Die Entscheidung des Flammenmädchens

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Je mehr Feuergeister erfahren, dass Ari das "Siegel des Salomons" ist, desto gnadenloser wird sie gejagt. Ein neuer, rätselhafter Feind verfolgt sie bis in ihre Träume, und es fällt ihr immer schwerer, die dunkle Macht zu kontrollieren, die in ihr schlummert. Zudem sorgt sie sich um ihren Jugendfreund Charlie, der inzwischen offenbar süchtig nach schwarzer Magie ist. Einziger Lichtblick: Ihr geliebter Jai bekennt sich endlich zu seinen Gefühlen! Ari ist jedoch klar, dass er dadurch noch stärker ins Visier ihrer Gegner gerät. Um ihr Glück zu schützen, lässt sie sich zur Dschinnjägerin ausbilden. Aber sind die Grenzen zwischen Gut und Böse wirklich so klar, wie sie glaubt?


  • Erscheinungstag 15.11.2019
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783745751727
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

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Samantha Young

Die Entscheidung des Flammenmädchens

Roman

Aus dem Amerikanischen von Alexandra Hinrichsen

MIRA® TASCHENBÜCHER

MIRA® Taschenbücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Jürgen Welte

Copyright dieser Ausgabe © 2019 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der englischen Originalausgabe:

Borrowed Ember

Copyright © 2012 Samantha Young

Titelabbildung: sakkmesterke, cla78 / Getty Images

ISBN 9783745751727

www.harpercollins.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

PROLOG

JEDER LOSE FADEN DROHT UNS ZU ZERSTÖREN

Sie waren umgeben von Millionen glitzernder Sandkörner, die sie einhüllten wie eine Wolke aus Erdpartikeln. Gleißendes Sonnenlicht drang durch die Zwischenräume. Staunend betrachtete Ari das Schauspiel und fragte sich halbherzig, ob sie den Wüstensand ebenfalls zu einer derartigen Performance bringen könnte. Sie hatte das Gefühl, sich im Auge eines Tornados zu befinden, den ein mächtiger Zauber zum Stillstand gebracht hatte. Aber so beeindruckend der Anblick dieses eingefrorenen Sandsturms auch war, sein Zweck war für Ari noch viel überwältigender: Die glitzernde Wolke gewährte Mutter und Sohn eine undurchdringliche Privatsphäre. In ihrer Mitte konnten sie offen miteinander reden, ohne Angst davor haben zu müssen, in böser Absicht belauscht zu werden.

Wie ein Raubtier auf der Jagd schlich Ari um Lilif und ihren Sohn, den White King, herum. Sie hatte sich allmählich an ihre Visionen oder Träume oder was immer das war gewöhnt und war eifrig bemüht, Neues von ihnen zu lernen. Der White King war noch größer als seine atemberaubend schöne Mutter, die aussah, als wäre sie keinen Tag älter als er. Statt ihrer gewohnten farbenfrohen Kleidung trug sie diesmal ein schlichtes weißes Kleid, eine Art Toga. Leuchtende Edelsteine an ihren Ohren und Fingern setzten die einzigen bunten Akzente. Ihre dunklen Locken hatte sie zu einer eleganten Frisur geschlungen, an ihrer Stirn funkelte ein Band aus Diamanten. Ari war so fasziniert von Lilifs Anblick, dass sie für einen Moment den White King vergaß, ihren leiblichen Vater, der noch kein Wort gesagt hatte, obwohl Lilif ihn doch so liebevoll anschaute.

Ari hatte niemals einen Dschinn getroffen, der ihr so eiskalt vorkam wie der White King. Nur einmal hatte sie erlebt, wie er die Fassung verlor – und selbst das war der kontrollierteste Wutanfall aller Zeiten gewesen. Keiner hatte ein so unerschütterliches Pokerface wie White. Umso verblüffter war Ari, dass der jüngere White, den sie jetzt vor sich hatte, seine Mutter voller Wärme und Respekt anblickte. Sogar der Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen. In Lilifs Gegenwart wirkte er verletzlich … es machte ihn irgendwie menschlicher.

„Du weißt, dass ich deinen Sinn fürs Dramatische schätze, Mutter, doch ist das jetzt wirklich notwendig?“ Er grinste und zeigte auf den Kokon aus Sand, der sie umgab.

Lilif kniff die Augen zusammen. „Und ob! Oder haben deine Brüder dir noch nichts davon erzählt?“

White runzelte die Stirn. „Red und Glass versuchen wieder einmal, Unfrieden zu stiften. Im Auftrag von Vater, vermute ich. Aber ich kann dir versichern, dass ich ihnen keinen Glauben schenke.“

„Gut.“ Sanft berührte sie ihn am Arm. „Das ist mir eine große Erleichterung, mein Sohn. Ich würde niemals etwas tun, das einem meiner Kinder schaden könnte. Wie kommen sie nur darauf, mir so etwas Hässliches vorzuwerfen?“

„Vater“, stieß White grimmig hervor.

„Deshalb bin ich ja mit dir hier.“ Lilif trat einen Schritt zurück und rang theatralisch die Hände. Eine Geste, die Ari daran zweifeln ließ, dass sie die Wahrheit sagte. „Azazil versucht, euch alle gegen mich aufzuhetzen.“

„Wieso? Was ist geschehen?“

„Wir haben uns oft genug darüber gestritten, wie selbstsüchtig er nach Vergnügungen sucht. Unsere Lebensart und unsere Kultur scheinen ihm völlig gleichgültig zu sein. Bald wird er sich auch noch in die Aufgabenbereiche seiner Söhne einmischen, fürchte ich – und damit die feine Balance und Ordnung der Welt zerstören. Er wird euch dazu bringen, dass ihr euch in die Tage der anderen einmischt und das wahre Schicksal der Bedeutenden zu verändern. Und das nur aus lauter Überdruss und Langeweile. Ist dir bewusst, wozu seine kindische Verantwortungslosigkeit noch führen kann? Mit jedem verirrten Lebensweg dieser Menschen reißt das feine Gewebe aus Zeit, Raum, Natur und Licht, bis am Ende nichts als eine Wüste übrig bleibt. Nur die Stärksten werden das überleben. Die Unsterblichen und Mächtigen. Dann müssen wir wieder ganz von vorn anfangen. Allein in einer kleineren Welt …“

Ari verschlug es den Atem, und ihr Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Stimmte Lilifs Prophezeiung? Waren das wirklich die Konsequenzen, falls Azazil die Kontrolle verlor? Der Red King hatte ihr erzählt, dass eine Katastrophe drohte, wenn sie das Siegel je gegen den Sultan einsetzen würde. Ob er das damit gemeint hatte? Ari schluckte und war auf einmal sehr froh, dass sie auf seinen Rat gehört hatte.

Sie sah wieder zum White King hin und erkannte, dass er offensichtlich genauso schockiert war wie sie. „Alles außer uns würde verschwinden?“, hakte er fassungslos nach.

