Geständnis am Strand - Kapitel 5


~ Kapitel 5 ~

Die Familie hatte sich in der Küche versammelt. Alle waren da. Wendy saß im Schaukelstuhl neben dem Herd und hielt Bessy im Arm. Donald stand dicht neben ihr, zu seinen Füßen hockte Abby und umschlang mit beiden Armen seine Beine. Bryce hatte beschlossen, für alle Kakao zu kochen, aber seine Hände zitterten so sehr, dass er kaum vorankam.

    Shanni zitterte ebenfalls. Der wütende Bulle hatte ihr nicht nur das T-Shirt zerfetzt, sondern auch den Oberarm aufgerissen. Die Wunde reichte vom Ellbogen bis zur Schulter. Pierce kniete neben ihr und reinigte die Wunde mit warmem Seifenwasser. Dabei fluchte er leise vor sich hin.

    "Keine Schimpfworte vor den Kindern", mahnte Shanni.

    "Ich hatte das Gatter fest verschlossen", beteuerte Pierce, während er ihren Arm vorsichtig trocken tupfte. "Es war mit Kette und Vorhängeschloss gesichert. Jemand muss die Kette durchgeschnitten haben."

    "Vielleicht der Bulle selbst", schlug Shanni vor.

    Pierce schüttelte unwillig den Kopf. "Clyde ist normalerweise das friedlichste Tier von der Welt … friedlicher noch als die Kühe, für die er da ist. Irgendetwas stimmt hier nicht." Er untersuchte die gereinigte Wunde. "Ich glaube, sie muss nicht genäht werden, aber wir sollten trotzdem den Rat eines Arztes einholen."

    "Und die Kinder allein lassen? Das kommt nicht infrage. Verbinde den Arm, mehr ist nicht nötig."

    Abby hatte ihnen mit großen Augen zugesehen. "Im Badezimmer sind Mullbinden", sagte sie jetzt, ließ Donalds Beine los und stand auf. "Ich hole sie."

    Braves Mädchen, dachte Shanni. Tapfere Kinder. Kein Wunder, dass Pierce sie nicht weggeben will.

    Donald stand noch immer dicht neben Wendy. Er war sehr blass, als würde er jeden Moment umfallen. Jemand müsste ihn in den Arm nehmen, dachte Shanni … ihn halten, bis der schlimmste Schreck vorbei ist. Aber so, wie er dastand, trotzig und selbstbewusst, hätte er das wohl nicht geduldet. Jedenfalls nicht von ihr oder von Pierce.

    Abby erschien mit Binden und Leukoplast, und Pierce machte sich daran, Shannis verletzten Arm zu verbinden.

    "Wir brauchen einen neuen Besen", sagte er dabei, um sie abzulenken.

    "Einen Besen?"

    Er nickte. "Der alte ist zerbrochen, als ich das Gatter zugeworfen habe."

    Shanni musste trotz der Schmerzen lachen. "Mein mutiger Held! Es war also kein Gewehr."

    Pierce lächelte, was selten genug geschah. "Außer dem Besen brauchen wir die Zutaten für Hotdogs", verkündete sie.

    "Warum Hotdogs?", fragte Pierce erstaunt.

    "Weil sie aus Rindfleisch zubereitet werden und wir im Moment nicht gut auf Rinder zu sprechen sind."

    "Ich mag die gern", erklärte Donald, der wieder etwas Farbe bekommen hatte.

    "Dann wird morgen groß eingekauft. Ich hüte mit Wendy das Haus, während Pierce und Donald Besorgungen machen."

    "Dann bleibst du noch?" Wendy hatte bis jetzt geschwiegen, und ihre unerwartete Frage stand fast bedrohlich im Raum.

    Shanni sah von einem zum anderen und las in jedem Gesicht dieselbe Botschaft: Wir brauchen dich. Pierce gab sich große Mühe, gelangweilt auszusehen, aber das gelang ihm so schlecht, dass es Shanni einen Stich gab. Er brauchte sie ebenfalls – ein gefährlicher Gedanke.

