Geständnis am Strand - Kapitel 8

Pierce stand oben auf dem Turm und sah auf das mondbeschienene Meer hinaus. Einen schöneren Ort konnte es auf der ganzen Welt nicht geben, aber anstatt sich dem nächtlichen Zauber zu überlassen, dachte er an Wendys gequältes Gesicht.

    Die Schatten der Vergangenheit verfolgten sie alle. Wie konnte er Wendy davon befreien, wenn er selbst nicht frei war?

    "Sie schläft."

    Die leisen Worte drangen kaum an sein Ohr. Er drehte sich um und sah Shanni hinter sich stehen. Sie trug noch den Pyjama und hatte sich eine Wolldecke um die Schultern gelegt.

    "Ich habe ihr angeboten, heute Nacht in meinem Bett zu schlafen, aber sie wollte zu Abby. Da habe ich sie in ihr Zimmer gebracht und bei ihr gesessen, bis sie eingeschlafen war." Shanni trat zu Pierce an die Brüstung. "Ein fantastischer Ausblick, nicht wahr?"

    "Ja."

    "Tapfere kleine Wendy."

    "In der Tat."

    "Wusstest du, dass sie missbraucht worden ist?"

    Piece fuhr herum. "Missbraucht?"

    "Nicht sexuell", sagte Shanni schnell. "Jedenfalls nicht, soweit ich es beurteilen kann, aber Maureens letzter Partner scheint sie ziemlich grausam behandelt zu haben. Sie wurde regelmäßig in einen Schrank gesperrt."

    "Etwas Ähnliches habe ich vermutet", gestand Pierce.

    "Nur vermutet?"

    "Nach Maureens Tod brachte ich die Kinder zu einem Psychiater. Nach seinem Urteil waren alle vier traumatisiert … und zwar unterschiedlich schwer. Bei Wendy schien es am schlimmsten zu sein. Wie sie zusammenzuckte, wenn ich etwas lauter oder heftiger sprach. Leider wollte sie sich dem Mann nicht anvertrauen. Alle Versuche, sie dazu zu bewegen, waren umsonst."

    "Armer Pierce", seufzte Shanni. "Da hast du dir ja etwas Schönes aufgeladen."

    "Zumal es gar nicht in meine Lebensplanung passte." Pierce schob die Hände tief in die Hosentaschen.

    Shanni zog die Wolldecke fester um ihre Schultern. "Das behauptest du immer wieder, aber ich glaube dir nicht. Hast du wirklich niemals ans Heiraten oder an eigene Kinder gedacht? Bot Maureen dir die willkommene Gelegenheit, dich einer intimeren Bindung dauerhaft zu entziehen?"

    Pierce' Miene wurde hart. "Ich gehe schlafen", sagte er schroff.

    "Bist du jemals in einen Schrank gesperrt worden?"

    Schweigen folgte, und Shanni dachte: Ich bin zu weit gegangen. Bei Wendy konnte ich Psychiaterin spielen, aber bei Pierce gelingt mir das nicht. Ich möchte auch ihm helfen, aber das ist viel, viel schwieriger.

    "Du bist als Kind genauso missbraucht worden wie Wendy", stellte sie schließlich fest. "Du … und auch Maureen. Deshalb musstest du ihr einfach helfen."

    "Hör endlich auf!" Pierce sah unverwandt aufs Meer hinaus. Im blassen Mondlicht wirkte er noch größer und unnahbarer. "Ich ertrage es nicht, wenn jemand mich bemitleidet."

    "Wer sollte das tun?", fragte Shanni. "Du bist ein wohlhabender, ungebundener Mann und ein hoch angesehener Architekt. Die Welt gehört praktisch dir. Gegen dich bin ich eine mittellose Waise."

    "Eine Waise?"

    "Nun ja, mein Elternhaus ist mir verschlossen."

