Die Familie hatte sich in der Küche versammelt. Alle waren da. Wendy saß im Schaukelstuhl neben dem Herd und hielt Bessy im Arm. Donald stand dicht neben ihr, zu seinen Füßen hockte Abby und umschlang mit beiden Armen seine Beine. Bryce hatte beschlossen, für alle Kakao zu kochen, aber seine Hände zitterten so sehr, dass er kaum vorankam.
Shanni zitterte ebenfalls. Der wütende Bulle hatte ihr nicht nur das T-Shirt zerfetzt, sondern auch den Oberarm aufgerissen. Die Wunde reichte vom Ellbogen bis zur Schulter. Pierce kniete neben ihr und reinigte die Wunde mit warmem Seifenwasser. Dabei fluchte er leise vor sich hin.
"Keine Schimpfworte vor den Kindern", mahnte Shanni.
"Ich hatte das Gatter fest verschlossen", beteuerte Pierce, während er ihren Arm vorsichtig trocken tupfte. "Es war mit Kette und Vorhängeschloss gesichert. Jemand muss die Kette durchgeschnitten haben."
"Vielleicht der Bulle selbst", schlug Shanni vor.
Pierce schüttelte unwillig den Kopf. "Clyde ist normalerweise das friedlichste Tier von der Welt … friedlicher noch als die Kühe, für die er da ist. Irgendetwas stimmt hier nicht." Er untersuchte die gereinigte Wunde. "Ich glaube, sie muss nicht genäht werden, aber wir sollten trotzdem den Rat eines Arztes einholen."
"Und die Kinder allein lassen? Das kommt nicht infrage. Verbinde den Arm, mehr ist nicht nötig."
Abby hatte ihnen mit großen Augen zugesehen. "Im Badezimmer sind Mullbinden", sagte sie jetzt, ließ Donalds Beine los und stand auf. "Ich hole sie."
Braves Mädchen, dachte Shanni. Tapfere Kinder. Kein Wunder, dass Pierce sie nicht weggeben will.
Donald stand noch immer dicht neben Wendy. Er war sehr blass, als würde er jeden Moment umfallen. Jemand müsste ihn in den Arm nehmen, dachte Shanni … ihn halten, bis der schlimmste Schreck vorbei ist. Aber so, wie er dastand, trotzig und selbstbewusst, hätte er das wohl nicht geduldet. Jedenfalls nicht von ihr oder von Pierce.
Abby erschien mit Binden und Leukoplast, und Pierce machte sich daran, Shannis verletzten Arm zu verbinden.
"Wir brauchen einen neuen Besen", sagte er dabei, um sie abzulenken.
"Einen Besen?"
Er nickte. "Der alte ist zerbrochen, als ich das Gatter zugeworfen habe."
Shanni musste trotz der Schmerzen lachen. "Mein mutiger Held! Es war also kein Gewehr."
Pierce lächelte, was selten genug geschah. "Außer dem Besen brauchen wir die Zutaten für Hotdogs", verkündete sie.
"Warum Hotdogs?", fragte Pierce erstaunt.
"Weil sie aus Rindfleisch zubereitet werden und wir im Moment nicht gut auf Rinder zu sprechen sind."
"Ich mag die gern", erklärte Donald, der wieder etwas Farbe bekommen hatte.
"Dann wird morgen groß eingekauft. Ich hüte mit Wendy das Haus, während Pierce und Donald Besorgungen machen."
"Dann bleibst du noch?" Wendy hatte bis jetzt geschwiegen, und ihre unerwartete Frage stand fast bedrohlich im Raum.
Shanni sah von einem zum anderen und las in jedem Gesicht dieselbe Botschaft: Wir brauchen dich. Pierce gab sich große Mühe, gelangweilt auszusehen, aber das gelang ihm so schlecht, dass es Shanni einen Stich gab. Er brauchte sie ebenfalls – ein gefährlicher Gedanke.
"Wenn es euch recht ist, bleibe ich noch", brach sie endlich das angespannte Schweigen. "Ich bin hergekommen, um mein Selbstbewusstsein wiederzufinden. Jetzt kommt noch der verletzte Arm dazu … Ein Grund mehr, um sich etwas länger Ruhe zu gönnen. Wie lange, wird sich noch herausstellen."
