Geständnis am Strand - Kapitel 6

Im Supermarkt einzukaufen, gehörte nicht zu Pierce' Lieblingsbeschäftigungen. Nicht etwa, weil die Kinder mäkelig waren. Ganz im Gegenteil. Sie waren während Maureens zunehmender Krankheit so schlecht ernährt worden, dass sie aufjubelten, wenn er etwas anderes als Brot und Nudeln in den Warenkorb legte.

    Nein, seine Abneigung hatte einen anderen Grund. In kleinen Orten auf dem Land wurden die Supermärkte von älteren, matronenhaften Hausfrauen besucht, die ihre Nase hoch trugen und diese jedes Mal missbilligend rümpften, wenn sie ihm begegneten.

    Wo war bloß die auf dem Land viel gerühmte Gastfreundschaft geblieben? Bisher hatte Pierce noch nichts davon bemerkt. Umso willkommener war ihm Shannis Einfall, für einige Wochen ans Meer zu ziehen, wo eine freiere und offenere Atmosphäre herrschte. Vielleicht sollte er "Two Creeks" aufgeben und für immer wegziehen.

    Nein, das war auch keine Lösung. Wo er sich auch niederließ … ihm würden immer die gleichen missbilligenden Blicke begegnen. Ein Mann mit fünf Adoptivkindern verdiente einfach kein Vertrauen.

    "Können Sie mir sagen, wo ich Brötchen für Hotdogs finde?", fragte er eine Frau in mittlerem Alter, die mit Auspacken beschäftigt war.

    "Gang zehn", lautete die unfreundliche Antwort.

    "Es ist Gang drei." Das war Shannis Stimme, und sie klang so laut, dass alle Kunden überrascht aufhorchten.

    Pierce sah sich um und entdeckte Shanni am Ende des Gangs, in dem er und die Kinder sich gerade aufhielten. Sie hielt ein Mikrofon in der Hand, wie es sonst nur die Angestellten für kurze Durchsagen benutzten. Sie musste es heimlich entwendet haben.

    "Ich kann das Brot von hier aus sehen", fuhr sie wie eine Propagandistin fort. "Brötchen für Hotdogs gibt es in Gang drei. Die Lady hat dich absichtlich belogen."

    Der Angestellten blieb vor Empörung der Mund offen stehen. "Ich habe noch nie …" Weiter kam sie jedoch nicht, denn Shanni ergriff von Neuem das Wort.

    "Es wird zurzeit viel gelogen." Die Kassiererin, in deren Nähe Shanni stand, wollte ihr das Mikrofon wegnehmen, aber Shanni lächelte nur freundlich und trat einen Schritt beiseite. "Noch nicht. Erst habe ich eine wichtige Durchsage zu machen."

    "Was fällt Ihnen ein!", protestierte die junge Frau, doch Shanni war nicht mehr zu bremsen. Sie stand so, dass sie den größten Teil des Ladens überblicken konnte, der heute besonders gut besucht war.

    "Viele von Ihnen kennen Pierce MacLachlan", fuhr sie gelassen fort. Pierce wäre am liebsten hingerannt, um ihr das Mikrofon selbst wegzunehmen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. "Er hat hier in Craggyburn eine Farm gekauft. Für diejenigen, die 'Two Creeks' nicht kennen: Es ist ein schöner Besitz mit einem charmanten alten Wohnhaus. Pierce kommt aus Sydney, wo er als Architekt arbeitet. Vermutlich hat er die Anzeige in der Zeitung gelesen, sich mit dem Makler in Verbindung gesetzt und das Anwesen gekauft, weil es ihm gefiel. So weit, so gut. Leider war auch ein Konzern an dem Grundstück interessiert, der nun das Nachsehen hatte und die geplante Großmolkerei anderswo bauen musste … unweit der nächsten größeren Stadt. Das verteuert die Milch für Sie, weil Transportkosten hinzukommen. Pierce bedauert das, aber es ist nicht seine Schuld. Er wusste nichts von dem anderen Interessenten, und wenn Sie ihm die jetzige Situation anlasten, ist das unfair und unchristlich."