    Ein Lächeln glitt über Pierce' Gesicht. Genau das hatte Shanni erreichen wollen. "Es ist keine so große Tragödie", räumte sie deshalb ein. "Schließlich bin ich erwachsen und kann mein Trauma selbst behandeln. Die arme Wendy vermag das nicht."

    "Ich rede morgen mit Nick", versprach Pierce. "Er hat sich auch mit Psychologie beschäftigt und schon mit gestörten Kindern gearbeitet."

    "In diesem Wunderschloss scheint es wirklich alles zu geben." Shanni spürte, dass sie zu dicht neben Pierce stand, aber sie konnte sich nicht überwinden, einen Schritt zur Seite zu machen. "Ich möchte Wendy morgen zum Einkaufen mitnehmen."

    "Warum das?" Pierce' Erstaunen schien echt zu sein.

    "Es gehört zu meiner Therapie. Hier draußen haben wir Gelegenheit, jedem Kind so viel Aufmerksamkeit zu widmen, wie es verdient. Die vier sind bisher immer als Einheit genommen worden, weil es nicht anders ging. Sie müssen langsam lernen, dass jeder von ihnen ein Einzelwesen ist."

    "Tu, was du willst, aber lass mich aus dem Spiel", sagte Pierce gereizt. "Die Kinder sollen sich hier erholen, während ich einen Berg von Arbeit zu erledigen habe. Wenn das geschafft ist, suche ich mir eine geeignete Haushälterin."

    "Damit wirst du kein Glück haben."

    "Warum nicht?"

    "Weil du schon zu sehr in die Sache verstrickt bist."

    "Das bin ich nicht!", brauste er auf.

    Shanni zögerte. Wie sollte sie Pierce in Zukunft behandeln? Äußerlich war er ganz Macho, unabhängig, selbstständig und überlegen, bezüglich seines Seelenlebens aber glich er immer noch dem schmächtigen Jungen, den sie vor zwanzig Jahren kennengelernt hatte.

    "Du brauchst dich vor den Menschen nicht zu fürchten", versuchte sie es von Neuem. "Nicht alle sind böse."

    "Wirklich nicht?", fragte Pierce misstrauisch.

    "Nein, wirklich nicht." Shanni ergriff seine Hände. Es war eine spontane, völlig unüberlegte Geste, aber sie war überzeugt, richtig zu handeln. Es tat gut, seine Hände zu spüren. Sie waren groß und warm, und ihr leichter Druck wirkte besänftigend.

    Dabei bin ich es, die ihn besänftigt, ging es ihr durch den Kopf. Pierce versteckt sich, als verfolgten ihn die Erinnerungen wie böse Geister. Er braucht mich viel mehr, als ich ihn brauche.

    "Es ist nicht schlimm, den Kindern Liebe zu schenken", sagte sie. Die Wolldecke war ihr inzwischen von den Schultern gerutscht, aber sie hob sie nicht auf, denn sonst hätte sie Pierce loslassen müssen. "Man braucht sich vor der Liebe nicht zu fürchten."

    "Das sagt ausgerechnet die Lady mit dem Eiswasser!"

    Shanni musste lachen. "Hätte ich mich damals nicht verliebt, hätte ich nie feststellen können, was für ein Gefühl es ist, einen nackten miesen Kerl und sein Flittchen mit Eiswasser zu übergießen."

    "Ist das ein so großer Gewinn?"

    "Ein ungeheurer", versicherte sie.

    "Du bist verrückt, liebe Cousine."

    "Das weiß ich." Shanni kämpfte um ihre Würde, was wegen der herabgerutschten Decke und der rosa Schweinchen nicht ganz leicht war. "Trotzdem halte ich es für richtig, etwas zu riskieren."

    "Zum Beispiel in der Liebe?"

    "Im Leben", antwortete sie schlicht.

    "Glaubst du etwa, dass ich davor Angst habe?", fragte Pierce unwillig.