Shanni blieb in der Küche, während Pierce die Kinder wieder ins Bett brachte. Sie hätte sich auch hinlegen können, aber das gefährliche Erlebnis steckte ihr noch in den Gliedern und machte sie kribbelig. Neben dem knisternden Herdfeuer zu sitzen, sich im Schaukelstuhl hin und her zu wiegen, das brauchte sie jetzt, um ihre Nerven zu beruhigen.
Nach einer Weile wurde sie schläfrig, und am liebsten wäre sie bis zum Morgen so sitzen geblieben.
"Warum liegst du noch nicht im Bett?", fragte Pierce, der zurückkam, nachdem oben Ruhe eingetreten war.
"Weil ich friere", entschuldigte sie sich halbherzig.
"Wir haben heute eine warme Nacht."
"Schon möglich, dann ist es wohl der Schreck."
Pierce machte ein besorgtes Gesicht. "Wie wäre es mit einem Whisky?"
"Nein, lieber nicht."
Pierce war an der Tür stehen geblieben und kam auch jetzt nicht näher. "Ich begreife das alles nicht", gestand er. "Ich war eben noch mal draußen und habe festgestellt, dass die Kette mit einem Bolzenschneider durchtrennt worden ist. Anschließend muss der Täter Clyde gereizt und mit einem Katapult in den Garten getrieben haben. An seiner Flanke sind kleine Verletzungen zu erkennen. Normalerweise würde der Bulle das geöffnete Tor gar nicht beachten. Ihn mit Steinchen zu beschießen und in den Garten zu treiben, ist der sicherste Weg, andere in Gefahr zu bringen."
"Wer würde so etwas tun?", überlegte Shanni. "Man könnte ihn anzeigen."
"Man hatte es auf mich abgesehen", erklärte Pierce. "Nur ich würde in den Garten gehen, um verlaufenes Vieh zurückzutreiben. Mit dem siebenjährigen Donald hatte bestimmt niemand gerechnet."
"Hasst man dich hier so sehr?"
"Es ist kein Hass … eher ein Gefühl der Fremdheit. Ich bin für die Leute ein reicher Mann, der nicht hierher gehört und die Gemeinde um ihre Molkerei gebracht hat. Dass ich davon keine Ahnung hatte, entschuldigt mich nicht. Hinzu kommt, dass ich ein alleinerziehender Vater bin, der mit seinen fünf Kindern auf der Liste der staatlichen Fürsorge steht. Ich soll mit meinem Anhang von hier verschwinden … das wünschen sich die Leute."
"Und warum tust du es nicht? Du gehörst in die Stadt, in dein Architekturbüro. Die Kinder könnten je nach Alter die Schule oder eine Kindertagesstätte besuchen, und eine Haushälterin wäre in Sydney bestimmt leichter zu finden als hier."
Pierce schüttelte den Kopf. "Das wäre keine Lösung. Vielleicht bin ich irgendwann dazu gezwungen, aber solange es geht, werde ich Maureens Wünsche respektieren. Sie wollte, dass ihre Kinder in völliger Freiheit aufwachsen."
Dem hatte Shanni nichts entgegenzusetzen. "Vorerst hast du mich", meinte sie nach reiflicher Überlegung. "Wenn du mich willst."
"Und ob ich das möchte!"
Pierce' leidenschaftlicher Ton machte Shanni verlegen. "Danke", sagte sie und lächelte.
"Du erinnerst mich an Ruby", stellte Pierce plötzlich fest.
"Weil ich klein und pummelig bin?"
"Von wegen klein und pummelig! Was du heute Abend geleistet hast …"
"Macht klein und pummelig wett?"
Pierce lächelte überlegen. "Kein heiratswilliger Mann würde auf die Idee kommen, dich so zu bezeichnen."
"Aber du bist nicht heiratswillig?"
"Meinst du?"
"Immerhin hast du schon fünf Kinder. Deine Familie ist groß genug."
"Ich habe mich nicht danach gesehnt", gestand Pierce freimütig. "So wenig wie nach einer Frau."
Shanni errötete gegen ihren Willen. "Gut, dass ich das weiß, sonst hätte ich womöglich schon die Hochzeit geplant."
