Trust Me - Blutiges Grauen

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Seit ein gefährlicher Psychopath Skye Kellerman nachts in ihrem eigenen Bett überfiel, ist ihr Leben nicht mehr dasselbe. Der Mann bedrohte sie mit einem Messer und brachte sie fast um. In letzter Sekunde konnte Skye ihn mit einer Schere außer Gefecht setzen und die Polizei rufen. Doch das Grauen von damals holt sie jäh wieder ein, als sie von Detective David Willis erfährt, dass der Täter vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wird. Denn Skye weiß: Er will blutige Rache - und endlich vollenden, was er einst begann ...


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783955762513
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Brenda Novak

Trust Me – Blutiges Grauen

Roman

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Trust Me

Copyright © 2008 by Brenda Novak

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Übersetzt von Constanze Suhr

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: Getty Images, München / pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © 2001 by Trenton Bahr

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-251-3

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

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“Die Hölle ist leer, und alle Teufel sind hier.”

– William Shakespeare, Der Sturm –

1. KAPITEL

“Hast du’s schon gehört?”

David Willis blickte hoch. Detective “Tiny” Wyman lehnte sich gegen die Wand der Arbeitsnische, in der Davids vollgestopfter Schreibtisch stand. Sein bester Freund in der Einheit war ein verdammt guter Polizist und sogar noch größer als David selbst. Tinys Teint schimmerte wie poliertes Kupfer, und das ständige Lächeln auf seinen Lippen schien die tiefe Traurigkeit in seinen braunen Augen Lügen zu strafen. Tiny nahm die Verbrechensbekämpfung wirklich ernst. Und er verlor nie viele Worte. Aber wenn er was sagte, dann hörten die anderen auch zu, David inbegriffen.

“Was gehört? Dass ich mit dem Papierkram mal wieder hinterherhinke?”, scherzte er.

Tiny schob seine Riesenpranken in die Taschen seiner Khakihose. Allerdings täuschte seine lässige Haltung auch nicht darüber hinweg, wie unwohl er sich in seiner Kleidung fühlte. Er war einfach nicht der Jackett-Typ – ganz zu schweigen von seiner Krawatte. “Du hinkst doch immer mit dem Papierkram hinterher”, brummte er. “Meinst du, ich vergeude meine kostbare Zeit damit, dich darauf aufmerksam zu machen?”

Er blickte ihn ernst an, und jetzt wurde David klar, dass sein Freund nicht nur auf einen kurzen Plausch vorbeigekommen war. “Was ist los?”

Tiny zerrte an seinem Schlips, als würde er keine Luft mehr bekommen. “Erinnerst du dich an den Knaben, den wir eingesperrt haben, weil er diese kleine Blondine mitten in der Nacht angefallen hat?”

David hatte in den über dreizehn Jahren, die er nun beim Sacramento Police Department war, eine Menge Fälle bearbeitet. Aufgrund einer so vagen Beschreibung hätte er sich nicht unbedingt an diesen einen erinnern müssen. Aber bei Tinys Erwähnung dieser “kleinen Blondine” fiel ihm sofort wieder jede Einzelheit ein. Wahrscheinlich hatte er diese Geschichte doch nicht so tief vergraben wie gedacht. Seit seinem letzten Gespräch mit Skye waren inzwischen schon ein paar Monate vergangen, und trotzdem musste er oft an sie denken. “Ja, ich erinnere mich. Burke hat acht bis zehn Jahre dafür bekommen.”

“Scheint sich inzwischen auf drei reduziert zu haben.”

David rollte mit seinem Stuhl zurück und warf seinen Schreiber auf den Stapel Formulare, mit denen er sich abgequält hatte. “Ich wusste von seiner Anhörung, aber meinen letzten Informationen zufolge hatte er nicht die Spur einer Chance.”

“Hätte er auch nicht haben dürfen”, erwiderte Tiny. “Burke ist gefährlich. Aber …” Er ließ endlich von seiner Krawatte ab. Plötzlich wirkte er, als würde er sich in sein Schicksal fügen, das ihn einen weiteren Tag ans Büro kettete. “Ich vermute, er hat einen Mithäftling verraten. Was bedeutet, dass San Francisco jetzt zwei ungeklärte Mordfälle abschließen kann. Die haben seine Strafaussetzung empfohlen.”

David schoss von seinem Stuhl hoch. “Hat denn, verdammt noch mal, keiner meinen Bericht gelesen? Warum haben die nicht zuerst bei uns angerufen? Um den Typen zu überprüfen?”

“Anscheinend haben sie sich vor ein paar Wochen bei Chief Jordan gemeldet.”

“Hat er ihnen auch erzählt, dass es keine Toten mehr am Fluss gegeben hat, seit unser netter Zahnarzt im Gefängnis sitzt?”

“Natürlich. Und sie behaupten, es könnte ebenso gut reiner Zufall sein.” Schließlich zeigte Tiny wieder sein breites Lächeln. “Ich habe ihnen versichert, sie könnten sich auf unser Gefühl verlassen. Aber sie wollen mehr.”

Mehr. Deshalb hatte der Chief ihn wegen der ungelösten Fälle angesprochen. Er hatte sich erkundigt, ob er inzwischen irgendetwas Neues gefunden hätte. Sie mussten Oliver Burke die drei Morde nachweisen, aber David war nicht in der Lage gewesen, Jordan neue Beweise für Burkes Schuld zu liefern. Ihr Gespräch hatte ihn allerdings nicht weiter beunruhigt. Ihm war gar nicht klar gewesen, was auf dem Spiel stand. Er war davon ausgegangen, dass ihm noch mindestens zwei Jahre blieben, um die fehlenden Verbindungsstücke zu finden.

“Das ist doch scheiße!” David schob seinen Freund zur Seite und quetschte sich an ihm vorbei. Er war fest entschlossen, mit Jordan zu reden. Aber Tiny packte ihn am Arm und hielt ihn zurück.

“Spar dir deinen Atem, Alter, du kannst nichts mehr tun. Die Entscheidung ist gefallen. Dr. Burke kommt nächste Woche raus.”

“Nächste Woche? Interessiert es denn niemanden, was er anrichten kann?” Zwei weitere Detectives der Abteilung für Gewaltverbrechen streckten ihre Köpfe auf den Flur. David warf ihnen einen scharfen Blick zu, der so viel bedeutete wie: Kümmert euch um euren eigenen Kram! Dann drehte er sich wieder zu Tiny um.

“Scheint so, als wären die Kollegen in San Francisco mehr daran interessiert, alte Akten zu schließen”, sagte Tiny. “Dass sie Burke freilassen, soll für die anderen ein Ansporn sein. Da gibt es eine Menge Vergewaltiger, die ziemlich viel wissen. Ich bin sicher, dass die in San Francisco die Sache wenn nötig bis vor den Gouverneur gebracht hätten, um seine Haftentlassung zu bewirken.”

Offensichtlich hatte es aber auch funktioniert, ohne so weit zu gehen. David hätte nie gedacht, dass Burke so leicht wieder auf freien Fuß käme. “Aber wenn er wieder jemanden überfällt, wird sein Opfer diesmal bestimmt nicht überleben und gegen ihn aussagen können. Das ist ihm ein Mal passiert, und das hat ihn ins Gefängnis gebracht.”

“Genau das hat Chief Jordan auch behauptet.”

“Und?”

“Ihm wurde entgegnet, dass man sich nicht zu sehr mit solchen Prognosen aufhalten darf, wenn man seinen Job ordentlich machen will.”

“Skye Kellerman wird aber sicher anders darüber denken!”

Tiny fuhr sich mit der Hand über seine Glatze. “Sie interessiert dich, was?”

Die Bemerkung kam wie immer in Tinys typisch spöttischem Tonfall. Trotzdem entging David nicht ein gewisser missbilligender Unterton. Er ignorierte ihn. Genauso wie damals Tinys Warnung, sich nicht zu sehr mit Skye einzulassen. Zu jener Zeit hatte er genauso wie jetzt versucht, sich mit seiner Exfrau auszusöhnen.

“Ich würde mich nicht wundern, wenn Burke sich an sie ranmacht. Sicher will er beenden, was er angefangen hat. Und sich nebenbei noch ein bisschen rächen.” Allein bei dem Gedanken daran wurde ihm übel.

Tiny blickte ihn ernst an. “Das denke ich auch.”

“Wir müssen was unternehmen.”

“Was denn? Wir haben keine Beweise, um ihm die anderen Morde anzuhängen. Und solange er sich nichts zuschulden kommen lässt, können wir nichts tun.” Er seufzte resigniert. “Soll ich sie anrufen?”

David wünschte, er könnte es Tiny oder jemand anderem überlassen, Skye diese Nachricht zu überbringen. Er hätte sich einen angenehmeren Anlass vorstellen können, um mit ihr zu sprechen. Aber er konnte sich nicht davor drücken. Es war sein Fall. “Nein, ich mach das schon.”

“Bist du dir sicher?”

“Ja.” Fluchend schlug David gegen die Gipskartonwand, als Tiny ging. Der drehte sich nicht mal um. Er kannte David gut und wusste, was in ihm vorging. Und er war selbst frustriert. Allerdings spähten nun noch ein paar Kollegen in den Flur.

“Was glotzt ihr denn so?”, bellte David.

Alle zogen sofort wieder den Kopf ein, aber das machte die Sache auch nicht besser. Nachdem sie Burkes Angriff überlebt hatte – wie sollte er Skye am besten beibringen, dass der ganze Horror von Neuem anfing? Dass sie jetzt wieder in Gefahr war?

Skye Kellerman zuckte zusammen, als sie Reifen auf dem Kiesweg hörte. Es war ein kalter Morgen Anfang Januar. Nicht direkt dunkel, aber eine dichte Nebelwand gab ihr das Gefühl, vollkommen isoliert zu sein. Abgeschnitten vom Rest der Welt.

Verletzlich …

Sie rannte zu dem antiken Sekretär, den sie nach dem Tod ihrer Mutter vor einem Jahr zusammen mit dem Haus geerbt hatte, und holte ihre halb automatische Kel-Tec P-3AT heraus. Die war noch leichter, schmaler und einfacher zu verstecken als ihre SIG P232. Mit der Pistole in der Hand rannte sie ins Schlafzimmer, um sich ein T-Shirt zu holen. Sie wollte ihr Dekolleté und den Bauch bedecken; sie hatte zum Training nur einen Sport-BH und Lycrashorts angezogen. Wegen ihrer großen Brüste war sie immer etwas befangen. denn sie erregten mehr Aufmerksamkeit, als Skye lieb war.

Eine Autotür schlug zu, und Schritte näherten sich dem Haus. Schwere Schritte. Die Schritte eines Mannes.

Skye zog sich ein weites T-Shirt über, auf dem stand: The Last Stand – Opfer schlagen zurück. Dann ging sie zu den vorderen Fenstern, um durch die Holzlamellen zu spähen. Anschließend sah sie durch den Spion, den sie in die Tür eingebaut hatte. Aber der Nebel war zu dick, um mehr zu erkennen als einen großen Schatten. Und der kam direkt auf sie zu.