    "Wenn es euch recht ist, bleibe ich noch", brach sie endlich das angespannte Schweigen. "Ich bin hergekommen, um mein Selbstbewusstsein wiederzufinden. Jetzt kommt noch der verletzte Arm dazu … Ein Grund mehr, um sich etwas länger Ruhe zu gönnen. Wie lange, wird sich noch herausstellen."

 

Shanni blieb in der Küche, während Pierce die Kinder wieder ins Bett brachte. Sie hätte sich auch hinlegen können, aber das gefährliche Erlebnis steckte ihr noch in den Gliedern und machte sie kribbelig. Neben dem knisternden Herdfeuer zu sitzen, sich im Schaukelstuhl hin und her zu wiegen, das brauchte sie jetzt, um ihre Nerven zu beruhigen.

    Nach einer Weile wurde sie schläfrig, und am liebsten wäre sie bis zum Morgen so sitzen geblieben.

    "Warum liegst du noch nicht im Bett?", fragte Pierce, der zurückkam, nachdem oben Ruhe eingetreten war.

    "Weil ich friere", entschuldigte sie sich halbherzig.

    "Wir haben heute eine warme Nacht."

    "Schon möglich, dann ist es wohl der Schreck."

    Pierce machte ein besorgtes Gesicht. "Wie wäre es mit einem Whisky?"

    "Nein, lieber nicht."

    Pierce war an der Tür stehen geblieben und kam auch jetzt nicht näher. "Ich begreife das alles nicht", gestand er. "Ich war eben noch mal draußen und habe festgestellt, dass die Kette mit einem Bolzenschneider durchtrennt worden ist. Anschließend muss der Täter Clyde gereizt und mit einem Katapult in den Garten getrieben haben. An seiner Flanke sind kleine Verletzungen zu erkennen. Normalerweise würde der Bulle das geöffnete Tor gar nicht beachten. Ihn mit Steinchen zu beschießen und in den Garten zu treiben, ist der sicherste Weg, andere in Gefahr zu bringen."

    "Wer würde so etwas tun?", überlegte Shanni. "Man könnte ihn anzeigen."

    "Man hatte es auf mich abgesehen", erklärte Pierce. "Nur ich würde in den Garten gehen, um verlaufenes Vieh zurückzutreiben. Mit dem siebenjährigen Donald hatte bestimmt niemand gerechnet."

    "Hasst man dich hier so sehr?"

    "Es ist kein Hass … eher ein Gefühl der Fremdheit. Ich bin für die Leute ein reicher Mann, der nicht hierher gehört und die Gemeinde um ihre Molkerei gebracht hat. Dass ich davon keine Ahnung hatte, entschuldigt mich nicht. Hinzu kommt, dass ich ein alleinerziehender Vater bin, der mit seinen fünf Kindern auf der Liste der staatlichen Fürsorge steht. Ich soll mit meinem Anhang von hier verschwinden … das wünschen sich die Leute."

    "Und warum tust du es nicht? Du gehörst in die Stadt, in dein Architekturbüro. Die Kinder könnten je nach Alter die Schule oder eine Kindertagesstätte besuchen, und eine Haushälterin wäre in Sydney bestimmt leichter zu finden als hier."

    Pierce schüttelte den Kopf. "Das wäre keine Lösung. Vielleicht bin ich irgendwann dazu gezwungen, aber solange es geht, werde ich Maureens Wünsche respektieren. Sie wollte, dass ihre Kinder in völliger Freiheit aufwachsen."

    Dem hatte Shanni nichts entgegenzusetzen. "Vorerst hast du mich", meinte sie nach reiflicher Überlegung. "Wenn du mich willst."

    "Und ob ich das möchte!"

    Pierce' leidenschaftlicher Ton machte Shanni verlegen. "Danke", sagte sie und lächelte.

    "Du erinnerst mich an Ruby", stellte Pierce plötzlich fest.

    "Weil ich klein und pummelig bin?"