„Fast alles. Azazil selbst hat mich davor gewarnt, die Fäden unserer Existenz zu verwirren. Dabei wird am Ende er es sein, der das Desaster heraufbeschwört.“

„Wissen die anderen Bescheid?“

„Wir sollten sie auf jeden Fall aufklären, so sie noch nichts davon erfahren haben“, flüsterte Lilif heiser. Ihr Blick war besorgt.

Skeptisch kniff Ari die Augen zusammen. Sie hatte nicht so viel Mitgefühl mit Lilif wie ihr Sohn.

„Mutter, wir dürfen nicht zulassen, dass Vater weiter seine Spielchen spielt“, drängte White jetzt. „Die Balance … die Balance der Dinge ist doch unsere Aufgabe.“

Lilif nickte. „So ist es. Ich habe dich deshalb hergebeten, damit du begreifst, dass wir uns gemeinsam gegen deinen Vater auflehnen müssen. Selbst wenn wir uns den einen oder anderen deiner Brüder dadurch zum Feind machen sollten.“

Der White King straffte entschlossen die Schultern. „Gleaming muss das sofort erfahren. Er steht unserem Vater ebenso misstrauisch gegenüber wie ich und findet auch die unglaublichen Behauptungen, die Red und Glass in letzter Zeit von sich geben, äußerst verdächtig.“

„Was ist mit Shadow?“

„Ja, Shadow sieht das ähnlich. Bei Gilder und Lucky bin ich mir da nicht so sicher. Du weißt ja, dass sie feige sind und am liebsten neutral bleiben.“

„Sei nicht so hart, was die beiden angeht, White. Ich halte es immer noch für möglich, dass wir sie auf unsere Seite ziehen können, wenn wir an ihre Intelligenz und Ehre appellieren.“

„Ich werde mich jetzt zurückziehen, um mit ihnen zu reden. Wir müssen die anderen dazu bringen, sich mit uns zusammen gegen jedes Chaos zu stemmen, das die Balance bedroht.“

„Beeile dich.“ Lilif strich ihm liebevoll über die Wange.

„Selbstverständlich. Schließlich ist es meine Pflicht.“ Er neigte respektvoll den Kopf und verschwand in den Flammen des Peripatos.

Ari konnte beobachten, wie sich Lilifs ganze Haltung, ja, sogar ihr Aussehen sofort veränderte. Aus der weißen Toga wurde ein schimmerndes Kleid, das hauteng an ihrem Körper saß. Lange Schlitze gaben den Blick auf die schönen Beine des Ifrits frei. Wie durch Magie löste sich ihr Haar und fiel ihr lang bis über die Taille. Ein hämisches Lächeln umspielte ihre vollen Lippen. Dann sagte sie: „Du bist genau wie dein Vater, White. Auch wenn dir das nicht klar ist.“

Bevor Ari länger darüber nachdenken konnte, was Lilif mit diesen Worten wohl gemeint hatte, wirbelte der Sand auf wie ein brüllender Sturm, dessen Tosen sich mit Lilifs Schrei mischte. Sandkörner bohrten sich in Aris Haut, und sie hob verzweifelt, allerdings erfolglos die Arme, um sich zu schützen.

Panisch versuchte sie wegzulaufen, konnte kaum noch atmen und … öffnete die Augen. Verwirrt fand sie sich in einem fremden Schlafzimmer wieder. Fahles Mondlicht fiel durchs Fenster auf das schmiedeeiserne Bett, den marokkanischen Paravent und die restlichen Möbel im dazu passenden Stil. Ari holte tief Luft und ließ sich erleichtert in die Kissen sinken.

Mount Qaf.

Doch die Erleichterung verflog schnell, als ihr alles wieder einfiel.

Dalí.

Der Gleaming King.

Charlie. Die Verhandlung.

Ihre Finger krallten sich in die seidene Bettdecke. Ihr Onkel. Der Red King hatte ihr dieses Zimmer in seinem Apartment im Palast überlassen. Und obwohl er ebenfalls hier war und sie beschützte, hatte Ari Angst. Schließlich befand sie sich in Mount Qaf, dem Reich des Sultans Azazil. Nur ein paar lange Korridore trennten sie von ihm. Von ihm und Lilifs gefährlichem, rätselhaftem Zwilling Asmodeus.

Doch immerhin: Jai war im Zimmer nebenan. Sofort fühlte Ari sich besser, und ihre verkrampften Muskeln entspannten sich. Sie legte sich wieder hin, starrte an die Decke und hatte ein schlechtes Gewissen, weil allein der Gedanke an Jai eine solch beruhigende Wirkung auf sie hatte, obwohl Charlie sich morgen vor dem Dschinn-Gericht verantworten musste.

Bei dem Prozess ging es um Leben oder Tod.

Aber Ari wusste bereits, wie er enden würde, denn auf keinen Fall würde sie zulassen, dass ihr bester Freund hingerichtet wurde. Niemals!

Ganz gleich, was geschah.

1. KAPITEL

ICH BIN EIN BERG IM STURM

An Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Es war schon erstaunlich genug, dass es ihr in dieser Nacht überhaupt gelungen war, ein Auge zuzutun. Nun lag sie da und beobachtete, wie der Mond draußen langsam verblasste und der Himmel immer heller wurde. Hinter den Bergen blinzelte die Sonne hervor und ließ auch die glitzernden Smaragde im Gestein erwachen.

Endlich, dachte Ari seufzend und sprang aus dem Bett. Sie lief hinüber ins Bad, duschte und trocknete sich anschließend die Haare. Der Föhn sah verdächtig nach dem aus, den sie in Ohio zurückgelassen hatte. Der Red King schien wirklich alles zu machen, damit sie sich hier zu Hause fühlte. Tja, dazu würde es nie kommen, dennoch war sie ihrem Onkel dankbar für seine Bemühungen. Mit klopfendem Herzen kramte Ari in ihrer kleinen Reisetasche nach einer sauberen Jeans und einem Tanktop.

Red, rief sie dann telepathisch. Sie nahm an, dass ihr Onkel auf Förmlichkeiten keinen besonderen Wert legte. Bist du da?

Zwei Sekunden später züngelten vor der Tür Flammen empor, und der Red King trat aus dem Peripatos. Sein langes, hellrotes Haar trug er zum Zopf geflochten, die Beine steckten in schwarzen Lederhosen, die an den Seiten mit Bändern zusammengehalten wurden. Sein Oberkörper war nackt. Um die muskulösen Arme wanden sich Goldreifen, die Handgelenke schmückten goldene Bänder, und an Reds Ohren funkelten Rubinstecker. Offenbar war er bereits für den Prozess gekleidet.

Red musterte sie forschend. Was erwartete er in ihrem Gesicht zu lesen? Schmerz? Kummer? Besorgnis? „Alles in Ordnung?“

Ari schüttelte den Kopf. „Ich möchte zu Charlie.“

„Ich sagte dir bereits, dass das nicht möglich ist.“

Unerwartet wurde Ari von dunkler, hässlicher Wut gepackt. Sie schluckte und rang um Fassung. Ganz ruhig bleiben! „Ich will mich lediglich davon überzeugen, dass es ihm gut geht.“

Ihr Onkel hatte angefangen, sie zu umkreisen, was Ari noch immer Angst einjagte, obwohl sie ihn ja nun schon eine Weile kannte.