Verdammt! Der bittere Geschmack von Angst kroch ihr die Kehle hoch, und ihr Magen brannte. Wahrscheinlich war das nur jemand, der sich verlaufen hatte und nach dem Weg fragen wollte. Sherman Island lag im Herzen des Sacramento River Deltas; hier lebten lediglich hundertfünfundsiebzig Menschen. Nur wenige Leute von auswärts fanden sich hier in den Sümpfen zurecht. Zwischen all den natürlichen Wasserstraßen mit den Zugbrücken und Deichen, die das Feuchtgebiet so einzigartig machten, konnte man sich schnell verirren. Doch Skye ging nicht mehr davon aus, dass sie von Fremden nichts zu befürchten hatte. Nicht, seit sie mitten in der Nacht von einem Mann mit Kapuze aus dem Schlaf gerissen und mit einem Messer bedroht worden war.

Oliver Burke saß im Gefängnis – Gott sei Dank. Doch seit sie vor zwei Jahren mit ihren Freundinnen Sheridan Kohl und Jasmine Stratford The Last Stand gegründet hatte, eine Organisation zur Unterstützung von Gewaltopfern, waren eine Menge Typen sauer auf sie. Das hier konnte womöglich Tamara Linds Ehemann sein. Er hatte seine Frau geschlagen und gab Skye nun die Schuld dafür, dass Tamara ihn kürzlich verlassen hatte. Vergangene Woche hatte er gedroht, das Büro von The Last Stand in die Luft zu jagen. Oder es könnte auch Kevin Sheppard sein. Kevin war erst neulich in ihrem Büro erschienen. Über ihre Organisation hatten gerade viele Zeitungen positiv berichtet, und Kevin wollte sich als ehrenamtlicher Mitarbeiter anbieten. Skye musste ihn abweisen. Eine Überprüfung hatte ergeben, dass er wegen Stalking angezeigt worden war. Da hatte er einen Wutanfall bekommen und war hinausgestürmt. Seitdem war er nicht mehr aufgetaucht.

Es klingelte an der Tür. Gleich darauf klopfte es heftig.

Skye sah sich in Gedanken die Alarmanlage abstellen, die Tür mit der Kette davor einen Spalt öffnen … und wie jemand sie weit aufriss. Ihre Handflächen wurden feucht. Bleib ruhig!

Sie konnte verdammt gut schießen, aber Nervosität brachte den besten Schützen der Welt aus dem Konzept. Also würde sie die Tür nicht öffnen. Sie würde so tun, als wäre sie nicht zu Hause, und hoffen, dass der Mann wieder verschwand.

Mit angehaltenem Atem blieb sie mit dem Rücken an die Wand gepresst stehen. Dabei fragte sie sich, was wohl die Schülerinnen aus ihren Schießkursen denken würden, wenn sie sie so sehen könnten: schwitzend und zitternd – nur wegen eines bisschen Nebels und eines unerwarteten Besuchers. Die meisten sahen in ihr eine unbesiegbare Kämpferin, wenn sie die Waffe in der Hand hielt. Und sie glaubten wohl auch, dass sie selbst mit einer Pistole unverwundbar wären. Aber sie konnten sich eine solche Situation überhaupt nicht richtig vorstellen. Sie ahnten nicht, dass eine Frau auch mit Hunderten von Waffen nicht unangreifbar war … wenn sie zögerte, auch wirklich abzudrücken.

Wäre sie bereit, Kevin Sheppard zu töten? Oder Tamaras Exmann?

Wenn es sein musste …

Sie hatte sich nicht bewegt und keinen Ton von sich gegeben, aber ihr Besucher gab nicht auf. Offensichtlich schien er nicht zu glauben, dass keiner zu Hause war. Er klingelte erneut. Klopfte. Dann wurde sein Schatten am Fenster noch größer, als er sich vorbeugte und versuchte, ins Haus zu lugen.

“Skye? Skye, bist du da? Ich bin’s, David! Detective Willis.”

Sie atmete langsam aus und lockerte den Griff um den Abzug. David … Sie war doch nicht in Lebensgefahr. Allerdings beruhigte sich ihr heftiges Herzklopfen keineswegs – nicht, nachdem sie wusste, dass er da draußen stand.

“Dein Wagen steht in der Auffahrt”, rief er. “Willst du mir nicht aufmachen?”

Nach einem weiteren tiefen Atemzug sicherte sie ihre Pistole und steckte sie in die Tasche ihres Mantels, der in der Diele neben der Tür hing. Dann fuhr sie sich mit dem Finger über ihre feuchte Oberlippe.

“Skye?”

“Ich komme!” Sie schaltete die Alarmanlage aus, löste die Kette von der Tür, drehte den Riegel um und öffnete.

Er trug ein grünes Hemd mit Krawatte und sah gut aus – verdammt gut. Der Schlips war ein bisschen zu elegant für das Hemd, aber seine Art, sich zu kleiden, war einzigartig und sehr anziehend: eine Mischung aus James Dean und Johnny Depp, cool und stilsicher. Kurz erinnerte sie sich an die Zeit vor fast einem Jahr. Als er ihren Mund erst zart mit den Lippen gestreift und sie dann leidenschaftlich geküsst hatte … Wie er sie gegen die Wand gedrückt hatte … In diesem Moment hatte diese flatterhafte Anziehungskraft zwischen ihnen über jede Vernunft gesiegt.

“Hallo.” Sie lächelte und hoffte, dass man ihr die Aufregung nicht ansah. Ihre Beziehung war so kompliziert; sie konnte ihm einfach nicht locker gegenübertreten. Vor allem nicht, wenn er so unerwartet auftauchte. “Was führt dich denn in diese Einöde?”

Er machte nicht den Eindruck, als würde er ihr einen Freundschaftsbesuch abstatten. Wahrscheinlich erinnerte er sich noch nicht einmal an den besagten Abend. Als er ihr beim Umzug geholfen hatte und sie fast miteinander im Bett gelandet wären … “Ich muss mit dir reden. Kann ich einen Moment reinkommen?”

Er verhielt sich so unpersönlich, so distanziert. Er hatte auch nicht vorher angerufen, sondern erschien unangemeldet vor ihrer Tür. Was hatte das zu bedeuten?

Sie trat zur Seite und bat ihn mit einem flauen Gefühl im Magen herein. Dabei redete sie sich ein, dass sie keinen Grund hatte, sich Sorgen zu machen. Das Schlimmste war überstanden. Egal, was jetzt noch geschehen würde: Diese Hölle musste sie nicht mehr durchstehen. Und das war alles, was zählte. “Kann ich dir eine Tasse grünen Tee machen?”

“Grünen Tee?”, wiederholte er und zog die Augenbrauen hoch.

“Tut mir leid, Kaffee habe ich nicht. Ich trinke keinen mehr.”

“Danke, lieber keinen Tee. Ich fürchte, so was Gesundes würde ich gar nicht vertragen.” Er betrachtete sie aufmerksam mit seinen hellgrünen Augen. Ihm schien kein Detail ihres Gesichts und ihrer ganzen Erscheinung zu entgehen. Sofort war sie sich seiner Gegenwart nur umso intensiver bewusst. Aber sie konnte ihm nicht ansehen, ob ihm der Anblick gefiel oder nicht. Was auch immer er dachte: Er verbarg es hinter einer undurchdringlichen Fassade. Dann war der Augenblick vorbei, und er blickte sich um.

Zum ersten Mal nach langer Zeit betrachtete Skye ihr Haus mit den Augen eines anderen. Sie hatte die “Besuchercouch” ihrer Mutter aus dem Wohnzimmer entfernt. Ebenso die mit Walnussholz furnierten Beistelltische, die antiken Vitrinen und Vasen mit Seidenblumen. Alles war an ihre beiden Stiefschwestern Jennifer und Brenna gegangen, die in Südkalifornien in der Nähe ihres Vaters lebten. Sie hatte die Möbel durch Hanteln ersetzt, ein Trainingsrad, einen Stepper und eine Yogamatte. Von ihrem Standpunkt aus konnte man nur einen schmalen Streifen der Küche erkennen. Aber man sah den Blumenkasten, in dem sie Kräuter und Weizengras kultivierte.

“Wow. Interessant, was du aus dem Haus gemacht hast”, sagte er.

Sein ironisches Grinsen sagte ihr, dass er nicht gerade eine Verbesserung erkennen konnte. Ihr war klar, wie das Ambiente auf ihn wirken musste: als könnte sie die Vergangenheit nicht hinter sich lassen. Weshalb sie sich bei ihrer letzten Begegnung gestritten hatten.

“Vielen Dank. Ich fand es schade, so viel Platz zu verschwenden.”

“Immer die Praktische.”

Sie war noch nie praktisch gewesen. Bis zu den frühen Morgenstunden des 11. Juli vor fast vier Jahren hatte sie es für eine Katastrophe gehalten, wenn sie sich einen gerade manikürten Fingernagel abbrach. “Es verändert das Leben offensichtlich, wenn man einem Vergewaltiger eine Schere in den Bauch rammt.”

Ein Muskel zuckte an seinem Kiefer. Er wurde offensichtlich nervös. Wahrscheinlich war ihm gerade wieder eingefallen, weshalb er hier stand. Falls die Narbe an ihrer Wange ihn das überhaupt jemals vergessen lassen könnte.

“Vielleicht solltest du dich besser setzen”, sagte er.

“Warum das denn?”

Er räusperte sich, fühlte sich sichtlich unwohl. “Ich habe schlechte Nachrichten.”

Du hast dich endgültig wieder mit deiner Exfrau versöhnt? Sie erschrak bei dem Gedanken. Wenn das der Fall war, sollte sie sich für David freuen. Sein achtjähriger Sohn hätte es verdient, eine Familie zu haben. David wünschte sich doch auch, ihm das bieten zu können.

“Ist schon in Ordnung, ich bleibe lieber stehen.” Als sie trotzig das Kinn hob, verzogen sich seine Lippen zu einem angedeuteten Lächeln. “Was ist los?”, wollte sie wissen. “Könnt ihr keine Beweise dafür finden, dass Burke die anderen drei Frauen umgebracht hat?”

“Nein. Bisher nicht.”

Sein Tonfall verriet ihr, dass diese Unfähigkeit schwer an ihm nagte. David hasste es, zu versagen. Irgendwie war Oliver Burke für ihn inzwischen sehr persönlich geworden, zu viel mehr als nur einem Fall. Skye spürte seine Enttäuschung. Sie hatte so gehofft, dass er endlich Burkes Schuld beweisen konnte! Dass man ihr glaubte, wie gefährlich dieser Mann wirklich war – unabhängig von allen Argumenten, die die Verteidigung bei der Verhandlung vorgebracht hatte: Dass es seine erste Gewalttat gewesen sei. Dass keine Vorstrafen vorlägen. Dass seine Frau, die ihn am besten kannte, schwor, er habe niemals auch nur die Stimme gegen sie erhoben. Dass er ein rechtschaffenes, produktives Mitglied der Gemeinde sei und regelmäßig den Gottesdienst besuche. Nein! Skye hatte es in jener Nacht selbst erlebt. Sie hatte gespürt, dass Burke zu allem entschlossen war.