    Es folgte absolute Stille. Die Kunden, die mit Pierce im selben Gang standen, drehten sich um und starrten ihn und die Kinder an. Alle anderen sahen weiter auf Shanni.

    "Also zog Pierce hierher", fuhr sie fort. "Während ganz Craggyburn mit vorgehaltener Hand über ihn tuschelte, lud er Maureen zu sich ein. Maureen war seine Pflegeschwester, die vier Kinder mitbrachte, ein fünftes erwartete und nicht mehr lange zu leben hatte."

    Allen stockte gleichzeitig der Atem, nur ein Angestellter – ein etwa neunzehnjähriger Bursche mit auffällig gestyltem Haar – ging entschieden auf Shanni zu und machte dabei ein Gesicht, als wollte er sagen: "Ich weiß, wie man mit einer wie dir umgeht."

    Doch er kam nicht bis zu Shanni, denn eine Kundin packte ihn am Arm und hielt ihn zurück.

    "Lass sie, Dwayne", sagte sie dabei.

    "Aber, Mum …"

    "Still. Ich will hören, was sie mitzuteilen hat."

    "Wie auch immer", sprach Shanni weiter, ohne Dwayne zu beachten. "Da war also Maureen mit ihren Kindern, in einer verzweifelten Situation. Wie es dazu gekommen war, spielt keine Rolle. Es steht uns nicht zu, über sie zu urteilen … über eine Frau, die vor einigen Monaten gestorben ist."

    "Das ist uns bekannt!", rief jemand aus der Menge.

    "Dann sollten Sie sich umso mehr schämen", antwortete Shanni. "Bisher hatte ich Ihnen immer noch Unkenntnis der Lage zugutegehalten. In jedem Fall verdienen Maureens Kinder unseren Respekt. Es sind fabelhafte Kinder. Wendy ist elf Jahre alt und hat ihre jüngeren Geschwister zusammengehalten wie eine Henne ihre Küken. Aber auch Bryce, Donald und Abby verdienen eine Medaille für das, was sie für ihre Mutter und füreinander getan haben.

    Bei den Leuten der staatlichen Fürsorge war die Situation bekannt. Man wusste, dass Maureen sterben würde, und weil sie berechtigterweise fürchtete, dass man ihre Kinder nach ihrem Tod voneinander trennen würde, wandte sie sich an Pierce. Er war nicht der Vater der Kinder und konnte wenig tun. Aber er hatte ein großes Anwesen und ein noch größeres Herz. Er hoffte, die Kinder als deren Stiefvater zusammenhalten zu können, und heiratete Maureen."

    Shanni schwieg, und wieder herrschte betretenes Schweigen. So hatte man sich die Geschichte nicht vorgestellt. Man hatte bösartigeren Versionen Glauben geschenkt, bei denen die Kinder als unschuldige Opfer von Vernachlässigung oder Gewalt erschienen.

    "Glauben Sie wirklich, man würde die Kinder in Pierce' Obhut lassen, wenn er ein Rabenvater wäre? Ich selbst bin in Sydney groß geworden und war sieben Jahre alt, als meine Mutter Drüsenfieber bekam. Sie Iitt Monate daran. Ich weiß noch, wie groß meine Angst war, aber mein Dad und ich mussten während der ganzen Zeit niemals kochen. Die Nachbarn halfen uns. Sie organisierten einen täglichen Hilfsdienst, und mir kommen noch heute, nach zwanzig Jahren, die Tränen, wenn ich an diese hochherzigen Menschen denke.

    Aber Sie …", Shanni senkte die Stimme, denn sie brauchte jetzt nicht mehr um mangelnde Aufmerksamkeit zu fürchten, "… Sie kennen die Kinder, Sie kennen Pierce' Situation und tun alles, um ihn bei den staatlichen Stellen anzuschwärzen. Alle Kinder haben Windpocken gehabt. Jetzt ist Bessy damit dran, die eigentlich nicht hier sein dürfte, aber es blieb uns keine andere Wahl. Gestern musste Pierce die Kleine nach einer durchwachten Nacht zum Arzt bringen. Während er auf die verschriebene Medizin wartete, schlief er vor Müdigkeit ein. Warum half ihm keiner? Warum zeigte man ihn an, sodass er bei seiner Rückkehr zwei Polizisten in seinem Haus vorfand? Zum Glück hatte ich da schon die Aufsicht über die Kinder übernommen. Pierce kam noch einmal davon, was dazu führte, dass neue Rachepläne geschmiedet wurden."