„Zweifelst du etwa an meinem Wort? Ich habe dir versichert, dass Charlie nicht schlecht behandelt wird. Glaubst du mir nicht?“ Sein Ton hatte eine gewisse Schärfe, und es war klar, dass Red es nicht sonderlich schätzte, wenn man sein Verhalten infrage stellte. Das konnte Ari ihm allerdings nachempfinden. Die dunkle Wut von eben meldete sich zurück, Ari wirbelte herum und starrte ihren Onkel mit flammendem Blick an. Hatte er etwa schon vergessen, dass sie ihn jederzeit mit einem einzigen Befehl in die Knie zwingen konnte? Wie konnte er es wagen, ihr Vorwürfe zu machen? Ihr zu verbieten, Charlie zu sehen?

Wie konnte er es wagen …

„Ari!“ Red fasste sie am Oberarm und stoppte damit ihren Zornesausbruch, bevor Schlimmeres passierte. Sobald sie wieder richtig zu sich kam, durchrieselte sie ein Schauder, und sie musste tief durchatmen.

Oh Gott!

Sie hatte sich völlig vom Siegel beherrschen lassen, obwohl sie doch allen versprochen hatte, dass so etwas nie geschehen würde. Und sie war so sicher gewesen, dieses Versprechen auch halten zu können.

„Es wird stärker.“ Red runzelte die Stirn und trat einen Schritt zurück. „Das Siegel. Es versucht dich dazu zu bringen, seine Macht einzusetzen.“

Ari nickte bedrückt. Das hatte ihr jetzt gerade noch gefehlt. „Ich passe besser auf“, flüsterte sie.

„Das kann ich dir nur dringend raten. Du musst diese Dunkelheit in dir kontrollieren, Ari. Denn genau das ist das Siegel – Dunkelheit. Vergiss das nie.“

Ari erinnerte sich an ihren Traum – an das, was Lilif über die fragile Balance im Universum gesagt hatte. Die konnte das Siegel nur allzu leicht zerstören – mit katastrophalen Folgen. Auf keinen Fall durfte sie es so weit kommen lassen. „Ich kriege das in den Griff, versprochen“, versicherte sie, und wieder blitzten ihre eigenartigen Augen auf, diesmal jedoch aus einem anderen, besseren Grund.

Red schaute sie aufmerksam an. „Okay. Also, die Verhandlung beginnt in einer Stunde. Ich hole dich vorher ab. Weck Jai und bleib bei ihm, bis ich zurückkehre.“

Nachdem der Red King fort war, ließ Ari sich auf die Matratze sinken. Das Siegel hatte ohne jede Vorankündigung die Kontrolle übernommen. Dabei hatte sie sich nicht einmal in Gefahr befunden, sie war nur sauer gewesen, weil Red nicht nachgab. Was zum Teufel war bloß mit ihr los? Stöhnend schlug Ari die Hände vors Gesicht. Das war ungefähr das Letzte, was sie in dieser Situation gebrauchen konnte. Ganz egal wie, sie musste stärker sein als das Siegel. Nach einer Weile stand sie auf und straffte entschlossen die Schultern. Irgendwie würde sie das schon schaffen.

Telepathisch teilte sie Jai mit, dass sie gleich zu ihm rüberkommen würde.

Okay, hörte sie Jais Stimme in ihrem Kopf, während sie ihre Suite verließ. Das eine Wort, der Klang seiner Stimme reichte aus, und ihr Puls schlug schneller. Gleich würde sie ihn sehen! Sein Zimmer lag auf der anderen Seite des Flurs, ihrem genau gegenüber, und war genauso eingerichtet. Nur hatte Jai zu ihrer Überraschung sein Bett noch nicht gemacht. Das Blut schoss ihr in die Wangen, als sie sich vorstellte, wie er nackt darin gelegen hatte. Oh nein, hoffentlich merkte er ihr nichts an! Vorsichtig schaute sie zu ihm hinüber. Er lehnte an der Tür und bedachte sie mit einem dieser Blicke, die ihre Knie verlässlich weich werden ließen. Wie üblich trug er ein schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans und kurze Bikerboots. Der Mann war einfach heiß, und er musste sich dafür nicht einmal groß anstrengen. Am liebsten hätte Ari sich sofort auf ihn gestürzt. Doch dann fiel ihr wieder ein, weshalb sie überhaupt hier in Mount Qaf waren, und erneut plagten sie Schuldgefühle.

Guten Morgen. Jai lächelte, und seine grünen Augen leuchteten. Ari brachte keinen Ton heraus. Aus Jais Lächeln wurde ein breites Grinsen, und sie schnitt ihm eine Grimasse. Das quittierte er mit einem Lachen, was bei ihm sehr selten vorkam.

Morgen. Sie hatten beschlossen, dass es in Mount Qaf klüger wäre, sich telepathisch zu unterhalten, wann immer das möglich war. Jai trat einen Schritt auf sie zu, und Ari hielt erwartungsvoll den Atem an. Er zog sie an sich, und sie roch den Duft seines würzigen Aftershaves. Zärtlich legte er seine Hände auf ihre Hüften, und dann schaute er sie an, wie sie noch niemals zuvor von jemandem angesehen worden war. So, als wäre sie eine seltene Kostbarkeit, die einzigartig auf der Welt war.

Nein, so, als wäre sie die Welt für ihn.

Langsam ließ er seine Hände höher gleiten, und schlang die Arme um Aris Taille. Ein Prickeln lief über ihren Rücken, und sie fing unwillkürlich an zu zittern. Jais Augen glitzerten, und seine Lippen öffneten sich leicht. Während er den Kopf neigte, schoss Ari die vage Erinnerung durch den Sinn, dass sie ja aus einem bestimmten Grund hier waren, bei dem Küsse sich eigentlich von selbst verboten. Was war es doch gleich? Aber endlich berührten Jais Lippen ihren Mund, und Aris Verstand setzte kurz aus, wegen Reizüberflutung: Jais Mund, sein Begehren, das Bett, die zerwühlten Laken, der Prozess, Gefahr, Charlie …

Oh verdammt, Charlie!

Ari erstarrte. Jai hob den Kopf und schaute sie stirnrunzelnd an. Was denn?

Oh Mann, das würde jetzt bestimmt nicht gut ankommen, allerdings wollte Jai doch sicher, dass sie ehrlich zu ihm war. Es … es erscheint mir falsch, wenn wir … wenn wir hier rummachen, während Charlie in diesen Schwierigkeiten steckt. Außerdem hat der Red King gemeint, dass wir unsere Beziehung besser eine Weile geheim halten sollten. Erst wollte ich das nicht, aber je länger ich darüber nachdenke … Vielleicht hat er recht. Man könnte versuchen, unsere Gefühle gegen uns auszuspielen.