“Hast du deine Ansicht geändert?”, wollte sie wissen. “Meinst du, es war jemand anderes?”

Er schob die Hände in seine Taschen. “Nein. Er war es. Das gleiche Verhaltensmuster, der gleiche Typ Opfer. Der Schuhabdruck, den wir an einem Tatort gefunden haben, passte zu seiner Größe, die für einen Mann ungewöhnlich klein ist.”

“Aber das reicht nicht?”

“Es gab keine besonderen Merkmale bis auf die Schuhgröße, die uns einen Beweis liefern könnte.”

“Ich nehme mal an, es gab danach keine Toten mehr.”

“Jedenfalls keine, die den anderen drei Morden ähnelten.”

Warum war David dann hier? Besorgt, dass seine Entschlossenheit ins Wanken geriet, legte sie ihm die Hand auf den Arm – und spürte, wie er bei ihrer Berührung zusammenzuckte. Es war ihr nur nicht klar, ob ihm die körperliche Nähe unangenehm war oder nicht. Aber sie wollte nicht noch den letzten Polizisten verlieren, der sie unterstützte. Fast alle anderen hatten etwas gegen The Last Stand, weil dadurch die ungeklärten Fälle oder Fehler bei ihren Nachforschungen an die Öffentlichkeit gelangten. “Es ist nicht zu spät”, sagte sie. “Wir haben noch Zeit. Wir werden etwas finden, damit Burke weiter eingesperrt bleibt.”

David zuckte sichtbar zusammen und entzog sich ihrem Griff, und Skye bekam es richtig mit der Angst zu tun. “Was ist los? Er ist doch nicht etwa auf freiem Fuß, oder? Er sitzt doch noch im Gefängnis! Sie haben ihn zu acht bis zehn Jahren verurteilt, und du meintest doch, es würden sicher acht werden!”

“Tut mir leid, Skye”, murmelte er.

Ihr blieb fast das Herz stehen, ihr Puls begann zu rasen. “Was willst du damit sagen?”

“Sie lassen ihn nächste Woche frei.”

2. KAPITEL

“Was ist los?”

Sheridans Stimme klang blechern durchs Telefon. Skye presste sich den Hörer noch fester ans Ohr und lehnte sich gegen den Küchenblock. Sie hoffte, dass sie dadurch das Zittern besser in den Griff bekam. Zumindest hatte sie sich noch so lange zusammenreißen können, bis David gegangen war. Sie hätte nicht gewollt, dass er ihren Zusammenbruch mitbekam. Er hatte schon so das Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben, obwohl er alles tat, was er konnte. “Sie … lassen ihn frei”, flüsterte sie.

“Wen lassen sie frei?”, fragte ihre Freundin verwirrt und gleichzeitig besorgt.

Seit der Gründung von The Last Stand hatten sie es mit so vielen Opfern von Gewaltverbrechen zu tun gehabt, dass Skye von einem guten Dutzend Männer hätte sprechen können.

“Burke.”

Das plötzliche schockierte Schweigen am anderen Ende der Leitung verriet, dass Sheridan sehr gut wusste, um wen es ging. “Wieso?”

“Die Polizei konnte ihm keinen der drei Morde nachweisen. Offensichtlich hat er dem Gefängnissystem einen großen Dienst erwiesen und in den vergangenen drei Jahren ehrenamtlich als Zahnarzt gearbeitet.”

“Aber sie haben ihm doch acht bis zehn Jahre gegeben! Die meisten Häftlinge in Kalifornien sitzen doch mindestens die Hälfte der Zeit ab.”

“Ist doch völlig egal. Er kommt eben nach drei Jahren raus. Auf Bewährung.”

“Unmöglich!”

“Doch.” Aber auch Skye konnte es immer noch nicht fassen. Der Typ hatte ihr ein Messer an die Kehle gehalten, während er ihr das T-Shirt und die Pyjamahose vom Leib gerissen hatte. Er hatte sie brutal und unsittlich berührt. Ihr wurde bei dem Gedanken daran immer noch übel.

“Aber was ist mit … diesen drei Morden?”, fuhr Sheridan fort. “Die jungen Frauen auf dem Campus?”

Skye rutschte hinunter auf den Boden. Der Nebel begann sich zu lichten, so wie meist um die Mittagszeit. Aber das durchs Küchenfenster flutende Licht gab ihr nur das Gefühl, jetzt den Blicken noch mehr ausgesetzt zu sein. “Burke hat seine Spuren vortrefflich verwischt, das weißt du doch. Unsere Nachforschungen haben auch nicht mehr ergeben, als das, was David bereits hatte.” Was David nicht schaffte, schafften andere auch nicht …

Normalerweise wäre Sheridan sofort aufgefallen, dass Skye unvorsichtigerweise Davids Vornamen benutzt hatte. Aber offensichtlich war sie zu schockiert, um darauf zu achten. “Burke ist gebildet und schlau.”

“Und gewissenlos”, fügte Skye dazu. “Man sieht ihm seinen wahren Charakter auf keinen Fall an. Ich hatte eine Mitbewohnerin damals. Er muss mich schon eine ganze Weile ausspioniert haben, meine Gewohnheiten, wo mein Schlafzimmer liegt, wann ich allein bin. Er hat mich gezielt ausgesucht; sein Überfall war gut geplant. Wenn ich das Stickzeug nicht auf meinem Nachttisch gehabt hätte, wäre ich jetzt genauso tot wie die anderen Mädchen – und ein ungelöster Fall.”

“Mein Gott!”, murmelte Sheridan.

Bei der Erinnerung daran, wie sie auf Burke eingestochen hatte, verkrampfte sich alles in Skye. Nie hätte sie sich vorstellen können, welche Kraft so etwas forderte. Sie hatte ein-, zwei-, dreimal zustoßen müssen, bevor ihr Angreifer so geschwächt gewesen war, dass er von ihr abließ. Und trotzdem hatte er noch flüchten können. Doch sein Blut hatte wie Feuer auf ihrer Haut gebrannt, und es war über das ganze Bett verspritzt …

“Was soll ich denn nur tun?”, flüsterte sie. “Ich habe gegen ihn ausgesagt. So wütend, wie er mich beim Verlesen des Urteils angesehen hat … Ich glaube kaum, dass er vergessen hat, warum er im Gefängnis war.”

“Vielleicht solltest du untertauchen?”, schlug Sheridan vor.

Skye schüttelte den Kopf. “Und wie ist das mit der Angst, von der man sich nicht regieren lassen soll?”

“Nur für eine Weile. Bis wir sehen, wo er sich niederlässt und was er vorhat.”

“Er wird wahrscheinlich wieder zu seiner Familie ziehen.”

“Hat er denn noch eine?”

Seine Frau war es gewesen, die ihn an dem Morgen mit seinen Stichverletzungen zur Notaufnahme gebracht hatte. Die Ärzte hatten aufgrund seiner merkwürdigen Wunden gleich die Polizei informiert. Deshalb war Burke verhaftet worden und ins Gefängnis gekommen. Aber Jane hatte ihren Mann während der gesamten Verhandlung unterstützt. Skye konnte immer noch hören, wie sie vollkommen aufgelöst geheult hatte, als die Geschworenen das Urteil verkündeten. “Wahrscheinlich. Seine Frau hat beteuert, dass er unschuldig ist.”

“Ich will dich nicht verlieren, Skye, und du weißt, was Jasmine sagen würde. Wir sind im Moment ihre einzigen Vertrauten. Sie hat schon ihre Schwester verloren. Sie wird sicher nicht wollen, dass du ein Risiko eingehst.”

Skye rieb sich seufzend die Augen. Es war nicht richtig, Sheridan oder Jasmine da mit hineinzuziehen; sie mussten gegen ihre eigenen Dämonen kämpfen. Die drei Frauen hatten sich bei einer Gruppentherapie für Gewaltopfer kennengelernt, während sie versuchten, mit den traumatischen Erlebnissen fertig zu werden, die ihre Leben verändert hatten. Bei unzähligen Tassen Kaffee hatten sie dann Freundschaft geschlossen.

“Als wir The Last Stand gegründet haben, wollten wir keine Angst mehr haben, erinnerst du dich? Wir haben beschlossen, den Menschen, die uns wehgetan haben, keine Macht über uns zu geben.”

Vielleicht hatte sie das noch nicht vollkommen geschafft. Aber sie versuchte es. Sie konnte nicht einfach aufgeben.

“Aber der Mann, der mir den Schrecken meines Lebens eingejagt hat, wohnt wahrscheinlich am anderen Ende des Landes”, sprach Sheridan weiter. “Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie man noch funktionieren soll, wenn man jederzeit zufällig über eine Person stolpern könnte, die einen töten wollte – irgendwo auf der Straße oder im Einkaufszentrum.”

Aber was blieb Skye anderes übrig?

Sie dachte kurz darüber nach, zu ihrem Stiefvater zu fahren. Sie könnte dort untertauchen und vielleicht wieder in seine Nähe ziehen. Andererseits: Wenn Burke wirklich entschlossen war, sie zu finden, dann würde es ihm früher oder später auch gelingen. Sie beabsichtigte nämlich keineswegs, alle Verbindungen zu den Menschen und den Orten zu kappen, die sie liebte. Sie würde sich von ihrem Peiniger nach dem Überfall nicht noch einmal wehtun lassen – nicht noch mehr, als er es sowieso schon getan hatte. Außerdem fühlte sie sich ihrem Stiefvater nicht so stark verbunden. Er war zu ihrer Mutter gezogen, als Skye neun gewesen war. Vier Jahre später hatte er sie schon wieder verlassen. Auch wenn Joe vielleicht damals in der Lage gewesen war, ihren Vater zu ersetzen, den sie mit zwei Jahren durch einen Skiunfall verloren hatte – sie hatte nur wenige Jahre mit ihm zusammengelebt.

Auf keinen Fall konnte sie Sheridan und Jasmine die Arbeit bei The Last Stand allein überlassen. Sie waren nur eine kleine Truppe, die sich für die Opfer von Gewaltverbrechen einsetzte. Das war die einzige Möglichkeit, einen Sinn aus dem zu ziehen, was ihnen passiert war.

“Es wird schon gehen.” Sie richtete sich gerade auf. “Es hat mich nur … kurzzeitig umgehauen.” Was hatte sie denn erwartet? Den Luxus, zusammenzubrechen, konnte sie sich nicht leisten. Vielleicht hatten sie es nicht geschafft, Burke diese Morde nachzuweisen. Aber sie mussten es weiterhin probieren, vor allem jetzt – bevor er noch jemanden überfiel. Womöglich konnte sie damit auch ihr eigenes Leben retten.