    "Shanni!", rief Pierce und wollte zu ihr gehen, aber Wendy hielt ihn zurück.

    "Lass sie reden, Dad", bat sie. "Es macht Eindruck auf die Leute."

    "Jemand trieb unseren Bullen von der Koppel in den Garten", fuhr Shanni fort. Ihre Stimme klang inzwischen angespannt, als könnte sie nur mit Mühe weitersprechen. "Aber das genügte dem Betreffenden noch nicht. Er quälte Clyde mit Katapultschüssen, bis er wütend und bösartig wurde. Natürlich sollte Pierce sein Opfer werden, der aber musste sich um sein krankes Baby kümmern. Also wagte sich der siebenjährige Donald …", Shanni zeigte auf den Jungen, "… nach draußen, um das gereizte Tier zu vertreiben."

    Es war deutlich zu erkennen, welches Entsetzen ihre Geschichte auslöste. Die Packerin, die noch immer bei Pierce und den Kindern stand, wurde sogar kreideweiß.

    "Ich bin eine alte Bekannte von Pierce und über seine Pflegemutter sogar mit ihm im weitesten Sinn verwandt", beendete Shanni ihre Geschichte. "Ich hörte Donald im Garten rufen und kam gerade noch rechtzeitig, um den Bullen von ihm abzulenken." Sie zeigte auf die Schlinge, die Dr. Martin ihr umgelegt hatte. "Das Ergebnis war eine schmerzhafte Wunde am Oberarm, aber wenn ich nicht da gewesen wäre …"

    "Das genügt, Shanni." Pierce hatte sich inzwischen von Wendy losgemacht und kam durch den Gang auf sie zu.

    "Ich bin schon fertig", sagte sie und rang sich ein Lächeln ab. "Wir verschwinden von hier und fahren ans Meer, um uns dort zu erholen. Pierce hat genug von dieser feinen Gemeinde, und das kann ich ihm nicht übel nehmen. In zwei Wochen sind wir wieder da, aber nur, um die Farm zu verkaufen."

    "Shanni!"

    "Du kannst 'Two Creeks' nicht behalten, wenn du von deinen Mitmenschen weiter so verteufelt wirst. Ich sage ihnen nur in aller Deutlichkeit, was sie angerichtet haben." Sie atmete tief durch, setzte ein strahlendes Lächeln auf und beendete in völlig verändertem Ton ihre Rede: "Okay, Leute … das war's für heute. Hier, Dwayne …" Sie übergab das Mikrofon in dem Moment, in dem Pierce sie erreichte.

    "Ich musste das sagen", flüsterte sie ihm zu. "Als ich von Dr. Martin hörte, welcher Abschaum du nach Meinung der Leute bist, hätte ich ihn fast ins Gesicht geschlagen." Sie lächelte reumütig. "Aber dann hätte ich alle Mitglieder dieser sauberen Gemeinde schlagen müssen, und das hätte mich ins Gefängnis und nicht ans Meer gebracht." Sie sah ihn ängstlich an. "Wir fahren doch an die See, oder bist du zu wütend auf mich?"

    "Das bin ich in der Tat."

    Mehr konnte Pierce nicht sagen, denn Dwaynes Mutter mischte sich ein. "Ich bin Mary Roberts", stellte sie sich vor. "Dwaynes Mutter. Ist Ihr Arm schwer verletzt, Miss?" Ihr Gesicht war auffällig blass, wie viele andere Gesichter auch. Wahrscheinlich hatten alle zusammen unter einer Decke gesteckt.

    "Es ist nur ein Riss", versicherte Shanni. "Dr. Martin hat mir ein Schmerzmittel und für den Notfall ein Antibiotikum mitgegeben."

    "Wann fahren Sie ans Meer?"

    "Schon morgen."