Jai trat einen Schritt zurück und ließ sie los, und Ari bereute sofort, dass sie etwas gesagt hatte. Sie wollte ihn küssen, seine Hände auf ihrem Körper spüren … ihm das T-Shirt über den Kopf ziehen, seine nackte Haut unter ihren Fingern fühlen. Vor allem jedoch wollte sie, dass ihr potenzieller Freund – schon beim bloßen Gedanken daran hätte sie am liebsten völlig idiotisch von einem Ohr bis zum anderen gegrinst – damit aufhörte, derart wütend dreinzuschauen. Wir sollen also so tun, als wären wir nicht zusammen?

Nur in der Öffentlichkeit.

Er kniff die Augen zusammen, und seine dichten Wimpern verdeckten fast die grüne Iris. Wir sind gerade nicht in der Öffentlichkeit.

Aber Charlie …

Ein dunkler Schatten flog über Jais Miene, dann schob er sich an ihr vorbei. Sein Zorn war deutlich spürbar. Ari zuckte zusammen. Okay, natürlich war auch ihr klar, wonach das klang, sie war ja nicht blöd. Hier geht es nicht um mich und Charlie, falls du das denkst.

Jais Gesichtszüge verfinsterten sich noch mehr, und er ging, ohne Ari auch nur eines Blickes zu würdigen, nach draußen auf den Balkon. Er stützte die Hände aufs Geländer und starrte abwesend auf die Berge. Sein brütendes Schweigen schien den gesamten Raum zu erfüllen, und Ari blieb die Luft weg. Na super! Ihr erster Tag, an dem sie … was auch immer sie füreinander waren … und schon hatte sie ihn verletzt!

Ich bin nicht in ihn verliebt oder habe das Gefühl, ihn zu betrügen, versuchte sie zu erklären. Aber er könnte heute zum Tode verurteilt werden, weil er jemandem das Leben gerettet hat. Ich kann mir einfach nicht erlauben, glücklich zu sein, bis ich weiß, dass er frei ist. Und mit dir zusammen zu sein … macht mich glücklich. Trotz allem, was grade sonst noch passiert.

Jai seufzte, drehte sich langsam um und schaute sie an. Versprochen?

Die Frage versetzte ihr einen Stich. Diese Seite an Jai war ihr neu. Er war sich bei ihr und Charlie tatsächlich unsicher und konnte das nicht länger verbergen. Vorsichtig schritt sie zu ihm und lächelte. Ich habe dir gesagt, dass ich nicht mehr so für Charlie empfinde. Und ich habe ihm erklärt, was ich für dich fühle.

Jais Augen leuchteten auf, er straffte seine Schultern und erwiderte ihren Blick. Doch der Hoffnungsfunke erstarb so schnell, wie er aufgelodert war. Du hast Fallon erzählt, du würdest sterben, um ihn zu retten.

Jetzt fing Ari langsam an zu verstehen, was ihm so zu schaffen machte. Sie war fast gestorben, um Jai vor Haqeeqah zu retten, der puren Essenz der Smaragde aus Mount Qaf, einer tödlichen Waffe. Erst da hatte er begriffen, was er ihr wirklich bedeutete. Glaubte er etwa, dass sie dasselbe für Charlie empfand, nur weil sie bereit war, auch für ihn zu sterben?

Sie schüttelte den Kopf und streichelte Jai sanft über die Wange, doch statt das Gesicht in ihre Hand zu schmiegen, erstarrte er. Jai, flehte sie, kennst du mich denn so wenig? Ich würde für jeden meiner Freunde sterben, wenn ich dadurch sein Leben retten könnte. So bin ich nun mal. Ich liebe Charlie, er gehört zu meiner Familie, und ich kann es mir nicht leisten, noch mehr Familie zu verlieren. Sie lehnte sich an ihn und strich mit der Fingerspitze über seine Lippe. Aber ich würde tausend Tode sterben, um dich zu retten, Jai … Allein der Gedanke an ein Leben ohne dich ist – unvorstellbar! Ihre Blicke trafen sich, und Ari wurde rot. Endlich legte Jai eine Hand auf ihren Rücken und presste sie an sich. Jai, du hast ja keine Ahnung, wie verliebt ich in dich bin. Ich denke nicht, dass irgendjemand jemals verliebter war als ich.

Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Aber plötzlich klopfte es laut an die Tür – der Moment war vorbei, und Jai blieb keine Zeit mehr, etwas zu erwidern. Ari unterdrückte einen Fluch. Immer wurden sie unterbrochen! Bevor Jai ihn hereinbitten konnte, stieß der White King die Tür auf und stürmte ins Zimmer. Sein smaragdfarbener Umhang wirbelte herum, und die Ecke des Saums hätte Vadit, Whites monströsen Nisna, fast in sein einziges Auge getroffen. Das Ungeheuer trottete unter Einsatz seines einen Arms und einen Beins schwankend hinter seinem Meister her. Ari zuckte zusammen, da sie daran erinnert wurde, wie diese Bestie sie bei ihrem ersten Aufenthalt hier attackiert hatte.

Ihre Stimme erstarb. Mit einem lautlosen Schrei beobachtete sie, wie das Monstrum mit weit geöffnetem Maul abhob und auf sie zusprang. Ari hielt schützend die Arme vor sich und wartete darauf, dass ihr Unterbewusstsein sie endlich aus diesem Albtraum weckte. Stattdessen riss die Kreatur sie zu Boden. Ari prallte auf, ihr Kopf knallte auf das harte Glas, und Tränen traten ihr in die Augen. Dann verbissen sich die Zähne in ihren Unterarm und zerrissen ihr Fleisch.

Die Qualen waren unerträglich. Ari schrie auf, eine Welle der Übelkeit überschwemmte sie, und ihr wurde schwarz vor Augen …

Es war doch wirklich nicht zu fassen, dass White die Anweisungen seines Vaters ignorierte und hier bei ihnen auftauchte. Jetzt blieb er vor Jai stehen. „Ist das der Ginnaye?“, fragte er tonlos. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung.

Jai musterte ihn aufmerksam; er war dem White King noch nie begegnet und wusste daher nicht, mit wem er es zu tun hatte. Am liebsten hätte Ari ihren Freund zur Seite gezogen und sich schützend vor ihn gestellt. Stattdessen seufzte sie entnervt, als hätte sie ein lästiges Insekt vor sich und keinen unsterblichen, mächtigen Dschinnkönig. Sie hatte inzwischen so einiges von ihrem Vater gelernt. „Jai, das ist der White King.“

Jai, ganz Ginnaye, reagierte so schnell, dass Ari ihn gerade noch zurückzerren konnte. Vadit ließ ein drohendes Knurren hören.

„Aus, Vadit“, befahl der White King und hob beschwichtigend die Hand. „Ich bin nur hier, um mich ein wenig mit dir zu unterhalten“, versicherte er dann.

