Maggies Wahrnehmung funktionierte nicht mehr richtig. Vor allem verspürte sie unfassbar starke Schmerzen, aber sie hörte auch Stimmen, die hastig aufeinander einsprachen. Dann merkte sie, wie mehrere Hände sich darum bemühten, ihren Körper vorsichtig zu bewegen, bevor wieder alles in dichtem Nebel versank.
Neue Geräusche weckten sie. Ein lautes Hämmern und wieder diese Stimmen.
Ist das mein Herzschlag? dachte sie wie betäubt. Oder verliere ich das Blut, das mein Kind so dringend braucht? Vielleicht ist es ein Helikopter …
Sie öffnete den Mund, um zu sprechen, brachte jedoch keinen Ton über die Lippen. Ständig hörte sie dabei, wie ihr Name gerufen wurde, wieder und wieder. Plötzlich wurde alles schwarz.
Beim nächsten Mal waren es die Schmerzen, die sie erneut zur Besinnung brachten. Ihre Finger wurden so sehr zusammengequetscht, dass sie zu brechen drohten, und fremde Wärme durchströmte ihre Hand. Sie kannte diese Wärme und auch die leicht raue Haut. Khalid! Er war hier, er hatte sie gefunden. Jetzt würde alles gut werden.
Maggie mühte sich durch den Nebel, der sie in die Tiefe zu ziehen drohte. Sie wollte ihm eine Antwort geben, die er bemerkte und verstehen konnte.
Fremde Stimmen erreichten sie, harte Worte, die sie nicht verstehen konnte. Darüber erklang Khalids dringender Tonfall.
„Tun Sie, was Sie tun müssen! Alles, was nötig ist, aber retten Sie meine Frau. Das ist alles, was zählt!“
Noch einen Moment lang versuchte sie, mit Khalid Kontakt aufzunehmen, dann sank sie von Neuem in die Bewusstlosigkeit.
Als sie endlich wieder zu sich kam, fühlte sie … nichts. Keine Schmerzen, kein Unbehagen, gar nichts. Sie lag auf dem Rücken, und ihre Finger ruhten lose in einer warmen Hand.
Khalid, dachte sie. Ich habe nicht geträumt. Er ist die ganze Zeit über da gewesen.
Wärme durchflutete ihren Körper, die sie nicht ganz einordnen konnte. War es nur Erleichterung? War es Liebe? Hoffnung?
Nach und nach erwachten auch ihre Sinne, die Augenlider flatterten, und ihre Mundwinkel zuckten leicht. Sie wollte seinen Namen sagen, doch es dauerte eine Weile, bis sie ihren staubtrockenen Mund befeuchtet hatte und sprechen konnte.
„Khalid“, flüsterte sie. „Khalid.“
„Maggie! Maggie, Liebste, du bist endlich wach.“ Aber es war nicht Khalids Stimme, die sie hörte, es war Sheilas.
Maggie drehte ihren Kopf nur wenige Millimeter und sah in das Gesicht der Freundin. Khalids Tante schien über Nacht gealtert zu sein. Tiefe Kummerfalten zeichneten sich auf ihren Zügen ab.
„Es ist alles in Ordnung“, versicherte sie Maggie, und Sheilas müder Blick hellte sich auf. „Du bist jetzt in Sicherheit.“
Kalte Angst packte Maggie. „Das Baby?“ Es war nicht mehr als ein hilfloses Krächzen.
„Du hast eine kleine Tochter. Sie ist per Kaiserschnitt zur Welt gekommen und muss noch eine Weile auf der Intensivstation bleiben.“
Maggie hatte das Gefühl, als würde ihr eine tonnenschwere Last abgenommen. „Wie geht es ihr? Bitte, die Wahrheit!“ Es war ihre Schuld, dass dieses Kind zu früh das Licht der Welt erblickt hatte.
„Sie ist recht klein und braucht eine zusätzliche Überwachung. Während der Geburt kam es zu Komplikationen. Aber sie erholt sich gut und wird von Stunde zu Stunde stärker.“
Prüfend betrachtete Maggie das Gesicht der Freundin, um zu sehen, ob diese sie mit ihrem Optimismus nur beruhigen wollte.
„Khalid war die ganze Zeit über bei dir“, berichtete Sheila. „Er ist nicht von deiner Seite gewichen. Im Augenblick sieht er nur kurz nach dem Baby.“
Maggie konnte diesen Plattitüden keinen Glauben schenken. Aber die Sorge um ihr Kind ließ ihr kaum Platz für Enttäuschung über Khalids Abwesenheit. Und sie wusste zu schätzen, dass seine Tante ihn in Schutz zu nehmen versuchte.
Was habe ich denn erwartet? dachte Maggie. Dass er an meinem Bett wacht?
