Im Supermarkt einzukaufen, gehörte nicht zu Pierce' Lieblingsbeschäftigungen. Nicht etwa, weil die Kinder mäkelig waren. Ganz im Gegenteil. Sie waren während Maureens zunehmender Krankheit so schlecht ernährt worden, dass sie aufjubelten, wenn er etwas anderes als Brot und Nudeln in den Warenkorb legte.
Nein, seine Abneigung hatte einen anderen Grund. In kleinen Orten auf dem Land wurden die Supermärkte von älteren, matronenhaften Hausfrauen besucht, die ihre Nase hoch trugen und diese jedes Mal missbilligend rümpften, wenn sie ihm begegneten.
Wo war bloß die auf dem Land viel gerühmte Gastfreundschaft geblieben? Bisher hatte Pierce noch nichts davon bemerkt. Umso willkommener war ihm Shannis Einfall, für einige Wochen ans Meer zu ziehen, wo eine freiere und offenere Atmosphäre herrschte. Vielleicht sollte er "Two Creeks" aufgeben und für immer wegziehen.
Nein, das war auch keine Lösung. Wo er sich auch niederließ … ihm würden immer die gleichen missbilligenden Blicke begegnen. Ein Mann mit fünf Adoptivkindern verdiente einfach kein Vertrauen.
"Können Sie mir sagen, wo ich Brötchen für Hotdogs finde?", fragte er eine Frau in mittlerem Alter, die mit Auspacken beschäftigt war.
"Gang zehn", lautete die unfreundliche Antwort.
"Es ist Gang drei." Das war Shannis Stimme, und sie klang so laut, dass alle Kunden überrascht aufhorchten.
Pierce sah sich um und entdeckte Shanni am Ende des Gangs, in dem er und die Kinder sich gerade aufhielten. Sie hielt ein Mikrofon in der Hand, wie es sonst nur die Angestellten für kurze Durchsagen benutzten. Sie musste es heimlich entwendet haben.
"Ich kann das Brot von hier aus sehen", fuhr sie wie eine Propagandistin fort. "Brötchen für Hotdogs gibt es in Gang drei. Die Lady hat dich absichtlich belogen."
Der Angestellten blieb vor Empörung der Mund offen stehen. "Ich habe noch nie …" Weiter kam sie jedoch nicht, denn Shanni ergriff von Neuem das Wort.
"Es wird zurzeit viel gelogen." Die Kassiererin, in deren Nähe Shanni stand, wollte ihr das Mikrofon wegnehmen, aber Shanni lächelte nur freundlich und trat einen Schritt beiseite. "Noch nicht. Erst habe ich eine wichtige Durchsage zu machen."
"Was fällt Ihnen ein!", protestierte die junge Frau, doch Shanni war nicht mehr zu bremsen. Sie stand so, dass sie den größten Teil des Ladens überblicken konnte, der heute besonders gut besucht war.
"Viele von Ihnen kennen Pierce MacLachlan", fuhr sie gelassen fort. Pierce wäre am liebsten hingerannt, um ihr das Mikrofon selbst wegzunehmen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. "Er hat hier in Craggyburn eine Farm gekauft. Für diejenigen, die 'Two Creeks' nicht kennen: Es ist ein schöner Besitz mit einem charmanten alten Wohnhaus. Pierce kommt aus Sydney, wo er als Architekt arbeitet. Vermutlich hat er die Anzeige in der Zeitung gelesen, sich mit dem Makler in Verbindung gesetzt und das Anwesen gekauft, weil es ihm gefiel. So weit, so gut. Leider war auch ein Konzern an dem Grundstück interessiert, der nun das Nachsehen hatte und die geplante Großmolkerei anderswo bauen musste … unweit der nächsten größeren Stadt. Das verteuert die Milch für Sie, weil Transportkosten hinzukommen. Pierce bedauert das, aber es ist nicht seine Schuld. Er wusste nichts von dem anderen Interessenten, und wenn Sie ihm die jetzige Situation anlasten, ist das unfair und unchristlich."
Es folgte absolute Stille. Die Kunden, die mit Pierce im selben Gang standen, drehten sich um und starrten ihn und die Kinder an. Alle anderen sahen weiter auf Shanni.