Jai reagierte nicht besonders entgegenkommend auf Aris Bemühungen, ihn hinter sich zu schieben. Schließlich gab sie auf und stellte sich neben ihn. Sein Zorn war deutlich zu spüren, was sie noch nervöser machte. Sie wollte nicht, dass er auch nur in die Nähe des White King kam. Seltsamerweise empfand sie vor ihrem Vater dennoch keine Angst. Vielleicht lag es daran, dass sie ihn mit Lilif gesehen hatte, für die er tatsächlich so etwas wie Liebe zeigte. Oder hatte sie einfach keine Lust mehr, vor ihm davonzulaufen? Ari beäugte ihn misstrauisch, verschränkte die Arme vor der Brust und trat einen Schritt auf ihn zu. „Und worüber möchtest du mit mir reden?“

Es flackerte kurz in seinen Augen auf; offenbar überdachte er angesichts dieser veränderten Ari die Strategie, die er sich für das Gespräch mit ihr zurechtgelegt hatte. „Ich will dir helfen, Charlie zu retten.“

„Und das sollen wir glauben?“, stieß Jai hervor.

Der White King ließ den Blick – eiskalt und drohend – zu Jai wandern. „Leg deinen Schutzhund an die Kette, Tochter. Seine Weigerung, sich mir unterzuordnen, könnte ihn in ernste Schwierigkeiten bringen.“

Natürlich wusste Ari, dass Jai sich nicht einschüchtern lassen würde und jetzt erst recht bereit zum Angriff war. Sie schaute ihn kurz warnend an.

Ich bin kein Idiot, Ari, sondern ein ausgebildeter Ginnaye. Glaubst du, ich attackiere einfach einen unsterblichen Dschinnkönig?

Tatsächlich war sie sich da nicht so sicher. Wenn es um sie ging, konnte Jai sehr impulsiv reagieren. „Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir deinen Vorschlag halbwegs zivilisiert unterbreiten könntest“, meinte Ari zu White.

Zu ihrer Überraschung nickte der nur. „Falls du dich bereit erklärst, auf unbestimmte Zeit zu mir hier nach Mount Qaf zu ziehen, werde ich für Charlie im Prozess aussagen. Mit vereinten Kräften können Red und ich ihn retten.“

Ari spürte wieder die Dunkelheit in sich, die das Haupt reckte wie eine wütende Kobra, bereit, sich auf ihr nächstes Opfer zu stürzen. Verzweifelt kniff sie die Augen zusammen. White wagte es, Charlies Notlage gegen sie zu verwenden? Nein, bloß nicht daran denken! Sie unterdrückte ihren Zorn, aber ihre Hände zitterten so sehr, dass sie die Fäuste ballte. Wenn sie jetzt einwilligte, war Charlie praktisch schon frei. Dafür lieferte sie sich an White aus, der sie benutzen wollte, damit er Azazil kontrollieren konnte. Lag das Gespräch mit seiner Mutter wirklich schon so lange zurück, dass er vergessen hatte, welche Konsequenzen das für die Welt haben würde? Oder legte er es inzwischen genau darauf an?

Im Stillen betete sie, dass Charlie nie erfahren würde, dass sie dieses Angebot abgelehnt hatte. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich kann dir nicht vertrauen. Deine diversen Intrigen, deine gespielte Geduld … dahinter verbirgst du nur deine wahren Motive. Du wärst unser Untergang.“

White schien erstaunt. Auf seine seltsame Art neigte er den Kopf zur Seite. „Die Sturheit, mit der du mich ignorierst, wird einen deiner Freunde das Leben kosten, Ari. Du überraschst mich.“ Unter halb gesenkten Lidern hervor musterte er Jai. „Oder habe ich mir den falschen Freund ausgesucht?“ Jai funkelte ihn böse an. „Willst du etwa, dass ich ihm wehtue?“

„Es mag dumm klingen, doch ich will einfach nur meine Ruhe.“

White schüttelte den Kopf. „Ich habe dich gemacht, Ari. Und zwar zu einem ganz bestimmten Zweck. Ich verschwinde jetzt nicht einfach.“

„Warum?“ Unbewusst schritt sie nach vorn, und Vadit knurrte. Sofort fasste Jai sie mit festem Griff am Handgelenk und zog sie zurück. „Glaubst du wirklich, dass du die Ordnung wiederherstellen kannst, indem du deinen Vater kon-trollierst? Dass du auf diese Weise wieder alles ins Gleichgewicht bringst? Red hat mir verraten, dass du genau damit alle Welten zerstören wirst.“ Okay, Red hatte nichts dergleichen gesagt, aber Lilif.

Der White King erstarrte, er hatte nicht damit gerechnet, dass sie dieses Wissen besaß. Schließlich seufzte er, als würde das nun auch nichts mehr ändern. „Ich will nicht, dass du meinem Vater ständig Befehle erteilst. Ich will nur eine einzige Sache von ihm. Etwas, das er mir nur unter Zwang geben wird. Nur diese eine Sache.“

Ari schüttelte ungläubig den Kopf. „Du hast mir doch selbst erzählt, dass du dich zum Sultan krönen willst.“

„Habe ich das? Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern. Ich will die Ordnung wiederherstellen, das habe ich gesagt. Alle glauben, es ginge mir darum, Azazil vom Thron zu stoßen. Sollen sie doch! Mein Vater weiß es besser. Und er ist sich auch absolut darüber im Klaren, was ich von ihm möchte. Deshalb spielt er meine Brüder gegeneinander aus – um mich aufzuhalten. Ihm ist natürlich klar, dass du es mir beschaffen kannst, und er wird alles tun, um das zu verhindern, Ari. Überleg dir also genau, ob es klug ist, ihm zu vertrauen.“

Ari hatte keine Lust, sich manipulieren zu lassen. Erneut schüttelte sie den Kopf. „Was ist es denn? Was willst du?“

„Etwas, das die alte Welt der Dschinn zurückbringt und das Chaos davon abhält, das Ende aller Welten über uns hereinbrechen zu lassen. Ich will genau die Katastrophe verhindern, von der du eben gesprochen hast.“

Wie gebannt starrte Ari ihren Vater an, dann räusperte sich Jai, und sie kam wieder zu sich. „Tut mir leid“, erklärte sie. „Ich kann dir nicht helfen. Weil ich dir nicht vertraue. Außerdem will ich mit dieser Kraft in mir nichts zu schaffen haben. Tatsächlich gedenke ich sie für den Rest meines Lebens zu ignorieren, falls das irgend möglich sein sollte.“

White erstarrte. „Wie dumm und naiv du doch bist. Bald werden auch andere herausfinden, wer du wirklich bist. Dann wirst du den Rest deines Lebens auf der Flucht sein oder um dein Leben kämpfen. Davor kann ich dich bewahren. Falls du dich bereit erklärst, mir zu helfen.“

„Red ist genau so mächtig wie du, und er beschützt mich, ohne Bedingungen zu stellen. Dafür brauche ich dich nicht.“

