Die Frau seines Bruders

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Der ewige Zweite? Nach dem Tod seines Bruders Alex muss sich Brock der Vergangenheit stellen. Immer beanspruchte Alex Vorrang: beim Vater, auf der Ranch, bei der Frau, die sie beide liebten. Brocks Herz gehörte nie einer anderen als Kylie. Doch der Geist seines Bruders steht immer noch zwischen ihnen, denn Kylie erwartet Alex' Kind …


  • Erscheinungstag 05.10.2008
  • Bandnummer 1648
  • ISBN / Artikelnummer 9783863498832
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Wild Horse Junction, Wyoming

Kylie Warner verglich sich nicht oft mit anderen Frauen. Sie war niemand, der sich viele Gedanken um sein Äußeres machte, und schon immer hatte sie sich draußen in der Natur oder auf einem Pferderücken am wohlsten gefühlt. Ihre Kleidung wählte sie deshalb meist mehr nach praktischen denn nach modischen Gesichtspunkten.

Heute trug sie das glatte blonde Haar zum Pferdeschwanz gebunden und hatte rasch den alten Parka übergeworfen, der schon etwas eng über ihren Umstandskleidern saß. Aber als sie vorhin im „Clementines“ dieser unverschämten und zugleich attraktiven Kellnerin gegenübergestanden hatte, war sie sich plötzlich klein und hässlich vorgekommen. Mit einem Mal fragte sie sich, was seit dem Tod von Alex aus ihrem weiblichen Stolz geworden war.

„Ich bin Trish“, hatte die Kellnerin mit einem gezwungenen Lächeln erklärt. „Wir können in das Büro vom Chef gehen. Er ist über Mittag weggefahren.“

Als sie mit Kylie am Telefon diesen Termin vereinbart hatte, sollte es um Trishs Pferd gehen, das sie vielleicht auf Kylies Saddle Ridge Ranch in Pension geben wollte.

Seit Kylie schwanger war, hatte sie keine Pferde mehr trainieren oder auch nur Reitstunden geben können. Bis ihr Baby zur Welt kam, musste sie versuchen, die Ranch durch die Aufnahme von vierbeinigen Pensionsgästen über die Runden zu bringen. Sie war jetzt im siebten Monat, aber immer noch arbeitete sie für zwei, versuchte, Saddle Ridge in Gang zu halten, und verdiente gleichzeitig mit ihrem Job bei der Zeitarbeitsfirma von Wild Horse Junction das dringend benötigte Bargeld dazu.

Kein Wunder, dass sie seit Monaten nicht mehr beim Friseur gewesen war und kaum Make-up, außer einem bisschen Lippenstift, auftrug, wenn sie jeden Morgen die Ranch verließ.

Während sie der aufreizenden Brünetten in dem schwarzen Minirock folgte, spürte Kylie ein unheilvolles Kribbeln im Nacken. Etwas an Trish Hammonds Verhalten war sonderbar. Unwillkürlich legte Kylie sich schützend die Hand auf ihren dicken Bauch.

Sie will nur ein Pferd bei dir unterstellen, ermahnte sie sich.

Doch als sie in dem kleinen, muffigen Büro standen und Trish Hammond die Tür schloss, wuchs Kylies Unbehagen. Entschlossen straffte sie die Schultern, hob das Kinn und sah der Frau offen in die Augen. „Sie möchten ein Pferd in Pension geben?“

Trishs knappe rote Bluse spannte sich über ihrer vollen Brust, als sie achtlos abwinkte. „Das habe ich so nie gesagt. Ich habe etwas hier, das Sie vielleicht interessiert. Es gehörte Ihrem Mann.“

Trish öffnete ihr rotes Ledertäschchen, holte etwas Glänzendes heraus, und Kylies Magen krampfte sich zusammen.

Sie hatte die Gürtelschnalle von Alex gleich erkannt. Er hatte eine ganze Sammlung davon besessen, alle bei Rodeos gewonnen. Bullenreiten war seine Leidenschaft gewesen und hatte ihn vor ein paar Monaten schließlich das Leben gekostet.

