Einige Minuten später fuhren sie bereits in Richtung Norden durch eine Berglandschaft, die Rebecca nie zuvor gesehen hatte. Der Verkehr auf dem schmalen Highway war schwach, und schon nach kurzer Zeit hatten sie jegliche Bebauung oder Zivilisation weit hinter sich gelassen.
Während Jake sich auf die Fahrt konzentrierte, beschloss Rebecca, die Gedanken auszusprechen, die durch ihren Kopf rasten. „Ich war sehr überrascht, als du mich heute Nachmittag angerufen hast.“
Sie konnte sehen, dass sich seine Augenbrauen unter der Krempe seines grauen Huts leicht nach oben bogen. „Oh. Und warum?“, fragte er.
Sie wandte den Blick von ihm ab und betrachtete wieder die sich rasch verändernde Landschaft. In den letzten Minuten waren die Berge einer flachen Wüstenlandschaft gewichen, die von niedrigen, immer kahler werdenden Hügeln umgeben war.
„Weil ich an diesem Abend, an dem du mein Haus verlassen hast, gedacht habe, dass …“ Sie wusste nicht, wie sie ihren Gefühlen Ausdruck verleihen sollte. „Nun, dass dich irgendetwas an mir abgestoßen hat. Vielleicht hattest du vor, mir aus dem Weg zu gehen. Aus Angst, dass ich Ärger bedeute.“
Er hielt seine Augen auf den Highway gerichtet. „Natürlich bedeutest du Ärger, Rebecca.“
Stirnrunzelnd starrte sie ihn an. „Was tu ich dann hier? Bei dir?“
Dieses Mal lachte er, und das Geräusch löste ihre innere Anspannung ein bisschen.
„Hast du noch immer nicht verstanden, dass ich ein Mann bin, der es liebt, mit der Gefahr zu flirten?“
Oh ja, er flirtete. Und zwar, ohne dass es ihm selbst bewusst war. Genau das machte einen Teil seines Charmes aus. Er selbst wusste nicht einmal, wie stark seine Wirkung auf Frauen war. Dass schon ein einfacher Blick reichte, um Rebeccas Herz zum Schmelzen zu bringen.
Sie wollte ihm versichern, dass nichts an ihr gefährlich war. Stattdessen beschloss sie, das Thema zu beenden und den Kuss zu vergessen. „Ich habe gestern mit Bess gesprochen“, sagte sie. „Sie war ganz anders, als ich sie mir vorgestellt habe. Aber sie schien Gertrude sehr gemocht zu haben.“
„Bess hat eine etwas raue Schale, aber das ist verständlich. Sie hat es im Leben nicht immer leicht gehabt. Dennoch ist sie eine treue Seele. Sie wäre die Erste, die dir Hilfe anbieten würde, wenn du sie brauchst.“ Er sah sie neugierig an. „Hat sie dir Neues über deine Tante sagen können?“
„Sie hat mir etwas erzählt, das mich noch immer verwirrt. Meine Tante sah meiner Mutter rein gar nicht ähnlich. Bess sagte, Gertrude sei groß und blond gewesen. So wie ich. Ist das wahr? Hast du sie irgendwann einmal aus der Nähe gesehen?“
„Nicht direkt. Aber sie war tatsächlich eine große Frau mit heller Haarfarbe. Früher habe ich sie öfter mal draußen im Hof gesehen, wenn sie die Büsche und Blumen gegossen hat. Damals hatte sie viele Pflanzen, die alle geblüht haben. Das ist allerdings Jahre her. Quint und ich waren damals noch kleine Jungs. Später hat sie dann wohl das Interesse an ihrem Hof und dem Haus verloren. Mit der Zeit wirkte alles heruntergekommen.“ Er verzog das Gesicht, dann schüttelte er den Kopf. „Sorry, das hätte ich nicht sagen sollen.“
Sie sah ihn neugierig an. „Warum nicht? Das ist doch noch untertrieben. Da sind sehr viele Renovierungsarbeiten nötig.“
„Nun, sicher. Ich meinte, dass sie das Interesse verloren hat. Wahrscheinlich waren ihre gesundheitlichen Probleme der Grund. Dasselbe habe ich bei meiner Mutter beobachtet.“