„Mein Bruder ist eine Marionette des Sultans, Ari. Er wird dich beschützen, solange Azazil es wünscht. Aber diese bittere Wahrheit wirst du noch früh genug begreifen.“ Er trat einen Schritt auf sie zu. Ari unterdrückte den Drang zurückzuweichen. Ihr leiblicher Vater war so riesengroß, dass er ihr mit einer Hand die Kehle hätte zudrücken können. „Ich verlange nicht viel von meiner Tochter. Ich will nur eine einzige Sache, danach bist du frei. Ich würde sogar deine Mutter befreien.“

Wie billig! Ari grinste hämisch, und die Verachtung, die sie in diesem Moment für den White King empfand, weckte erneut die Dunkelheit in ihr. Sie drängte sie zurück und machte damit ihrer echten, eigenen Wut Platz. „Ich hätte vielleicht etwas mehr Vertrauen zu dir, wenn deine Angebote nicht in fast hundert Prozent aller Fälle ausschließlich eigennützig wären. Lass meine Mutter einfach frei, verdammt, ohne etwas dafür zu verlangen. Danach können wir dann vielleicht noch mal miteinander reden.“

Der White King schüttelte den Kopf, und sein Gesicht nahm wieder diesen undurchdringlichen Ausdruck an. „Ich bin Geschäftsmann, und das wäre ein schlechtes Geschäft.“

Ari zuckte mit den Schultern, und tat wieder mal mutiger, als sie tatsächlich war. „Dann ist die Unterhaltung hiermit beendet.“

„Der Meinung kann ich nur beipflichten“, stieß Red hervor, der nun durch die Tür kam. Sein ungeheurer Zorn ließ ihn wie ein Raubtier wirken. „Azazil hat dir befohlen, Abstand zu ihr zu halten, White.“

Ohne seinen Bruder eines Blickes zu würdigen, marschierte White mit Vadit zur Tür. Während er an Red vorbeiging, erklärte er in gelangweiltem Ton: „Als würde ich auf unseren Vater hören.“

Sobald er fort war, holte Ari erst einmal tief Luft. Ihr Onkel eilte mit großen Schritten auf sie zu. Er schien vor Wut förmlich zu vibrieren. „Ist alles in Ordnung?“

Jai legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Sie hat sich hervorragend geschlagen!“

Dankbar schaute Ari ihn an und schmolz fast dahin, weil er so stolz auf sie war.

Oh, wow!

Der Red King räusperte sich, um die beiden, die einander nun völlig weltvergessen anhimmelten, wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Danach grinste er Ari wissend an, wurde allerdings gleich wieder ernst und nickte. „Erzähl mir später, was White wollte. Jetzt … beginnt Charlies Prozess.“

2. KAPITEL

KÖNIGE UND GERICHTE KENNEN KEIN GESETZ

Es dauerte eine Weile, bis Charlie sich an den intensiven Geruch der feuchten Erde gewöhnt hatte. Der Boden bestand nämlich nur aus festgetretener Erde. Aus den Mauern hatte man zumindest hier alle Smaragde entfernt, andernfalls wäre er vielleicht vor Verlangen danach wahnsinnig geworden. Charlie lehnte den Kopf gegen die schmutzigen Steine und betrachtete die Stäbe, die seine Zelle im Kerker von Azazils Palast umschlossen. Sie waren hier die einzige Lichtquelle, denn sie leuchteten magisch. Wer sie berührte, verbrannte sofort. Zumindest behauptete das der riesige Shaitan, der ihn hergebracht hatte.

Und gestern Nacht hatte Charlie einen markerschütternden Schrei gehört und danach den Gestank verbrannten Fleisches gerochen. Seitdem war er wirklich froh, dass er auf seinen Kerkermeister gehört und die Stangen in Ruhe gelassen hatte. Jetzt saß er so weit entfernt von den Zauberstäben, wie es in der winzigen Zelle nur irgend ging. Seit dem Todesschrei herrschte plötzlich Ruhe im Verlies; das Geplapper der zahlreichen anderen Gefangenen war erstorben. Zu seiner eigenen Überraschung war Charlie dann tatsächlich ein paarmal eingenickt, obwohl das in so einer Situation ja fast unmöglich war.

Der Red King hatte ihm am Abend zuvor einen Besuch abgestattet. Dass Red es war, der ihn zum Magier gemacht hatte, war noch immer ihr Geheimnis, was zwar kein besonders enges, aber doch irgendwie spezielles Band zwischen ihnen schuf. Charlie wusste dennoch nicht, was Red genau damit bezweckt hatte, ob er vielleicht lediglich die Befehle des Sultans befolgte. Dennoch war er bereit, ihn bis zum Beweis des Gegenteils für einen guten Kerl zu halten. Wann immer der Dschinnkönig Ari ansah, hätte Charlie schwören mögen, dass in seinem Blick echtes Gefühl mitschwang. Und außerdem musste er einfach glauben, dass wenigstens einer dieser Furcht einflößenden Riesentypen auf seiner Seite war.

Und daran, dass der Red King ihn heute nicht sterben lassen würde.

Das zumindest hatte er Charlie am Abend zuvor versprochen, ja, sogar geschworen. Red wollte alles tun, was in seiner Macht stand. Als er an dieses Gespräch dachte, drehte sich Charlie vor Angst der Magen um. Wie war er nur in diesem Schlamassel gelandet? Gut, sein Leben war auch sonst ein schlechter Witz, aber das hier war noch mal eine ganz andere Nummer: Er kauerte in einem Verlies in einer anderen Dimension und wartete auf die Entscheidung, ob man ihn für den Mord an einem psychotischen Killermagier hinrichten würde. Vielleicht hab ich im letzten Jahr doch ein bisschen viel Dope geraucht.

Ein plötzliches Knistern und Knacken brach die Stille, dann hörte Charlie Gemurmel und die Schritte der Wachen. Holte man bereits den ersten Gefangenen für seinen Prozess ab?

Es war unvorstellbar, dass er erst gestern neben Fallon gesessen haben sollte, die ihn wegen Jai und Ari tröstete. Die Roes hatten sich fantastisch verhalten und ihm geholfen, seine Schuldgefühle zu überwinden, weil er jemanden getötet hatte.

Er hatte einen Mann getötet.

Und was noch schlimmer war: Seine beste Freundin war nach ihrer Entführung durch ebendiesen Mann noch immer zu schwach, um ihm jetzt beizustehen. Und um dem ganzen Mist die Krone aufzusetzen, hatte Jai danach auch noch an Aris Bett gehockt, um ihr zu sagen, dass er mit ihr zusammen sein wollte.

Charlie hatte Ari verloren.

Sein einziger Trost war Fallon. Wenn er ihr zuhörte, wie sie über alles und nichts redete, vergaß er die ganzen Katastrophen. Wenigstens für eine Weile. Sie hatte ihm von ihrem ersten Auftrag als Jägerin erzählt, ihm dabei die Haare hinters Ohr gestrichen, das Tattoo an seinem Handgelenk gestreichelt, ihre kleine Hand in seine große geschoben. Er hatte sich ihr nahe gefühlt und dabei den Schmerz darüber verdrängt, dass er jemand so einzigartigen wie Ari verloren hatte. Woran einzig und allein er selbst schuld war.

