Geständnis am Strand - Kapitel 7

Die Fahrt nach Dolphin Bay dauerte drei Stunden, in denen Shanni fortwährend errötete. Das lag vor allem daran, dass sie zu viel Zeit zum Nachdenken hatte. Trotz Pierce' Protest fuhr sie ihr eigenes Auto, begleitet von Donald, der sich geweigert hatte, sie allein zu lassen. Pierce steuerte den Kombi mit den anderen Kindern und sämtlichem Gepäck.

    Diese entsetzlichen Tabletten! Nie wieder würde sie eine davon anrühren. Sie waren schuld daran, dass sie sich so unmöglich verhalten hatte. Pierce zu zwingen, sie zu küssen …

    Und doch konnte sie den Kuss nicht vergessen. Sie erlebte ihn in der Erinnerung immer wieder. Es war wie ein Zwang, dem sie sich nicht entziehen konnte, und Donald half ihr kein bisschen. Er summte pausenlos eine kleine, unbedeutende Melodie vor sich hin und weigerte sich, ein Gespräch mit ihr zu führen und sie dadurch abzulenken.

    Es genügte, Pierce zu folgen, um an den Kuss erinnert zu werden und aufs Neue zu erröten. Am Ende blieb sie so weit zurück, dass sie den Kombi aus den Augen verlor und sich bei der Ankunft in Dolphin Bay auf der Post nach dem Weg zum Schloss erkundigen musste.

    Die Frau, die ihr dort beschrieb, wie sie zu fahren hatte, arbeitete an einem grellbunten Stück Makramee. Makramee ist meine Bestimmung, dachte Shanni niedergeschlagen. Es folgt mir überallhin.

    Für einen Moment legte die Angestellte ihre Knüpfarbeit beiseite und fragte mit strahlendem Lächeln: "Wie viele Kinder bringen Sie diesmal?"

    "Fünf", antwortete Shanni.

    "Oh!", rief die Frau begeistert. "Sie werden es hier gut haben. Ich kann Ihnen gar nicht sagen …"

    Shanni musste sich eine Lobeshymne auf Loganaich Castle anhören, ehe sie aus dem Postbüro entlassen wurde und weiterfahren konnte. Sie fürchtete schon, Pierce würde inzwischen über alle Berge sein, aber sobald sie die kleine Stadt hinter sich hatte, entdeckte sie den Kombi am Straßenrand und drosselte das Tempo.

    Und dann sah sie das Schloss.

    "Wow!", rief Donald.

    "'Wow' ist der richtige Ausdruck", bestätigte Shanni. "Man könnte es fast mit der Angst bekommen."

    "Warum?", fragte Donald. "Es ist groß und hat viele Türme …genau wie in Abbys Märchenbuch. Wenn es keine Gespenster gibt, wird es Abby gefallen."

    Loganaich Castle war wirklich verblüffend. Es stand auf einem Felsen hoch über dem Meer. Mauern, Türme und Zinnen leuchteten weiß, bunte Fahnen wehten im Wind, und es sah aus, als würden jeden Moment geharnischte Krieger durch das Tor reiten, um unliebsame Besucher mit Lanzen und Speeren in die Flucht zu treiben.

    Während Shanni sich noch staunend umblickte, wurde ihre Autotür aufgerissen. "Wo zum Teufel hast du gesteckt?", fragte Pierce wütend.

    "Ich bin nur langsamer gefahren", verteidigte sie sich. "Schließlich hatte ich ein Kind im Auto." Sie zeigte auf das Schloss. "Hast du so etwas schon einmal gesehen?"

    "Ich habe sogar bei den Umbauten geholfen. Ist es nicht fantastisch?"

    "Einfach unglaublich. Wie kommt ein mittelalterliches Schloss an die Küste von Neusüdwales?"

    "Das Stammschloss stand in Schottland und wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Der damalige Earl of Loganaich hatte genug von der Kälte und dem ewigen Nebel seiner Heimat. Er sehnte sich nach Sonne und einem wärmeren Klima und ließ hier ein Schloss nach dem alten Vorbild bauen. Fantastisch, nicht wahr?"