"Also zog Pierce hierher", fuhr sie fort. "Während ganz Craggyburn mit vorgehaltener Hand über ihn tuschelte, lud er Maureen zu sich ein. Maureen war seine Pflegeschwester, die vier Kinder mitbrachte, ein fünftes erwartete und nicht mehr lange zu leben hatte."
Allen stockte gleichzeitig der Atem, nur ein Angestellter – ein etwa neunzehnjähriger Bursche mit auffällig gestyltem Haar – ging entschieden auf Shanni zu und machte dabei ein Gesicht, als wollte er sagen: "Ich weiß, wie man mit einer wie dir umgeht."
Doch er kam nicht bis zu Shanni, denn eine Kundin packte ihn am Arm und hielt ihn zurück.
"Lass sie, Dwayne", sagte sie dabei.
"Aber, Mum …"
"Still. Ich will hören, was sie mitzuteilen hat."
"Wie auch immer", sprach Shanni weiter, ohne Dwayne zu beachten. "Da war also Maureen mit ihren Kindern, in einer verzweifelten Situation. Wie es dazu gekommen war, spielt keine Rolle. Es steht uns nicht zu, über sie zu urteilen … über eine Frau, die vor einigen Monaten gestorben ist."
"Das ist uns bekannt!", rief jemand aus der Menge.
"Dann sollten Sie sich umso mehr schämen", antwortete Shanni. "Bisher hatte ich Ihnen immer noch Unkenntnis der Lage zugutegehalten. In jedem Fall verdienen Maureens Kinder unseren Respekt. Es sind fabelhafte Kinder. Wendy ist elf Jahre alt und hat ihre jüngeren Geschwister zusammengehalten wie eine Henne ihre Küken. Aber auch Bryce, Donald und Abby verdienen eine Medaille für das, was sie für ihre Mutter und füreinander getan haben.
Bei den Leuten der staatlichen Fürsorge war die Situation bekannt. Man wusste, dass Maureen sterben würde, und weil sie berechtigterweise fürchtete, dass man ihre Kinder nach ihrem Tod voneinander trennen würde, wandte sie sich an Pierce. Er war nicht der Vater der Kinder und konnte wenig tun. Aber er hatte ein großes Anwesen und ein noch größeres Herz. Er hoffte, die Kinder als deren Stiefvater zusammenhalten zu können, und heiratete Maureen."
Shanni schwieg, und wieder herrschte betretenes Schweigen. So hatte man sich die Geschichte nicht vorgestellt. Man hatte bösartigeren Versionen Glauben geschenkt, bei denen die Kinder als unschuldige Opfer von Vernachlässigung oder Gewalt erschienen.
"Glauben Sie wirklich, man würde die Kinder in Pierce' Obhut lassen, wenn er ein Rabenvater wäre? Ich selbst bin in Sydney groß geworden und war sieben Jahre alt, als meine Mutter Drüsenfieber bekam. Sie Iitt Monate daran. Ich weiß noch, wie groß meine Angst war, aber mein Dad und ich mussten während der ganzen Zeit niemals kochen. Die Nachbarn halfen uns. Sie organisierten einen täglichen Hilfsdienst, und mir kommen noch heute, nach zwanzig Jahren, die Tränen, wenn ich an diese hochherzigen Menschen denke.
Aber Sie …", Shanni senkte die Stimme, denn sie brauchte jetzt nicht mehr um mangelnde Aufmerksamkeit zu fürchten, "… Sie kennen die Kinder, Sie kennen Pierce' Situation und tun alles, um ihn bei den staatlichen Stellen anzuschwärzen. Alle Kinder haben Windpocken gehabt. Jetzt ist Bessy damit dran, die eigentlich nicht hier sein dürfte, aber es blieb uns keine andere Wahl. Gestern musste Pierce die Kleine nach einer durchwachten Nacht zum Arzt bringen. Während er auf die verschriebene Medizin wartete, schlief er vor Müdigkeit ein. Warum half ihm keiner? Warum zeigte man ihn an, sodass er bei seiner Rückkehr zwei Polizisten in seinem Haus vorfand? Zum Glück hatte ich da schon die Aufsicht über die Kinder übernommen. Pierce kam noch einmal davon, was dazu führte, dass neue Rachepläne geschmiedet wurden."