    "Dann dürfen Sie heute Abend nicht mehr kochen." Mary drehte sich zu ihrem Sohn um und entwand ihm das Mikrofon. "Ich bereite heute Abend ein Rindfleischcurry für die MacLachlans zu", verkündete sie. "Dora, würden Sie wohl einen Ihrer köstlichen Apfelstrudel beisteuern?"

    "Und ich bereite einen Picknickkorb für die Reise vor!", rief jemand aus den hinteren Reihen.

    "Das ist wirklich nicht nötig …"

    "Doch", beharrte Mary. "Das ist es … für uns allemal. Ich fürchte, die meisten von uns haben eine Menge nachzuholen."

 

Während der Heimfahrt herrschte Schweigen. Shanni saß vorn neben Pierce, während sich die Kinder auf dem Rücksitz zusammendrängten.

    Pierce wusste beim besten Willen nichts zu sagen. Shanni hatte ihn überwältigt. Wie eine Tigerin hatte sie gekämpft, um ihre Jungen zu beschützen. Eine Verliererin im Londoner Kunstbetrieb, aber sonst Siegerin auf der ganzen Linie. Dieser Mike, der sie betrogen hatte, tat ihm nachträglich fast leid. Er konnte sich freuen, mit einem Eimer Eiswasser davongekommen zu sein!

    "Was ist so komisch?", fragte Shanni, die Pierce' Lächeln bemerkte.

    "Ich musste gerade an Mike denken", antwortete er.

    "An Mike?"

    "An das Eiswasser und an Mikrofone. Vielleicht solltest du Boxstunden nehmen, oder würdest du Ringen besser finden?"

    "Nicht halb so aufregend", gestand sie und lächelte ebenfalls.

    "Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll."

    "Dann versuch es erst gar nicht. Ich habe dir gern geholfen und die Situation gehörig bereinigt. Eigentlich brauchst du mich nicht mehr, wenn ihr jetzt Urlaub macht."

    "Wie bitte?"

    "Das Schloss … Ich habe den Doktor danach gefragt. Nachdem ich ziemlich ausfällig geworden war, konnte ich ihn nämlich um den Finger wickeln. Wir haben Loganaich Castle und Dolphin Bay im Internet gesucht und herausgefunden, dass dort für bedürftige Kinder und ihre Betreuer wunderbar gesorgt wird. Du findest an diesem Ort genug Hilfe, um in Ruhe zu arbeiten. Was mich betrifft …", Shanni atmete tief durch, "ich könnte mir eine neue Bleibe suchen oder meinetwegen auch auf der Farm bleiben, um zu malen und auf Clyde aufzupassen."

    "Du musst mitkommen", meldete sich Donald von hinten.

    "Wenn es dort nun auch Bullen gibt", schloss sich Abby an, "wer soll Donald dann beschützen?"

    "Ich bin nicht begierig auf weitere Begegnungen mit Bullen", erklärte Shanni lachend. "Oder auf irgendwelche unangenehmen Überraschungen."

    "Genau deshalb musst du uns begleiten", stellte Pierce fest. "Um dich von all dem Schrecken zu erholen."

    "Ich bin deine Angestellte", beharrte Shanni. "Nicht deine Pflegebefohlene."

    "Letzteres vielleicht nicht, aber du hast im Moment kein anderes Zuhause."

    "Du könntest Ruby ermächtigen, mich länger bei sich aufzunehmen. Das Makrameeknüpfen würde ich schon lernen."

    "Und ihr dabei alles über mich erzählen."

    "Vielleicht", gab Shanni nach kurzer Überlegung zu. "Nicht aus böser Absicht, aber Tante Ruby ist nur schwer zu belügen. Sie durchschaut einen mit einem Blick."

    "Dann geh mit nach Dolphin Bay. Vielleicht findest du dort Gelegenheit zu malen."

    "Ja, vielleicht." Shanni grinste. "Ich muss üben, Kuhbeine zu malen."

    "Hast du eigentlich Kunstgeschichte studiert?", erkundigte sich Pierce.

