, sie konnten sich nicht für immer vor dem Rest der Welt in der Villa verstecken.

    Die Aussicht erschreckte sie. Auch wenn sie die schönsten Designerkleider der Welt trug, darunter würde sie doch immer sie selbst bleiben.

    Panisch verkrampfte sie die Hände in ihrem Schoß.

    Sie musste das irgendwie durchstehen. Sie musste es ertragen. Es spielte keine Rolle, wie demütigend es sein mochte. Sie musste diese Leute tun lassen, wozu sie hier waren.

    Doch nicht für sich fasste sie diesen Entschluss. Sie tat es für den Mann, der sie so selbstlos geheiratet hatte und dessen Belohnung die Ehe mit einer Frau war, auf die nur ein einziges Wort passte: grotesk.

    Sie öffnete die Augen. Sofort verstummten die vielen Stimmen. Sie sah sich einem Meer von Gesichtern gegenüber, die sie alle erwartungsvoll ansahen.

    „Bitte“, sagte sie. „Tun Sie Ihr Bestes.“

    Dann schloss sie ihre Augen wieder – und hielt sie auch weiterhin geschlossen.

 

„Wir brauchen noch einen Turm“, verkündete Ben.

    Rico betrachtete ihr Bauwerk auf dem Tisch. Dann nickte er.

    „Du hast recht“, stimmte er zu. „Ich setze noch einen Zweiten in diese Ecke hier. Wie kommst du mit dem Anmalen voran?“

    „Gut“, erwiderte Ben. Er war eifrig damit beschäftigt, die Wände des Kartons mit grauer Farbe anzumalen. Sie hatten den Karton zu einem Fort ausgebaut, in dem in Zukunft Bens neue Ritter wohnen sollten. Rico hatte das Spielzeug im Internet bestellt, und der Junge war so aufgeregt gewesen, dass er schließlich den Vorschlag für das Fort gemacht hatte. Außerdem half es, Ben von der Tatsache abzulenken, dass er Lizzy den ganzen Tag über noch nicht gesehen hatte.

    Angst begann an Rico zu nagen.

    Ging es ihr gut? Es war bereits später Nachmittag. Er wusste, dass Schönheitsbehandlungen ewig dauerten, und so überraschte ihn die Zeit nicht wirklich. Aber wie kam sie mit alldem zurecht?

    Er griff nach der Schere und widmete sich der kniffligen Aufgabe, quadratische Ecken aus dem Karton zu schneiden. Auch er konnte Ablenkung gut gebrauchen.

    „Probiert Mummy immer noch die neuen Kleider an?“, fragte Ben.

    „Bei Frauen dauert das ziemlich lange. Außerdem kümmert man sich noch um ihre Haare.“

    „Mummy braucht sonst nie so lang“, erwiderte der Junge. „Sie ist immer ganz schnell.“

    „Jetzt ist sie eine Prinzessin, das ändert vieles.“

    Doch Ben starrte längst an ihm vorbei, die Terrasse entlang zu ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck.

    „Mummy!“

    Er ließ den Pinsel fallen und stieß den Stuhl zurück.

    Rico sah auf.

    Und erstarrte.

 

Ben rannte auf seine Mutter zu, die gerade vorsichtig aus der Verandatür trat.

    „Mummy, Mummy, du warst so lange weg! Wir haben ein Fort gebaut, Tio Rico und ich. Für die Ritter. Die kommen morgen in einem Spezialauto, und sie sind ein Geschenk, weil ich mich so gut benommen habe. Und wir haben ein Fort für sie gemacht. Komm mit, Mummy, und schau es dir an.“

    Er griff nach ihrer Hand und zerrte Lizzy hinter sich her. Für einen Moment schwankte sie, weil sie die Sandalen nicht gewohnt war. Zwar waren die Absätze recht flach, doch schienen sie ansonsten nur aus zwei schmalen Lederriemen zu bestehen.

    „Komm schon“, drängte Ben sie ungeduldig.

    Aber das Letzte auf der Welt, was sie wollte, war, dorthin zu gehen, wohin er sie zog.

    Zu dem Tisch am anderen Ende der Terrasse, an dem ein Mann bewegungslos saß.

    Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos.

    Ihr Herz pochte wild in ihrer Brust. Plötzlich fühlte sie sich krank. Krank vor Entsetzen machten sich Zweifel in ihr breit: Oh Gott … all die Arbeit, all die Zeit … und herausgekommen ist ein Desaster. Ich kann es in seinen Augen lesen. Es ist schrecklich.