    "Ja, fantastisch", antwortete sie vorsichtig. "Obwohl du es als Architekt eigentlich ablehnen müsstest."

    "Oh, das tue ich", gab Pierce zu. "Aber es steht nun einmal da und begeistert mich wie jeden unvoreingenommenen Besucher. Die Umbauten in demselben kitschigen Stil zu planen, war ein Erlebnis." Er beugte sich zu Donald hinunter. "Was sagst du dazu?"

    "Shanni findet es zum Fürchten", antwortete der Junge.

    "Warum? Es hat keine unterirdischen Kerker oder Verliese. Der alte Earl meinte, die könne man getrost in Schottland lassen." Pierce zeigte auf den höchsten Turm. "In dem befinden sich die Schlafzimmer der Kinder. Hast du Lust, dort zu schlafen?"

    "Mit Wendy und den anderen?"

    Pierce nickte.

    "Auch mit Shanni?"

    "Natürlich", antwortete sie, bevor Pierce etwas sagen konnte. "Ein glänzender Einfall. Danke für die Einladung, Donald."

    "Immer noch ängstlich?", fragte Pierce augenzwinkernd.

    "Es waren die Tabletten", antwortete sie so würdevoll wie möglich, denn sie wusste, dass er keine Gespenster meinte.

    "Das hast du heute schon mehrfach beteuert. Also … auf ins Schloss!"

    Ja, dachte Shanni, auf ins Schloss. Aus der Wirklichkeit in eine mittelalterliche Traumwelt, in der sie immer mehr den Sinn für die Gegenwart verlieren würde.

 

Die Besitzer und die Angestellten des Schlosses waren so ungewöhnlich wie Loganaich Castle selbst. Shanni hatte eine Einrichtung mit freundlichem und geschultem Personal erwartet, aber was sie vorfand, war mehr als ungewöhnlich.

    Das fing schon draußen an. Drei Mädchen saßen auf den Stufen zum Eingang – zwei Zwillingsschwestern, die etwa sechs Jahre alt waren, und ein Kleinkind zwischen ihnen. Alle drei beschäftigten sich jeweils intensiv mit einem rosa Eis am Stiel.

    Zu ihren Füßen lag ein Hund, ein sehr merkwürdiges Tier. Es hatte ein struppiges braun-weißes Fell, große Flatterohren, einen buschigen Schwanz und lange, dünne Beine. Seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich den Kindern, weil es wohl hoffte, mit geduldigem Warten herabtropfende Eiscreme zu erhaschen.

    Pierce fuhr bis dicht an den Eingang, und Shanni hielt kurz hinter ihm. "Hi", sagte eine der Zwillingsschwestern, nachdem sie ausgestiegen waren. "Sind Sie Mr. MacLachlan?"

    "Ja", antwortete Pierce.

    "Susie hat mir erzählt, es würde ein Daddy ohne Mummy kommen", fuhr die andere Schwester fort und betrachtete Shanni mit unverhohlener Enttäuschung. "Sie sagte, die Mummy sei gestorben."

    "Ich bin Shanni", erklärte Shanni bescheiden. "Die … Haushälterin. Ist jemand da, der …?"

    "Hallo!" Wie aufs Stichwort erschien eine Frau an der Eingangstür. Sie trug einen schlammbespritzten Overall und kam mit ausgestreckten Armen die Stufen herab. "Pierce … und Rubys Shanni. Willkommen im Schloss." Als Pierce instinktiv einen Schritt zurücktrat, warf sie einen Blick auf ihre schmutzigen Hände und verzog das Gesicht. "Entschuldigen Sie. Ich hätte mich vorher waschen sollen. Ich buddele gerade im Garten."

    "Sie buddeln?"