    Shanni nickte. "Das hat mir leider fast jeden anderen Beruf verbaut. Ich kann darüber diskutieren, wie stark die neugotischen Idyllen die abstrakt malenden Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts beeinflusst haben, aber ein Kuhbein zu zeichnen, misslingt mir. Wendy ist darin weitaus besser. Vielleicht sollte ich mich einfach entschließen, die weltbeste Haushälterin zu werden, und es dabei bewenden lassen." Sie drehte sich lachend zu Wendy um. "Aber vorher malen wir noch um die Wette. Es muss sich doch feststellen lassen, wer die besten Kuhbeine malt."

    "Am Strand könnten wir Fische zeichnen", schlug Abby vor.

    "Oder Meerjungfrauen", meinte Wendy kichernd.

 

Pierce hatte Wendy seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr lachen hören. Diese Shanni Jefferson war wirklich ein Himmelsgeschenk, mehr aber auch nicht. Ein Segen für die Kinder. Was ihn selbst betraf …

    Shanni erinnerte ihn mit jedem Tag mehr an seine Pflegemutter. Sie lächelte wie Ruby, und sie packte das Leben genauso mutig an. Deshalb mochte er sie. Einen anderen Grund gab es nicht.

    Wieder herrschte Schweigen im Auto. Sie erreichten den Schotterweg, der zur Farm führte, und plötzlich merkte Pierce, dass er das Ende der Fahrt fürchtete. Was war bloß in ihn gefahren? Seine Unabhängigkeit bedeutete ihm alles, und doch wünschte er, diese Fahrt mit fünf Kindern, einer verletzten Frau und einem Karton voller Lebensmittel würde niemals enden.

    "Dann geht es morgen also los", bemerkte Shanni, nur um etwas zu sagen.

    "Ja."

    "Eigentlich hätten wir schon heute aufbrechen können."

    "Wir mussten dich erst zum Arzt bringen. Immerhin hast du Donald gerettet."

    Shanni überlegte. "Ja, das habe ich", gab sie zu. "Alles hat eben sein Gutes. Ich mag hier festsitzen, aber …"

    "Festsitzen?", wiederholte Pierce erstaunt.

    "Nun, ich bin immerhin Galeristin … oder auch Kuratorin, ganz wie du willst. Meine Karriere wurde auf sehr unerfreuliche Weise unterbrochen, aber sobald ich mich davon erholt habe, geht es weiter. Scheue dich also nicht, eine geeignete Person einzustellen, falls du eine findest."

    "Vielen Dank."

    "Aber natürlich erst nach der Reise", lenkte Shanni ein. "Der Vorschlag stammt schließlich von mir, und ich möchte zu gern einmal in einem Schloss wohnen."

    "Ich auch", pflichtete Donald ihr bei.

    "Und ich auch." Das war Wendy.

    Begleitet von weiteren "Ich auch", fuhr Pierce auf den Hof der Farm – zusammen mit seiner einstweiligen Haushälterin. Der Bezugsperson für sie alle, aber nur auf Zeit.

    Pierce schätzte keine Bindungen. Auch keine zeitlich begrenzten.

 

Shanni erwachte um drei Uhr morgens, weil ihr die Schulter wehtat. Sie musste endlich eine der stärkeren Tabletten von Dr. Martin einnehmen, was sie bisher vermieden hatte, weil sie schläfrig machen sollten, und davor hatte sie mehr Angst als vor den Schmerzen. Wenn nun wieder ein Bulle kam und eins der Kinder gefährdete? Wollte sie jedoch die restliche Nacht nicht wach liegen, musste sie in die Küche hinuntergehen, wo sich das Medizinschränkchen befand.

    Wie gestern Nacht teilte sie das Zimmer der Mädchen, die beide fest schliefen. Vorsichtig schlug sie die Bettdecke zurück, schlich sich aus dem Raum und tappte im Dunkeln zur Küche hinunter, in der noch Licht brannte. Pierce saß an dem großen Eichentisch, auf dem mehrere Pläne ausgebreitet waren. Er trug einen leuchtend blauen Pyjama, sein dunkelbraunes Haar war zerzaust, und er brauchte dringend eine Rasur.

    Kurz und gut – er sah irgendwie rührend aus.

    "Habe ich dich erschreckt?", fragte sie, denn er zuckte bei ihrem Anblick leicht zusammen.