    "Von wegen klein und pummelig! Was du heute Abend geleistet hast …"

    "Macht klein und pummelig wett?"

    Pierce lächelte überlegen. "Kein heiratswilliger Mann würde auf die Idee kommen, dich so zu bezeichnen."

    "Aber du bist nicht heiratswillig?"

    "Meinst du?"

    "Immerhin hast du schon fünf Kinder. Deine Familie ist groß genug."

    "Ich habe mich nicht danach gesehnt", gestand Pierce freimütig. "So wenig wie nach einer Frau."

    Shanni errötete gegen ihren Willen. "Gut, dass ich das weiß, sonst hätte ich womöglich schon die Hochzeit geplant."

    "Und die Kinder?"

    "Ich habe ihnen versprochen, vorläufig zu bleiben, und das halte ich." Sie überlegte, wie weit sie sich Pierce anvertrauen sollte, und beschloss, ehrlich zu sein. "Ich habe meinen letzten Cent für die Rückreise nach Australien ausgegeben. Das Haus meiner Eltern ist vermietet, und im Apartment meiner Freundin Julie ist für eine zweite Person kein Platz. Nach acht Jahren im Ausland kenne ich sonst niemanden, bei dem ich Unterschlupf finden könnte … abgesehen von Tante Ruby und den Damen, die sie im Makrameeknüpfen unterrichtet."

    "Ruby wohnt jetzt in einem Penthouse", erklärte Pierce. "Das sind achtzig Quadratmeter Luxus mit Blick auf den Hafen von Sydney."

    "Ein Geschenk von dir?"

    "Ein Geschenk von ihren sieben Pflegesöhnen. Hat sie dir nicht von ihnen erzählt?"

    "Oh doch." Shanni erinnerte sich genau an das Foto, das Ruby stets bei sich trug. Liebe, närrische Tante Ruby, die nie für sich selber Zeit gehabt und nie einen Cent für sich ausgegeben hatte. "Blake, Connor, Sam, Darcy, Dominic, Nikolai und Pierce. Habe ich einen vergessen?"

    Pierce schüttelte den Kopf. "Nein, das sind wir: Rubys Jungen. Sie hat uns alle aus der Gosse geholt und etwas aus uns gemacht. Ihr selbst blieb nichts, deshalb haben wir ihr zum siebzigsten Geburtstag das Apartment geschenkt, mit der Auflage, es nicht zu verkaufen und niemanden länger als zwei Wochen bei sich aufzunehmen."

    "Das sind strenge Bedingungen."

    "Streng, aber notwendig. Wir müssen Ruby um ihrer Gesundheit willen vor sich selbst schützen. Sei ehrlich, Shanni, würdest du ohne diese Auflage jetzt nicht ihr Gästezimmer bewohnen?"

    "Vielleicht", gab Shanni zu, "aber ich würde mich gleichzeitig um einen Job bemühen, was in der Kunstwelt nicht leicht ist. Es hat sich herumgesprochen, dass ich mit meiner Londoner Galerie gescheitert bin."

    "Dann nimmst du diese Stellung an?"

    "Ja … vorübergehend." Warum stand er noch immer an der Tür? Warum zögerte er, näher zu kommen? "Und falls es dich beruhigt: Ich beiße nicht."

    Pierce verzog keine Miene. "Wir wollen eins klarstellen, liebe 'Cousine': Ich bin an einem Verhältnis nicht interessiert."

    Shanni hatte ihre Schmerzen für eine Weile vergessen, aber jetzt kehrten sie verstärkt zurück.

    "Was hast du eben gesagt?", fragte sie benommen.

    "Ich wollte dich nicht …"

    "Doch, das wolltest du", unterbrach sie ihn heftig. "Du wolltest mich warnen. Hast du etwa Angst, dass ich mich dir an den Hals werfe?"

    "Nein."

    "Sehr vernünftig von dir, denn das würde ich niemals tun. Ich muss verrückt sein hierzubleiben. Völlig wahnsinnig. Ich sollte nach Sydney zurückfahren und Sozialhilfe beantragen."