    "Wer weiß?" Shanni sah ihn an. Er wirkte immer noch hart und unnahbar. Sie musste sich nun sein Lächeln vorstellen, um nicht den Glauben an ihn zu verlieren. "Ich bin auch nicht ungeschoren geblieben und werde mich hüten, in eine neue Beziehung hineinzuschlittern. Also keine Angst, Pierce … vor mir bist du sicher, nicht aber vor anderen Frauen. Du kannst nicht dein Leben lang allein bleiben. Das wäre furchtbar."

    "Ich habe nicht vor …"

    "Du musst lernen, dich auf andere einzulassen." Shanni lächelte. Sie wusste nicht, ob sie richtig oder falsch, vernünftig oder unvernünftig handelte, aber sie war entschlossen, alles zu riskieren. "Das ist ein wunderbares Gefühl. Schließ einfach die Augen, und lass dich fallen."

    Bevor Pierce etwas sagen oder einen Schritt zurückweichen konnte, umfasste sie sein Gesicht und küsste ihn, fordernd, neckend, anders als am Abend vorher, aber es genügte, Pierce' Lippen auf ihren zu spüren, um die schwelenden Flammen ihrer Sehnsucht hell auflodern zu lassen. Sie spürte das verzehrende Feuer im ganzen Körper.

    Was ging mit ihr vor? Das war längst kein flüchtiger Kuss mehr. Pierce hielt sie, als könnte auch er seinem Verlangen nicht widerstehen, als würde er von etwas überwältigt, das er einfach geschehen lassen musste.

    Wie lange sie so dastanden, konnte Shanni später nicht mehr sagen. Sie war barfuß, merkte aber nicht, wie kalt die Steinfliesen waren. Später, in ihrem Zimmer, würden die kalten Füße sie daran erinnern, was oben auf dem Turm geschehen war.

    Pierce! Ihr Mund öffnete sich unter seinen Lippen, und sie schien mit ihm zu verschmelzen. Pierce …

    Er küsste sie inniger und leidenschaftlicher. Shanni presste sich an ihn, seine Kraft und Männlichkeit überwältigten sie. Bald genügte ihnen die Berührung ihrer Lippen nicht mehr. Pierce begann, ihren Körper zu erkunden. Er streichelte sie und drückte sie fest an sich.

    Seltsam, dachte sie benommen, ich sehe ihn wieder vor mir, wie damals, als er fünfzehn war … hoch aufgeschossen und viel zu dünn, ein Schatten seiner selbst.

    Hatte sie dieses Bild all die Jahre in ihrem Herzen getragen, damit es jetzt wieder lebendig wurde? Das kam ihr verrückt vor, aber das war es nicht. Was hier mit ihnen geschah, war die Erfüllung von dem, was sich über viele Jahre angebahnt hatte.

    Fast war es beängstigend, aber nicht beängstigend genug, um sie von Pierce zu trennen. Sie konnte ihn nicht mehr loslassen, denn sie spürte, dass etwas Wunderbares mit ihr vorging, dass sie sich veränderte, als würde eine äußere Schale zerbrechen, um neues und schöneres Leben entstehen zu lassen.

    Sie hielt ihn und küsste ihn, der immer noch der fünfzehnjährige Junge zu sein schien, der Schutz und Wärme suchte, und zugleich der reife, erwachsene Mann war, der fünf Kinder unter seine Fittiche genommen hatte, obwohl er keine Bindungen eingehen wollte. Der Mann, der einen gereizten Bullen mit einem Besen vertrieben hatte. Der Mann, dessen Lächeln sie so bezauberte, dass sie zu neuem Leben erwachte und nichts anderes mehr begehrte.

    Zu anderer Zeit, an einem anderen Ort hätten sie sich vielleicht von ihrem Verlangen weitertreiben lassen. Der Kuss hatte ihre Welt verändert. Sie wollte nur noch fühlen, küssen und Pierce in ihren Armen halten.