    "Erschreckt? Eine Frau von knapp einem Meter sechzig, im Schlafanzug mit rosa Schweinchen darauf und einem Arm in der Schlinge …? Doch, ja, du könntest recht haben." Pierce streckte sich wie eine große Wildkatze und stand langsam auf. "Tut dir die Schulter weh?"

    "J…ja." Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, den Pyjama mit den rosa Schweinchen mitzubringen. Die Kollegen von der Galerie hatten ihn ihr zu Weihnachten geschenkt, aber sie hatte ihn ganz hinten im Schrank versteckt und nur zufällig mit eingepackt. Sie hatte einfach nicht damit gerechnet, dass jemand sie darin sehen würde! Warum trug sie kein Spitzennachthemd oder wenigstens einen Pyjama aus feiner Seide? Die elenden Schweinchen …

    "Sie sind reizend", sagte Pierce und lachte, was er besser nicht getan hätte, denn sein Lachen bezauberte Shanni wie eh und je.

    "Popmuster sind in London große Mode", verteidigte sie sich.

    "Das glaube ich gern. Komm." Er rückte den Schaukelstuhl näher an den Herd. "Setz dich ans Feuer."

    "Ich fühle mich sehr wohl."

    "Setz dich." Bevor Shanni es verhindern konnte, legte Pierce ihr die Hände um die Hüfte, hob sie hoch und trug sie zum Sessel, als wäre sie eins der Kinder. "Ich werde dir Kakao kochen. Du darfst die Tabletten nicht auf nüchternen Magen einnehmen. Kakao und Schokoplätzchen sind jetzt genau richtig, um dich nachher wieder einschlafen zu lassen."

    "Danke, Grandpa."

    "He!", rief er. "Wir sind beide im Pyjama. Wenn ich Grandpa bin, bist du Grandma."

    Shanni hätte gern geistreich geantwortet, aber ihr fiel nichts Passendes ein. Alles, was ihr in den Sinn kam, konnte falsch ausgelegt werden und der Situation eine falsche Note geben. Deshalb schwieg sie – mit der notwendigen Würde, wie sie inständig hoffte.

    "Wir können morgen unbesorgt fahren", fuhr Pierce fort, während er Kakaopulver und Zucker mit etwas Wasser verrührte. "Ich bin heute mindestens zehnmal angerufen worden. Jeder bot mir an, das Vieh zu versorgen. Das ist dein Werk."

    Er lächelte immer noch, so herzergreifend, dass Shanni langsam rot wurde. "Woran arbeitest du?", fragte sie, um von sich abzulenken. Der Mann im blauen Pyjama irritierte sie viel zu sehr!

    "An einem Bahnhof", antwortete er. "Möchtest du die Pläne sehen?"

    "Sehr gern." Sie wollte aufstehen, aber Pierce rückte den Tisch in Reichweite, griff nach einem Blatt und legte es ihr auf den Schoß. "Das ist die Gesamtkonzeption. Die anderen Blätter enthalten Details."

    Pierce machte sich wieder ans Zubereiten des Kakaos, und Shanni betrachtete den Plan. Er faszinierte sie sofort und nahm ihre Aufmerksamkeit völlig gefangen.

    "Unglaublich", murmelte sie vor sich hin. "Ein Großstadtbahnhof mit einem völlig neuen Liniennetz. Ich habe in London darüber gelesen. Wurde das Objekt nicht international ausgeschrieben?"

    Pierce nickte. "Ganz recht. Wir haben den Wettbewerb gewonnen."

    "Wir?"

    "Mein Architekturbüro."

    Shanni war so beeindruckt, dass sie beinahe ihre schmerzende Schulter vergaß. "Du bist brillant", lautete ihr Urteil, nachdem sie auch die Detailpläne studiert hatte.

    "Ich weiß." Pierce mischte den verrührten Kakao mit der erhitzten Milch, ließ beides einmal aufkochen und goss das fertige Getränk in einen Krug, den er mit zwei Bechern auf den Tisch stellte. Es folgten ein Teller mit Schokoplätzchen und zwei blaue Tabletten, die er aus dem Medizinschränkchen genommen hatte. "Brillant, gut aussehend, stark, männlich … und nebenbei äußerst bescheiden."

    Shanni schwieg verlegen.