“Dann verkauf wenigstens das Haus und nimm dir eine Wohnung mit Sicherheitsdienst hier in der Stadt”, riet ihr Sheridan. Sie drängte Skye schon seit Langem, das zu tun. Aber Skye brachte es einfach nicht über sich, das Haus im Delta aufzugeben. Sie war nach dem Überfall zu ihrer Mutter zurückgezogen und hatte die vergangenen Jahre dort bei ihr gewohnt. Sie war ihre einzige Familie und alles, was Skye aus ihrer Kindheit noch blieb – aus dieser Zeit der Unschuld, in der sie noch nicht geahnt hatte, welche Gefahren es auf dieser Welt gab. Nicht, dass ein Apartment vollkommen sicher wäre. Zur Zeit des Überfalls hatte sie zusammen mit einer Bekannten in einer Wohnung nahe dem American River Drive gewohnt. Ihre Mitbewohnerin war danach in eine kleine Stadt in Utah gezogen.

“Das wäre ein zu großes Zugeständnis. Ich werde so leben, wie ich es will, und mich nicht nach ihm richten.” Jedenfalls soweit sie es schaffte, immer einen Tag nach dem anderen.

“Ich verstehe schon, aber trotzdem …”

“Trotzdem machst du dir Sorgen. Das sollst du aber nicht. Wenn Burke sich noch einmal an mich ranmachen sollte, wird er es nicht mehr nur mit einer Schere in seinem Bauch zu tun haben.”

Sie hörte, wie Sheridan seufzte. “Kommst du heute? Ein Journalist vom River City Magazine will mit einer von uns sprechen. Er will einen Artikel über The Last Stand schreiben. Ich dachte, wir könnten die Gelegenheit nutzen, um Reklame für unser Sommer-Barbecue zu machen, damit wir mehr Tickets verkaufen. Die Zeitschrift soll im Mai erscheinen.”

“Kann sich Jasmine nicht darum kümmern?” Skye hatte heute eine neue Klasse für den Schießkurs. Den Termin hatte sie auf später verschoben, weil sie ein paar Flyer zur Sacramento State bringen wollte. Auf diese Weise wollte sie noch einige freiwillige Helfer rekrutieren. Doch nach Davids Besuch war sie sich nicht sicher, ob sie sich überhaupt auf etwas konzentrieren konnte.

“Jasmine wird in den nächsten Tagen nicht abkömmlich sein.”

“Warum?”

“Sie hat einen Anruf aus Fort Bragg bekommen. Ein kleines Mädchen wird dort vermisst. Sie hoffen, dass man ihnen bei der Suche hilft.”

“Wer? Die Eltern?” Skye war erstaunt, dass man Jasmine sogar in der etwa vier Stunden entfernten Küstenstadt kannte.

“Nein, das FBI.”

“Das ist ein Scherz, oder? Welcher Detective kommt denn auf die Idee, ein Medium anzuheuern?” Selbst David schien nicht so ganz davon überzeugt zu sein, dass Jasmine außergewöhnliche Fähigkeiten besaß.

“Ich nehme mal an, sie wissen nicht weiter und sind so weit, alles zu versuchen. Sie haben bei dem Anruf allerdings nichts von ihrer übersinnlichen Wahrnehmung erwähnt. Sie wollen nur das Profil eines Kidnappers erstellen.”

“Das FBI hat seine eigenen Profiler – das haben sie ihr doch ständig erzählt. Wie oft ist sie abgewiesen worden?”

“Nachdem sie geholfen hat, den Ubaldi-Fall zu lösen, hat sich eine Menge geändert. Ich denke, das FBI hat inzwischen gemerkt, dass sie genauso viel kann wie deren Leute, wenn nicht noch mehr.”

“Das hätten wir ihnen gleich sagen können. Was ist denn passiert mit diesem vermissten Kind?”

“Keine Ahnung. Bis vor mehr als einer Stunde hat Jasmine niemanden in Fort Bragg erreicht.” Es entstand eine kurze Pause. “Kannst du dich um den Journalisten kümmern, Skye?”

Skye warf einen Blick auf die Uhr. Sie war immer noch wie vor den Kopf gestoßen; sie traute sich kaum, einen Fuß vor die Tür zu setzen. Andererseits war sie entschlossen, zu verhindern, dass Burke noch jemanden verletzte. Sie musste die Gelegenheit nutzen und die Unterstützung der Presse für die Opfer von Gewaltverbrechen gewinnen. “Natürlich. Ich werde den Kurs auf nächsten Montag oder Dienstag verschieben und bin so bald wie möglich da.”

Mit seinen vielen natürlichen und kultivierten Flussarmen schien das Delta eine ganz andere Welt zu sein; dabei lag Skyes Haus gerade mal eine gute Stunde Fahrt südwestlich von Sacramento entfernt. Etwa genauso lang dauerte die Fahrt von Sherman Island zum San Quentin State Prison, einem der bekanntesten Gefängnisse der Welt. Es bildete einen geradezu schockierenden Kontrast zu den malerischen Stränden der San Francisco Bay und der wohlhabenden Wohngegend, die sich dort entwickelt hatte.

Oliver Burke war dort mit mehr als fünftausend anderen Männern eingesperrt, hinter Steinmauern, die über anderthalb Jahrhunderte alt waren. Dieses berüchtigte Gefängnis mit seiner bedrohlichen Erscheinung und der grünen Gaskammer beherbergte die Schlimmsten der Schlimmsten. David wusste, dass sich das Haus seinen schlechten Ruf verdient hatte. Selbst der Todestrakt war überfüllt. In San Quentin befanden sich sechshundert zum Tode verurteilte Insassen. Der Rest der Belegschaft bestand aus Lebenslänglichen und eine geringe Prozentzahl aus Männern wie Burke, die wegen kleinerer Vergehen eine niedrigere Strafe absaßen.

Der Wagen ruckelte über eine weitere Zugbrücke, und David verzog bei dem Gedanken an das Wiedersehen mit Burke das Gesicht. Er hatte sich in der Vergangenheit mit ziemlich kniffligen Fällen beschäftigt, doch meist war es ihm irgendwie gelungen, die größeren zu knacken. Manchmal hatte er einfach Glück gehabt, und das richtige Verbindungsstück war ihm in die Hände gefallen. Bei anderen war es reine Hartnäckigkeit gewesen, harte Arbeit und seine Entschlossenheit, bei der Suche jeden einzelnen Stein umzudrehen. Manches Mal war es Intuition gewesen. Doch nichts davon hatte ihm die Antworten geliefert, die er in den Fällen der drei jungen Frauen brauchte. Alle drei waren in ihren Wohnungen in der Nähe des American River ermordet worden. Die Frustration darüber höhlte ihn langsam aus. Vor allem jetzt, wo Burke entlassen wurde.

Er hatte vorher angerufen, um einen Besuchstermin zu vereinbaren. Er wusste nicht genau, warum er das dringende Bedürfnis verspürte, Burke von Angesicht zu Angesicht zu sprechen; er hatte ihn seit der Gerichtsverhandlung nicht gesehen. David ging nicht davon aus, dass Skyes Angreifer ihm etwas Neues erzählen würde. In den vergangenen Jahren hatte er mehr als einmal versucht, mit dem Mann ins Gespräch zu kommen. Burke hatte sich seinem Besuch immer wieder verweigert, allerdings ein paar Mal mit ihm telefoniert. Immer hatte er den Unschuldigen gespielt. Als könnte er David genauso für dumm verkaufen wie all die anderen.

Aber auch wenn es sinnlos erschien: David konnte nicht einfach zusehen, wie Burke in die Gesellschaft entlassen wurde, ohne einen letzten Versuch zu starten. Vielleicht bekam er ja doch irgendeine Information aus ihm raus. Vielleicht half ihm das Gespräch, endlich die Fälle zu lösen, die schon so lange auf Eis lagen.

Für Skye. Für die anderen.

David trat auf die Bremse und konnte gerade noch verhindern, dass sein Kaffeebecher umstürzte. Er war fast gegen die Stoßstange des Wagens vor ihm gefahren, als der Verkehr auf der San Rafael Bridge plötzlich stockte. Die Bay Area war fast immer verstopft. Er bevorzugte die langsamere Gangart in Sacramento. Auch wenn seine Eltern und seine ältere Schwester – die sich gerade erst wieder hatte scheiden lassen und zu ihnen zurückgezogen war – noch immer in San José wohnten. David hatte die Stadt nach seinem Abschluss in Kriminaltechnik an der San José State University verlassen. Ursprünglich wollte er als Wissenschaftler arbeiten, aber nachdem er eineinhalb Jahre lang Fasern analysiert hatte, war ihm der Job doch zu öde gewesen. Er änderte seine Pläne und wurde stattdessen Polizist. David brauchte eine Arbeit, die es ihm erlaubte, sich ständig zu bewegen. Er wollte nicht jeden Tag dasselbe tun, sondern brauchte Abwechslung, musste mit Leuten reden – und ihm gefiel diese ständige Herausforderung.

Als er die andere Seite der Brücke erreichte, hatte sich der Nebel so weit gelichtet, dass er das Gefängnis sehen konnte. Von diesem Blickwinkel aus wirkte es zuerst so harmlos wie ein Universitätsgelände.

Doch die elektrischen Zäune mit dem Stacheldraht am oberen Ende und die abschreckenden Wachttürme mit Maschinenpistolenschützen zeigten beim Näherkommen die wahre Bestimmung des Geländes. Die düstere Atmosphäre durchdrang diesen Ort noch viel mehr, als es der dickste Nebel vermocht hätte. Das spürte David, während er zum Besucherparkplatz fuhr, parkte und ausstieg.

San Quentin verströmte eine eigenartige Hoffnungslosigkeit. In dem Gefängnis befand sich die einzige Gaskammer des Staates, und es gab hier doppelt so viele Insassen wie für die Räumlichkeiten vorgesehen. Dann war da die Gegenwart so vieler eiskalter Killer: Kevin Cooper, zum Tode verurteilt, weil er die Ryen-Familie mit Beil und Messer massakriert hatte. Richard Allen Davis, der Polly Klaas entführt und getötet hatte. Charles Ng, der elf Menschen gefoltert und umgebracht hatte. Richard Ramirez, der “Night Stalker”. Cary Stayner, Brandon Wilson, Scott Peterson. Die Liste war lang, die diesen Ort so anders machte als andere auf dieser Welt. Das San Quentin State Prison war mit seinen über tausendfünfhundert Quadratkilometern wie eine Stadt der Verdammten – mit eigener Postleitzahl: Kalifornien 94964. Die Hölle, sagen die, die dort waren.