    Doch es war weder eine andere Zeit noch ein anderer Ort. Sie standen hoch oben auf einem Turm, über den Zimmern der Kinder, die ihrer Obhut anvertraut waren. Der wunderbare, glückselige Augenblick musste vorübergehen – was er auch tat.

    Irgendwo unten wurde eine Tür geöffnet, grelles Scheinwerferlicht streifte den Turm, und eine Stimme rief: "Hallo? Was ist da oben los?"

    Shanni und Pierce fuhren auseinander wie ertappte Teenager. Die Wolldecke lag noch auf dem Boden, und Shanni bückte sich, um sie aufzuheben und wieder um ihre Schultern zu legen. Das Sprechen überließ sie Pierce.

    "Pierce?" Das war Susans Stimme. "Sind Sie es?"

    "Ja!", antwortete Pierce gepresst. Wahrscheinlich kämpfte er genauso um Haltung wie Shanni.

    "Ich hätte Ihnen sagen sollen, dass unsere Alarmanlage auch durch Geräusche auf dem Turm ausgelöst wird", fuhr Susan, halb entschuldigend, fort. "Aus Sicherheit für die Kinder."

    "Es tut uns leid, dass wir Sie geweckt haben!", rief Pierce hinunter, und Shanni dachte: Gott sei Dank, er kann wenigstens sprechen. Ich hätte kein Wort herausgebracht.

    "Sie haben mich nicht geweckt", erwiderte Susan. "Ich war in der Küche und habe verzweifelt nach Dillgurken gesucht."

    Dillgurken? Shanni horchte auf. "Sind Sie schwanger?", fragte sie, wobei sie sich vorsichtig über die Brüstung beugte.

    "Oh … Sie sind es, Shanni!" Susan tat, als wäre sie überrascht. "Ja, das bin ich tatsächlich."

    "Susie?", ließ sich von der Eingangstür her eine tiefe Männerstimme vernehmen. "Wo zum Teufel steckst du?"

    "Hier draußen", antwortete Susan. "Um unsere Turmgäste zu warnen." Sie wandte sich ihrem Mann zu und kuschelte sich in seine Arme. Das wirkte so natürlich und selbstverständlich, dass Shanni ganz seltsam zumute wurde.

    "Wer ist denn da oben?" Hamish küsste seine Frau zärtlich aufs Haar und sah dann zum Turm hinauf.

    Shanni und Pierce waren im Licht der Scheinwerfer nur allzu gut zu erkennen. Man könnte uns für Wasserspeier auf einem Kirchturm halten, dachte Shanni, und darüber musste sie trotz ihrer Verlegenheit lachen.

    "Was ist so komisch?", wollte Pierce irritiert wissen.

    "Ich dachte gerade, was für fantastische Wasserspeier wir abgeben", antwortete sie laut genug, um auch unten im Hof verstanden zu werden.

    "Wasserspeier sollen doch angeblich nachtaktiv sein!", rief Susan herauf. "Sie werden lebendig, wenn alle Menschen im Bett sind."

    "Da sollten wir jetzt auch sein", erklärte Hamish energisch, der nur eine Pyjamahose trug. Pierce war als Einziger in der nächtlichen Runde schicklich angezogen.

    "Hier oben ist alles in Ordnung", versicherte er. "Sie brauchen sich nicht mehr um uns zu kümmern."

    "Und die Kinder?"

    "Die schlafen. Wir … haben gerade über sie gesprochen."

    "Genauso sah es aus", spottete Susan.

    "Und warum bist du nicht im Bett?", wandte sich Hamish wieder an seine Frau.

    "Ich habe nach Dillgurken gesucht. Warum sind keine in der Speisekammer?", beklagte sich Susan. "Warum haben wir nicht wenigstens Sardinen in der Dose? Ich kann nirgends welche finden."