Kylies Mund war wie ausgetrocknet, ihr Herz raste. Das war es also. Plötzlich bewahrheiteten sich ihre schlimmsten Befürchtungen. Wie oft hatten diese Ängste in den letzten Jahren an ihr genagt und sie gleichzeitig dazu gebracht, den Kopf in den Sand zu stecken. Jetzt konnte sie die Augen nicht mehr vor der Wahrheit verschließen. Jetzt musste sie das hier durchstehen.

Sie nahm die Gürtelschnalle, die Trish ihr hinhielt, drehte sie um und sah das eingravierte Datum auf der Innenseite. Alex war seit vier Monaten tot, aber immer noch hatte er die Macht, ihr wehzutun. Es war ein Datum im April – dem Monat, bevor sie schwanger geworden war.

Als sie den Blick wieder hob, wusste sie, dass Trish die Frau war, die bei der Ranch angerufen und jedes Mal aufgelegt hatte, wenn Alex nicht zu Hause gewesen war. Mit dieser Frau hatte Alex sie betrogen, und sie selbst hatte es nicht einmal gewusst. Es waren Trishs Initialen auf jener Restaurant-Serviette, die sie nach dem Tod von Alex zwischen seinen Kleidern gefunden hatte.

Aber warum nur hatte Trish sie kommen lassen? Um sie zu demütigen? Um mit eigenen Augen die Frau zu sehen, die Alex geheiratet hatte und dann betrog?

Einen Moment lang spürte Kylie gar nichts mehr, eine große Leere breitete sich in ihr aus. Sie hätte diese Frau anschreien, ihr an die Kehle springen und ihr das ganze Ausmaß ihrer Verletztheit ins Gesicht schleudern können. Doch sie war wie gelähmt.

Ihr Stolz gab Kylie einen Stich: Nein, Trish Hammond sollte ihre zitternden Hände nicht sehen. Die Genugtuung wollte sie dieser Frau nicht bereiten.

Mit gestrafften Schultern legte sie die Schnalle auf den Tisch, unterdrückte das Beben in ihrer Stimme und sagte laut: „Wenn Alex Ihnen das gegeben hat, dann wollte er es so.“

Tränen waren ihr in die Augen gestiegen, deshalb drehte sie sich abrupt um und verließ schnell das Gebäude. Draußen lief sie tränenblind zu ihrem kleinen blauen Pick-up am Rand des Parkplatzes, und während sie fieberhaft nach ihren Schlüsseln wühlte, versuchte sie, an nichts zu denken … nichts zu fühlen … sich nicht zu erinnern.

Sie fuhr vom Parkplatz auf den Wild Horse Way hinaus. Unterwegs schaltete sie die Heizung an, aber gegen die Kälte in ihrem Inneren konnte auch der warme Luftstrom nichts ausrichten. Ihre Tränen flossen nun unaufhaltsam. Sie dachte daran, wie sie damals beschlossen hatte, Alex zu verlassen, wenn er nicht mit ihr zu einer Eheberatung ginge.

Bevor er zu seinem letzten Rodeo nach Las Vegas aufgebrochen war, hatten sie sich gestritten. Er hatte ihr vorgeworfen, sie sei schwanger geworden, um ihn zu Hause zu halten. Im Gegenzug hatte sie darauf beharrt, dass ihre Ehe nur noch eine Chance hätte, wenn sie es mit einer Paarberatung versuchten. Das war auch der Grund gewesen, warum Kylie den Job bei der Zeitarbeitsfirma angenommen hatte. Sie wollte nicht nur mehr Geld verdienen, um die Rechnungen zu bezahlen, sondern auch, um sich die Beratung leisten zu können. Um ihre Ehe zu retten und mit Alex vielleicht noch einmal von vorn zu beginnen.

Jetzt weinte sie laut, und das Schluchzen schüttelte sie, während sie einem tiefen Schlagloch auswich. Als sie an die Befriedigung auf Trish Hammonds Gesicht dachte, spürte sie einen solchen Schmerz in der Brust, als bräche ihr in diesem Moment tatsächlich das Herz.