    "Ist das nicht das richtige Wort? Ich bin Amerikanerin, lerne aber jeden Tag neue australische Ausdrücke." Sie wischte ihre Hände, so gut es ging, an dem Anzug ab. "Ich bin Susan, Lady of Loganaich. Ein verrückter Titel, nicht wahr? Klingt wie der Name eines mittelalterlichen Gespensts. Manchmal denke ich, dass ich nachts stöhnend und kettenrasselnd durch das Schloss wandern müsste. Hamish ist in die Stadt gefahren, um einzukaufen, daher müssen Sie mit mir als Empfangskomitee vorliebnehmen. Leider haben wir gerade Schwierigkeiten mit unserem Kürbisbeet. Es ist zu feucht. Das führt zu Fäulnis. Deshalb lockere ich den Boden mit Erbsenstroh auf, damit es keine Missernte gibt. Jodie macht die Betten, und Kirsty hilft ihr dabei. Das dürfte sie eigentlich nicht, aber sie besteht darauf. Welches Kind hat Windpocken?"

    "Bessy", antwortete Pierce leicht benommen und zeigte in den Kombi, wo die Kleine in ihrem Kindersitz saß und neugierig hinaussah. "Es ging ihr sehr schlecht, aber seit sich die ersten Pusteln gezeigt haben, fühlt sie sich wohler."

    Susan beobachtete, wie die Kinder nacheinander aus dem Auto kletterten. "Ihr anderen habt es hinter euch, nicht wahr?", fragte sie. "Ihr verdient einen Orden dafür. Hat es sehr gejuckt?"

    "Ganz schrecklich", antwortete Abby. Sie hatte sich dicht neben Pierce gestellt und sah Susan scheu an.

    "Pierce behauptete, es würde ihn schon beim Zusehen jucken", ergänzte Wendy.

    "Dann seid ihr hier genau richtig", meinte Susan lachend. "Es gibt keinen Ort auf der Welt, wo man hartnäckigen Juckreiz so schnell loswird. Ihr braucht euch nur in die Brandung zu legen. Wart ihr schon einmal am Meer?"

    "N…nein", antwortete Wendy nun und tastete nach Abbys Hand.

    "Die meisten waren es noch nicht, die zu uns kommen."

    Ein untersetzter junger Mann betrat durch ein Seitentor den Innenhof. Er trug ebenfalls einen Overall und hielt ein Brecheisen in der Hand.

    "He, Nick!", rief Susan. "Die Windpockenbande ist da und war noch nie am Meer. Wollen wir sie gleich nach unten bringen?" Sie warf einen Blick auf die Zwillinge und das Kleinkind, das von oben bis unten mit Eis bekleckert war. "Natürlich erst nachdem jeder eine Portion Eiscreme bekommen hat."

    "Ausgezeichnet", erklärte Nick, während er das Brecheisen niederlegte. "He, Jodie!", rief er dann zu einem offenen Turmfenster hinauf. "Jodie und Kirsty! Die Windpockenbande ist da. Wir bringen sie gleich an den Strand."

    "Nicht ohne uns", antwortete eine Frauenstimme aus dem Fenster.

    "Jeder, der dringend ins Badezimmer muss oder unbedingt das Gepäck ausladen will, kann mit Jodie und Kirsty nachkommen", entschied Susan. "Kirsty ist hochschwanger und daher langsam wie eine Schnecke. Alle anderen holen sich ihr Eis … und dann nichts wie an den Strand!"

 

Shanni und Pierce standen da und blickten sich verblüfft an. Sie hörten nur noch, wie die Kinder, Susan, Nick und Jodie den Steilhang zum Strand hinunterkletterten – mit Kirsty und der Hündin Taffy als Nachhut. Der in den Felsen gehauene Weg begann unmittelbar jenseits der Straße, sodass man zwar nichts sehen, aber Schritte und Stimmen hören konnte.

    "Bessy lässt sich nicht von Fremden anfassen", hatte Wendy die übereifrige Susan gewarnt und war damit auf taube Ohren gestoßen.