    "Nimm deine Tabletten", befahl er.

    "Aye, aye, Sir."

    "Ruby sagt, du seist auch nicht auf den Kopf gefallen."

    "Tante Ruby spricht immer nett über andere."

    "Ja, ich glaube, das tut sie. Dabei fällt mir ein: Ich habe heute mit meinem Pflegebruder Blake telefoniert und ihm von Mike und dem Missbrauch eurer gemeinsamen Kreditkarte erzählt."

    "Dazu hattest du kein Recht", protestierte Shanni.

    "Das hat Blake auch gesagt", gab Pierce zu. "Er hält rechtliche Schritte gegen Mike für möglich, wenn du ihm mehr Einzelheiten mitteilst. Er hat mir ein Formular gefaxt, das ihn zu weiteren Erkundigungen ermächtigt, wenn du einverstanden bist. Du musst es nur ausfüllen und unterschreiben."

    "Blake kann mir auch nicht helfen."

    "Er ist einer von Rubys Jungs", erklärte Pierce. "Wenn man Ruby glauben darf, könnten wir gemeinsam die Weltherrschaft antreten."

    "Meinetwegen." Shanni aß ein Schokoplätzchen, überflog das Formular, füllte es aus und setzte ihre Unterschrift darunter. "Hier", sagte sie und schob Pierce das Blatt hin. "Für Tante Rubys Weltdynastie." Dann wandte sie sich ab und sah ins Feuer.

    Es kam ihr so vor, als würde Pierce sie beobachten, aber nichts auf der Welt hätte sie bewogen, das zu überprüfen. Es war sicherer und beruhigender, in die knisternden Flammen zu schauen.

    "Du solltest dich wieder hinlegen", hörte sie Pierce sagen.

    Wie recht er hatte! Sie hätte nach oben gehen sollen, aber es war so ungeheuer gemütlich in der Küche. Es duftete noch schwach nach Mary Roberts' Rindfleischcurry. Zwei Napfkuchen und der Rest des Apfelstrudels standen für morgen bereit. Es war warm und anheimelnd in dem Raum mit dem großen Herd und dem Mann, der am Tisch saß und über seinen genialen Plänen brütete …

    "Ich gehe, sobald die Tabletten wirken", sagte Shanni. "Lass dich nicht stören."

    Pierce folgte der Aufforderung. Er konzentrierte sich wieder auf seine Pläne und schien Shanni bald vergessen zu haben. Sie konnte ihn unbemerkt beobachten und versuchen, sich ein genaueres Bild von ihm zu machen.

    Er war wirklich ein ungewöhnlicher Mann, ganz anders als Mike. Dieser wäre längst zudringlich geworden, aber Pierce vergaß alles über seiner Arbeit … was ihr nur recht war, wenn sie an die vor ihr liegenden Wochen dachte.

    Vielleicht war es besser, nicht mit nach Dolphin Bay zu fahren. Pierce brauchte sie dort nicht.

    "Oh doch, ich brauche dich." Pierce schrieb etwas an den Rand des Plans, während er das sagte. Wie konnte er über seine Arbeit nachdenken, sich Notizen dazu machen und gleichzeitig noch ihre Gedanken lesen?

    "Warum?"

    "Weil Donald dir vertraut. Er ist ein eigenartiges Kind. Schon seit einem Jahr beobachtet er mich, und doch vertraut er mir nicht. Er wartet darauf, dass ich ihn und seine Geschwister irgendwann fallen lasse. Deshalb versucht er, sie selbst zu schützen, und tut so, als brauchten sie mich nicht. Zu dir hat er auf den ersten Blick Vertrauen gefasst."

    "Und dank Clyde habe ich ihn auch nicht enttäuscht."

    "Glücklicherweise."

    Pierce wandte sich wieder den Plänen zu, während Shanni weiter ins Feuer blickte und darauf wartete, dass die Tabletten wirkten.

    "Ich erkenne einen Bullen in den Flammen", sagte sie nach einer Weile schläfrig.

    "Einen Bullen?"

    "So wie in Dantes Inferno. Es müsste reizvoll sein, ihn zu malen."