Das nächste näherkommende Schlagloch sah sie kaum. Als sie direkt hineinfuhr, riss der brutale Stoß ihr das Steuer aus der Hand, der Pick-up schleuderte nach rechts und raste direkt auf den Abhang zu.

„ Oh Gott, mein Baby“, flüsterte sie.

Dann kippte der Wagen auf die Seite, und Kylie wurde gegen die Tür geworfen. Als ihr Kopf auf das Lenkrad prallte, versank sie in dichtem Nebel. Sie ließ zu, dass er ihr Bewusstsein auslöschte, und spürte vor allem Erleichterung, als der Schmerz in ihrem Herzen nachließ.

1. KAPITEL

Als Brock Warner am Sonntagnachmittag ihr Krankenhauszimmer betrat, spürte Kylie einen Moment lang Panik in sich aufsteigen. Sie saß fertig angezogen auf einem Stuhl am Fenster, und ihre Tasche stand gepackt neben ihr. Der erzwungene Aufenthalt im Krankenhaus hatte ihr seit Freitag viel Zeit gelassen, um die Begegnung mit Trish Hammond in der Erinnerung immer wieder zu durchleben. An fast nichts anderes hatte sie in diesen Tagen gedacht als an die Untreue ihres Mannes.

Und hier tauchte wie aus dem Nichts sein beinahe verschollener Halbbruder auf! Wie hatte er von ihrem Unfall erfahren? Wollte er sie jetzt dazu überreden, Saddle Ridge zu verkaufen?

„Was machst du denn hier?“ Die Frage war ihr einfach so entschlüpft. Kylies Gefühle lagen blank.

Brock schob seinen schwarzen, breitkrempigen Hut etwas höher und blieb zwei Schritte vor ihr stehen. „Dix hat mich angerufen. Er macht sich Sorgen um dich“, antwortete er ruhig.

„Mir geht es prima“, erklärte sie fest. Der alte Dix, ihr Vorarbeiter, hätte sich da nicht einmischen sollen!

„So siehst du aber nicht aus.“ Brocks ausdrucksvolle schwarze Augenbrauen gingen in die Höhe, als er die Armschlinge und die dicke Beule an ihrer Stirn betrachtete.

Das Apachenblut ihres Schwagers machte sich in dem samtenen Ton seiner Haut bemerkbar, in seinen tiefdunklen Augen und dem fast blauschwarzen Schimmer seines Haars. Wenn er ging, sprach oder lächelte, strahlte Brock Warner eine Sinnlichkeit aus, wie Kylie sie bei wenigen Männern gesehen hatte.

Es hatte sie durcheinandergebracht und kribbelig gemacht, als sie ein Teenager war … und tat es jetzt immer noch. Plötzlich war jener Abend wieder da, an dem sie ihren Highschool-Abschluss gefeiert hatten, jener Abend, an dem sie ihn geküsst hatte und …

Schnell schüttelte sie die beunruhigenden Erinnerungen ab und stand vorsichtig auf. „Es tut mir leid, dass Dix dich extra hergeholt hat … wo auch immer du gewesen bist.“

„Texas“, antwortete Brock knapp.

„Seit wann bist du hier?“, fragte Kylie vorsichtig, während sie ihn unwillkürlich musterte. Sie hatte Brock seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Damals war er zu Jack Warners Beerdigung angereist – in Begleitung der Frau, die er kurz zuvor, fern von allen, geheiratet hatte.

„Seit einer guten Stunde“, entgegnete Brock auf ihre Frage. „Dix sah müde aus, also habe ich ihm angeboten, dich abzuholen.“

Dix war zu müde gewesen? Kylies Ärger darüber, dass er einfach die Initiative ergriffen und ohne ihr Wissen Brock benachrichtigt hatte, verrauchte. Dix war ein alter Freund ihres Vaters und auf seine ruhige Art immer für sie dagewesen, seit sie damals nach Saddle Ridge gekommen war. Zu zweit hatten sie beide schon lange vor dem Tod von Alex versucht, die Ranch ohne Hilfe von außen in Gang zu halten – und umso mehr nach dem Tod ihres Mannes.