Schließlich wusste sie, wo seine Priorität lag – bei ihrem gemeinsamen Kind. Das war alles, was ihn interessierte …
„Maggie.“ Beruhigend drückte Sheila ihre Hand. „Dein kleines Mädchen und du, ihr seid hier in den besten Händen.“ Sie machte eine kurze Pause, um die richtigen Worte zu finden. „Khalid wird erleichtert sein, wenn er hört, dass du wieder bei Bewusstsein bist. Er hat sich fürchterliche Sorgen um euch beide gemacht. Aber jetzt wird alles gut werden, du wirst sehen.“
Mit Mühe schenkte Maggie ihr ein Lächeln zum Abschied, dann ergab sie sich traurig ihrer bleiernen Müdigkeit. Nichts und niemand konnte ihre Ehe retten …
Khalid stand neben dem Bett seiner Frau und sah hinunter in ihr blasses Gesicht. Die Einschätzung der Ärzte, dass sie sich bald wieder erholen würde, beruhigte ihn keineswegs. Die Angst um sie brachte ihn fast um. Er wollte mit eigenen Augen sehen, dass es ihr besser ging.
Mit einem tiefen Seufzer verschränkte er die Hände hinter dem Rücken. Sein schlechtes Gewissen nagte erbarmungslos an ihm. Schließlich hatte er ihr dies alles angetan. Seinetwegen wäre Maggie beinahe gestorben und sein Kind mit ihr.
Es war seine Schuld. Er hätte für sie da sein müssen, er hätte sie fahren sollen.
Und niemals hätte er dieser unsäglichen Trennung zustimmen dürfen. Stattdessen hätten sie beide daran arbeiten sollen, ihre Differenzen zu überbrücken. Insbesondere die unwürdige Verleugnung seiner Gefühle für Maggie! Weil er geglaubt hatte, niemals wieder so tief empfinden zu können, war er feige gewesen. Zu ängstlich, eine Liebe zuzulassen, die er möglicherweise irgendwann wieder verlor.
Maggies Rettung nach dem Unfall kam buchstäblich in letzter Sekunde. Während der Notoperation war nicht klar, ob sie und das Baby es schaffen würden. Und die ganze Zeit über war Khalid einfach nur nutzlos gewesen. Ihm war nichts weiter übrig geblieben, als geduldig Maggies Hand zu halten und ihr gut zuzureden. Allein die Möglichkeit, sie durch einen grausamen Streich des Schicksals zu verlieren, hatte ihn bis ins Mark erschüttert. Selbst jetzt saß ihm die Angst noch in den Knochen.
Khalid konnte kaum fassen, wie zart und verletzlich Maggie aussah. Seine Hände fingen unkontrolliert an zu zittern, als er bemerkte, dass sie langsam die Augen öffnete.
„Khalid“, hauchte sie kaum hörbar.
„Hier, Liebling, trink das!“, sagte er und schenkte ihr eilig ein Glas Wasser ein. Mit einer Hand stützte er Maggie am Rücken, mit der anderen half er ihr beim Trinken.
„Wie fühlst du dich, Maggie?“, erkundigte er sich fast schüchtern und zwang sich, einen Schritt zurückzutreten.
Sie verzog die Lippen, brachte jedoch kein Lächeln zustande. „Ich bin am Leben.“
„Du hast mir eine Heidenangst eingejagt“, gestand er, bevor er sich zurückhalten konnte.
Ihr Blick glitt an ihm vorbei. „Unsere Tochter. Wie geht es ihr?“
„Immer besser.“ Er war stolz auf die unglaubliche Kraft dieses kleinen Wesens. Mit dieser Kraft hatte die Kleine auch ihm geholfen, die letzten Stunden zu überstehen. „Sie ist wunderschön, wie ihre Mutter.“
Jetzt sah sie ihn direkt an, und er las Erstaunen in ihren Augen. „Wirklich? Kümmert man sich auch gut um sie?“
Khalid nickte ernst. „Fest versprochen. Sie hatte keinen leichten Start ins Leben, aber ihre Werte sind inzwischen gut. Hier!“ Zögernd trat er wieder ans Bett und zückte sein Mobiltelefon. „Du möchtest sie bestimmt sehen.“
Er rief ein paar Fotos auf, die er gerade von dem Baby gemacht hatte. Dann reichte er Maggie das Telefon und zuckte zusammen, als ihm auffiel, wie sorgfältig sie es vermied, ihn zu berühren.
Es tat ihm weh, dass sie sich so sehr von ihm zurückzog. Aber er hatte es nicht anders verdient. Ihm wurde schlecht, wenn er daran dachte, was alles bei dem Unfall hätte passieren können. Ließ sie ihn seinen Fehler wiedergutmachen, oder würde sie ihm nie verzeihen?
Daran konnte und wollte er im Moment nicht denken.
Maggie blickte gerührt auf die Fotos, in ihren Augen glitzerten Tränen. „Sie ist zauberhaft. Und so winzig. Bist du ganz sicher, dass mit ihr alles in Ordnung ist?“
Er nickte. „Die Ärzte sind mit ihren Fortschritten äußerst zufrieden.“ Allerdings waren die ersten Stunden recht kritisch gewesen, aber das sparte Khalid vorerst aus.
„Ich möchte sie sehen“, wisperte Maggie.