    "Erwartest du, dass ich jetzt im Supermarkt anrufe und beides bestelle?"

    "Es wird wohl auch so gehen", seufzte Susan. "Außerdem ist mir gerade eingefallen, dass Anchovispaste da ist. Die tut es auch. Gute Nacht, ihr da oben."

    Susan verschwand mit Hamish im Schloss, und Sekunden später wurden die Scheinwerfer ausgeschaltet.

    "Es tut mir leid, dass ich dich geküsst habe", sagte Pierce nach längerem Schweigen.

 

"Ich fand den Kuss sehr schön", antwortete Shanni mit Mühe. Es fiel ihr immer noch schwer, ihre Stimme zu beherrschen. "Ich wurde noch nie auf den Zinnen eines Turms geküsst, aber eigentlich habe ich doch damit angefangen, oder nicht?"

    "Willst du es noch einmal versuchen?"

    "N…nein", entschied sie nach kurzer Überlegung.

    "Eine weise Entscheidung. Schließlich haben auch Wasserspeier einen Ruf zu verlieren."

    "Ganz recht." Shanni wusste, dass es verhängnisvoll war, noch länger auf dem Turm zu bleiben, aber sie konnte sich einfach nicht losreißen. "Du willst also wirklich nicht heiraten?", fragte sie gegen besseres Wissen. "Und keine eigenen Kinder haben?"

    "Nein. Deshalb habe ich Maureen geheiratet."

    "Aber ein eigenes Kind …"

    "Ich habe fünf", unterbrach Pierce sie.

    "Die Entscheidung, dich nicht an eine Ehefrau zu binden, hast du schon vorher getroffen", beharrte Shanni. "Auch die Entscheidung, keine eigenen Kinder zu haben." Sie zögerte und wechselte das Thema. "Warum besuchst du Ruby nicht öfter?"

    "Das mache ich … mindestens einmal im Monat. Ich schaue kurz herein und sage Hallo. Jedenfalls habe ich das getan, bevor ich fünf Kinder zu versorgen hatte."

    "Also ein kurzer, formeller Besuch."

    "Mehr erwartet sie nicht", erklärte Pierce trotzig.

    "Woher willst du das wissen? Du hast ein hübsches altes Farmhaus gekauft, weil du gehofft hast, Ruby würde dort fünf weitere Kinder großziehen. Dann haben deine Pflegebrüder dir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie wollten unbedingt, dass Ruby sich zur Ruhe setzt. Dagegen konntest du nichts sagen, aber insgeheim revoltierst du. Alles ist anders gekommen, als du gedacht hast."

    "Zum Teufel, Shanni!", fuhr Pierce auf. "Ich hatte das als Interimslösung betrachtet und nicht, dass Ruby dauerhaft fünf …"

    "Enkel?", unterbrach Shanni ihn. "Ruby würde sie nämlich als solche betrachten … und sofort die Rolle der Großmutter übernehmen."

    "Das würde ich ihr niemals zumuten."

    "Und wenn sie sich nichts anderes wünscht?"

    "Dann haben meine Brüder recht. Man muss Ruby vor sich selbst schützen."

    "Oh, Pierce", seufzte Shanni.

    "Deine Füße werden kalt."

    Shanni sah an sich hinunter. "Meinetwegen."

    "Wenn du nicht wieder geküsst werden willst, solltest du jetzt hineingehen."

    Shanni horchte auf. "Dann küsst du mich, wenn ich nicht verschwinde?", fragte sie, und ihre Stimme verriet ihre ganze Sehnsucht, Unsicherheit und auch Verlorenheit.

    "Ich muss noch arbeiten", sagte er, ohne ihr zu antworten.

    "Ich weiß."

    "Wirst du die zwei Wochen bleiben?"

    "Es sind schließlich bezahlte Ferien", versuchte Shanni zu scherzen.

    "Wenn du unbedingt zu Ruby willst, würden wir auch ohne dich zurechtkommen."