    "Ich bin keine Fremde", hatte diese geantwortet. "Ich bin Susie … Roses Mutter. Du magst mich doch, Bessy, nicht wahr? Nick, würden Sie bitte Rose auf den Arm nehmen?"

    "Natürlich", hatte Nick geantwortet. Er hatte den gleichen amerikanischen Akzent wie Susan. "Niemand darf zurückbleiben."

    "Was geht hier eigentlich vor?", fragte Shanni, als die Kavalkade verschwunden war.

    "Loganaich Castle dient der Erholung bedürftiger Kinder", antwortete Pierce mit einem Blick auf den jetzt verlassen daliegenden Schlosshof.

    "Aber es muss doch eine Vorgeschichte geben. Wer ist Susan? Ist sie wirklich eine Lady?"

    Pierce nickte. "Hamish Douglas, der gegenwärtige Earl of Loganaich, war Börsenmakler in New York, ehe er das Schloss erbte. Susan ist seine Frau. Jodie war in New York seine Sekretärin und ging später mit ihrem Mann Nick nach Kanada, wo er als Tischler arbeitete. Eigentlich ist er Sozialpädagoge, deshalb hat der Earl ihn und Jodie als Mitarbeiter für sein neues Unternehmen eingestellt.

    Kirsty ist Susans Zwillingsschwester. Sie und ihr Mann Jake Cameron sind die einzigen Ärzte in Dolphin Bay. Die sechsjährigen Zwillinge Alice und Penelope sind Jakes Töchter aus erster Ehe … also Kirstys Stieftöchter und Susies Stiefnichten. Die kleine Rose ist Susans und Hamishs Tochter."

    Pierce betrachtete Shannis verzweifelte Miene und lachte. "Keine Sorge, allmählich wirst du schon dahinterkommen. Ich war während der Planung der Umbauten und zur feierlichen Eröffnung mehrfach hier und habe immer noch Schwierigkeiten, Kinder und Eltern richtig einzuordnen. Das Ganze ist ein Chaos, aber ein äußerst liebenswertes."

    "Den Eindruck hat man allerdings", gab Shanni zu. "Ist dir früher nie der Gedanke gekommen, mit den Kindern hier Urlaub zu machen?"

    "Ehrlich gesagt, hatte ich seit Maureens Ankunft zu viel um die Ohren, um an so etwas zu denken", gestand Pierce. "Erst als du den Vorschlag gemacht hast, zwei Wochen ans Meer zu fahren, fiel mir Loganaich Castle wieder ein."

    "Und Bessys Windpocken?"

    "Susan und Hamish planen so, dass alle vier Wochen vierzehn Tage für Notfälle freigehalten werden. Wir hatten das Glück, genau diesen Zeitraum zu erwischen. Alle Anwesenden haben entweder schon Windpocken gehabt oder sind dagegen geimpft worden."

    "Aha." Mehr denn je hatte Shanni das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Sie hatte sich nach dem Strandleben gesehnt, aber hier waren die Bedingungen zu ideal und daher … gefährlich. "Dann sollte ich besser verschwinden."

    "Warum?", fragte Pierce erstaunt.

    "Weil ich nicht gebraucht werde." Vom Strand klangen laute Jubelrufe herauf, die verrieten, dass die kleine Gesellschaft unten angekommen war. "Nicht einmal du bist hier gefragt. Die Kinder haben sich mühelos auf die neue Umgebung eingestellt."

    "Ich bin mitgekommen, um hier zu arbeiten. Und das war deine Idee."

    "Wie es aussieht, wirst du dazu reichlich Gelegenheit haben. Sogar Bessy ist mit den anderen verschwunden. Jetzt verschwinde ich", erklärte Shanni, die in diesem Moment für ihr Leben gern von der Klippe hinuntergesehen hätte, weil vom Strand erneut laute Freudenschreie heraufdrangen.

    "Zu Ruby nach Sydney?", fragte Pierce. "Zu den Makrameestunden?"

    "Ich finde schon eine Bleibe. Ganz ohne Freunde bin ich nicht."

