Julia Extra Band 552

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WACHGEKÜSST VON EINEM WÜSTENKÖNIG von MAISEY YATES

Scheich Riyaz weckt nie gekanntes Begehren in Brianna. Doch sie ist ins Wüstenreich Nazul gekommen, um Riyaz auf seine standesgemäße Hochzeit mit einer anderen vorzubereiten – nicht für eine aussichtslose Affäre! Aber gegen jede Vernunft kann sie Riyaz’ Küssen nicht widerstehen …

UNTER DEM NORDSTERN LEUCHTET DIE LIEBE von JOSS WOOD

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DU LÄSST MICH MEINEN HERZSCHLAG SPÜREN von CAITLIN CREWS

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ZWISCHEN VERNUNFT UND HEISSEM VERLANGEN von KARIN BAINE

Bevor Prinzessin Gaia der Pflicht gehorcht und heiratet, entflieht sie ein letztes Mal dem goldenen Käfig des Königshauses. Bei einer Filmpremiere flirtet sie heiß mit Stargast Niccolo Pernici – und wird prompt von den Paparazzi erwischt. Ein Skandal, für den es bloß eine Lösung gibt …


  • Erscheinungstag 21.05.2024
  • Bandnummer 552
  • ISBN / Artikelnummer 9783751525640
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Maisey Yates, Joss Wood, Caitlin Crews, Karin Baine

JULIA EXTRA BAND 552

1. KAPITEL

Das erste Mal nach fünfzehn Jahren, als Scheich Riyaz al Hadid die Sonne erblickte, stand sie im Zentrum des Lichts.

Ihr rotes Haar wie entflammt, ihr heller Teint in goldenes Licht getaucht, rote Lippen wie reife Kirschen, ein Körper wie aus einem erotischen Traum.

Viele Jahre hatte er auf den Anblick einer Frau verzichten müssen, genauso viele wie auf den der Sonne. Jetzt kam er gleichzeitig in den Genuss von beidem.

„Das ist Brianna Whitman.“

Riyaz wandte sich seinem Bruder Cairo zu. Die vertrauliche Art, wie er ihren Arm berührte, brachte das Monster in Riyaz zum Knurren. Offensichtlich nicht nur innerlich, danach zu urteilen, wie Cairo und Brianna aufhorchten.

Gedanken, Worte, Gefühle, Laute. Für ihn war das alles eins.

Riyaz war fünfzehn Jahre lang in dem Verlies weggesperrt gewesen. Vor einer Woche hatte Cairo mit seinen Männern den Palast gestürmt, ihn befreit und die unrechtmäßigen Machthaber vertrieben, die ihrem Vater den Thron vor all den Jahren entrissen hatten.

Riyaz hatte eine Woche gebraucht, um den Weg bis in die oberen Stockwerke zu schaffen. Von dem Wort Freiheit hatte er eine ganz eigene Vorstellung. In seinem Geist war er all die Jahre frei gewesen, jetzt aber war auch sein Körper wieder frei, und er konnte sich bewegen, wohin er wollte. So viel Weite hatte sich vor ihm aufgetan, grelles Licht, eine Flut von Geräuschen. Also war er erst einmal dort geblieben, wo er eine Kontrolle über das besaß, was er sah, hörte und fühlte.

Doch Cairo hatte ihn jeden Tag besucht. Ebenso wie verschiedene Ärzte. Psychiater. Und nun … diese Frau.

Diese Frau, von der Cairo ihm gesagt hatte, dass sie nicht zu ihm in das Verlies kommen würde und er sie im Thronsaal willkommen heißen müsse.

Für Riyaz war es merkwürdig, Anweisungen zu erhalten, was er zu tun habe. Das Verlies war zu seiner Welt geworden. Niemand sagte ihm dort, was er zu tun habe. Im Gegenteil, diese Welt stand ihm zur freien Verfügung. Man brachte ihm Essen, und ein Wächter, der Mitleid mit ihm hatte, versorgte ihn mit Büchern. Man redete nicht miteinander, blieb sich fremd. Aber es gab auch keine Feindseligkeit.