    Die Prozedur hatte schier endlos gedauert – Stunde um Stunde, eine Behandlung war der nächsten gefolgt. Lotionen waren auf ihrem Körper verteilt worden, dann wieder weggewischt und neue verteilt worden. Ebenso war man mit ihrem Gesicht verfahren. Sie hatten ihr Haar gewaschen, irgendein Mittel einmassiert, es ausgewaschen, dann eine andere Creme aufgetragen. Pinzetten waren gezückt worden, Nagelfeilen und Wattepads und Nagellack und heißes Wachs und mehr Lotionen und Cremes. Lunch hatte sie gegessen, während ihr Gesicht und die Haare mit einer Maske bedeckt waren und ihr Körper in eine Art dünnes Kleid gewickelt war. Unterdessen hatte eine weitere Armada von Leuten ihr ein Kleidungsstück nach dem anderen präsentiert – es waren so viele, dass sie irgendwann den Überblick verloren hatte.

    „Bitte“, murmelte sie schwach. „Was auch immer Sie für das Beste halten.“

    Endlich entfernte man all die Binden und Tücher, nahm die Lockenwickler aus ihren Haaren und föhnte sie trocken – obwohl der Himmel allein wissen mochte, was Wickler und Föhnen bei so sprödem und krissligem Haar wie dem ihren bewirken konnten. Ein weiterer Schönheitsexperte machte sich ans Werk, breitete eine Unzahl von Make-up-Artikeln um sie herum aus und begann, sie zu schminken. Dann zog man sie auf die Füße, um ein Outfit nach dem nächsten vor ihren Körper zu halten. Jedes wurde von allen Anwesenden im Zimmer kommentiert und dann durch ein weiteres ersetzt.

    Als nur noch eines übrig war, wurden ein letztes Mal ihre Haare und das Make-up gerichtet, und sie wurde sanft, aber bestimmt durch die Flügeltür nach draußen geschoben.

    Sie hatte keine Ahnung, wie sie aussah. Sie konnte den Nagellack sehen, ein zartes Apricot, und ihre Hände fühlten sich weich und zart an. Auch ihr Haar fühlte sich anders an, irgendwie leichter. Als umschmeichle es nun ihr Gesicht beim Gehen, anstatt es wie sonst wie eine kompakte Masse zu umgeben. Sie trug ein zimtfarbenes Kleid mit einem engen Oberteil und weiten Ärmeln, das durch einen schmalen Gürtel um ihre Taille gehalten wurde. Der lange Rock aus Seide umspielte sanft ihre Beine.

    Aber Lizzy hatte sich nicht im Spiegel gesehen. Niemand hatte gefragt, ob sie das wollte, und sie selbst hatte sich nicht getraut. Sie musste absurd aussehen – so angezogen und gestylt. All die Mühen konnten letztendlich nicht verbergen, wie hässlich sie in Wirklichkeit war.

    Heiße Verlegenheit stieg in ihr auf. Warum hatte sie das zugelassen? Sie hätte bleiben sollen, wer sie war – akzeptieren, was sie war.

    Die hässliche Schwester.

    Neben ihr erzählte Ben immer noch von seinem Fort. Langsam, aber unaufhaltsam bewegten sie sich auf die Gestalt zu, die bewegungslos unter dem Sonnenschirm saß.

    Ängstlich ließ sie ihren Blick zu ihm wandern, und als sie ihn ansah, empfand sie wieder das mittlerweile vertraute flaue Gefühl im Magen.

    Er trug Shorts und ein weißes T-Shirt und beobachtete ihr Näherkommen, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.

    Sie wandte den Kopf ab und wollte nur noch weglaufen, wollte sich in der Sicherheit ihres Schlafzimmers verstecken und nie wieder hervorkommen.

    Sie erreichte den Tisch.

    Sag etwas, irgendetwas, fuhr es ihr durch den Kopf.

    Lizzy schluckte.

    „Oh Ben, das ist ein tolles Fort.“ Ihre Stimme klang schrill und falsch. Und sie schien aus sehr weiter Ferne zu kommen.

    „Es gibt zwei Türme und eine Brücke, und schau mal, Mummy, da ist auch ein Gitter, das man hoch- und runterziehen kann. Warte, ich zeige es dir …“

    Sie zwang sich zuzusehen, während Ben an einem Faden zog und das Gitter aus Karton in das Eingangstor des Forts hinaufzog.

    „Großartig“, sagte sie mit erstickter Stimme.

    Sie musste ihn ansehen. Sie musste.

    Es war die schwerste Sache der Welt, aber sie tat es. Lizzy wandte den Kopf und sah Rico an. Blickte in sein vollkommen ausdrucksloses Gesicht.

    „Es ist ein fantastisches Fort“, meinte sie schwach.

    Er antwortete auf Italienisch. „Non credo …“

 

Er stand unter Schock, das wurde ihm langsam bewusst. Ein so tiefer Schock, dass sein Gehirn immer noch nicht glauben wollte, was seine Augen ihm übermittelten.