    "Nein." Pierce' Stimme klang jetzt hart und entschieden. "Du hast den Kindern versprochen, mit ihnen im Turm zu schlafen." Er nahm Shannis Hände. "Wir sind auf deinen Vorschlag hier. Es war deine Idee. Ich habe dich engagiert, damit du auf meine Kinder aufpasst, und das kannst du nur, wenn du hierbleibst. Außerdem brauchst du selbst dringend Erholung. Sieh doch mal in den Spiegel. Du leidest sichtbar an den Folgen der Londoner Affäre."

"Unsinn!", widersprach Shanni heftig. "Das stimmt nicht."

    "Dabei hätte ich gewettet, dass extreme Blässe, eingefallene Wangen und dunkle Augenringe nicht dein Schönheitsideal sind. Nutze also die zwei Wochen am Strand. Leg dich in die Sonne, geh schwimmen …" Pierce unterbrach sich. "Weißt du zufällig noch, in welchem Koffer sich die Badeanzüge befinden?"

    "In dem roten."

    "Na also. Da siehst du, wie sehr du gebraucht wirst. Worauf warten wir noch? Die anderen werden sicher schon ungeduldig. Und, Shanni …"

    "Ja?" Sie wusste nicht mehr, ob sie sich manipulieren ließ oder freiwillig blieb.

    Pierce legte ihr einen Finger auf den Mund. Die Geste kam so unerwartet, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich.

    "Der Kuss von gestern Nacht …" Ein unschuldiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. "Ich nehme ihn nicht ernst, und das solltest du auch nicht tun."

 

Shanni lag in ihrem prächtigen Schlafzimmer und blickte starr an die mondbeschienene Decke. Wie kommst du hierher?, fragte sie sich immer wieder. Was tust du in einem Ferienschloss für bedürftige Kinder?

    Die Ereignisse hatten sich in den letzten Wochen so überstürzt, dass ihr alles unwirklich erschien. Eben noch in London, von einem Mann verraten und um ihre kleine, aufstrebende Galerie betrogen … heute in einem Schloss an der Küste von Neusüdwales, als Betreuerin der fünf Adoptivkinder eines "Cousins"!

    Über ihr erhob sich ein Baldachin aus Samt, gold gemusterte Tapeten schmückten die Wände. An einer Schmalseite befand sich ein Kamin – so groß und reich verziert, dass er wie ein einzelnes Ausstellungsstück wirkte. Im Badezimmer am Ende des Korridors hing an einer Wand ein goldgerahmtes Porträt von Queen Victoria und an der Decke ein Kristalllüster. Eine riesige Schusterpalme verdeckte den Spülkasten.

    Shanni hatte gelacht, als sie das Gemälde entdeckte, aber schon beim zweiten Besuch des Badezimmers war ihr der strenge, rügende Blick der Queen eher peinlich gewesen.

    "Ich werde meinen Aufenthalt selbst bezahlen und zusätzlich etwas spenden", hatte sie der Monarchin versichert, aber Victorias Blick war dadurch nicht gnädiger geworden.

    "Shanni?"

    Eine leise Kinderstimme drang an ihr Ohr und ließ sie aufhorchen. Sie richtete sich auf und tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe, die eher den Namen "Nachttischlüster" verdient hätte. Alles in allem funkelte in Loganaich Castle mehr Kristall als im königlichen Schloss von Versailles. Natürlich war es kein echtes Kristall. Susan hatte sie persönlich durch die unzähligen Räume geführt und am meisten über die pompöse Einrichtung gelacht.

    "Lydia, die Frau des alten Earls, hatte eine unbezwingbare Vorliebe für Kitsch", hatte sie dabei erklärt. "Haben Sie Eric und Ernest schon bewundert?"

    Eric und Ernest waren zwei Blechrüstungen, hergestellt in Japan, die rechts und links der großen Freitreppe standen und dort Wache hielten.