Mitten in sein Unglück war dann der Red King geplatzt, um ihn vor den Dschinn zu warnen, die auf dem Weg waren, um ihn nach Mount Qaf zu bringen. Die Warnung kam zu spät. Die beiden Shaitane erschienen, kaum dass sie ausgesprochen war.

Charlie konnte sich nicht daran erinnern, wie er nach Mount Qaf gekommen war. Er versuchte es immer wieder, aber diese Zeitspanne in seinem Leben fehlte ihm einfach. Eben noch hatte er schockiert dem Red King zugehört, im nächsten zerrte man ihn bereits durch einen düsteren, nur von mittelalterlichen Wandfackeln erleuchteten Tunnel. Er war an einer Zelle nach der anderen vorbeimarschiert, bis man ihn in die steckte, die für ihn vorgesehen war.

So schrecklich seine gegenwärtige Situation auch war, die Schuld daran konnte er ebenfalls keinem anderen als sich selbst zuschreiben. Genau so etwas hatte Ari nämlich befürchtet, seit er ihr eröffnete, dass er sich in einen Magier hatte verwandeln lassen, um seinen Bruder Mike an dieser Labartu zu rächen, dem Dämon, der ihn auf dem Gewissen hatte. Man hatte ihn vorher gewarnt, dass ihm für den Mord an einem reinblütigen Dschinn in Mount Qaf die Todesstrafe drohte, und er hatte sich damit abgefunden, dass ihn, wenn er seine Mission erfüllte, dieses Schicksal erwartete. Aber nun stand er vor Gericht, weil er ein Halbblut getötet hatte, das Ari fast umgebracht hätte. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet, und es machte ihn wütend.

Ari ging es da sicher genauso. Der Red King hatte berichtet, dass sie mit Jai hier war. Sie hatte ihn auch in seiner Zelle besuchen wollen, aber das war ihr nicht gestattet worden. Charlie schlug mit der Faust neben sich auf den Boden. Hoffentlich ging es ihr inzwischen besser und ihr Aufenthalt in Mount Qaf brachte sie nicht in neue Gefahr. Auf keinen Fall durfte sie etwas Dummes tun, um ihn zu befreien. Mit anderen Worten: Sie durfte sich nicht so benehmen, wie er es getan hatte.

Aber Charlie war eben auch ein Egoist, und deshalb war ein Teil von ihm froh, dass Ari seinetwegen hergekommen war. Denn das hieß doch wohl, dass er ihr immer noch viel bedeutete, trotz Superdschinn Jai. Heimlich, still und leise hoffte er sogar manchmal, dass die Angst um ihn sie vielleicht daran erinnern würde, was sie früher miteinander verbunden hatte. Daran, dass sie eine Familie waren …

„Und, wer gewinnt?“ Charlie grinste, als er mit einem Glas eiskalter Coke für Ari wieder ins Wohnzimmer kam. Es war ein heißer Sommertag, die Klimaanlage war ausgefallen und ihnen blieben nur ein paar miese Ventilatoren, die lediglich die warme Luft herumwirbelten.

Mike, der mit dem Joystick in der Hand neben Ari auf dem Flur saß, runzelte die Stirn. „Wo ist mein Glas?“

Charlie zuckte mit den Schultern. „Ich hab nur zwei Hände.“

Seufzend wollte Ari Mike ihre Cola geben. Der Junge grinste nur und schüttelte den Kopf. „Danke, Ari, ich hol mir schon selbst eine.“ Dann schaute er seinen Bruder böse an. „Glaub bloß nicht, ich weiß nicht, warum du das gemacht hast. Du willst an den Joystick!“

Das stimmte tatsächlich. Mike hatte den nämlich schon die ganze Zeit mit Beschlag belegt. Genau wie Ari. Die zog jetzt die Nase kraus.

„Okay, ich geb Charlie meinen Joystick, dann könnt ihr beide mal spielen, obwohl wir alle wissen, wie das ausgeht, und ich bin heute nicht in Stimmung, anschließend die Blutlachen wegzuputzen.“

Mike brummelte etwas und sprang auf. Sobald er aus dem Zimmer war, rutschte Charlie näher an Ari heran und lehnte sein nacktes Knie an Aris ebenfalls nacktes Bein und nahm sich den Joystick. Möglichst unauffällig musterte er ihre Shorts und das Tanktop. Danke, lieber Gott, für die Hitzewelle! Das war der Traum jedes männlichen Teenagers.

Plötzlich kicherte Ari, und ihre sonderbaren Augen blitzten auf. „Fertig?“

Charlie lachte etwas peinlich berührt, stieß sie mit dem Ellbogen an und starrte auf den Bildschirm. Dann startete er das nächste Spiel. „Kann ich was dafür, dass du Shorts anhast?“

„Du trägst doch auch Shorts, Charlie“, stellte sie fest.

Er schaute an sich herunter. „Ist nicht dasselbe.“

„Für mich ja vielleicht schon. Vielleicht lenkt mich das auch ab, obwohl ich dich nicht so auffällig anglotze.“

Charlie schaute sie an. Ari errötete, aber sie grinste noch immer. „Hab ich echt diese Wirkung auf dich?“

„Kann sein.“

Sein Blick wanderte fast gegen seinen Willen zu ihren Lippen. In letzter Zeit hatte er sehr viel über diese Lippen nachgedacht. Okay, er dachte praktisch jede Sekunde daran.

„Was? Habt ihr noch kein neues Spiel gestartet?“, fragte Mike, als er wieder hereinkam, und beendete damit, was immer sich gerade angebahnt hatte.

Ari lachte und rückte ein Stück von Charlie ab. Der seufzte und hätte seinen kleinen Bruder am liebsten zum Mond geschossen. „Wir wollten grad loslegen.“

„Wenn du schon am Anfang so lahm bist, wette ich zehn Dollar darauf, dass Ari dich mit Pauken und Trompeten besiegt.“

Charlie zog vorwurfsvoll die Augenbrauen hoch. „Die Wette steht“, erklärte er dann und schüttelte seinem Bruder die Hand. Ari räusperte sich, und die beiden Creaghs sahen sie an. „Was?“

Ari zuckte mit den Schultern. „Du hast grad zehn Dollar verloren. Mike hat ja vielleicht noch eine Chance gegen mich, aber du …“

„Willst du damit behaupten, Mike wäre bei Super Mario besser als ich?“

„Und ob ich das behaupten will.“

Mike lachte glücklich. „Endlich merkt mal jemand, dass ich dir überlegen bin, Großer.“

Charlie bedachte die beiden mit einem finsteren Blick, dann drehte er den Kopf entschlossen zum Bildschirm. „Okay, los geht’s!“

Noch ganz in diese Erinnerung versunken, hörte Charlie plötzlich, wie sich ein Shaitan seiner Zelle näherte. Es war die Wache von letzter Nacht. Der Dschinn hob die Hand, die Stäbe hörten auf zu leuchten und verschwanden in der Mauer.