    "Danke, aber ich bleibe", versicherte Shanni. Das war sicher nicht sehr klug, aber sie war schon zu sehr in die ganze Sache verstrickt, um sich allem zu entziehen. In Sydney würde sie doch nur darüber nachgrübeln, wie es den Kindern und Pierce ging. Noch vor drei Tagen hatte sie in einem finanziellen und seelischen Chaos gelebt, und jetzt war sie hier und trug Verantwortung für fünf Kinder und einen Mann, die sie alle brauchten.

    Nein. Pierce brauchte sie nicht. Er war ein Prachtkerl, der inzwischen mit beiden Beinen auf der Erde stand.

    Zu dumm nur, dass sie sich bis über beide Ohren in Pierce MacLachlan verliebt hatte.

 

Pierce blieb noch lange im Freien, ehe er sein Schlafzimmer aufsuchte. Regelmäßiges Schlafen hatte er sich ein für alle Mal abgewöhnt, seit Maureen mit den Kindern bei ihm aufgetaucht war. Er hatte gelernt, mit kurzen Ruhepausen auszukommen, so, wie sein Arbeitsprogramm es zuließ.

    Jetzt stand er am Fenster und sah wieder auf das unendliche Meer hinaus. Er suchte nach Antworten, aber es war schwer, welche zu finden. Shanni hatte eine Unruhe in ihm ausgelöst, die neu und mehr als unerwünscht war.

    Ehe. Ein fröhliches Familienleben …

    Er selbst hatte dieses Glück nicht erlebt. Ein fröhliches Familienleben war der immerwährende Traum seiner Mutter gewesen, der sich nie erfüllte. Kaum hatte sie ihn, Pierce, in einem Heim untergebracht, tauchte ein neuer Liebhaber auf, mit dem sie "glückliche Familie" spielen wollte. Dann wurde er wieder nach Hause geholt, bis der Traum nach Wochen oder Monaten abermals zerstob und ein neues Heim gesucht werden musste. So war er immer ein Fremder unter den Menschen gewesen. Erst Ruby sorgte dafür, dass er jederzeit bei ihr unterschlüpfen konnte, wenn seine Mutter ihn wieder mal loswerden wollte.

    Nein, ein fröhliches Familienleben gab es nicht – jedenfalls nicht für ihn.

    Trotzdem waren ihm seine fünf Adoptivkinder längst nicht mehr gleichgültig. Er hatte sie viel zu gern, um sie in die Obhut einer x-beliebigen Haushälterin zu geben. Und dann diese Shanni …

    Er sehnte sich nach ihr und begehrte sie so sehr, dass er es fast als körperlichen Schmerz empfand. Aber sich weiter mit ihr einzulassen und vielleicht wieder zu verlieren, wäre ihm unerträglich gewesen. Das war die Gefahr bei Bindungen: Sobald sie geschlossen waren, drohten sie, in die Brüche zu gehen.

    Und wenn Shanni eine Ausnahme bildete? Vielleicht lohnte es sich, das Wagnis einzugehen, doch sein Misstrauen war zu groß. Er musste sie loswerden, und zwar bald. Sie beunruhigte ihn auf unerträgliche Weise. Andererseits brauchte sie dringend Erholung. Sie saß vor einem Scherbenhaufen und kämpfte um eine neue Zukunft. Blake wollte sie dabei unterstützen, und vielleicht konnte dieser auch ihm helfen.

    Bei dem Gedanken an seinen ältesten Pflegebruder wurde Pierce etwas ruhiger. Er sah auf die Uhr. Es war drei Uhr morgens, in London also sechs Uhr nachmittags. Blake würde noch in der Kanzlei sein, für die er arbeitete, wenn man ihn vom Firmensitz nach England schickte. Er war ein Workaholic, wie alle Pflegesöhne von Ruby. Sie hatte den Ehrgeiz in ihnen geweckt, der notwendig war, um in dieser Welt etwas zu erreichen.