    "Sie bewachen vor allem die Geheimnisse von Loganaich Castle", hatte Susan zu den Kindern gesagt und war diesmal ganz ernst geblieben. "Alles, was ihr ihnen anvertraut, nehmen sie mit ins Grab."

    "Shanni, schläfst du?"

    "Nein." Shanni hatte inzwischen Licht gemacht. "Ich sitze in meinem königlichen Bett und warte darauf, dass man mir die Wünsche von den Augen abliest. Gerade jetzt habe ich den Wunsch, mit dir zu sprechen." Sie rückte zur Seite. "Komm her, unter der Decke ist es warm."

    Eine zweite Einladung brauchte Wendy nicht. Wie der Blitz sauste sie durch das Zimmer, sprang ins Bett und deckte sich bis zum Kinn zu.

    "He!", rief Shanni. "Fürchtest du dich etwa vor Gespenstern?"

    "N…nein", stammelte Wendy.

    "Was ist es dann?"

    "Ich habe geträumt und dachte, es wäre Wirklichkeit."

    Wendy zitterte am ganzen Körper, und Shanni machte sich Vorwürfe, weil sie nicht darauf bestanden hatte, bei den Mädchen zu schlafen. Doch Wendy und Abby hatten sich das Turmzimmer über ihr ausgesucht – ein Raum mit zwei Erkern, in denen jeweils nur ein Bett Platz hatte. Bryce und Donald bewohnten ein ähnliches Zimmer auf der anderen Turmseite, unter ihnen schliefen Pierce und Bess.

    Ich hätte diese Aufteilung nicht zulassen dürfen, dachte Shanni, während sie Wendy in die Arme schloss. Andererseits durfte sie sich nicht zu sehr auf die Kinder einlassen.

    "Gibt es ein Problem?"

    Shanni hob den Kopf und sah Pierce an der Tür stehen. Er trug immer noch Jeans und Pullover. Warum wanderte er zu dieser nachtschlafenden Zeit angezogen durch das Schloss? Hatte er etwa Wendys leisen Ruf gehört?

    "Wendy ist bei mir", antwortete Shanni.

    "Wendy?"

    "Ein Albtraum." Sie drückte das zitternde Kind noch fester an sich.

    "Wie üblich." Pierce kam mit großen Schritten näher, aber das Kind barg sein Gesicht an Shannis Schulter. "Nein, nicht …"

    Pierce blieb wie angewurzelt stehen. "Zum Teufel, Wendy …"

    "Keine schlimmen Ausdrücke, bitte", unterbrach Shanni ihn automatisch. "Wendy, es ist Pierce."

    "Geh weg", flüsterte Wendy. "Ich will nicht …"

    "Sie hat öfter solche Albträume", erklärte Pierce, ohne sich zu rühren. "Sie müssen schrecklich sein, aber Wendy lässt mich nie an sich heran. Ich war schon mit ihr beim Kinderpsychologen, doch sie weigert sich, darüber zu sprechen."

    "Albträume sind furchtbar", sagte Shanni.

    "Ich weiß." Pierce sah verloren vor sich hin. Er hat auch darunter gelitten, dachte sie bestürzt. Vielleicht wird er immer noch davon gequält.

    "Was kam in deinem Albtraum vor?", fragte sie Wendy, erhielt aber nur ein Kopfschütteln zur Antwort.

    "Ich hatte einmal Albträume von Fröschen", fuhr sie fort. "Von großen, schleimigen Viechern, die sich über die ganze Erde ausbreiteten. Es war grässlich."

    "Frösche sind doch niedlich", flüsterte Wendy.

    "Meine aber nicht."

    Als Wendy weiter schwieg, wandte Shanni sich an Pierce. "Ich wette, du hattest ebenfalls Albträume. Wovon handelten die?"

    "Es geht hier nicht um mich, sondern um Wendy", antwortete er ausweichend. "Wendy, Darling … wir müssen unbedingt darüber sprechen. Ich weiß, dass du Angst hast. Ich weiß auch, wie einsam man sich im Dunkeln fühlt, denn mir ging es einmal genauso."