Während er die äußeren und die inneren Tore und die Sicherheitschecks passierte, überlegte David, wie sich der Aufenthalt an einem solchen Ort wohl auf einen Mann wie Oliver Burke auswirkte. Zweifellos würde er empört sein und wütend. Er hatte gedacht, er wäre zu gut, um sich schnappen zu lassen. Und als er eingesperrt und dem Richter vorgeführt worden war, glaubte er, das System ausstechen zu können und nicht für seine Verbrechen zahlen zu müssen.

Nachdem David sich ausgewiesen und den Grund seines Besuches angegeben hatte, führte ihn eine Wärterin zu einer kleinen Besucherzelle. “Einen Moment, bitte”, sagte sie und verschwand.

David setzte sich auf den harten Metallstuhl in dem kalten, fensterlosen Raum und wartete. Er fragte sich kurz, ob Burke sich womöglich weigern würde, mit ihm zu sprechen – aber das glaubte er eigentlich nicht. Burke würde sich den Triumph bestimmt nicht entgehen lassen, David zu zeigen, dass er durchs Netz geschlüpft war.

Tatsächlich öffnete sich auf der anderen Seite des Raumes hinter dem dicken Trennglas eine Tür, und Burke kam herein. Er war mit seinen schätzungsweise eins fünfundsiebzig von mittlerer Statur und hatte mittelblondes Haar. Er sah schlanker, aber muskulöser aus als das letzte Mal, als David ihn im Gerichtssaal gesehen hatte. Er trug weder Handschellen noch Fußfesseln. Da es nur noch sechs Tage bis zu seiner Entlassung dauerte, wäre er ein Idiot, wenn er irgendwelche Dummheiten beginge. Jeder wusste, dass etwas in der Art äußerst unwahrscheinlich war.

Nicht hier drinnen würde sich Burke danebenbenehmen – sondern draußen. Nachdem er sich seine Verkleidung als normaler Bürger angelegt hatte, um seine krankhaften Neigungen zu verbergen.

Mit einem höflichen Nicken setzte er sich und griff nach dem Telefon, das ihnen erlaubte, sich zu unterhalten. “Ich nehme an, Sie haben die guten Nachrichten erhalten, was?”

Er zeigte hämische Freude, genau wie David es erwartet hatte. “Das habe ich allerdings”, erwiderte er.

“So ist das, wenn man die Regeln einhält.”

“Oder wenn man einen Kumpel verpfeift”, sagte David ruhig. Burkes ebene Gesichtszüge verfinsterten sich. Mit seinen eisblauen Augen und dem fast femininen Aussehen erschien er jünger als sechsunddreißig, mehr wie ein harmloser Yuppie als ein Strafgefangener. Sein harmloses Äußeres verschaffte ihm einige Vorteile. Zumindest war das so bei den Geschworenen gewesen. Sie hatten sich Stunden beraten, bevor sie ihr Urteil fällten. Sogar mit einer profunden DNA-Analyse, die bestätigte, dass Burkes Blut auf Skyes Laken war, wollte seine Familie – die ganze Gemeinde – nicht wahrhaben, dass ein erfolgreicher Zahnarzt mit einer liebenden Ehefrau und Kind und Hunderten von ergebenen Patienten zu einer solch abscheulichen Tat fähig wäre.

“Johnny ist nicht mein Freund”, erklärte Burke, um das Verhältnis zu besagtem “Kumpel” und Mithäftling klarzustellen. “Ich mochte ihn nicht mal.”

“Wusste er das auch?”

Burke reagierte nicht auf Davids Frage. “Die Polizei von San Francisco brauchte meine Unterstützung. Sie waren dafür sehr dankbar.”

“Eine Unterstützung, die sich natürlich in Anbetracht Ihrer Anhörung als äußerst hilfreich herausstellte. Gratuliere zu diesem perfekten Timing.”

David erwartete, dass Burke mit einem leichten Lächeln oder Ähnlichem reagierte. Doch der arbeitete weiter an dem Image, das er den anderen gern verkaufen wollte. “Sie wissen, dass ich nicht so einer bin wie der Rest hier.”

Verärgert ließ sich David dazu hinreißen, ihn noch ein bisschen mehr zu provozieren. “Meinen Sie, die Familienangehörigen der Frauen, die Sie umgebracht haben, finden auch, dass Sie anders sind?”

Schweigen. Dann begann Burke zu lachen, als hätte er fast Mitleid mit David. “Ich werde Sie wohl nie überzeugen können, was?”

“Sie erwarten von mir, dass ich Ihnen den Blödsinn abkaufe, den Sie den Geschworenen aufgetischt haben?”

“Es ist die Wahrheit.”

“Nein, ist es nicht.” Aber Burke war ein so überzeugender Lügner, dass manche Mitglieder der Jury die handfesten Beweise angezweifelt hatten. David war auch davon überzeugt, dass sich selbst die Polizei in San Francisco von diesem gerissenen Typen über den Tisch hatte ziehen lassen. Sonst hätten sie ihn wohl nicht für einen Hafterlass vorgeschlagen – egal, wie viele Mithäftlinge er verriet.

“Glauben Sie, was Sie wollen.” Burke wedelte mit der Hand. “Es ist vorbei, und es ist mir deshalb völlig egal.”

“Mir ist es nicht egal.” David klemmte sich den Hörer zwischen Kinn und Schulter, zog die mitgebrachten Fotos aus der Tasche und hielt sie gegen die Glasscheibe. Sie zeigten Meredith Connelly, Amber Farello und Patty Poindexter – die Leichen der drei jungen Frauen am American River. “Und zwar deshalb.”

Während Burke den Blick über die drei Fotos schweifen ließ, bemerkte David darin ein Aufflackern. Er erkannte sie wieder, aber er zeigte keine Reue. “Ich habe es Ihnen bereits gesagt: Diesen Mädchen bin ich noch nie begegnet. Sie gehören nicht zu meinen Patientinnen oder so etwas.”

Weil er dafür zu intelligent war. Er hatte sich unauffällige Opfer ausgesucht. Opfer, die nicht in seiner Nähe wohnten und in keiner erkennbaren Verbindung zu ihm standen. Er glaubte, er sei schlauer als die Polizei. Und es machte David krank, dass er bisher darin bestätigt wurde.

“Ich werde nicht aufgeben”, sagte David. “Niemals.”

Burke hielt den Hörer lässig in der Hand und spielte am Bund seiner Häftlingsjeans herum. “Dann verschwenden Sie Ihre Zeit.”

David steckte die Fotos wieder in seine Hemdtasche. “Was werden Sie denn nach Ihrer Entlassung tun?” Die Zahnärztevereinigung hatte Burke nach seiner Verurteilung die Lizenz entzogen. Er würde also in Kalifornien keine neue Praxis eröffnen können. Und selbst, wenn er es woanders versuchte, würde man schnell von seiner Vorstrafe erfahren.

Einen kurzen Augenblick verschwand die freundliche Maske, und David erblickte den wahren Oliver Burke. Verbittert. Voller Selbstmitleid. “Dank Ihnen kann ich meinen Beruf nicht mehr ausüben! Ich habe sechs Jahre Ausbildung investiert und ein paar weitere Jahre, um die Praxis aufzubauen. Aber dank Ihnen musste meine Frau sie für einen Bruchteil ihres Werts verkaufen, um zu überleben.”

“Dank mir?”, wiederholte David. “Ich bin doch nicht derjenige, der eine Frau mit dem Messer angegriffen hat!”

Ihre Blicke trafen sich. “Sie hat mich angegriffen.”

“Sie haben die Frau mit dem Messer verletzt.”

“Das war Selbstverteidigung.”

David verspürte das überwältigende Bedürfnis, dem Mann die Hände um den Hals zu legen und die Wahrheit aus ihm herauszuwürgen, aber er musste seinen Ärger und die Frustration im Zaum halten. Er durfte sich nicht von diesen negativen Gefühlen leiten lassen und die Beherrschung verlieren. “Die Beweise sprechen gegen Ihre Version.”

“Sie bestätigen aber auch Ihre Geschichte nicht. Wenn ich ihr ein Messer an die Kehle gehalten habe, wo ist es dann geblieben?”

Bei dem herausfordernden Tonfall Burkes umklammerte David den Hörer fester. Er würde den kleinen Mistkerl schon noch kriegen, und wenn es das Letzte war, was er tat. “Das würde ich gern herausfinden.”

“Es hat nie ein Messer gegeben.” David beobachtete, wie Burke mit den Fingern der linken Hand auf die Tischplatte trommelte. “Wir haben rumgemacht, als sie plötzlich ausflippte und mit der Schere auf mich eingestochen hat. Dann gab es ein Handgemenge, weil ich versucht habe, ihr das Ding aus der Hand zu reißen.”

Mehr Lügen. Skyes Verletzungen unterschieden sich von Wunden, die er ihr mit der Schere hätte zufügen können. Es musste ein Messer gewesen sein.

“Mein einziger Fehler war es gewesen, mit ihr nach Hause zu gehen”, sagte er. “Und dafür habe ich inzwischen mehr als genug bezahlt. Welcher Mann gerät nicht mal in Versuchung zu einem Seitensprung?”

“Warum gerade sie?”

“Sie hat mich angemacht.”

“Sie träumen schon wieder.”

Burke zuckte die Schultern. “Sie waren ja an dem Abend nicht dabei. Sie haben nicht gesehen, wie sie mich angelächelt und nach meinem Reißverschluss gegriffen hat.”

David riss sich zusammen, um seine Gefühle nicht zu zeigen. Burke versuchte, ihn zu provozieren, doch er weigerte sich, anzubeißen – trotz des heftigen Herzklopfens, das die Szene, die Burke heraufbeschwor, bei ihm auslöste. “Sie sind wirklich ein sehr begehrter Typ, Oliver.”

“Ein Mann merkt das, wenn eine Frau auf ihn abfährt. Vor allem, wenn sie derart scharf auf ihn ist.”

“Haben Sie eigentlich jemals an Ihre Frau und Ihre Tochter gedacht, als Sie geplant haben, diese unschuldigen Frauen zu überfallen?”

“Ich habe niemanden überfallen! Aber wenn ich diese Art Mann wäre, würde ich dabei wahrscheinlich nicht an meine Frau denken. Oder woran denken Sie so, wenn Sie den Playboy durchblättern?”, erkundigte er sich scheinheilig, als würde es ihn tatsächlich interessieren. Doch dann beantwortete er seine rhetorische Frage sofort selbst: “Sie stellen sich vor, es mit einer wie dieser zu treiben, oder nicht? Und seien wir doch ehrlich: Skye ist so heiß wie ein Playmate.”

Dass David nichts darauf erwiderte, schien Burke etwas zu verunsichern. “Stimmen Sie mir nicht zu?”

“Hören Sie auf mit diesem Unsinn.”

Burke lehnte sich vor, seine Augen funkelten. “Ich habe beobachtet, wie Sie Skye im Gerichtssaal angestarrt haben.”

David verzog den Mund zu einem anzüglichen Grinsen. Er konnte ebenso gut das Arschloch spielen. “Mehr haben Sie nicht drauf?”