    "Ist es so schlimm?"

    "Noch viel schlimmer, aber ich könnte die Kinder nie enttäuschen." Shanni schwieg gekränkt und fragte dann unvermittelt: "Stimmt es, dass du reich bist?"

    Pierce sah sie verblüfft an. "J…ja."

    "Könntest du uns allen einen Aufenthalt am Meer spendieren?"

    "Am Meer?"

    "Wer die Kinder ansieht, gewinnt schnell den Eindruck, dass sie das Leben viel zu schwer nehmen. Es liegt ihnen wie Blei auf den schwachen Schultern. Sind sie seit dem Tod ihrer Mutter schon einmal von 'Two Creeks' fort gewesen?"

    "Nein, aber …"

    "Sind nicht gerade Schulferien?"

    "Allerdings."

    "Dann tu uns den Gefallen. Fahr mit uns ans Meer."

 

"Und wie soll ich das anstellen … mit fünf Kindern, von denen eins gerade Windpocken hat?"

    "Ich will ja mitkommen", beruhigte Shanni ihn. "Während die Kinder sich von ihrer Krankheit erholen, erhole ich mich von meinem Londoner Fiasko. Wir mieten zwei Apartments … eins für uns und eins für dich, damit du endlich wieder in Ruhe arbeiten kannst. Nachts schlafen die Mädchen bei mir und die Jungen bei dir. Am Tag übernehme ich die Kinder, damit du ungestört bleibst. Wir tummeln uns am Strand, und wenn wir einen größeren Badeort wählen, findet sich bestimmt eine Babysitterin, die bereits Windpocken gehabt hat, oder es gibt einen Babyhort. Wir haben uns alle zwei Wochen Strandleben verdient."

    Es war heraus! Bisher hatte sie erfolgreich den Eindruck erweckt, dass sie sich aus Menschenfreundlichkeit und Herzensgüte der Kinder annahm. Eigeninteresse anzumelden, hatte sie geschickt vermieden – bis jetzt. Wie würde Pierce reagieren?

    "Du möchtest Badeurlaub machen?", fragte er mit verändertem Gesichtsausdruck.

    "Ich hatte eine schwere Erkältung", fuhr sie etwas kläglich fort. "Nachdem ich Mike überrascht hatte, ging es mir drei Wochen lang ziemlich schlecht. Während ich mich langsam regenerierte, dachte ich immer nur ans Meer. Auf der ganzen Rückreise freute ich mich auf das Haus meiner Eltern, das nördlich von Sydney am Meer liegt, und als ich heute Abend im Garten auf Clydes Todesstoß wartete, wurde mir klar, dass ich es nicht mehr bis zum Strand geschafft hatte."

    Pierce hatte ihr etwas ratlos zugehört, aber jetzt lächelte er, und zwar so milde und freundlich, dass es wie Balsam für ihr wundes Herz war.

    "Ich könnte dir Geld leihen, damit du diese Ferien machen kannst", meinte er und schüttelte gleich darauf den Kopf. "Nein, nicht leihen, sondern schenken. Du hast schon genug für uns getan, um dir einen Urlaub nach Wunsch verdient zu haben."

    "Mag sein", erwiderte Shanni, "aber ich habe mich nun einmal gebunden. Entweder wir fahren alle, oder wir bleiben alle hier."

    "Ich denke, du wolltest keine längere Verpflichtung eingehen", erinnerte Pierce sie.

    "Natürlich nicht, aber zwei Wochen am Strand …"

    Pierce überlegte. Der Vorschlag hatte manches für sich. Shanni brauchte Erholung, die Kinder brauchten sie auch, und er selbst brauchte Zeit zum Arbeiten. Vielleicht lag hier die Lösung.

    "Ich bin beruflich tatsächlich sehr im Rückstand", gab er zögernd zu. "Ich habe auch genug Geld, wenn die Ansprüche das normale Maß nicht übersteigen, und ich könnte vermeiden, als unzuverlässig oder sogar wortbrüchig dazustehen. Die Frage ist nur: Wie organisieren wir das Ganze?"