    "Auch Erwachsene haben Angst", bestätigte Shanni, die froh war, dass Pierce ihr wenigstens so weit entgegenkam. "Dagegen gibt es nur ein Heilmittel: Man muss darüber reden. Als ich meiner Mum von meinen Träumen erzählte, ging sie mit mir in den Zoo und erklärte mir alles über diese harmlosen Tiere. Selbst die größten ihrer Art, die Goliathfrösche, ernähren sich nur von Insekten. Später besuchten wir Freunde auf einer Farm, sammelten Laich ein und taten ihn in den Teich, den mein Dad in unserem Garten angelegt hatte. Wenig später war das Wasser voller Kaulquappen, die sich später in Frösche verwandelten. Ich gab ihnen Namen wie 'Hoppeditz' oder 'Glupschauge' und machte sie zu meinen Freunden. Danach hörten meine Albträume schlagartig auf. Willst du uns nicht auch von deinen erzählen, Wendy?"

    "Ich möchte …" Weiter kam Wendy nicht.

    "Ja?"

    "Ich möchte, dass Pierce rausgeht."

    Shanni erschrak so sehr, dass sie das Mädchen beinahe losgelassen hätte. Sie wagte nicht, Pierce anzusehen, und als sie es endlich doch tat, erkannte sie deutlich, was er empfand.

    "Pierce ist doch unser Freund", erinnerte sie Wendy. "Er liebt dich."

    "Aber er …"

    "Schon gut." Pierce stand bereits an der Tür. "Ich lasse euch allein und warte oben auf dem Turm. Da kann ich euch nicht hören."

    Shanni hätte ihn gern zum Bleiben überredet, unterließ es aber, weil sie Wendy helfen wollte. In dieser Situation durfte sie nur an das Kind denken.

    "Pierce ist fort", sagte sie, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. "Jetzt kannst du mir erzählen, was dich erschreckt hat."

    "Dunkel", war alles, was Wendy nach längerem Zögern herausbrachte.

    "Dunkel?"

    "J…ja."

    "In deinem Schlafzimmer brennt die ganze Nacht eine Lampe. Ist sie nicht hell genug?"

    "Wenn ich einschlafe …" Erneutes Zögern.

    "Dann wird es dunkel?"

    "Der Schrank."

    Shanni hielt den Atem an. Sie spürte, dass sie jetzt kurz vor einer unheimlichen Entdeckung stand. "Was für ein Schrank, Wendy?"

    "Er sperrt mich hinein. Er hasst mich, aber das kann ich Mum nicht sagen. Mum liegt im Bett. Sie ist immer krank, und jedes Mal …"

    "Sprichst du von Pierce?" Shanni konnte sich nicht länger zurückhalten. In Wendys Albträumen schienen sich Vergangenheit und Gegenwart geradezu teuflisch zu mischen.

    "Nein", flüsterte Wendy. "Von dem anderen …"

    "Von einem anderen Mann?"

    Wendy nickte heftig. "Wir waren eine Ewigkeit mit ihm zusammen. Mum hat gesagt, wir müssen bleiben, weil wir sonst nirgendwohin können. Deshalb hab ich ihr nichts von dem Schrank erzählt und auch nicht, dass er die Kinder schlägt. Sie sollte sich nicht aufregen. Lieber hab ich mich in den Schrank sperren lassen und vor den anderen so getan, als wäre es ein Spiel. Aber das war es nicht. Einmal hat er Donald so hart geschlagen, dass dessen Auge anschwoll. Daraufhin bin ich mit Fäusten und Füßen auf ihn losgegangen, aber er sperrte uns nur wieder ein. Donald hat so laut geschrien, dass Abby es hörte. Sie lief zu Mum und erzählte ihr alles. Mum stand auf und fing furchtbar an zu schreien. Danach weinte sie die ganze Nacht. Am nächsten Morgen setzte sie uns alle in ihr Auto und brachte uns zu Pierce."