Burke rümpfte die Nase und lehnte sich wieder zurück. Er legte den Hörer ans andere Ohr. “Ich weiß, dass Sie scharf auf sie sind. Welcher Mann würde nicht gern eine Nummer mit ihr schieben?”

“Genauso wie Sie?”

“Sicher”, gab er lässig zurück. “Warum wäre ich wohl sonst mit ihr nach Hause gegangen?”

“Sie kann sich nicht daran erinnern, Sie jemals vorher irgendwo gesehen zu haben, bevor Sie bei ihr eingebrochen sind.”

“Sie erinnert sich.”

“Nein, das tut sie nicht. Wenn überhaupt, hat sie Sie höflich angelächelt und ist an Ihnen vorbeigegangen.” Solche Begegnungen gab es unter Fremden ständig. Es hatte nichts zu bedeuten. Außer für Oliver Burke.

“Das sagt sie jetzt.”

“Wo war es denn?”, wollte David wissen. “Im Supermarkt? Im Kino? Auf der Fahrt über den Highway? Oder haben Sie sie gesehen, als sie eine Fahrradtour aufs Land gemacht haben? Suchen Sie Ihre Opfer immer auf diese Art aus?”

Burke rückte weiter ab. “Ich habe mich bemüht, freundlich zu sein, aber es hat wohl keinen Zweck. Sie versuchen, mich weiter zu provozieren, ohne Rücksicht.”

“Wir beide sind nicht befreundet”, gab David zu bedenken. “Das werden wir auch niemals sein. Sie brauchen nur zu antworten.”

“Das habe ich bereits getan. Im Gerichtssaal.” Burke hatte behauptet, ihr auf der Straße begegnet zu sein. Sie habe am Bürgersteig geparkt, weil sie sich verfahren hatte, und wollte ihn nach dem Weg fragen. Dann habe sie ihn zu sich nach Hause eingeladen.

Was natürlich der absolute Blödsinn war.

“Warum wiederholen Sie die Lügen jetzt nicht einfach? Befürchten Sie, sich zu verheddern?”

“Wenn Sie nicht jedes Mal einen Steifen bekämen, wenn Sie nur an Skye denken, wäre Ihnen vielleicht aufgefallen, dass ich am meisten unter diesem Zusammentreffen gelitten habe. In dieser Nacht bin ich schwer verletzt worden! Ganz zu schweigen davon, dass ich meine Zahnarztpraxis verloren habe, mein Haus und alles, was mir gehörte. Meine Familie wurde in der Öffentlichkeit gedemütigt. Und ich habe die vergangenen drei Jahre in einem engen Käfig verbracht, wo ich auf einer harten Matratze auf einem Eisenbett schlafen musste. Wenn sie mich rauslassen, laufe ich die ganze Zeit in einem gepflasterten Hof herum. Und wissen Sie, was ich dann tue? Ich zähle die Einschusslöcher der Patronen, die von den Wächtern abgefeuert wurden, um irgendwelche Eskalationen zu verhindern. Die dann dafür sorgen, dass es wieder Kugeln regnet.” Er verschränkte die Arme. “Hier drinnen ist es gefährlich.”

David lachte. “Das ist ja ziemlich theatralisch, selbst für jemanden wie Sie. Sie benutzen Gummigeschosse.”

“Das war aber nicht immer so. Abgesehen davon, sind Sie schon mal von einem Gummigeschoss getroffen worden?”

“Sie sehen eigentlich ganz gesund aus.”

“Hier ist es gefährlich”, wiederholte Burke. “Warum hätte ich meine Frau wohl sonst gebeten, mich nicht zu besuchen?”

Die plötzliche Erwähnung von Jane Burke überraschte David. Oliver Burke hatte vorher nie über seine Frau sprechen wollen. Warum heute? “War sie nicht hier?”

“Ich habe sie nach den ersten drei Monaten nicht mehr gesehen.” Er studierte seine Fingernägel, die wie immer ordentlich manikürt waren. “Ich wollte nicht, dass sie herkommt, wenn man sie dann schikaniert.”

David beschloss, auf das Spiel einzugehen und ihn reden zu lassen. “Wieso sollte sie jemand schikanieren?”

Er spitzte die Lippen. “Sie kennen die Regeln. Es ist nicht erlaubt, irgendwelche Jeanskleidung anzuziehen, um nicht mit einem Häftling verwechselt zu werden. Keine Shorts, die mehr als fünf Zentimeter Schenkel zeigen, keine engen Blusen, die die Figur betonen. Verdammt noch mal, keinen Bügel-BH! So was tragen doch alle Frauen heutzutage! Jane ist nun mal vollbusig – genau wie Skye.”

Genau wie Skye? Diese Bemerkung nervte David, aber er kämpfte gegen den Impuls, mit den Zähnen zu knirschen.

“Sie braucht diese Stützfunktion”, fuhr Burke fort. “Aber das will sie keinem dreckigen alten Gefängniswärter erklären.”

“Ihre Frau kann keine kleinen Eingeständnisse an die Kleidungsvorschriften machen?”, fragte David.

Burke starrte verkniffen auf seine Schuhe und antwortete nicht.

David stützte die Ellenbogen auf den schmalen Sims vor sich. “Oder steckt da noch mehr dahinter?”

“Zusammen zu sein, aber nicht zusammen sein zu können, ist schmerzlicher, als sich gar nicht zu sehen”, sagte er nach einer langen Pause. “Man möchte sich berühren, kann es aber nicht. Nicht richtig.” Er atmete tief durch. “Wie auch immer, jedes Mal, wenn sie herkam, musste sie sich einer demütigenden Durchsuchung unterziehen. Sie haben ihr absichtlich Angst gemacht. Haben sie davor gewarnt, dass sie kein Lösegeld zahlen würden, wenn jemand sie als Geisel nähme.” Er klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Kinn und verschränkte seine milchig weißen Finger über einem Knie. “Nach so einer Drohung möchte natürlich keine Frau wiederkommen. Was glauben Sie, wie sich die Mutter eines kleinen Kindes fühlt, wenn sie so was hört? Dass sie von einem dieser Tiere hier gekidnappt werden könnte, und keinen kümmert es?”

Er grenzte sich ständig von den anderen Kriminellen ab. Das bestätigte David in dem, was er bisher immer vermutet hatte: Er sah die Realität verzerrt, war so von seiner eigenen Perspektive eingenommen, dass er die Wahrheit nicht erkannte. “Eine andere Verfahrensweise würde die Besucher in größere Gefahr bringen.”

Burke wechselte erneut seine Position und stöhnte auf. “Aber wenn ihr irgendetwas passieren sollte, wer kümmert sich dann um unsere Tochter?”

“Dann wartet Jane also auf Sie? Sie sind noch verheiratet?”

Eine schmale Falte erschien auf seiner breiten Stirn, und David musste unwillkürlich denken, dass er genauso wenig nach einem Killer aussah wie Scott Peterson. “Natürlich. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass sie nicht kommt, weil es eine Zumutung ist. Es ist unerträglich und zu peinlich. Sie hatte nie vorher mit einem Strafgefangenen zu tun. Und jetzt sitzt ihr Ehemann im Gefängnis!”

“Die Schuld dafür kann man nur einer Person anlasten.”

In Burkes Kiefer zuckte ein Muskel. “Es ist nicht der, den Sie im Sinn haben.”

“Sie haben das Thema von selbst angesprochen.”

“Ich will nicht von Vergangenem sprechen.” Burke räusperte sich. “Meine Frau weiß, dass Skye lügt. Jane glaubt mir.”

David konnte sich gerade noch zurückhalten, um nicht den Kopf zu schütteln. Eine solche Treue erforderte wirklich unglaubliche Verdrängung. War sich Jane Burke nicht darüber im Klaren, in welche Gefahr sie sich begab? Wollte sie nicht alles tun, um ihre Tochter vor Kummer, wenn nicht sogar physischer Gewalt zu beschützen?

“Sie sind verrückt, wenn Sie dieses Vertrauen missbrauchen”, murmelte er.

“Ich werde es nicht missbrauchen.” Er klang so entschlossen, dass David ihm fast geglaubt hätte. Es war dieses unschuldig aussehende Gesicht, diese Ich-bin-nichtanders-als-du-Art. Das überzeugte praktisch jeden davon, dass er harmlos war. Aber David hatte jetzt genug von der Oliver-Burke-Show. Dieses Gespräch brachte ihn nicht weiter.

Also erklärte er Burke, dass er ihn im Auge behalten würde, und legte den Hörer auf. Aber Burke klopfte gegen die Scheibe und brachte ihn so dazu, noch einmal zum Telefon zu greifen.

“Wie geht es eigentlich Skye?”, erkundigte er sich, als würde es ihn ernsthaft interessieren. “Hat sie sich denn schon erholt?”

“Ihr geht es gut. Hat alles überstanden”, entgegnete David, auch wenn er wusste, dass es eine Lüge war. Wenn sie es überstanden hätte, würde sie keine Geister mehr verfolgen. Und sie würde sich nicht völlig verausgaben, indem sie versuchte, jedem Opfer in Sacramento zu helfen.

“Schön. Und wie gefällt ihr das neue Haus?”

David befand sich plötzlich auf höchster Alarmstufe. Skye war erst vor einem Jahr umgezogen. “Wie kommen Sie darauf, dass sie umgezogen ist?”

“Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie immer noch dort wohnt.”

Das war keine Antwort. “Skye und Sie haben nichts miteinander zu tun. Wenn Sie so schlau sind, wie Sie vorgeben, dann lassen Sie sie in Ruhe.”

“Es ist ja nicht so, als würde sie sich im Hintergrund halten”, sagte er und legte sich die Hand auf seine schmale Brust. “Ich habe sie in Talkshows gesehen, wo sie dafür plädiert, ‘Monster’ wie mich härter zu bestrafen. In den Zeitungen erscheint sie auch. Vor einigen Wochen gab es in der Zeitung einen Artikel über die Organisation, die sie gegründet hat. Wie hieß die noch mal? The Last Stand?” Er lachte. “Sie hat ja keine Ahnung, was ein richtiges Monster so anstellen kann! Aber das sieht ihr ähnlich, was? Sich immer an irgendwas hochzuschaukeln.”

David konnte es kaum ertragen, in welch zärtlichem Ton er von der Frau sprach, die er überfallen hatte. “Sie kennen Sie überhaupt nicht.”

“Was soll das heißen? Ich kenne sie besser als jeder andere – Sie inbegriffen.” Er hängte den Hörer ein, stand auf und klopfte an die Tür, um hinausgebracht zu werden.

David reagierte nicht, als der Wärter die Tür auf seiner Seite des Raumes öffnete. Er war zu sehr damit beschäftigt, Oliver Burkes letzte Bemerkung zu analysieren. Die Art, wie er Skyes Namen ausgesprochen hatte.

“Detective Willis?”, drängte der Wärter.