    Shanni atmete auf. "Das ist sehr einfach", erklärte sie. "Ich mag als Kuratorin und Galeristin versagt haben, aber ich bin ein Internetfreak. Überlass mir getrost deinen Computer, dann sind wir morgen, spätestens übermorgen am Strand. Garantiert."

    Pierce schaute sie erstaunt an, und Shanni hielt seinem Blick stand. Dass sie Schmerzen hatte, konnte er ihr ansehen. Aber sie wusste: Er sah noch mehr, das verriet der seltsame Ausdruck in seinen Augen.

    Denk ans Meer und an den Strand, Shanni Jefferson. Nur daran!

    "Du hast mich überzeugt", sagte Pierce endlich so leise, dass es kaum zu verstehen war. "Wenn die Kinder morgen früh aufwachen …"

    "Fangen wir an, die Koffer zu packen. Und denk daran, dass noch einer der Kombireifen geflickt werden muss. Ich folge euch in meinem Auto, um wenigstens dem Anschein nach unabhängig zu sein."

    "Die Details besprechen wir morgen früh." Pierce gab seinen Platz an der Tür endlich auf und kam quer durch die Küche auf Shanni zu. "Jetzt bringe ich dich zu Bett."

    "Es geht schon", wehrte Shanni ab.

    "Aber du zitterst noch."

    "Ich bin eben nicht an gereizte Bullen gewöhnt."

    "Das ist niemand", tröstete Pierce sie. "Er hätte dich töten können … oder Donald, wenn du ihm nicht zu Hilfe gekommen wärst."

    "Wie beruhigend!", spottete Shanni.

    Pierce zögerte nur einen Moment, dann überwand er seine Skrupel, nahm Shanni auf die Arme und drückte sie fest an sich. "Du schläfst besser nicht in Maureens Zimmer, sondern oben bei den Kindern", meinte er. "Bei Wendy steht noch ein zweites Bett."

    "He!", protestierte Shanni. "Ich bin eine erwachsene, berufstätige Frau. Du kannst nicht verlangen, dass ich die Nacht im Kinderzimmer verbringe."

    "Dann machen wir heute eine Ausnahme. Du wirst ruhiger schlafen, wenn du Gesellschaft hast." Pierce verzog das Gesicht. "Ich würde dir mein Bett anbieten, aber es ist schon besetzt … durch Bessy, die Frau meiner Träume."

    Shanni gab seufzend nach. Pierce trug sie die Treppe hinauf, stieß die Tür zu Wendys Zimmer auf und legte Shanni auf das leere Bett. Wahrscheinlich hätte er ihr auch beim Entkleiden geholfen, wenn sie nicht plötzlich sehr selbstständig geworden wäre.

    "Das kann ich allein", meinte sie würdevoll, und Pierce zog sich augenblicklich zurück.

    Seit er sie auf die Arme genommen und nach oben getragen hatte, war etwas geschehen. Die Unbefangenheit war dahin. Er hatte Shannis Verwirrung gespürt und seine eigene kaum verbergen können. Einen Moment lang war die Spannung fast unerträglich gewesen. Er musste in Zukunft vorsichtiger sein.

 

Shanni schlief in dem schmalen Kinderbett besser, als sie erwartet hatte. Wie Pierce vorausgesagt hatte, half ihr Wendys und Abbys Nähe, das unangenehme Abenteuer zu vergessen und die notwendige Ruhe zu finden.

    Als sie später als sonst aufwachte, waren die beiden anderen Betten bereits verlassen. Von unten drangen Stimmen herauf, was Shanni bewog, noch etwas liegen zu bleiben und die wandernden Sonnenflecken an der Zimmerdecke zu beobachten. "Two Creeks" war ein bezauberndes altes Farmhaus, ein ideales Heim für fünf verwaiste Kinder. Kein Wunder, dass Pierce es sich ausgesucht hatte.