Für seinen Körper schaffte er sich in seiner begrenzten Welt Trainingsmöglichkeiten, um fit zu bleiben. Es gab keine Zukunft, die er planen konnte. Nichts. Die ganze Zeit über war er nie sicher gewesen, ob Cairo den Angriff auf den Palast überlebt hatte.

Als dieser schließlich zurückkehrte und ihn befreite, hatte Riyaz ihn gebeten, mit dem Wächter, der ihm die Bücher gebracht hatte, Gnade walten zu lassen.

Zeit besaß jetzt eine andere Bedeutung. Es gab Aufgaben zu erledigen. Einen solchen Tagesablauf kannte er aus den ersten sechzehn Jahren seines Lebens. Erwartungen, die an ihn gestellt wurden. Unterricht in Fremdsprachen und anderen Kulturen. Während seiner Gefangenschaft hatte er seine Sprachkenntnisse durch Lesen weiter geschult. Er las Bücher auf Arabisch, Englisch, Französisch. Das Aufsaugen von Informationen und Geschichten hinderte ihn daran, den Verstand zu verlieren.

Und jetzt war er hier, in der Sonne und in Gegenwart der schönsten Frau, die er je gesehen hatte.

Das zählte zu den Dingen, die er in den langen Jahren seiner Gefangenschaft hatte entbehren müssen: Frauen.

Die Sache mit den Trieben war höchst interessant. Man konnte lernen, sie zu unterdrücken, wie er es in dem Verlies notgedrungen getan hatte. Gewohnt, nur die feinsten, in der Palastküche kunstvoll zubereiteten Speisen aufgetischt zu bekommen, hatte er sich als Gefangener von jetzt auf gleich mit einer eintönigen Diät aus lebensnotwenigen Grundnahrungsmitteln abfinden müssen. Die meiste Zeit hatte es ihm nichts ausgemacht. Dennoch gab es Tage, da ihn die übermächtige Sehnsucht nach einem Cheeseburger quälte. Warum ausgerechnet nach einem Cheeseburger, war ihm dabei nicht klar.

Ähnliches galt für Sex. Er war als Teenager in Gefangenschaft geraten, in einem Alter, in dem die Hormone verrücktspielten. Mit sechzehn hatte er noch nicht mit einer Frau geschlafen, aber natürlich oft daran gedacht. Ihm war ein Mädchen zur Frau versprochen worden, das häufig im Palast weilte. Allerdings hatte er sich vorgestellt, dass er sich vor seiner Heirat eine Reihe von Geliebten nehmen würde. Dennoch war Ariel sein erster Gedanke gewesen, als Cairo die Türen seines Verlieses geöffnet hatte. Ihr Vater hatte ihn und seine Familie verraten: Dominic Hart.

Das Erste, was er zu Cairo sagte, war deshalb, er wolle Ariel Hart. Sie sollte den Vertrag erfüllen, den ihr Vater gebrochen hatte, und damit Wiedergutmachung leisten. Aber er begehrte sie nicht. Seine Gelüste gingen mehr in die Richtung der Frau, die jetzt vor ihm stand.

Manchmal hatte er monatelang nicht darüber nachgedacht, was man ihm vorenthielt. Manchmal hatte ihn das alles mit einem buchstäblich unbändigen Zorn erfüllt. Gelegentlich sorgte aber auch gerade die Erfahrung dieses Entzugs dafür, dass er Dinge, die für andere selbstverständlich waren, ganz besonders intensiv wahrnahm. So wie jetzt.

Der Anblick dieser Frau war für ihn ein Moment reinen schmerzlichen Verlangens. Am liebsten hätte er alle aus dem Raum geschickt und sie an sich gepresst.