David blinzelte, legte den Hörer auf und lief mit bleiernen Füßen zum Ausgang.

3. KAPITEL

Das Büro von The Last Stand war in einem weißen Gebäude mit Flachdach in der Watt Avenue untergebracht. Das Haus stammte aus den frühen Siebzigerjahren, als die Architektur nach Skyes Ansicht einen absoluten Tiefstand erreicht hatte. Aus weiß gestrichener Schlacke gebaut und mit roten Lavasteinen gedeckt, war es nicht gerade ein Prachtbau. Aber es lag günstig, nur zehn Minuten von der Innenstadt entfernt. Sowohl die Interstate 80 wie auch der Highway 50 waren von hier aus gut zu erreichen. Und es lag im Erdgeschoss. Die Miete war erschwinglich. Sie hatten neunhundert Quadratmeter für nur zweitausend Dollar monatlich angemietet. Skye, Sheridan und Jasmine besaßen jede ihr eigenes Büro. Im hinteren Bereich befanden sich eine kleine Küche, zwei Besprechungszimmer und ein großer Saal, in dem sie Selbstverteidigungskurse anboten. Außerdem fanden dort Treffen mit Experten statt, die sie manchmal für ihre Klienten engagierten – Bodyguards, Privatdetektive, Anwälte, Psychologen.

Nachdem Skye endlich ihren Schlüssel gefunden hatte – die Tür wurde immer abgeschlossen, da sie nur angemeldete Besucher empfingen –, entdeckte sie einen Flyer, der innen an die Glastür geklebt war. Vermisst: Sean Brady Regan, geboren am 2. März 1964. Zuletzt gesehen am Neujahrstag. Unter dem Text befand sich das Foto eines freundlich aussehenden Mannes, den Skye drei Wochen zuvor im Büro getroffen hatte. Letzter bekannter Aufenthaltsort: Del Paso Heights, Sacramento, Kalifornien.

Sheridan musste sie entdeckt haben, als sie wie angewurzelt dort stehen geblieben war. Sie kam ihr entgegen, um die Tür zu öffnen. “Tut mir leid, ich wollte es dir heute Morgen nicht am Telefon sagen. Ich wusste, es würde dich aufregen … und du hattest ja bereits einen Schock.”

Skye erwiderte zunächst nichts. Sie deutete auf den Flyer. “Wann hast du den bekommen?”

“Die Polizei hat ihn heute Morgen vorbeigebracht.”

“Sie hat’s getan”, sagte Skye bloß. “Seine Frau hat ihn umgebracht.”

“Warum? Wegen der Versicherungssumme?”

“Nein. Sean hatte keine Lebensversicherung. Das war das Erste, nach dem ich ihn gefragt habe. Aber er hat mir gestanden, dass er sich vor ihr fürchtet. Er nahm an, dass sie sich mit einem anderen Mann trifft und die Scheidung will, aber vor der damit verbundenen Sorgerechtsverhandlung zurückschreckt.”

Sheridan klemmte sich das lange dunkle Haar hinters Ohr. Sie trug kein Make-up. Doch mit ihrer schlanken Figur, den großen grün-blauen Augen, umrahmt von dichten schwarzen Wimpern, und der makellosen Haut erregte sie immer Aufsehen. Vor allem bei Männern. “Wir können uns nicht um alles kümmern, Skye. Es ist schon fast Wochenende. Überlass der Polizei diesen Fall.”

Skye sah sie entsetzt an. “Wie kannst du so was sagen? Nach dem Datum auf dem Zettel wird er schon eine Woche vermisst. Wir müssen sofort Jonathan Bescheid sagen. Er ist gut. Der findet fast jeden.”

“Er kostet aber auch viel. Das können wir uns nicht leisten.” Sheridan legte ihr die Hand auf den Arm. “Skye, wir müssen das Geld zusammenhalten, damit wir nicht schließen müssen.”

Dass Sheridan eine solche Bemerkung machte, bedeutete, dass sie bereits Probleme hatten. Aber das wollte Skye im Moment nicht wahrhaben. Der Gedanke an Sean Regan ließ sie einfach nicht los. Der ehemalige Mechaniker, der dann Verkäufer bei einem Juwelier geworden war, hatte sie um Hilfe gebeten. Und dank seiner Frau würde er womöglich irgendwo in einem Abwasserkanal verrotten.

“Ich hatte ihm geraten, sie zu verlassen, sich aus dem Staub zu machen.” Skye atmete tief durch, um sich zu sammeln. Wieder einmal.

“Wollte er nicht?”

“Er weigerte sich, seine Kinder im Stich zu lassen. Und er zweifelte daran, dass seine Ängste berechtigt waren. Er meinte, seine Familie würde ihn auslachen, wenn er ihnen von seiner Vermutung erzählte, dass Tasha gefährlich ist.”

Sheridan drückte ihr zuversichtlich die Schulter. “Die Polizei tut, was sie kann.”

Aber das schien nie genug zu sein. David war der engagierteste Cop, den Skye kannte, und nicht einmal er war in der Lage gewesen, Burke für immer hinter Gitter zu bringen. Und es gab noch genug andere Probleme: Menschen fielen durch das soziale Netz; das System brach zusammen. Deshalb verbrachten Sheridan und Jasmine und sie fast täglich jede Minute damit, einem Opfer nach dem anderen zu helfen. Für einige engagierten sie Privatdetektive, um die Arbeit der Polizei zu unterstützen. Für andere war es ein besserer Anwalt, ein Platz zum Untertauchen, medizinische Hilfe, bis zu Psychotherapie und Beratungsgesprächen. Sie versuchten einzuspringen, wo immer es nötig war. Doch das kostete eine Menge Geld. Und obwohl sie sich selbst nur so viel auszahlten, um ihre Kosten gerade so zu decken, waren nie genug finanzielle Mittel vorhanden.

Glücklicherweise waren nun, drei Jahre nach der Gründung, auch die offiziellen Stellen, sowohl auf regionaler als auch auf überregionaler Seite, auf The Last Stand aufmerksam geworden. Inzwischen hatten sie sich bewiesen; man wusste darum, wie ernst sie ihre Aufgabe verfolgten. Ein Senator hatte versprochen, die Benefizveranstaltung am kommenden Wochenende im Hyatt zu unterstützen. Deshalb erhoffte Skye sich weitere großzügige Spenden.

“Ich fühle mich verpflichtet, irgendetwas zu unternehmen, Sher. Als wir miteinander gesprochen haben, fragte er mich, ob wir auch Männern helfen. Es schien ihm peinlich zu sein. Als wäre das irgendwie … unmännlich. Ich habe ihm geantwortet, dass wir so vielen Leuten wie möglich helfen wollen, egal welches Geschlecht, Alter oder welche Herkunft.”

“Was hast du ihm versprochen?”

“Einen Termin bei Jonathan. Ich dachte, wir sollten herausfinden, ob sein Verdacht in irgendeiner Weise begründet ist. Aber er ist nicht wiedergekommen. Ich habe ihn mehrmals angerufen, aber das war kurz vor Weihnachten, und als ich nichts von ihm hörte, dachte ich, er wäre mit seiner Familie verreist. Und jetzt … das.” Sie biss sich entsetzt auf die Lippe. Ein weiteres verlorenes Leben – ein Leben, das sie hätte retten können. “Ich hätte hartnäckiger sein sollen. Ich hätte zu ihm fahren sollen …”

“Skye, deine Annahme war vollkommen berechtigt. Wir wissen immer noch nicht, was vorgefallen ist. Vielleicht ist er auch untergetaucht, weil er Beweise dafür gefunden hat, dass er tatsächlich in Gefahr schwebt.”

“Nein. Er hätte seine Kinder mitgenommen, wenn die Situation so heikel gewesen wäre.”

“Okay. Jonathan wird sicher alles tun, um ihn aufzuspüren.” Sheridan versuchte bei den Worten zuversichtlich zu lächeln. Aber Skye entging nicht, dass sie wirklich besorgt war. So hatte sie ihre Freundin seit diesen aufreibenden Monaten kurz vor den ersten Spenden für The Last Stand noch nie erlebt. Dass sie ihre Kapazitäten überstrapazierten, war keine große Überraschung angesichts der vielen Fälle, die sie seit Erscheinen des letzten Zeitungsartikels übernommen hatten,. Der Artikel hatte ihnen eine große öffentliche Aufmerksamkeit verschafft. Sie müsste wirklich sparsamer mit ihren Mitteln umgehen. Doch es war immer so schwierig, zu entscheiden, wem man helfen sollte. Außerdem war sie mit der finanziellen Lage nicht besonders gut vertraut. Um die Buchführung kümmerte sich Sheridan. Skye organisierte und leitete die Selbstverteidigungskurse, die psychologische Beratung zur Traumabewältigung, die Seminare zum sicheren Umgang mit Waffen und das Schießtraining. Jasmine arbeitete mit den Ermittlern zusammen, um Hinweise zu finden oder Vermisste aufzuspüren. Darüber hinaus kümmerte sich jede Einzelne noch um verschiedene Fälle, bestimmte, welche Maßnahmen notwendig waren, welche Möglichkeiten es gab und wie man damit weiter verfahren konnte.

“Unsere nächste Spendengala steht doch quasi vor der Tür, oder?”

“Stimmt. Am Samstagabend.”

“Ich habe diesen Monat noch was auf meinem Konto übrig.” Weil sie das Begleichen einiger Rechnungen verschieben würde. Doch das würde sie Sheridan nicht verraten. “Ich bezahle Jonathan.”

Sheridan schloss die Augen und schüttelte den Kopf. “Skye …”

Skye knuffte sie in die Seite. “Die Organisation kann mir das Geld zurückzahlen, wenn die Benefizparty so erfolgreich ist, wie wir uns das wünschen. Okay?”

Sheridan seufzte erneut, nickte aber zustimmend. “Okay. Lass uns aus der Kälte gehen. Es fängt an zu regnen.”

Sie wandte sich um, doch vorher zog Skye sie noch einmal schnell in die Arme. “Danke für dein Verständnis.”

“Natürlich habe ich Verständnis. Das ist doch unser Job. Deshalb sind wir hier.” Sie hielt ihr die Tür auf. “Übrigens …”

Skye ließ die Schlüssel wieder in die Tasche fallen. “Was ist?”

“Hast du schon eine Begleitung für die Party?”

“Noch nicht, aber ich wüsste auch nicht, warum. Weshalb brauchen wir denn einen Begleiter?”, wollte sie wissen, während sie den Flur entlanggingen.

“Ich hab’s dir doch gesagt: Es ist ein öffentlicher Empfang. Die Mehrheit unserer Sponsoren sind Geschäftsleute, Banker, Farmer, Rancher. Du weißt schon – Konservative, bei denen alles seine Ordnung hat.”

“Na und?”