    Blake meldete sich nach dem ersten Klingeln. "Hallo, Pierce!" Es war ihm anzuhören, dass er sich über den Anruf freute. Rubys Pflegesöhne hielten guten Kontakt untereinander, wie Waffenbrüder, die gemeinsam eine Schlacht gewonnen hatten. "Was machen die Kinder?"

    "Es geht ihnen gut", antwortete Pierce ohne große Überzeugung.

    "Seid ihr auf der Farm?"

    "Wir sind in Loganaich Castle."

    "Alle zusammen?"

    "Ja."

    Eine kurze Pause folgte, ehe Blake wieder sprach: "Jetzt wird Ruby alles erfahren."

    "Die Belegschaft hat mir absolute Verschwiegenheit zugesichert", beteuerte Pierce. "Außerdem kommt Ruby nie hierher. Sie war nur zur Eröffnung eingeladen … als ehemalige Vorsitzende des Verbands der Pflegeeltern."

    "Das will ich hoffen", meinte Blake. "Du bist mein Bruder, Pierce, aber ich würde nicht zulassen, dass du deine fünf Kinder Ruby aufhalst."

    "Das würde ich niemals tun."

    Blake hörte an Pierce' Stimme, wie ernst es ihm damit war. "Entschuldige", sagte er, "ich wollte dich nicht kränken. Welchem Umstand verdanke ich diesen überraschenden Anruf?"

    "Shanni."

    "Doch nicht etwa Rubys Nichte? Deiner zeitweiligen Haushälterin?"

    "Derselben. Hast du die unterschriebene Vollmacht erhalten?"

    "Ja."

    "Und wie weit bist du?"

    "Lass mir noch etwas Zeit", bat Blake.

    Pierce wurde ungeduldig. "Wir haben aber keine Zeit. Shanni steht ohne einen Cent da, und solange das so bleibt, werde ich sie nicht los."

    "Brauchst du sie denn nicht für die Kinder?"

    "Nein."

    "Das bezweifle ich", meinte Blake. "Aber wie auch immer … Einige Tage musst du mir noch lassen."

    "Eine Zusage würde vielleicht genügen, um sie loszuwerden."

    Blake lachte. "Ist es so schlimm?"

    "Schlimmer", antwortete Pierce kurz angebunden.

    "He, kleiner Bruder. Du hast dich in Rubys Nichte verliebt!"

    "Ich kann sie nicht ausstehen. Sie steckt ihre Nase in Dinge, die sie nichts angehen."

    "Mit anderen Worten: Sie lockt dich aus der Reserve?"

    "Das auch." Pierce atmete tief ein. "Hör zu, Blake, ich möchte, dass sie von hier verschwindet. Ich brauche eine tüchtige Person mittleren Alters, die für die Kinder sorgt."

    "Und das kann Shanni nicht?"

    "Nein. Sie wird die Kinder von sich abhängig machen und dann mit dem erstbesten Mann verschwinden."

    "Ist sie so unberechenbar?", fragte Blake verwundert.

    "Mehr als das", versicherte Pierce. "Sie kam völlig mittellos nach Australien zurück, nahm die Stellung bei mir an, ohne die Situation zu kennen, und will jetzt mit Wendy einkaufen gehen."

    "Verschweigst du mir auch nichts?"

    "Nein. Sie ist einfach unmöglich, und du musst sie mir vom Hals schaffen."

    "Ich werde mein Bestes versuchen. Allerdings …" Blake verstummte unvermittelt.

    "Allerdings was?"

    "Ich habe gerade den Eindruck, dass du etwas durcheinander bist, kleiner Bruder. Versprich mir, dass du gut auf dich aufpasst."

    "Das tue ich, obwohl ich ganz und gar nicht durcheinander bin."

