Julies Fußboden war hart. Shanni und ihre Freundin belegten ihn mit Kissen, gingen sogar ins Kaufhaus, um neue zu besorgen, doch das Ganze hatte nicht gerade den Komfort einer Luxusherberge.
"Ich bleibe nur, bis ich meine Eltern telefonisch erreicht habe", versicherte Shanni ihrer unglücklichen Freundin. "Sie schwirren irgendwo in der Welt herum."
"Und wenn ich dir etwas Geld leihe?", fragte Julie.
"Nein", lehnte Shanni ab. Pierce hatte ihr ebenfalls Geld angeboten – sehr viel mehr, als ihr nach den wenigen Tagen als Haushälterin zustand. Der Inhalt ihres Portemonnaies reichte noch für einige Tage, und bei der Stellenvermittlung hatte man ihr Mut gemacht.
"Kuratorinnen sind nicht sehr gefragt", hatte die Mitarbeiterin gesagt, "aber wenn Sie es als Kellnerin versuchen wollen … Anfang nächster Woche werden zwei Stellen frei."
Also wartete auf den Beginn ihrer neuen Tätigkeit. Ob sich ihre Eltern bei ihr melden würden, überließ sie dem Zufall, und an Dolphin Bay versuchte sie nicht zu denken. Nicht an das Schloss, nicht an Pierce und nicht an die Kinder.
"Du siehst aus, als wärst du von einem Bus gerammt worden", stellte Julie am vierten Tag fest. Sie war kurz nach Hause gekommen, um sich für eine Party umzuziehen, bei der sie eine Freundin mit Leichenbittermiene nicht brauchen konnte.
"Ich leide an gebrochenem Herzen", klagte Shanni.
"Mike war ein Schuft", bestätigte Julie, "aber irgendwann musst du darüber hinwegkommen."
Shanni hatte Julie nichts von Pierce erzählt, denn sie fürchtete die endlosen Fragen, die einer Beichte unweigerlich folgen würden.
Am fünften Tag klingelte es nachmittags an der Tür. Shanni saß vor dem Fernseher, und da sie ihren Pyjama anhatte, wollte sie nicht öffnen, bis ihr einfiel, dass Julies Freund ein Romantiker war und Streitigkeiten immer mit Rosen aus der Welt zu schaffen suchte. Und die beiden stritten häufig miteinander, mit dem Ergebnis, dass das Apartment voll von Sträußen in allen Farben und allen Stadien des Verblühens war. Das Geringste, was Shanni als unwillkommene Untermieterin für ihre Freundin tun konnte, war also, die nächste Lieferung entgegenzunehmen.
Also ging sie zur Tür und öffnete.
Pierce!
"Ich dachte, es kämen wieder Rosen", sagte sie überflüssigerweise. Pierce sah hinreißend aus. Die ausgeblichenen Jeans saßen tief auf seinen Hüften, an dem karierten Hemd, das am Hals offen stand, fehlte ein Knopf. Das dunkle Haar fiel ihm frech in die Stirn, und sein Gesicht zeigte Spuren von Sonnenbrand.
Natürlich – er kam ja vom Strand.
"Rosen?", fragte er leicht verwirrt.
"Sie werden hier ziemlich regelmäßig abgegeben."
"Du beschämst mich. Soll ich noch einmal wiederkommen … mit einem Strauß?"
"Sei nicht albern, Pierce."
"Wie du willst." Er betrachtete Shanni von oben bis unten. Sie war barfuß, trug den Pyjama mit den rosa Schweinchen und hatte sich heute offenbar noch nicht gekämmt. "Du hast einen braunen Fleck auf der Oberlippe."
Die Pralinen!
"Na und?", murmelte sie verlegen.
"Was ist los, Shanni? Spielst du für Mike Miss Havisham?"
"Wer ist Miss Havisham?"
"Eine verlassene Braut in Dickens' Roman Große Erwartungen. Sie sitzt in ihrem Brautkleid an der Festtafel und sieht den Mäusen zu, die sich um die letzten Krümel des Hochzeitskuchens zanken."
"Ich trage einen Schlafanzug und sehe fern", erwiderte Shanni entrüstet.
"Darf ich trotzdem hereinkommen?"
"Es ist Julies Wohnung."
"Ich mache bestimmt keine Unordnung." Pierce sah über Shannis Schulter hinweg auf die vielen Kissen, die Vasen mit welkenden Rosen und die überall verstreuten Pralinenhüllen.
"Was willst du hier?" Shanni wollte sich auf keinen Fall überrumpeln lassen. "Bleib bitte sachlich, und zähl nicht die leeren Konfektschachteln."
Pierce lächelte. "Ich habe gute Nachrichten."
Warum musste er unbedingt lächeln? Nichts brachte Shanni so nachhaltig durcheinander!
"Geht es den Kindern gut?"
"Sie vermissen dich."
"Eine Frau, die sie kaum eine Woche gekannt haben?"
"So ist es." Pierce zögerte. "Sie verbringen eine herrliche Zeit in Dolphin Bay. Bessy ist die Windpocken los und lebt mit den anderen praktisch am Strand. Oh, und Kirsty hat ihr Baby bekommen … einen Jungen. Sie wollen ihn Angus nennen."
"Das freut mich." Shanni musste mehrmals schlucken. "Warum bist du nicht auch dort?"