    Was er sah, war einfach nicht möglich. Es konnte nicht dieselbe Frau sein.

    Dio … wie hatte sie sich so lange verkleiden können? Dieser Körper. Dieser fantastische, verführerische, weibliche Körper. Eine schmale Taille, die nach unten zu herrlich gerundeten Hüften wurde und nach oben … er schluckte … zu wundervollen Brüsten, die sich sanft gegen den Stoff des Kleides drängten.

    Er fühlte, wie sein Körper reagierte. Es gab nichts, was er dagegen tun konnte.

    Mit größter Anstrengung hob er seinen Blick. Das war ein Fehler.

    Die Reaktion seines Körpers blieb dieselbe.

    Ihr Gesicht passte perfekt zu ihrem Körper.

    Es lag an ihren Haaren … was zur Hölle war mit ihren Haaren passiert? Die Sprödigkeit war verschwunden. Als hätte sie nie existiert. Stattdessen umgaben weiche Locken in einem warmen Kastanienton ihr Gesicht und fielen in sanften Wellen über ihre Schultern.

    Und was ihr Gesicht anging …

    Wie hatte er es vorher nicht bemerken können? Die funkelnden grauen Augen waren von dichten langen Wimpern umgeben, darüber wölbten sich schmale elegante Augenbrauen. Die Wangenknochen betonten die gerade Nase, der Mund war …

    Wieder musste er schlucken.

    Ihr Mund war sinnlich, die Lippen leicht geöffnet und … Dio, so einladend …

    Eine Stimme sagte etwas. Jemand zupfte ihn am Ärmel.

    „Tio Rico. Du hörst mir ja gar nicht zu. Ist es schon Zeit für mein Abendessen? Ich habe Hunger.“

    Woher er die Kraft nahm, wusste er nicht. Aber irgendwie gelang es Rico, seine Aufmerksamkeit auf Ben zu richten.

    „Ja … sicher, richtig. Du möchtest essen? Okay. Das ist in Ordnung.“ Er sagte noch etwas auf Italienisch, ebenso unzusammenhängend.

    Was in aller Welt war hier los? War das Universum stehen geblieben und breitete sich jetzt in eine andere Dimension aus? Eine Dimension, in der das Unmögliche völlig normal war?

    Lizzy sagte etwas. Ihre Stimme klang höher als üblich. Sie versuchte, entspannt zu klingen, und scheiterte kläglich.

    „Geht es Ben gut? Es tut mir leid … alles hat so lange gedauert … ich …“, sie verstummte.

    Rico starrte sie wieder an. Er konnte einfach nicht den Blick von ihr abwenden.

    Einen Moment noch blieb Lizzy stehen, während sie sich seinem ausdruckslosen Gesicht gegenübersah.

    Plötzlich konnte sie es nicht länger ertragen. Sie wirbelte auf ihren schmalen Absätzen herum und lief los. Wohin sie rannte, wusste sie nicht. Nur fort von hier.

    Die Terrasse endete an einer Treppe. Sie hastete die Stufen hinunter, vorbei an dem azurblau glitzernden Wasser des Swimmingpools und weiter den von Büschen und Pinienbäumen gesäumten Pfad entlang, der zum Meer führte.

    Warum hatte sie dieses Horrorszenario zugelassen? Sie hätte wissen müssen, dass es hoffnungslos war, nutzlos, sinnlos.

    Sie hätte es nicht versuchen sollen – sie hätte nicht versuchen sollen, besser auszusehen. Es zu versuchen und zu scheitern war schlimmer, als zu akzeptieren, was sie war.

    Hinter sich konnte sie Schritte hören, ihr Name wurde gerufen. Lizzy beschleunigte ihre Flucht, stolperte in ihrer Hast auf den ungewohnten Absätzen und musste sich am Geländer festhalten, um nicht zu fallen.

    Bevor sie weiterlaufen konnte, schloss sich eine Hand um ihren Arm.

    „Bleib stehen. Was ist denn los?“

    Jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich, als sie versuchte, sich loszureißen. Doch sein Griff war wie Stahl.

    „Geh weg.“

    Die Worte sprudelten aus ihr heraus, sie hatte keine Macht über sie.

    „Geh weg. Lass mich in Ruhe. Lass mich allein!“

    Auf Ricos Gesicht spiegelten sich Schock und Fassungslosigkeit.

    „Was ist passiert? Stimmt etwas nicht?“

    „Was meinst du damit? Nichts stimmt. Gar nichts!“

    Bewegungslos stand Lizzy vor ihm. Er war so nahe, viel zu nahe. Sie versuchte zurückzuweichen, aber es war hoffnungslos. So wie alles hoffnungslos und nutzlos war.