Brocks Blick wurde weicher, und er ließ ihn von Kylies offenem blondem Haar zu ihrem Umstandskleid wandern. „Es tut mir leid, was passiert ist.“

Das hatte er auch am Telefon gesagt, nachdem er die Beerdigung seines Bruders verpasst hatte. Brock war irgendwo in Lateinamerika mit seiner Arbeit als Geologe beschäftigt gewesen und hatte über eine Woche lang keine Nachrichten erhalten. Zu spät hatte er sich bei Kylie gemeldet und von dem Rodeo-Unfall erfahren.

Zu dem Zeitpunkt hatte Alex schon unter der Erde gelegen, und Kylie hatte Brock nicht vom desolaten Zustand der Ranch erzählen wollen. Damals am Telefon hatte sie Brock erklärt, sie sei zwar schwanger, habe aber alles bestens im Griff.

„Mir tut es auch leid“, sagte sie leise. Kylie wusste, dass Brock und sein Bruder sich einst sehr nahegestanden hatten.

„Ich hätte mich öfter mal melden sollen“, bemerkte Brock, und sie hörte das aufrichtige, tiefe Bedauern in seiner Stimme.

Der Riss in Kylies Herz wurde noch ein wenig tiefer, als sie an ihr eigenes letztes Zusammensein mit Alex dachte. Danach war er überstürzt zu seinem letzten Rodeo aufgebrochen, und sie selbst war überzeugt gewesen, dass ihre Ehe damit am Ende war.

Sie schluckte. Nach dem, was sie jetzt von Trish Hammond wusste, war es mit ihrer Ehe schon viel früher aus gewesen.

Eine lächelnde Krankenschwester platzte ins Zimmer, streifte Brock mit einem bewundernden Blick und reichte Kylie einige Papiere. „Hier sind Doktor Marcos Anweisungen. Er hat ja heute Morgen schon alles mit Ihnen besprochen.“

Kylie überflog die Checkliste: In den kommenden zwei Wochen sollte sie sich schonen und viel liegen.

Sanft nahm Brock ihr die Papiere aus der Hand. „Ich habe dem Arzt gesagt, dass ich darauf achte, dass du dich an seine Anweisungen hältst.“

„Was soll das heißen?“, erwiderte sie empört. „Fahr ruhig zurück nach Texas, Brock, ich brauche dich hier nicht. Dix hätte dich gar nicht anrufen sollen.“

„Du selbst hättest mich schon viel früher anrufen sollen.“ Brock schüttelte den Kopf. „Wir haben noch Zeit zum Reden. Komm, wir fahren nach Hause.“

Als Brock sie am Ellenbogen nahm, fühlten sich Kylies Knie auf einmal butterweich an. Der herbe Duft seines Aftershave stieg ihr in die Nase, und sie spürte die Stärke seiner großen Hand. Vor Jahren hatte Kylie von mehr als nur Freundschaft mit Brock Warner geträumt, aber damals hatte er sie für zu jung gehalten. Da war sie siebzehn gewesen und er zweiundzwanzig. Bei seinem nächsten Besuch hatte er eine Frau mitgebracht, und Kylie war klargeworden, dass sie wohl nie einen Platz in seinem Leben hatte.

Ein halbes Jahr später war sie mit Alex vor den Traualtar getreten.

Sie und Alex waren zusammen zur Schule gegangen. Er hatte sie auf dem Schulhof geneckt und mit ihr die Hausaufgaben gemacht. Dann starb Kylies Vater, und sie musste die kleine Familienranch verkaufen, um die Schulden zu bezahlen. Sie bezog auf Saddle Ridge ein Zimmer über dem Stall und kümmerte sich um die Pferde. Damals war Alex wie ein Bruder für sie gewesen, bis er ihr nach dem Tod seines eigenen Vaters plötzlich mit seinem ganzen Cowboy-Charme den Hof machte. Und es war nicht nur sein Charme gewesen: Er brauchte sie.