    "Oh, Wendy … wie furchtbar!" Shanni war erschüttert und gleichzeitig unglaublich wütend. "Der Kerl gehörte ins Gefängnis. Hat deine Mum denn wirklich nichts gemerkt?"

    "Einmal wollte ich es ihr sagen, da stand sie auf und fiel hin. Er behauptete, ich wäre ungezogen gewesen, und er hätte mich nur für einige Minuten eingesperrt, aber das stimmte nicht. Es waren Stunden und Stunden … manchmal die ganze Nacht."

    "Oh, Wendy, Darling … meine kleine, tapfere Wendy. Ich kenne kein so tapferes Mädchen wie dich."

    "Ich hasse die Träume", erklärte Wendy. Sie hatte aufgehört zu zittern und schmiegte sich nur noch in Shannis Arme.

    "Du weißt doch, dass Pierce nicht so ist wie dieser Mann?", fragte Shanni nach einer Weile.

    "Ja", antwortete Wendy.

    "Und du hast keine Angst vor ihm?"

    "Nein."

    "Warum sollte er dann vorhin hinausgehen?"

    "Weil …" Wendy suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. "Es sind nur die Träume", versicherte sie. "Mum hat gesagt, Pierce ist ein Freund, dem wir für immer vertrauen könnten und bei dem wir in Sicherheit sind. Das sind wir auch. Er ist wirklich sehr, sehr nett, und manchmal umarme ich ihn sogar … genau wie die anderen Kinder. Nur nachts, wenn die Träume kommen … dann vermischt er sich mit dem anderen Mann, und ich bekomme wieder Angst …"

    "Wendy, mein Liebling." Shanni war den Tränen nahe, obwohl sie sich bemühte, den Fall so nüchtern und neutral wie eine Psychotherapeutin zu sehen. "Du bist jetzt in Sicherheit. Ich beschütze dich, und Pierce tut es auch. Jeder in diesem Schloss beschützt dich, und morgen früh gehen wir beide noch vor dem Frühstück schwimmen."

    Ein schüchternes Lächeln huschte über Wendys Gesicht.

    "Wer hat dir eigentlich die Haare geschnitten?", fuhr Shanni fort. Sie sahen immer noch so aus, als wäre jemand mit einer Heckenschere am Werk gewesen.

    "Ich selbst", gestand Wendy. "Als wir Windpocken hatten, verschüttete Abby ihr Getränk, und als ich es aufwischte, ließ Donald aus Versehen Klebstoff auf meinen Kopf tropfen. Ich versuchte, ihn auszuwaschen, was aber nicht ging. Da habe ich die verklebten Stellen einfach abgeschnitten."

    "Hat Pierce nichts dazu gesagt?", fragte Shanni erstaunt.

    "Er hat im Frisiersalon angerufen, aber wegen der Windpocken wollte keiner kommen." Wendy fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. "Es geht auch so."

    "Nein, das finde ich nicht." Endlich konnte Shanni etwas für Wendy tun. "Gleich morgen nach dem Frühstück fahren wir in die Stadt und gehen zum Friseur. Was hältst du davon? Anschließend könnten wir noch ein paar Sachen für dich kaufen. Du ziehst dich immer noch wie Abby an."

    "Mum hat gesagt, das ist einfacher."

    "Weil sie krank war, Schatz, aber wir beide sind gesund und unternehmungslustig." Shanni bemühte sich, Heiterkeit und Zuversicht auszustrahlen. "Es gibt nichts Besseres gegen Albträume als einen netten kleinen Einkaufsbummel. Wenn Pierce uns kein Geld gibt, bitte ich ihn um einen Vorschuss auf mein Gehalt. Du bist schließlich elf Jahre alt und darfst schon etwas mehr Wert auf dein Äußeres legen. Natürlich kannst du weiter nach Herzenslust mit den anderen herumtollen, aber langsam ist es an der Zeit, dass aus dir eine junge Dame wird."

 


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