„Es ist so weit.“ Der Kerkermeister hielt ein paar schimmernde Handschellen in die Höhe.

Charlie starrte misstrauisch darauf und erhob sich. Seine Knie drohten nachzugeben. Der Shaitan lachte ihn aus, seine schwarzen Augen leuchteten rot auf. Diese Demütigung traf Charlie bis ins Mark. Hör auf, dich wie ein Feigling aufzuführen, du schaffst das.

Also zuckte er gespielt cool mit den Schultern und ließ sich die Handschellen anlegen. Sie brannten trotz ihrer magischen Eigenschaften nicht auf seiner Haut, waren aber sehr schwer. Von zwei Shaitanen flankiert, wurde Charlie durch dunkle Tunnel und dann eine Wendeltreppe hinaufgeführt. In den Mauern links und rechts steckten die berühmten Smaragde von Mount Qaf. Ihre Macht schien Charlie leise zu rufen. Er stöhnte auf und stolperte. Die Sehnsucht nach den grünen Steinen beherrschte ihn völlig, und wieder lachten die Shaitane ihn aus.

„Das kommt dabei raus, wenn man einem Kind ein bisschen Macht gibt, mit der es nicht umgehen kann. Dann jammert es wie ein Kätzchen nach einer Schale Milch.“

Charlie wurde rot vor Wut und bemühte sich, die Macht der Smaragde zu ignorieren. Als er den geschwungen Torbogen am Ende des Tunnels erkannte, atmete er auf. Nur raus hier und weg von den grünen Steinen!

Das Tor öffnete sich quietschend, und ein Hauch eiskalter Luft drang in den Tunnel. Charlie hustete einmal, dann atmete er tief durch. Die Shaitane schubsten ihn durchs Tor, und er traute seinen Augen nicht. Er kam sich vor, als wäre er mitten in Gladiator gelandet. Vor ihm befand sich ein riesiges Amphitheater mit Tausenden von Plätzen, und jeder einzelne war besetzt. In der Mitte erwarteten ihn mehrere Dschinn. Alles funkelte und glitzerte vor Edelsteinen: smaragdgrün, ame-thystviolett, saphirblau, rubinrot. Charlie war, als würde er auf eine riesige Schmuckschatulle starren.

Das Amphitheater selbst war auf den zweiten Blick dann doch weniger römisch als vielmehr im marokkanischen Stil erbaut. Die Säulen und Bögen waren mit Arabesken verziert und von bunter Seide verhüllt, die im lauen Wind wogte, als warte sie nur darauf, ihre Flügel auszubreiten und sich von der nächsten größeren Bö davonzutragen zu lassen. Ein Bestreben, das Charlie voll und ganz nachvollziehen konnte. Jemand schubste ihn vorwärts. Er schritt die Treppe hinab und versuchte, das Raunen zu ignorieren, das durch die Menge ging.

Der Boden in der Mitte der Arena bestand aus dunklem Glas, in dem sich der Himmel spiegelte. Charlie schaute nach oben auf die Ränge, und angesichts der Massen, die sich in der Arena drängten, lief ihm ein Schauder über den Rücken. Die Nachricht, dass die Dschinnkönige selbst in diesen Prozess verwickelt waren, schien sich wie ein Lauffeuer verbreitet zu haben. Selbst oben am Himmel kreisten Dschinn, die offenbar keinen Sitzplatz mehr bekommen hatten. Sie sahen aus wie exotische bunte Vögel, die neugierig auf ihn herunterstarrten. Charlie schluckte, als er einen Dschinn auf einem fliegenden Teppich entdeckte. Er wollte sich schon die Augen reiben, weil er dachte, sie würden ihm einen Streich spielen.

Das war alles ein bisschen viel Tausendundeine Nacht für seinen Geschmack. Doch bevor er unter dem gewaltigen seelischen Druck zusammenbrechen konnte, erspähte er hinter dem Teppich die grün schimmernden Smaragdberge. Ehrfürchtig betrachtete er sie und leckte sich über die Lippen. Das Verlangen nach den Smaragden war größer als seine Angst und das Gefühl der Demütigung.

Man trieb ihn weiter in die Mitte. Charlie schaute nach links und direkt in zwei Augen, die ihre Farbe wechseln konnten – und unter denen im Moment dunkle Ringe prangten. Ari lächelte ihn besorgt an, aber ihr Kinn zitterte verdächtig. Sie saß in der ersten Reihe. Wahrscheinlich war sie schon seit Stunden wach, weil sie vor Furcht um ihn nicht hatte schlafen können. Er erwiderte ihr Lächeln – vorsichtig, aber voller Wärme – und fühlte sich einen Moment lang besser, weil sie da war. Doch sein Lächeln erstarb schnell, als er sah, wer neben Ari saß. Jai.

Er nickte ihm nur knapp zu und drehte sich dann wieder zum Mittelpunkt der Arena um. Ihm kam das alles so surreal, so falsch vor, als würde er halluzinieren.

Man hatte eine kleine Bühne für den Prozess errichtet, und einer der Shaitane führte Charlie nun darauf. Links wartete der Red King, der ihm aufmunternd zunickte. Rechts stand ein Dschinn, der fast so groß war wie Red. Sein kahler Schädel glänzte in der Wintersonne. Wie Red hatte er sich dem Anlass entsprechend gekleidet, trug schwarze Lederhosen, goldene Armreifen, goldene Manschettenknöpfe und einen Edelstein um den Hals. Hasserfüllt bohrte sich sein Blick in Charlie, der schnell den Kopf abwandte. Das musste der Gleaming King sein.

Doch dann schaute Charlie dem Herrscher über Leben und Tod ins Gesicht. Der Gleaming King verblasste neben diesem Wesen völlig. Die Macht, die von dem Dschinn ausging, fegte Charlie fast von den Füßen. Selbst sitzend war er auf seinem schwarzen Marmorthron noch ein Gigant. Trotz der leichten Brise bewegte sich keines seiner schlohweißen Haare. Der türkisfarbene seidene Umhang umfloss ihn wie ein Strom. Der Oberkörper darunter war nackt, die mächtigen Beine steckten wie bei Red und dem anderen Dschinnkönig in schwarzen Lederhosen.

Azazil, der Sultan aller Dschinn.

Das musste Charlie niemand sagen, er wusste es auch so. Der Sultan grinste ihn an, und Charlie blinzelte, weil ihm das so unwirklich vorkam. Dann hörte er hinter sich Schritte und drehte sich um. Red kam auf ihn zu.

„Charlie, wie geht es dir?“

Er zuckte scheinbar gleichmütig mit den Schultern. „Ich komm klar.“

„Ich verteidige dich heute gegen meinen Bruder, den Gleaming King.“ Er zeigte auf den glatzköpfigen Dschinn.

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