Jetzt fragte sich Kylie, ob er sie wohl je wirklich geliebt hatte. Sie selbst hing auf ihre loyale Art an ihm. Bis dass der Tod euch scheidet. Ja, sie hatte Kinder mit ihm gewollt, aber Alex hatte den Gedanken an Kinder immer aufgeschoben, und erst als sie schon ein paar Jahre verheiratet gewesen waren, war ihr klar geworden, dass er immer selbst ein Kind geblieben war: Alex wollte Rodeos reiten, und das bis zum Ende seiner Tage.

Als eine Pflegerin mit einem Rollstuhl ins Zimmer kam, löste Kylie sich aus Brocks sanftem Griff. „Ich brauche keinen …“

„Krankenhausvorschrift“, erklärte die Frau munter.

Brock nahm Kylies abgewetzte Ledertasche hoch und meinte: „Ich warte am Eingang auf dich.“

Als Brock den Raum verlassen hatte, fühlte sich Kylie beinahe schwindlig vor Erleichterung. Oder lag es nur an ihrer Gehirnerschütterung? Jedenfalls war eines vollkommen klar: Niemals wollte sie sich von Brock Warner abhängig machen. Sie ließ nicht zu, dass er auf sie aufpasste … oder sich in ihr Leben einmischte.

Kurz darauf half Brock ihr am Krankenhauseingang in einen großen weißen Geländewagen. Sie waren etwa fünf Minuten schweigend gefahren, als Kylie die angespannte Stille brach. „Hast du diesen Wagen gemietet?“

„Ja, fürs Erste. Aber so, wie dein Pick-up aussieht, werde ich mich nach einem Ersatz für ihn umsehen.“

„Dix sagt, man kann ihn reparieren“, entgegnete sie.

„Das Traggelenk ist gebrochen, und der Wagen ist fünfzehn Jahre alt. Er hat zweihunderttausend Kilometer drauf, und es wird Zeit, ihn loszulassen, Kylie.“

Sie hatte nicht nur aus Sentimentalität an diesem ersten Wagen, den sie je besessen hatte, festgehalten. Sie konnte sich einfach keinen neuen leisten.

„Was ist denn aus dem Riesenschlitten geworden, den Alex letztes Jahr gewonnen hat?“, fragte Brock.

Also wusste er davon. Der große silberne Geländewagen war Alex’ Gewinn bei einem Rodeo-Wettbewerb gewesen, aber er hatte Unmengen Sprit verbraucht.

„Ich habe ihn verkauft“, erklärte Kylie.

„Warum hast du ihn nicht behalten und dafür deinen verkauft?“, hakte Brock nach.

Weil für den Pick-up niemand mehr auch nur einen Cent bezahlt hätte.

„Ich habe es so für richtig gehalten“, entgegnete Kylie kühl.

Die Botschaft war eindeutig: Was für einen Wagen sie fuhr, ging ihn überhaupt nichts an.

Brocks Kiefermuskel zuckte, und eine Falte kräuselten sich auf seiner Stirn.

Kylie wandte sich ab und sah aus dem Fenster auf die vorüberziehende Landschaft. Wenn er glaubte, er konnte nach all den Jahren einfach so auf die Ranch zurückkommen und holterdiepolter über sie hinweggehen, hatte er sich getäuscht.

„Warum hast du mich nie angerufen und mir gesagt, dass Saddle Ridge den Bach runtergeht?“, wollte Brock eine Stunde später von Dix wissen.

Der eisige Novemberwind fuhr ihm ins Gesicht, als er sich von dem Vorarbeiter abwandte und den Blick über den Hof schweifen ließ. Er sah auf die abblätternde Farbe an den Stallmauern, die wenigen Pferde, die über die Koppel liefen, und das umliegende weite Land, auf dem sich früher mindestens fünfhundert Rinder getummelt hatten. Jetzt zählte er nur etwa fünfzig.

Fassungslos schüttelte er den Kopf.

„Statt auf einen Anruf von mir zu warten, hättest du vielleicht mal nach Hause kommen können, um zu sehen, wie es uns hier geht“, bemerkte der alte Vorarbeiter.