    Blake lachte. "Natürlich nicht. Ich muss wieder an die Arbeit, Pierce. Bis bald. Wir hören voneinander."

 

"Sie ist einfach unmöglich, und du musst sie mir vom Hals schaffen."

    Geisterhaft drang eine Stimme aus dem Kamin an Shannis Ohr.

    Bei Pierce' Worten krampfte sich ihr der Magen zusammen. Ihr wurde so übel, dass sie fürchtete, sich übergeben zu müssen.

    Du bist nicht unmöglich, widersprach eine innere Stimme. Du hast Pierce' Haus sauber gemacht, für seine Kinder gekocht und Donald vor dem Bullen gerettet. Was soll daran falsch sein?

    Wut half Shanni, die Kränkung zu ertragen. Sie steigerte sich so hinein, dass sie beinahe zu Pierce gestürmt wäre und ihn geohrfeigt hätte. Das wäre dann wirklich unmöglich gewesen.

    Sie musste auf der Stelle verschwinden. Sie war nicht erwünscht und wurde nicht gebraucht. Pierce wollte sie nur los sein. Er hatte sie gegen besseres Wissen geküsst und behauptete jetzt, sie würde ihm das Leben schwer machen.

    Also gut. Sie würde verschwinden. Sie würde ihren Stolz überwinden, ihre Eltern anrufen und um Hilfe bitten. Julie würde sie hoffentlich trotz der beengten Verhältnisse in ihrem Apartment aufnehmen, bis ihre Eltern das notwendige Geld geschickt hatten.

    Pierce hielt sie für unmöglich – das hatte sie nun davon. Und sie war dumm genug gewesen, sich in ihn zu ver…

    Nein, in drei Tagen verliebte man sich nicht. Das konnte sie sich nicht oft genug sagen, aber woher kam dann dieses trostlose Gefühl, das sie so aushöhlte?

    Am liebsten hätte sie sich die Augen aus dem Kopf geweint. Sie hätte gern die ganze Nacht in ihr Kissen geschluchzt, aber das hätte Pierce bestimmt gehört, und dann waren die Folgen abzusehen. Er würde herkommen, um sie zu trösten. Er war schließlich ein Ehrenmann – solange er sie in Hörweite wusste. Wenn er sich unbelauscht glaubte, beklagte er sich bei einem Freund über sie, die "unmögliche Person".

    Es war nicht leicht, lautlos zu weinen, aber um nichts in der Welt hätte Shanni ihren Schmerz gezeigt.

    Gut, sie würde das Feld räumen. Gleich morgen früh. Nein. Sie hatte versprochen, mit Wendy zum Friseur zu gehen und ihr etwas Hübsches zu kaufen. Das Versprechen musste sie halten, aber gleich danach … Stöhnend drehte sie sich auf die Seite und steckte den Kopf unter das Kissen.

    "Shanni?"

    Pierce' Stimme ließ sie hochfahren. "Ja?"

    "Geht es dir gut?"

    "Warum sollte es mir nicht gut gehen?"

    "Ich hörte dich stöhnen."

    "Das muss im Schlaf gewesen sein. Wenn du auf jedes Geräusch achtest …"

    "Seit wann stöhnst du im Schlaf?"

    "Keine Ahnung."

    "Es klingt aber, als wärst du hellwach."

    "Du irrst dich. Ich habe geschlafen."

    "Durch die Kaminabzüge kann man fast jedes Geräusch hören …"

    "Offenbar."

    Es folgte eine Pause, dann fragte Pierce unsicher: "Hast du wirklich geschlafen?"

    "Ja", wiederholte Shanni eisig. "Verlangst du eine eidesstattliche Erklärung?"

    "Als ich vorhin telefonierte …"

    "Ich möchte weiterschlafen, Pierce."

    "Falls du etwas gehört hast …"

    "Gute Nacht."

    Shanni legte sich wieder hin und zog sich das Kissen über den Kopf.

 


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