"Und die Kinder?"
"Ich habe ihnen versprochen, vorläufig zu bleiben, und das halte ich." Sie überlegte, wie weit sie sich Pierce anvertrauen sollte, und beschloss, ehrlich zu sein. "Ich habe meinen letzten Cent für die Rückreise nach Australien ausgegeben. Das Haus meiner Eltern ist vermietet, und im Apartment meiner Freundin Julie ist für eine zweite Person kein Platz. Nach acht Jahren im Ausland kenne ich sonst niemanden, bei dem ich Unterschlupf finden könnte … abgesehen von Tante Ruby und den Damen, die sie im Makrameeknüpfen unterrichtet."
"Ruby wohnt jetzt in einem Penthouse", erklärte Pierce. "Das sind achtzig Quadratmeter Luxus mit Blick auf den Hafen von Sydney."
"Ein Geschenk von dir?"
"Ein Geschenk von ihren sieben Pflegesöhnen. Hat sie dir nicht von ihnen erzählt?"
"Oh doch." Shanni erinnerte sich genau an das Foto, das Ruby stets bei sich trug. Liebe, närrische Tante Ruby, die nie für sich selber Zeit gehabt und nie einen Cent für sich ausgegeben hatte. "Blake, Connor, Sam, Darcy, Dominic, Nikolai und Pierce. Habe ich einen vergessen?"
Pierce schüttelte den Kopf. "Nein, das sind wir: Rubys Jungen. Sie hat uns alle aus der Gosse geholt und etwas aus uns gemacht. Ihr selbst blieb nichts, deshalb haben wir ihr zum siebzigsten Geburtstag das Apartment geschenkt, mit der Auflage, es nicht zu verkaufen und niemanden länger als zwei Wochen bei sich aufzunehmen."
"Das sind strenge Bedingungen."
"Streng, aber notwendig. Wir müssen Ruby um ihrer Gesundheit willen vor sich selbst schützen. Sei ehrlich, Shanni, würdest du ohne diese Auflage jetzt nicht ihr Gästezimmer bewohnen?"
"Vielleicht", gab Shanni zu, "aber ich würde mich gleichzeitig um einen Job bemühen, was in der Kunstwelt nicht leicht ist. Es hat sich herumgesprochen, dass ich mit meiner Londoner Galerie gescheitert bin."
"Dann nimmst du diese Stellung an?"
"Ja … vorübergehend." Warum stand er noch immer an der Tür? Warum zögerte er, näher zu kommen? "Und falls es dich beruhigt: Ich beiße nicht."
Pierce verzog keine Miene. "Wir wollen eins klarstellen, liebe 'Cousine': Ich bin an einem Verhältnis nicht interessiert."
Shanni hatte ihre Schmerzen für eine Weile vergessen, aber jetzt kehrten sie verstärkt zurück.
"Was hast du eben gesagt?", fragte sie benommen.
"Ich wollte dich nicht …"
"Doch, das wolltest du", unterbrach sie ihn heftig. "Du wolltest mich warnen. Hast du etwa Angst, dass ich mich dir an den Hals werfe?"
"Nein."
"Sehr vernünftig von dir, denn das würde ich niemals tun. Ich muss verrückt sein hierzubleiben. Völlig wahnsinnig. Ich sollte nach Sydney zurückfahren und Sozialhilfe beantragen."
"Ist es so schlimm?"
"Noch viel schlimmer, aber ich könnte die Kinder nie enttäuschen." Shanni schwieg gekränkt und fragte dann unvermittelt: "Stimmt es, dass du reich bist?"
Pierce sah sie verblüfft an. "J…ja."
"Könntest du uns allen einen Aufenthalt am Meer spendieren?"
"Am Meer?"
"Wer die Kinder ansieht, gewinnt schnell den Eindruck, dass sie das Leben viel zu schwer nehmen. Es liegt ihnen wie Blei auf den schwachen Schultern. Sind sie seit dem Tod ihrer Mutter schon einmal von 'Two Creeks' fort gewesen?"
"Nein, aber …"
"Sind nicht gerade Schulferien?"
"Allerdings."
"Dann tu uns den Gefallen. Fahr mit uns ans Meer."