Brock sah über die grünen Hügel in die Ferne. „Hier war nie mein Zuhause, das weißt du. Es gab keinen Platz für mich.“

„Ich weiß nur, dass du genauso stur sein kannst, wie dein Vater.“

Sein Vater.

Jack Warner war ihm nie ein echter Vater gewesen. Er hatte Brocks Mutter geheiratet, um das Gesicht zu wahren. Niemand sollte den smarten, gut aussehenden, reichen Jack Warner für einen Schuft halten, der mit einer Frau schlief und sie dann sitzenließ, als sie schwanger wurde. Selbst wenn sie eine Indianerin war.

Jack Warner heiratete Conchita Vasco, und Brock wurde auf der Ranch geboren. Aber Brock hatte nie das Gefühl, dass seinem Vater auch nur das Geringste an ihm lag. Und er wusste, warum. Seine Haut hatte die falsche Farbe. Sein Haar war kohlrabenschwarz wie das seiner Mutter, nicht Warner-blond. Jack hatte Brocks Mutter nie geliebt. Er hatte sie nicht zur Frau gewollt, und er hatte Brock nie gewollt.

Brock sah hinüber zu dem Haus, in dem er aufgewachsen war und sich doch immer als Fremder gefühlt hatte. Auf dem Dach fehlten ein paar Ziegel, und die Stufen zur Veranda sahen aus, als hätten sie längst ersetzt werden müssen.

„Seit wann geht das hier schon so?“, fragte er ungläubig.

„Seit dein Vater tot ist.“

Jetzt wandte Brock den Blick wieder zu Dix. „Alex hat das alles so herunterkommen lassen?“

„Denkst du, das ist in den paar Monaten seit seinem Tod passiert? Sieh genauer hin, Junge. Das sind die Spuren jahrelanger Vernachlässigung. Kylie hat härter gearbeitet als jeder Mann, den ich kenne. Wir beide haben versucht, alles am Laufen zu halten, aber es ging einfach nicht. Alex war zu oft fort …“

„Zum Bullenreiten?“

Dix nickte. „Immer auf der Jagd nach der nächsten silbernen Gürtelschnalle oder Prämie. Immer auf dem Sprung, die große Meisterschaft zu gewinnen. Tja, daraus ist dann ja nichts geworden.“

Brock hörte ihm wortlos zu. Wie so oft, war seinen ruhigen, markanten Gesichtszügen nicht anzusehen, was in ihm vorging.

Nach einer Pause bemerkte Dix: „Ich verstehe ja, warum du nach dem Tod deines Vaters weggeblieben bist.“

Jack Warners letzter Wille war eine Ohrfeige für Brock gewesen: Sein Halbbruder Alex erhielt die Ranch, und Brock lediglich das Recht auf die Hälfte des Erlöses, falls Alex den Besitz je verkaufte.

„Aber wieso bist du nach dem Tod von Alex nicht zurückgekommen?“, fuhr Dix kopfschüttelnd fort.

Brock zuckte schweigend die Achseln. Was sollte er darauf sagen? Dass er all die Jahre versucht hatte, die Ranch und alles, was damit zusammenhing, hinter sich zu lassen? Seine Vergangenheit einfach zu vergessen? Seine Welt war anderswo gewesen, bis Dix ihn gestern angerufen und um Hilfe gebeten hatte.

Plötzlich brach die Vergangenheit über ihn herein. Auf einmal war er wieder der kleine ungeliebte Junge, den man auf dieser Ranch immer als Kind zweiter Klasse behandelt hatte.

Er war vier Jahre alt gewesen, als Jack Warner sich von seiner Mutter scheiden ließ und sie zurück zu ihrer Familie in ein Reservat in Arizona zog. Noch heute sah er die Tränen in ihren Augen, als sie ihn bei seinem Vater zurückgelassen und ihm erklärt hatte, seine Zukunft liege in Saddle Ridge. Als er älter wurde, begriff er, was sie meinte. Wenn er auf der Ranch blieb, konnte er aufs College gehen und jeden Beruf ergreifen, den er wollte. Im Indianerreservat wären seine Möglichkeiten von vornherein eingeschränkt gewesen.