    Pierce, der "Rumtreiber", der nette, zu kurz gekommene Junge, der es mit Tante Rubys Hilfe geschafft hatte. Pierce, der sich nicht binden, der nicht heiraten wollte. Ein Mann, den man gernhaben musste, aber das hatte sie auch bei Mike gedacht. War es ihr Schicksal, auf Männer hereinzufallen, die sich nicht binden wollten? Zumindest war ihr Blick getrübt, und es würde viel Zeit vergehen, ehe sie sich auf ein ähnliches Wagnis einließ.

    Sei vernünftig, ermahnte sie sich. Folge deinem Verstand und nicht deinem Gefühl. Sich mit Pierce einzulassen, war wie ein Sprung ins eiskalte Wasser, und damit hatte sie genug Erfahrungen gemacht!

    Shanni drehte sich auf die Seite, um bequemer aufstehen zu können, aber das war ein Fehler. Der leichte Riss von gestern Abend musste sich zu etwas viel Schlimmerem entwickelt haben – jedenfalls soweit es die Schmerzen betraf. Stöhnend drehte sie sich wieder auf den Rücken.

    "Das hat wehgetan", sagte jemand an der Tür. Es war Pierce, mit mehreren Kindern im Schlepptau. Er hatte sich rasiert und trug eine Leinenhose, dazu ein grünes Polohemd. So, wie er dastand, hätte ihn jede Moderedakteurin als Titelbild für ihre Zeitschrift gewählt.

    "Es ist neun Uhr", sagte Wendy, ohne sich sehen zu lassen. "Höchste Zeit, um dich zu wecken, meint Pierce."

    "In einer halben Stunde bist du beim Arzt angemeldet", fügte Pierce entschuldigend hinzu. "Sonst hätten wir dich länger schlafen lassen."

    "Beim Arzt?", fragte Shanni überrascht.

    "Der Mann von der Werkstatt hat einen neuen Reifen für Mums Auto gebracht", meldete Bryce stolz. "Wir können alle mitkommen."

    "Hinten befindet sich ein Klappsitz", ergänzte Wendy. "Damit ist es ein Siebensitzer."

    "Wir sind nämlich sieben." Das war Abbys Stimme.

    "Was macht der Arm?", erkundigte sich Pierce.

    Shanni hatte ihn nicht aus den Augen gelassen. Dass er unglaublich gut aussah, war ihr gleich aufgefallen, aber jetzt bemerkte sie auch den sorgenvollen Ausdruck auf seinem Gesicht, die leicht gerunzelte Stirn und das Zucken der einen Augenbraue.

    "Ich fürchte, es geht nicht mehr ohne Schmerzmittel", gestand sie. "Und etwas schwindlig ist mir auch."

    "Deshalb bringen wir dich ja zum Arzt. Möchtest du noch liegen bleiben? Ich kann dich nachher zum Auto hinuntertragen."

    "Ich stehe selbstverständlich auf", empörte sie sich.

    "Hältst du das für klug?"

    "Sogar für sehr klug."

    "Soll dir jemand beim Anziehen helfen?"

    "Nein, danke." Shanni wollte nicht zugeben, dass sie noch ihre Unterwäsche trug. Die Schulter hatte zu wehgetan, um den BH aufzuhaken.

    "Wendy wird trotzdem bei dir bleiben", entschied Pierce. "Alle anderen kommen mit mir zum Frühstück. Bryce ist heute mit Toasten dran … also beeil dich." Er lächelte, sein typisches Lächeln, das ihr so zu Herzen ging. "Pass gut auf sie auf, Wendy."

    "Ich kann mich wirklich allein …"

    "Ach ja, ehe ich es vergesse." Es klang so beiläufig, dass Shanni sofort stutzig wurde. "Der Strandurlaub ist bereits gebucht. Du wolltest uns freundlicherweise über das Internet helfen, aber wir haben es auch so geschafft."

    "Wir fahren zu einem Schloss", verkündete Bryce. "Zu einem Schloss am Meer. Der Ort heißt Dolphin Bay. Sobald wir jemanden gefunden haben, der auf das Haus und die Tiere aufpasst, geht es los."