"Shanni!", rief Pierce und wollte zu ihr gehen, aber Wendy hielt ihn zurück.
"Lass sie reden, Dad", bat sie. "Es macht Eindruck auf die Leute."
"Jemand trieb unseren Bullen von der Koppel in den Garten", fuhr Shanni fort. Ihre Stimme klang inzwischen angespannt, als könnte sie nur mit Mühe weitersprechen. "Aber das genügte dem Betreffenden noch nicht. Er quälte Clyde mit Katapultschüssen, bis er wütend und bösartig wurde. Natürlich sollte Pierce sein Opfer werden, der aber musste sich um sein krankes Baby kümmern. Also wagte sich der siebenjährige Donald …", Shanni zeigte auf den Jungen, "… nach draußen, um das gereizte Tier zu vertreiben."
Es war deutlich zu erkennen, welches Entsetzen ihre Geschichte auslöste. Die Packerin, die noch immer bei Pierce und den Kindern stand, wurde sogar kreideweiß.
"Ich bin eine alte Bekannte von Pierce und über seine Pflegemutter sogar mit ihm im weitesten Sinn verwandt", beendete Shanni ihre Geschichte. "Ich hörte Donald im Garten rufen und kam gerade noch rechtzeitig, um den Bullen von ihm abzulenken." Sie zeigte auf die Schlinge, die Dr. Martin ihr umgelegt hatte. "Das Ergebnis war eine schmerzhafte Wunde am Oberarm, aber wenn ich nicht da gewesen wäre …"
"Das genügt, Shanni." Pierce hatte sich inzwischen von Wendy losgemacht und kam durch den Gang auf sie zu.
"Ich bin schon fertig", sagte sie und rang sich ein Lächeln ab. "Wir verschwinden von hier und fahren ans Meer, um uns dort zu erholen. Pierce hat genug von dieser feinen Gemeinde, und das kann ich ihm nicht übel nehmen. In zwei Wochen sind wir wieder da, aber nur, um die Farm zu verkaufen."
"Shanni!"
"Du kannst 'Two Creeks' nicht behalten, wenn du von deinen Mitmenschen weiter so verteufelt wirst. Ich sage ihnen nur in aller Deutlichkeit, was sie angerichtet haben." Sie atmete tief durch, setzte ein strahlendes Lächeln auf und beendete in völlig verändertem Ton ihre Rede: "Okay, Leute … das war's für heute. Hier, Dwayne …" Sie übergab das Mikrofon in dem Moment, in dem Pierce sie erreichte.
"Ich musste das sagen", flüsterte sie ihm zu. "Als ich von Dr. Martin hörte, welcher Abschaum du nach Meinung der Leute bist, hätte ich ihn fast ins Gesicht geschlagen." Sie lächelte reumütig. "Aber dann hätte ich alle Mitglieder dieser sauberen Gemeinde schlagen müssen, und das hätte mich ins Gefängnis und nicht ans Meer gebracht." Sie sah ihn ängstlich an. "Wir fahren doch an die See, oder bist du zu wütend auf mich?"
"Das bin ich in der Tat."
Mehr konnte Pierce nicht sagen, denn Dwaynes Mutter mischte sich ein. "Ich bin Mary Roberts", stellte sie sich vor. "Dwaynes Mutter. Ist Ihr Arm schwer verletzt, Miss?" Ihr Gesicht war auffällig blass, wie viele andere Gesichter auch. Wahrscheinlich hatten alle zusammen unter einer Decke gesteckt.
"Es ist nur ein Riss", versicherte Shanni. "Dr. Martin hat mir ein Schmerzmittel und für den Notfall ein Antibiotikum mitgegeben."
"Wann fahren Sie ans Meer?"
"Schon morgen."
"Dann dürfen Sie heute Abend nicht mehr kochen." Mary drehte sich zu ihrem Sohn um und entwand ihm das Mikrofon. "Ich bereite heute Abend ein Rindfleischcurry für die MacLachlans zu", verkündete sie. "Dora, würden Sie wohl einen Ihrer köstlichen Apfelstrudel beisteuern?"
"Und ich bereite einen Picknickkorb für die Reise vor!", rief jemand aus den hinteren Reihen.