Die Sommer verbrachte er bei seiner Mutter, doch die übrige Zeit war einsam und leer ohne sie. Dann heiratete Jack ein zweites Mal, und Alex mit dem blonden Haar und den blauen Augen seiner Eltern wurde geboren. Als Jahr um Jahr verging und seine Mutter ihn jeden Herbst wieder zur Rückkehr auf die Ranch überredete, hatte Brock sich mit seinem Halbbruder angefreundet und Freude am Lernen und bei der Arbeit mit den Pferden gefunden. Und er liebte dieses Land, auch wenn er es sich ungern eingestand.

Dix kratzte sich am Kopf. „Du hast einen gesetzlichen Anteil an Saddle Ridge …“

„Nur wenn Kylie sie verkauft. Das Testament gilt für sie genau wie für Alex.“ Brock zog den Reißverschluss seiner Windjacke zu. Er musste sich wärmere Kleidung zulegen, wenn er den Winter über hierbleiben wollte.

Den Winter über. Wann hatte er denn das beschlossen?

„Und es ist kein Problem, bei deinem Job eine Auszeit zu nehmen?“, fragte Dix zögernd.

Brock schüttelte den Kopf. Er verdiente weit mehr, als er brauchte. Vielleicht, weil er pausenlos arbeitete und sich dabei auf der Suche nach Ölquellen oft in Gegenden begab, in die kaum jemand freiwillig ging. Vielleicht, weil Geld ausgeben ihn nie interessiert hatte. Ein paar Monate auf Saddle Ridge konnte er sich mühelos leisten, so lange, bis Kylies Baby auf der Welt war. Alex’ Baby.

„Kylie hatte viel um die Ohren, Junge. Denk daran“, warnte Dix ihn.

Brock nickte. Leider dachte er auch noch an vieles andere. Saddle Ridge war voll von Erinnerungen, und er spürte schon, wie diese Erinnerungen ihn wieder mit Macht zu überfallen drohten.

Es wurde Zeit, diese Macht endgültig zu brechen.

Eine Stunde später betrat Brock das zweistöckige Ranchhaus mit dem offenen Wohnbereich im Erdgeschoss und sah im selben Augenblick Kylie ausgestreckt auf dem Sofa liegen. Im Schlaf glich sie einer schwangeren Prinzessin, und fast hätte Brock über sich selbst gelacht. Kylie war niemals eine Prinzessin gewesen, das wusste er genau.

Die Frau seines Bruders saß auf dieser Ranch fest, der es an Arbeitskräften, Geld und jemandem fehlte, der das Ganze wieder in Schwung brachte. Warum hatte Alex sich nicht um die Ranch gekümmert? Warum hatte er nicht um Hilfe gebeten? Aus Stolz?

Schmerzliche Erinnerungen sprangen Brock jetzt aus jedem Winkel des Hauses an, deshalb versuchte er, sich auf die Veränderungen zu konzentrieren. Ein Teil der Möbel war neu: Das Hochzeitsgeschenk von Alex für Kylie, das hatte Dix ihm erzählt.

Die Möbel waren sehr geschmackvoll, mit schönen, gestreiften Bezügen und geschwungenen Armlehnen. Wahrscheinlich hatte Kylie sie selbst ausgesucht. Unwillkürlich dachte Brock an die Perlenkette aus Tahiti, die er Marta zu ihrer eigenen Hochzeit geschenkt hatte. Wenn Marta dich wirklich geliebt hätte, dann hätte sie nicht so leicht Schluss gemacht. Und wenn er sie wirklich geliebt hätte, wie ein Mann seine Frau lieben sollte, dann wäre er nicht so schnell darüber hinweggekommen. Vorsichtig trat Brock einen Schritt näher.