"Weil ich überflüssig bin. Die Kinder sind glücklich, und ich musste unbedingt an einer Konferenz teilnehmen."
"Dann fährst du heute Abend zurück?"
"Ja." Pierce sah sie forschend an. "Du bist doch nicht deprimiert?"
"Nein." Es war unhöflich, ihn nicht hereinzubitten, aber Shanni konnte sich nicht dazu entschließen. Es wäre zu gefährlich gewesen.
"Ich wollte mit dir über Mike sprechen."
"Über Mike?"
"Ich habe neue Nachrichten von Blake. Deine finanziellen Probleme sind gelöst. Er hat das Geld für dich zurückbekommen."
Shanni blieb vor Überraschung stumm. Warum hat Pierce den fehlenden Knopf nicht wieder angenäht?, schoss es ihr unsinnigerweise durch den Kopf.
"Blake konnte mithilfe deiner Vollmacht feststellen, wo das Geld geblieben war. Hätte Mike es verspielt, wäre nichts mehr zu machen gewesen, aber dein Mike war schlau."
"Er ist nicht mein Mike!"
"Nein, nicht mehr. Jedenfalls hat er von dem Geld drei Gemälde angekauft, von denen jedes ein kleines Vermögen wert ist. Die gehören jetzt dir."
"Sag das noch mal."
"Blake hat eine einstweilige Verfügung erwirkt. In dem Schreiben, das du ihm gegeben hast, wurde von dir eindeutig erklärt, dass die Partnerschaft mit Mike an dem Tag, an dem du ihn mit dieser Frau in flagranti erwischt hast, beendet war. Also hatte Mike kein Recht, mit deinem Geld etwas zu erwerben. Wenn du die Bilder geschickt verkaufst, kannst du die Schulden bei der Bank begleichen und behältst noch eine schöne Summe übrig."
"Oh, Pierce." Shanni musste sich einen Moment am Türrahmen festhalten.
"Ja, ja … unser Blake ist nicht schlecht."
"Nein, wirklich nicht." Fast wäre Shanni vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen. Ohne lange zu überlegen, fiel sie Pierce um den Hals und barg ihr Gesicht an seiner Schulter. Es war berauschend, ihn wieder in den Armen zu halten und seinen Duft einzuatmen. Er roch nach Sonne, Strand und Meer. "Wie soll ich dir nur danken", flüsterte sie mit heiserer Stimme.
Pierce schob sie sanft, aber bestimmt von sich. "Das ist schon in Ordnung. Du hast Donald gerettet, ich habe dich gerettet. Wir sind quitt."
Oh ja, zum Heulen quitt!
"Was die Briefe betrifft, die du an meine Pflegebrüder geschrieben hast … Sie haben sie erhalten und sind einverstanden. Wider besseres Wissen", setzte Pierce nach einer Pause hinzu.
Shanni hatte Blake, Connor, Sam, Darcy, Dominic und Nikolai in getrennten Schreiben mitgeteilt, ihr Bruder Pierce habe fünf Kinder adoptiert, und es sei grausam, ihrer Pflegemutter diese Jungen und Mädchen vorzuenthalten. Überhaupt hätten sie kein Recht, darüber zu bestimmen, wen Ruby bei sich aufnehmen und wie lange sie ihn beherbergen dürfe. Diese unsinnige Forderung, die mit dem Geschenk der neuen Wohnung verbunden gewesen sei, müsse schleunigst zurückgenommen werden.
"Du weißt, was ich geschrieben habe?", flüsterte sie.
Pierce nickte. "Alle sechs haben mir den Brief zugeschickt und unter Protest ihr Einverständnis erklärt."
"Sie begreifen nichts."
"Nein."
"Aber du begreifst es?", fragte Shanni hoffnungsvoll.
"Sagen wir, ich fange an zu verstehen. Ruby und Shanni … Hort der Heimatlosen und Verlassenen dieser Welt … Ja, ich habe einiges von dir gelernt."
Shanni war nicht zum ersten Mal um eine Antwort verlegen. Pierce sah so unglaublich sexy aus, und sie war im Pyjama. Wie konnte er behaupten, etwas von ihr gelernt zu haben, nachdem er sie gerade vor dem finanziellen Ruin gerettet hatte?
"Was wirst du jetzt tun?"
Shanni musste sich gewaltsam zusammennehmen. "Was willst du hören?"
"Du hast zwar deine Galerie verloren, aber es ist nicht die einzige auf der Welt. Blake hat gute Kontakte in der Kunstwelt. Deine Geschichte hat sich inzwischen herumgesprochen, und Mike gilt allgemein als der Schuldige."
"Und ich stehe als Trottel da", ergänzte Shanni bitter.
Pierce schüttelte den Kopf. "Man ist der Ansicht, dass Mike dich um deinen rechtmäßigen Besitz gebracht hat. Die Künstler, die du vertreten hast, würden gern wieder mit dir zusammenarbeiten."
"Du hast dich aber genau umgehört", staunte Shanni.
"Blake hat es für mich getan."
"Dann muss ich ihm schreiben und mich bedanken." Sie dachte einen Moment nach. "Und ihn noch etwas mehr über seine Pflegemutter aufklären."
"Das wird wenig nützen, und ein Dankeschön ist überflüssig. Geht mal zusammen essen, wenn du wieder in London bist."
"Vielleicht kehre ich gar nicht dorthin zurück."