"Das ist wirklich nicht nötig …"
"Doch", beharrte Mary. "Das ist es … für uns allemal. Ich fürchte, die meisten von uns haben eine Menge nachzuholen."
Während der Heimfahrt herrschte Schweigen. Shanni saß vorn neben Pierce, während sich die Kinder auf dem Rücksitz zusammendrängten.
Pierce wusste beim besten Willen nichts zu sagen. Shanni hatte ihn überwältigt. Wie eine Tigerin hatte sie gekämpft, um ihre Jungen zu beschützen. Eine Verliererin im Londoner Kunstbetrieb, aber sonst Siegerin auf der ganzen Linie. Dieser Mike, der sie betrogen hatte, tat ihm nachträglich fast leid. Er konnte sich freuen, mit einem Eimer Eiswasser davongekommen zu sein!
"Was ist so komisch?", fragte Shanni, die Pierce' Lächeln bemerkte.
"Ich musste gerade an Mike denken", antwortete er.
"An Mike?"
"An das Eiswasser und an Mikrofone. Vielleicht solltest du Boxstunden nehmen, oder würdest du Ringen besser finden?"
"Nicht halb so aufregend", gestand sie und lächelte ebenfalls.
"Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll."
"Dann versuch es erst gar nicht. Ich habe dir gern geholfen und die Situation gehörig bereinigt. Eigentlich brauchst du mich nicht mehr, wenn ihr jetzt Urlaub macht."
"Wie bitte?"
"Das Schloss … Ich habe den Doktor danach gefragt. Nachdem ich ziemlich ausfällig geworden war, konnte ich ihn nämlich um den Finger wickeln. Wir haben Loganaich Castle und Dolphin Bay im Internet gesucht und herausgefunden, dass dort für bedürftige Kinder und ihre Betreuer wunderbar gesorgt wird. Du findest an diesem Ort genug Hilfe, um in Ruhe zu arbeiten. Was mich betrifft …", Shanni atmete tief durch, "ich könnte mir eine neue Bleibe suchen oder meinetwegen auch auf der Farm bleiben, um zu malen und auf Clyde aufzupassen."
"Du musst mitkommen", meldete sich Donald von hinten.
"Wenn es dort nun auch Bullen gibt", schloss sich Abby an, "wer soll Donald dann beschützen?"
"Ich bin nicht begierig auf weitere Begegnungen mit Bullen", erklärte Shanni lachend. "Oder auf irgendwelche unangenehmen Überraschungen."
"Genau deshalb musst du uns begleiten", stellte Pierce fest. "Um dich von all dem Schrecken zu erholen."
"Ich bin deine Angestellte", beharrte Shanni. "Nicht deine Pflegebefohlene."
"Letzteres vielleicht nicht, aber du hast im Moment kein anderes Zuhause."
"Du könntest Ruby ermächtigen, mich länger bei sich aufzunehmen. Das Makrameeknüpfen würde ich schon lernen."
"Und ihr dabei alles über mich erzählen."
"Vielleicht", gab Shanni nach kurzer Überlegung zu. "Nicht aus böser Absicht, aber Tante Ruby ist nur schwer zu belügen. Sie durchschaut einen mit einem Blick."
"Dann geh mit nach Dolphin Bay. Vielleicht findest du dort Gelegenheit zu malen."
"Ja, vielleicht." Shanni grinste. "Ich muss üben, Kuhbeine zu malen."
"Hast du eigentlich Kunstgeschichte studiert?", erkundigte sich Pierce.
Shanni nickte. "Das hat mir leider fast jeden anderen Beruf verbaut. Ich kann darüber diskutieren, wie stark die neugotischen Idyllen die abstrakt malenden Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts beeinflusst haben, aber ein Kuhbein zu zeichnen, misslingt mir. Wendy ist darin weitaus besser. Vielleicht sollte ich mich einfach entschließen, die weltbeste Haushälterin zu werden, und es dabei bewenden lassen." Sie drehte sich lachend zu Wendy um. "Aber vorher malen wir noch um die Wette. Es muss sich doch feststellen lassen, wer die besten Kuhbeine malt."
"Am Strand könnten wir Fische zeichnen", schlug Abby vor.
"Oder Meerjungfrauen", meinte Wendy kichernd.