Kylies Anblick versetzte ihn zurück an jenen Abend im Stall, den er trotz allem nie vergessen hatte. Er war zur Highschool-Abschlussfeier von Alex und Kylie gekommen und hatte ihr ein kleines Geschenk mitgebracht. Daraufhin hatte Kylie ihn geküsst, und für ein paar Augenblicke war alles um ihn versunken und er hatte vergessen, dass sie noch minderjährig war und er so viel erfahrener. Aber dann hatte er den Kuss abrupt beendet und den Rückzug angetreten, was für sie beide damals sicher das Beste gewesen war.

Später an jenem Wochenende hatte Alex ihm angekündigt, dass er Kylie eines Tages heiraten werde.

Brock war an die Universität zurückgekehrt, hatte sich ein Leben fern von Saddle Ridge aufgebaut und schon bald, nachdem er sie kennengelernt hatte, Marta geheiratet.

Als spüre sie seinen Blick, schlug Kylie jetzt die blauen Augen auf und setzte sich hin. Dabei fiel ihr das offene Haar über die Schultern, und Brock dachte daran, wie er sie früher an ihrem Pferdeschwanz gezogen hatte, um sie zu necken. Wie er ihr an jenem Abend mit den Fingern durch dieses seidige Haar gefahren war.

„Ich dachte, du möchtest vielleicht etwas essen“, sagte er heiser. „Wie geht es dir? Und sag jetzt nicht ‚prima‘.“

„Die Schulter tut weh“, gestand sie und zog die Schlinge zurecht, in der ihr Arm mit der geprellten Schulter lag.

Als sie vorsichtig aufstehen wollte, kam er näher zum Sofa. „Was brauchst du?“

Mühsam lächelte sie ihn an. „Etwas Eis zum Kühlen.“

„Bleib sitzen!“, befahl er. „Ich hole es.“

Gleich darauf kam er mit den in ein Handtuch gewickelten Eiswürfeln zu ihr zurück, setzte sich neben sie und half ihr, die Schlinge abzustreifen. Als sie ihr Haar anhob und er ihr die Schlinge über den Kopf zog, streifte er mit der Hand ihre Wange, und plötzlich raste sein Puls. Wütend redete er sich ein, dass es die Furcht sein musste, ihr wehzutun. Aber auch als die Schlinge friedlich in Kylies Schoß lag und Brock ihr die Eispackung an die Schulter drückte, hämmerte sein Herz noch immer quälend in der Brust.

Kylie schloss die Augen.

„Kylie?“

„Alles prima“, murmelte sie, ohne die Augen zu öffnen.

„Die zwei Wörter sind tabu, weißt du noch?“ Solange er sie kannte, hatte sie niemals zugegeben, wenn bei ihr einmal nicht alles ‚prima‘ war.

„Seit wann bist du so ein Tyrann geworden?“, beschwerte sie sich schwach.

„Seit ich entdeckt habe, dass es sehr viel mehr Spaß macht, mein eigenes Leben zu leben und zu bekommen, was ich will, als zu versuchen, irgendjemandem hier zu gefallen“, entgegnete er ohne zu lachen.

Da schlug sie die Augen auf. „Bekommst du immer, was du willst, in Texas?“

Jetzt lachte er doch leise. „Meistens.“ Dann wurde er wieder ernst. „In Texas gibt es einige Menschen, die mich respektieren.“

Seinen Freunden und Kollegen war seine indianische Herkunft egal, für sie war er kein Außenseiter.

„Auch hier gibt es Menschen, die dich respektieren“, bemerkte Kylie leise.

„Ich musste weg von Saddle Ridge, um meinen eigenen Weg zu finden.“

„Und, hast du ihn gefunden?“

„Ja“, antwortete er knapp. Dann wechselte er das Thema. „Hast du Hunger?“

Autor

Karen Rose Smith
Karen Rose Smith wurde in Pennsylvania, USA geboren. Sie war ein Einzelkind und lebte mit ihren Eltern, dem Großvater und einer Tante zusammen, bis sie fünf Jahre alt war. Mit fünf zog sie mit ihren Eltern in das selbstgebaute Haus „nebenan“. Da ihr Vater aus einer zehnköpfigen und ihre Mutter...
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