Rebecca hob interessiert die Augenbrauen. „Du hast noch nicht sehr viel von deiner Mutter gesprochen. Lebt sie auch in der Gegend?“
„In Ruidoso. Nach der Scheidung von meinem Vater hat sie die Ranch verkauft, auf der ich aufgewachsen bin. Dafür hat sie sich ein Haus gekauft, das sich – wie sie es nennt – ‚im Land der Lebenden‘ befindet.“
Sein leichter Sarkasmus schien bei allem, was mit seiner Familie zu tun hatte, zutage zu treten. „Und du wolltest nicht, dass sie verkauft?“
„Herrgott, nein. Sie hat das Anwesen für die Hälfte des Werts verkauft. Gemeinsam hätten wir etwas daraus machen können, aber sie wollte es noch nicht einmal versuchen.“
„Ich dachte, du warst erst dreizehn, als dein Vater sie verließ.“
„Das stimmt. Aber ich war ein großer und kräftiger Junge, der die körperliche Arbeit eines erwachsenen Mannes verrichten konnte. Und Dad hatte mir bereits alles über die Aufzucht von Rindern beigebracht.“
„Dennoch gab es nur dich und deine Mutter. Eine Ranch dieser Größe zu unterhalten, wäre eine immense Aufgabe für euch beide gewesen.“
„Von Zeit zu Zeit hätten wir einen Helfer anheuern müssen. Und, wenn nötig, einen Tierarzt. Aber …“ Er atmete tief aus und schüttelte den Kopf. „Nichts davon spielt heute noch eine Rolle.“
„Aber es setzt dir noch immer zu“, stellte sie leise fest. „Verstehst du dich gut mit deiner Mutter?“
Er zuckte die Achseln. „Wenn du wissen willst, ob ich sie liebe – das tue ich. Sehr sogar. Sie hat weiß Gott schwer gearbeitet, um mich großzuziehen – ohne jede Hilfe von meinem Vater. Trotzdem gibt es immer wieder Momente, in denen ich mich sehr über sie ärgere. Es scheint, als habe sie ihr Leben bereits aufgegeben. Sie sieht in allem nur das Negative.“
„Das ist nicht gut.“
„Nein. Andererseits ist sie nicht ohne Grund so geworden. Erst hat sie ihren Ehemann an eine andere Frau verloren. Und dann, vor etwa zehn Jahren, hatte sie Krebs und musste eine monatelange, zermürbende Behandlung über sich ergehen lassen. Die hat den Krebs zwar besiegt, aber auch ihr Herz geschwächt.“
„Arme Frau“, murmelte Rebecca. „Ist sie jetzt behindert?“
„Nein. Und ihre Herzprobleme wären nicht so ernst, wenn sie den Rat ihrer Ärzte befolgen würde. Doch das tut sie nicht. Ich denke … sie ist so wie deine Tante Gertie in den letzten Jahren. Sie hat an allem das Interesse verloren.“
Rebecca blickte gedankenverloren durch die Windschutzscheibe. „Glaubst du, dass sie noch immer deinen Vater vermisst? Dass sie über seinen Verlust nicht hinwegkommt?“
Er stieß einen leisen Fluch aus. „Ich habe versucht, ihr klarzumachen, dass dieser Mann es nicht wert ist, dass sie sich von ihm um den Schlaf bringen lässt. Und sie stimmt mir zu. Sie weiß, dass er nichts getaugt hat. Schon bevor er uns verlassen hat, hatte er eine Menge Frauen, und das wusste sie auch. Trotzdem liebte sie ihn.“ Er sah sie an und schüttelte entmutigt den Kopf. „Als sei Liebe wichtiger als andere. Sogar als das Leben selbst.“
Der Stich in ihrer Brust überraschte sie. Eigentlich konnte es ihr doch egal sein, ob Jake eine zynische Einstellung zum Thema Liebe hatte. Doch das war es nicht, und sie verstand nicht, warum. Abgesehen davon, dass sie ihn immer mehr als galanten Ritter in Sporen und Bluejeans ansah. Und Ritter glaubten an die Liebe. Oder etwa nicht?
„Ich habe Bess gefragt, ob es in Gertrudes Leben einen Mann gab“, sagte Rebecca. „Sie glaubt, dass es vor langer Zeit einen gegeben haben mag. Aber das ist nur eine Vermutung.“