Sie erreichten den Empfangstresen, der nicht besetzt war, weil die ehrenamtlichen Mitarbeiter erst später kamen. Sheridan setzte sich, um die Post durchzusehen. “Der Senator hat sein Kommen zugesagt, und er ist auch sehr konservativ. Sein Assistent hat am Telefon so eine Andeutung gemacht … dass sie sehr darauf achten müssen, wen sie offiziell unterstützen.”

Skye stützte sich mit dem Ellbogen auf den Tresen und wartete; vielleicht war ja auch etwas für sie dabei. “Was ist falsch daran, Leute zu unterstützen, die Opfern von Gewaltverbrechen helfen? Die selbst auch Opfer waren? Woran sollte da jemand Anstoß nehmen?”

“Erst mal sind wir mit der hiesigen Polizei nicht gerade dick befreundet. Das macht uns schon mal zu einem Risikofaktor. Und wir haben uns so in die Arbeit gekniet, dass wir dabei unser Privatleben vernachlässigt haben.”

Je mehr sie sich von dem sogenannten “normalen” Leben entfernten, desto öfter diskutierten sie dieses Thema. Aber Skye hatte keine Lust, jetzt schon wieder darüber zu sprechen. Nicht, wo sie gerade im Begriff war, ihr Budget für Lebensmittel einem Ermittler zu überlassen. “Hat er das gesagt?”

“Nein. Aber …”

“Was?”, wollte Skye ungeduldig wissen.

Sheridan legte zwei Briefe für Jasmine zur Seite, warf die Werbung weg und reichte Skye einen Umschlag. “Er deutete an, dass er Spekulationen über unsere sexuelle Orientierung vermeiden möchte.”

Skye riss bei den Worten den Kopf hoch. “Nein!”

“So was würde ich mir nicht ausdenken.”

“Ich hoffe, du hast ihm gesagt, er soll sich zum Teufel scheren.”

“Nein, ich habe gesagt, dass sich eine Verbindung zu uns keinesfalls negativ auf die Unterstützung der Wähler des Senators auswirken würde.”

“Ich hätte gesagt, er soll sich zum Teufel scheren.”

“Nein, hättest du nicht. Du hättest eingesehen, dass es ein kleines Opfer für unsere Sache wäre.”

Skye seufzte und suchte nach dem Absender auf ihrem Brief. Er war von Joanna Lintz, eine Frau, der sie gleich kurz nach der Gründung von The Last Stand geholfen hatte. “Vielleicht”, räumte sie ein. “Aber es stinkt mir, dass jemand anders mir vorschreiben will, wie ich mein Privatleben gestalte.” Sie öffnete den Umschlag und überflog die Zeilen. Joanna schrieb, dass sie glücklich wäre und es ihr so gut wie nie ginge. Aber selbst diese Nachricht reichte nicht, um das, was heute geschehen war, auszugleichen. “Was hat denn die Spekulation über unsere sexuelle Orientierung mit Verbrechensbekämpfung zu tun?”, wollte sie von Sheridan wissen.

“Wir verbringen sehr viel Zeit zusammen. Wir gehen selten aus. In unserem Leben gibt es keine Männer.” Sheridan verzog das Gesicht. “Nun, zumindest keine, die nicht zu unserer Klientel gehören. Selbst Jasmine war schon wer weiß wie lange nicht mehr mit jemandem zusammen. Findest du nicht, dass an diesem Bild was faul ist?”

Skye schob den Brief in ihre Tasche und warf sich den Schal über die Schulter. “Jedenfalls nichts, was irgendjemanden interessieren sollte! Außerdem war Jasmine verheiratet.”

“Du weißt genau, dass so was gar nichts bedeutet.”

“Es ist einfach nur … ärgerlich.”

“Du hast absolut recht. Aber dieser Benefizball muss einfach ein Erfolg werden!”

Das musste er, man würde Skye sonst Wasser und Strom abstellen. “Na gut. Ich werde schon jemanden finden, den ich am Samstag mitschleifen kann”, grummelte sie. “Noch irgendwas für mich?”

“Heute nicht.” Sheridan legte den Rest der Post beiseite. “Und sieh zu, dass es jemand ist, der sich hinter den Ohren wäscht”, fügte sie dazu. “Es ist eine formelle Veranstaltung, und wir wollen einen guten Eindruck machen. Das ist unsere Chance, einen Kontakt zur Politikerszene herzustellen und zu Leuten, die wirklich Geld haben.”

Skye machte sich auf den Weg zu ihrem eigenen Büro, drehte sich aber an der Tür noch einmal um. “Einen Typen zu finden, der einen guten Eindruck macht, ist gar nicht so einfach. Kannst du dich noch an Charlie Fox auf der Weihnachtsfeier erinnern?”

“Ich habe dich vor ihm gewarnt.” Sheridan stand auf und schob den Stuhl unter den Schreibtisch. “Er trauert immer noch herzzerreißend wegen seiner Scheidung.”

“Das hast du nicht gesagt, Sher. Du hast gesagt, dein Nachbar sei so allein. Dass es gut für ihn wäre, mal rauszukommen und unter Leuten zu sein.”

Sheridan vermied es, sie anzusehen. “Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dich gewarnt habe”, sagte sie und strebte auf ihr Büro direkt gegenüber dem Empfangsbereich zu.

“Nein, hast du nicht. Du hast gesagt, er sei süß und harmlos.”

“Was ja auch stimmt.”

“Wirklich? Dieser süße, harmlose Mann hat so viel getrunken, dass er sich in einen albernen Idioten verwandelt hatte, noch bevor der Abend auch nur zur Hälfte vorbei war. Als ich ihn nach Hause fuhr, hat er auf dem Beifahrersitz geschnarcht. Ich habe ihn fast nicht mehr wach bekommen.”

Sheridan zog ihre Tür auf. Skye hatte den Verdacht, dass sie ihr Grinsen verbarg. “Tut mir leid, dass es nicht funktioniert hat. Vielleicht solltest du diesmal jemanden einladen, der dich auch wirklich interessiert.”

“Das glaube ich dir nicht!”, rief sie ihr hinterher. “Aber es gibt niemanden.”

Ihre Freundin wirbelte herum und sah sie an. “Doch, da ist jemand.”

Skye wedelte mit der Hand. “Er ist verheiratet.”

“Er ist geschieden.”

“Egal. Er wird zu ihr zurückgehen. Das macht er doch immer. Er bleibt so lange mit ihr zusammen, wie er die Spannung aushält, dann geht er. Aber er sieht eine Scheidung als Eingeständnis von Versagen. Und er ist zu störrisch, um zuzugeben, dass er einen Fehler gemacht hat.”

“Das ist er”, stimmte Sheridan zu.

“Und sie hat das, was ihm wirklich wichtig ist”, sagte Skye.

Sheridan wurde ernst. “Du bist ihm wichtig, Skye.”

Skye ging in ihr Büro. “Nicht so wichtig wie sein Sohn.”

“Es ist Oliver!”, rief Noah Burke, und Jane konnte ihm seine Bestürzung ansehen.

Sie fühlte sich plötzlich wie gelähmt bei dem Gedanken, dass ihr Mann am Telefon war, und eine Eiseskälte überfiel sie. Sie hatte sich gerade eine Stunde lang mit seinem älteren Bruder im Bett vergnügt und lag jetzt nackt zwischen den Laken. Wenn ihre Mutter Kate übers Wochenende zu sich nahm, kam Noah vorbei. Er besuchte sie immer unter dem Vorwand, einen tropfenden Wasserhahn zu reparieren oder den Rasen zu mähen – sodass seine Frau keinen Verdacht schöpfte. Aber trotzdem war es nicht gut, dass Oliver ihn bei ihr im Haus erwischte.

“Ja, ich bin einverstanden”, hörte sie ihn sagen. Dann fuhr er sich mit den Fingern durch das dichte mittelblonde Haar.

“Er ruft sonst nie am Samstagmorgen an”, flüsterte sie entschuldigend. Die Euphorie, die sie gerade noch gespürt hatte, war verflogen, und sie setzte sich im Bett auf. Noah hatte nicht vorgehabt, das Gespräch anzunehmen. Er war auf der Suche nach einer Pizzeria gewesen, die jetzt um diese Zeit offen hatte. Und war überrascht, plötzlich eine Telefonistin in der Leitung zu haben, die Oliver durchstellen sollte. Sie sagte sofort ihren Spruch auf, den Jane selbst schon Hunderte Male gehört hatte: “Der Anruf kommt von einem Insassen des Kalifornischen Strafvollzugs.”

Was für ein schlechtes Timing! Oliver hatte ihr erklärt, dass es nur ein Telefon für jede Abteilung in San Quentin gab. Das hieß, es warteten ständig fünfundvierzig Typen darauf, an die Reihe zu kommen. Er schaffte es tatsächlich, immer genau dann anzurufen, wenn es ihr am wenigsten passte.

Natürlich wollte sie in letzter Zeit am liebsten überhaupt nicht mit ihm reden. Er tat gerade so, als müsste sie wegen seiner Haftentlassung völlig aus dem Häuschen sein. Wie kam er nur darauf, dass er nach allem, was sie seinetwegen hatte durchmachen müssen, einen glücklichen Empfang verdiente? Vielleicht war er nicht schuldig, was die versuchte Vergewaltigung betraf. Aber er hatte lange vor ihr das Ehegelöbnis gebrochen. Und das hatte Jane den größten Schmerz bereitet, den sie sich vorstellen konnte. Sie hatte alles verloren, und dazu noch ihre Würde. Niemand sonst aus ihrem Bekanntenkreis musste mit einer solchen Schande leben. Sie hatte einen Gatten, der im Gefängnis saß! Es wäre schlimm genug, wenn man ihn wegen Unterschlagung oder irgendeinem Wirtschaftsdelikt verurteilt hätte. Aber versuchte Vergewaltigung! Das warf nicht nur ein schlechtes Licht auf ihn, sondern auch auf sie. Die Experten meinten, es habe etwas mit Macht zu tun, nicht mit Sex. Mein Gott, wie oft hatte sie das gehört? Trotzdem war es stigmatisierend, ließ sie dastehen, als könnte sie ihren Mann nicht befriedigen. Wenn er das, was er braucht, zu Hause bekommt, warum muss er sich dann woanders umsehen? Niemand hatte es wirklich ausgesprochen. Doch an den Blicken hatte sie erkannnt, dass es so mancher gedacht hatte.

Sie wünschte, diese Leute könnten sie mit Noah sehen. Er war viel größer als Oliver, er führte ein Bauunternehmen, und er war in großartiger Form. Er konnte es immer kaum erwarten, sich über sie herzumachen.

Autor

Brenda Novak
Brenda Novak hätte es sich nie erträumt, einmal eine so erfolgreiche Autorin zu werden, interessierte sie sich doch in der Schule stark für Mathematik und Naturwissenschaften und wählte Betriebswirtschaftslehre als Hauptfach auf der Universität.
Für ihren ersten Roman brauchte Brenda fünf Jahre – sie wollte perfekt sein. Und sie hatte Erfolg...
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