    Pierce stand auf und trat neben sie. "Zeit fürs Bett", mahnte er sanft.

    "Ich möchte lieber hierbleiben."

    "Offensichtlich, aber ich muss doch arbeiten, und du lenkst mich ab."

    "Du lenkst dich selbst ab", verbesserte Shanni ihn.

    "Vielen Dank. Tut dir die Schulter noch weh?"

    "Fast gar nicht mehr."

    "Dann ab ins Bett, Prinzessin." Pierce bückte sich und nahm Shanni so mühelos auf die Arme wie beim ersten Mal.

    Das hätte sie natürlich verhindern müssen, aber sie empfand es als so wohltuend, dass sie ihm die Arme um den Nacken legte und murmelte: "Das tut gut. Tante Ruby hat übrigens für jeden von euch eine bestimmte Bezeichnung. Da gibt es den Stillen, den Gefährlichen, den Wilden, den Tiefgründigen …"

    "Und welche Bezeichnung trifft auf mich zu?"

    "Du bist der Nette."

    "Vielen Dank."

    "Und der mit dem geschmackvollsten Pyjama und dem größten Sex-Appeal."

    "Ich habe den Eindruck, dass du nicht oft Schmerztabletten nimmst." Pierce hatte die Treppe erreicht und ging langsam die Stufen hinauf. Shanni schmiegte sich an ihn. Sein Schlafanzug war wirklich sexy und so seidig und weich. Wie leicht ihr Kopf an Pierce' Schulter ruhte!

    "Was hat Dr. Martin dir bloß mitgegeben? Ich werde morgen früh ein Wörtchen mit ihm reden."

    "Es tat ihm ehrlich leid … wirklich …"

    "Ach ja?"

    "Er glaubte, es seien deine Kinder. Er war empört, dass sie nicht geimpft worden waren, aber ich sagte ihm, du seist ein Held."

    "Danke."

    Sie hatten das Schlafzimmer der Mädchen erreicht. Pierce stieß die angelehnte Tür mit dem Fuß auf und trug Shanni zu ihrem Bett.

    "Zum Glück schläfst du nicht in Maureens großem Bett", stellte er fest, während er sie niederlegte. Dann löste er vorsichtig ihre Arme von seinem Nacken.

    "Warum zum Glück?"

    "Darum, Shanni. Bitte lass mich los."

    Sie tat es, wenn auch zögernd. "Witwer sind unheimlich sexy", flüsterte sie ihm dabei ins Ohr.

    "Malerinnen im Pyjama mit rosa Schweinchen auch", antwortete er ebenso leise und legte ihr einen Finger auf die Lippen. "Gute Nacht, Shanni."

    "Gute Nacht." Sie hielt seinen Finger fest.

    "Shanni …"

    "Wirklich sehr, sehr sexy", wisperte sie. "Willst du mir keinen Gutenachtkuss geben?"

    Fast hätte er es nicht getan. Shanni sah, wie er einen Schritt zurücktrat, aber dann beugte er sich noch einmal zu ihr hinunter und küsste sie. Es sollte ein flüchtiger Kuss werden, kaum wahrnehmbar, doch damit war sie nicht zufrieden. Sie zog seinen Kopf zu sich herunter, suchte seine Lippen und küsste Pierce mit wachsender Inbrunst.

    Alles war so richtig, so wunderbar. Das gemütliche alte Haus, die dunkle, warme Nacht, das milde Mondlicht … Nie zuvor hatte sich Shanni so sicher und geborgen gefühlt. Und dazu dieser Mann. Ihr Mann. Sie musste ihn einfach festhalten und immer wieder küssen, bis sie spürte, dass er ihren Kuss glühend erwiderte.

    Pierce. Pierce MacLachlan.

    Doch schließlich machte er sich entschieden von ihr los, drückte sie sanft in die Kissen und richtete sich auf.

    "Nicht", sagte er leise.

    "Doch", erwiderte sie, aber er war schon an der Tür. Da er kein Licht gemacht hatte, war er nur schwach im Mondschein zu erkennen. "Pierce?"

    "Gute Nacht, Prinzessin." Er lächelte ein letztes Mal, verließ das Zimmer und schloss hinter sich die Tür.

 


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