 

Shanni hatte das Gefühl, von einer gewaltigen Flutwelle davongetragen zu werden. Manchmal fehlte ihr fast die Luft zum Atmen, aber es musste weitergehen. Irgendwie.

    Ihr Arm schmerzte höllisch. Er schmerzte beim Anziehen, er schmerzte beim Frühstück, und er schmerzte auf dem Weg zum Auto. Es entging ihr nicht, dass Pierce sie unentwegt beobachtete, und deshalb ließ sie sich möglichst wenig anmerken. Sie scherzte mit den Kindern, lachte, wenn sie Grimassen schnitten, und verfiel erst in wohltuendes Schweigen, als sie im Auto saß.

    Sobald sie vor Dr. Martins Praxis hielten, sprang Pierce aus dem Wagen, um ihr beim Aussteigen zu helfen.

    "Du hältst dich gut", lobte er sie mit einem Blick, bei dem ihr noch schwindliger wurde. "Es war ein Fehler, gestern Abend nicht den Krankenwagen zu rufen."

    "Das hätte ich niemals zugelassen."

    Warum sah er sie bloß so an? Warum berührte er sie, als wäre sie zerbrechlich wie eine Porzellanfigur? War sie immer noch das achtjährige Mädchen und er ihr Held? Der Mann, der ihre Fantasie schon damals gefesselt hatte?

    Sie sah zu, wie die Kinder, eins nach dem anderen, aus dem Wagen kletterten. "Was habt ihr vor, während ich beim Arzt bin?", fragte sie.

    "Wir begleiten dich", antwortete Bryce.

    "Ausgeschlossen!", wehrte Shanni entsetzt ab.

    "Wenn du eine Spritze bekommst, muss dir doch jemand die Hand halten", erklärte Abby.

    "Es wird auch so gehen." Shanni sah in die treuherzigen Kindergesichter und fragte sich, ob sie noch bei Verstand war.

    "Dr. Martin wird sich um Shanni kümmern", entschied Pierce. "Wir anderen übernehmen inzwischen die Einkäufe." Er sah sie streng an. "Ich erwarte, dass du mir genau berichtest, was der Doktor gesagt hat."

 

"Was fällt dem Kerl ein, sein Vieh frei herumlaufen zu lassen?", ereiferte sich Dr. Martin mit einem flüchtigen Blick auf ihren Arm, nachdem Shanni ihm kurz berichtet hatte, wie es zu der Verletzung gekommen war. "Er muss verrückt sein."

    Es sprach so viel Abneigung aus den Worten des Arztes, dass Shanni sich persönlich verletzt fühlte. "Die Kette wurde mit einem Bolzenschneider durchtrennt", rechtfertigte sie Pierce. "Das ist ein krimineller Akt, für den Mr. MacLachlan nicht die Verantwortung trägt. Meiner Meinung nach sollte er sich an die Polizei wenden."

    "Ein krimineller Akt, gewiss", stimmte der Doktor zu, "aber nicht Mr. MacLachlan sollte sich an die Polizei wenden, sondern Sie. Wenn seine Koppeln nicht genügend geschützt sind …" Er lächelte triumphierend. "Das bringt das Fass zum Überlaufen. Ich werde nicht dulden, dass er die Kinder weiter solchen Gefahren aussetzt."

    Bei den letzten Worten nahm er den Telefonhörer ab, aber Shanni drückte die Gabel herunter und zwang ihn so, sein Vorhaben aufzugeben.

    "Sorry, Doktor", sagte sie langsam und mit Betonung. "Schreiben Sie mir ruhig eine hohe Rechnung für diesen Besuch, aber bedenken Sie, dass ich inzwischen in 'Two Creeks' als Kindermädchen angestellt bin und die gleiche Verantwortung wie Mr. MacLachlan trage. Seien Sie aufrichtig, und sagen Sie mir die Wahrheit … natürlich ganz aus Ihrer Sicht. Warum halten Sie Pierce MacLachlan für einen schlechten Vater?"

 


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