    Immer noch sah er sie an, völliges Unverständnis schimmerte in seinen Augen. Langsam wich der Ausdruck von Schock und Fassungslosigkeit aus seinem Gesicht. Sie sah, wie es passierte. Sah es und konnte es doch nicht begreifen.

    Da war etwas anderes in seinen Augen. Etwas, das sie langsam weich werden und schmelzen ließ. Lizzy fühlte sich wie heißes Wachs, das sich allmählich verflüssigte.

    Ihre Haut wurde warm. Geschmolzener Zucker oder flüssiger Honig floss durch ihre Adern und erwärmte ihren Körper.

    Sie spürte, wie sich sein Griff änderte. Rico hielt sie nicht länger nur fest, vielmehr … hielt er sie. Hielt sie in der Position, in der er sie haben wollte, weil … weil …

    Die Welt hörte auf, sich zu bewegen. Alles erstarrte. Sie war einfach nur da und wurde gehalten. Und er blickte sie an. Der Ausdruck in seinen Augen ließ ihren Atem stocken.

    Lizzy erwiderte seinen Blick. Sie hatte keine Ahnung, was gerade passierte. Die Realität hatte aufgehört zu existieren.

    Und zugleich hatte sie sich noch nie so lebendig gefühlt.

    „Schau mich nicht so an“, sagte er mit einer tiefen leisen Stimme, die in sanften Wogen über ihren Rücken strich. „Denn wenn du mich so ansiehst, muss ich …“

    „Mummy? Mummy!“

    Hastig wichen sie voreinander zurück. Es war, als würden sie aus der Versunkenheit eines tiefen, stillen Meeres auftauchen.

    „Mummy, Tio Rico.“

    Wieder erklang Bens ängstlicher Ruf.

    „Ich komme, Ben“, rief Lizzy. Ihre Stimme zitterte.

    „Ich auch“, schloss sich Rico an. Auch seine Stimme war nicht ganz fest.

    Ein letztes Mal betrachtete er sie, dann wandte er sich ab. Es war sicherer, sie nicht anzusehen. Hier war nicht der richtige Ort. Und nicht der richtige Zeitpunkt.

    Später, später würde er sie ansehen.

    Mehr, als nur ansehen …

    Leichtfüßig eilte er die Treppe hinauf.

    Gefühle wallten plötzlich in ihm auf. Stark, überwältigend und alles mit sich reißend. Vielleicht hatte das Universum aufgehört, sich zu drehen, aber das war ihm egal. Wie das passiert war, war nicht wichtig. Es war passiert, und das war alles, was zählte.

    Adrenalin strömte durch seine Adern. Und noch etwas anderes. Ein Gefühl von Verzückung. Etwas so Unglaubliches und Faszinierendes war geschehen, das er gar nicht erklären wollte. Er wollte nur, dass es weiterging.

    „Hier sind wir, Ben“, verkündete er, als sie die Ebene mit dem Pool erreichten. Rico winkte der kleinen Gestalt zu, die am oberen Ende der Treppe stand.

    „Wo ist Mummy?“, fragte der Junge.

    „Hier.“ Rasch trat Lizzy hinter Rico hervor. Ihr Herz pochte wild, aber das hatte nichts mit dem raschen Aufstieg zu tun.

    Als sie die Terrasse erreichten, widmete Ben zum ersten Mal seine gesamte Aufmerksamkeit seiner Mutter und nicht dem Fort.

    „Ist das dein neues Kleid?“

    Sie nickte.

    Er neigte den Kopf auf eine Seite und betrachtete sie eingehend. Dann runzelte er die Stirn. „Du siehst hübsch aus. Wie in einem Magazin. Aber du siehst gar nicht mehr wie Mummy aus.“

    Rico legte einen Arm um die Schultern seines Neffen. Er wusste genau, was Ben fühlte.

    „Das ist die neue Mummy“, sagte er. „Aber du hast recht, Ben. Sie sieht wirklich sehr hübsch aus. Tatsächlich ist sie …“, er hielt inne und sah ihr in die Augen, „atemberaubend.“

    Ihre Augen weiteten sich ein wenig, während er ihren Blick gefangen hielt. „Es ist wahr“, wandte er sich leise an sie. „Ich kann nicht glauben, dass das alles immer schon da war.“ Er unterbrach sich und fuhr dann mit klarer Stimme fort: „Und du wirst es nie – verstehst du mich? –, nie wieder vor mir verstecken.“

    Noch einmal intensivierte Rico seinen Blick, damit auch seine Augen seine Botschaft an sie sandten.

    Dann wandte er sich abrupt ab.

    „Gut. Also dann, Ben. Zeit zum Essen.“


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