Doch er war sich sehr bewusst, welche Kräfte er besaß und andererseits wenig Feingefühl, weil er nichts als Zorn und Verlangen zu bieten hatte. Und dass sein Bruder sie berührte.

Geradezu zärtlich. Sein Bruder, der all die Jahre alle Freiheiten genossen hatte.

Riyaz war der Scheich. Er war dazu erzogen worden, die Macht in Händen zu halten. Der Herrscher zu sein. Doch er hatte fünfzehn Jahre lang über nichts Macht ausgeübt außer darüber, was er im Dunkeln seines Verlieses tun konnte.

Jetzt war er auf den Herrscherthron zurückgekehrt. Eine befremdliche Realität. Aber war seine Realität das nicht all die Jahre gewesen?

„Brianna …“ Genießerisch sprach er ihren Namen aus. Er schmeckte nach Sonne, Limonen und Himbeeren …

„Es freut mich, Sie kennenzulernen, Sheikh“, sagte sie. „Cairo hat mir von Ihren … Ihren Erfahrungen erzählt.“

Sie war süß. Ängstlich darauf bedacht, nichts zu sagen, was ihn verletzen könnte. Als ob es irgendetwas gab, was ihn noch hätte verletzen können.

„Seien Sie nicht so vorsichtig mit mir“, sagte er. „Ich bin nicht einfältig und nicht zerbrechlich.“

Er las so etwas wie Mitleid in ihrem Blick, was ihn mit Wut erfüllte.

„Und weshalb sind Sie hier?“, fragte er. „Sollen Sie mich wieder in Ordnung bringen?“

„Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, in Bezug auf Benehmen, Etikette und … Nun, was ich mache, ist ziemlich kompliziert, aber ich bin keine Therapeutin. Allerdings habe ich einige persönliche Erfahrungen damit, von der Welt abgeschlossen zu sein und dann wieder lernen zu müssen, sich einzufügen. Ich habe festgestellt, dass viele Menschen dabei Hilfe brauchen. Ich unterstütze Menschen, helfe ihnen, ihr Verhalten so zu ändern, dass sie die gewünschte Beförderung erhalten, dass sie es schaffen, eine erfolgreiche Beziehung zu führen oder … den Thron zu besteigen. Wobei ich zugeben muss, dass dies auch für mich eine neue Erfahrung ist.“

„Was für eine Berufsbezeichnung soll das sein?“

„Eine Berufsbezeichnung gibt es dafür nicht. Wer mich braucht, der findet mich.“

„Und warum auch nicht.“ Plötzlich wollte er alles über sie wissen.

„Wie alt sind Sie?“

„Oh. Ich … bin fünfundzwanzig.“

„Wo leben Sie?“

„In New York.“

„In einem Penthouse?“

„Es ist ein … Stadthaus.“

„Wie können Sie sich das leisten?“ Er hatte genug gelesen, um zu wissen, dass New York teuer war.

„Ich … Cairo hat mir das Haus gekauft.“

Er sah seinen Bruder an. „Was ist sie für dich?“

„Sie ist die Frau, die dir helfen wird“, antwortete Cairo. „Mehr musst du nicht wissen.“

„Ich will aber alles wissen.“

„Ich muss jetzt deinen anderen Auftrag erledigen“, sagte Cairo. „Brianna wird sich um dich kümmern, solange ich fort bin.“

„Du wirst Ariel Hart holen?“

„Bald. Ich bin noch nicht ganz bereit dafür.“

„Sie wird für das bezahlen, was ihr Vater getan hat.“

„Hältst du das für … produktiv?“, fragte Cairo.

Sein Bruder stand dieser Sache nicht neutral gegenüber. Das konnte er sehen. Und wenn er, Riyaz, nach all den Jahren der Abschottung es sehen konnte, dann war es schon sehr offensichtlich.

„Es ist mir egal, was produktiv ist! Ich bin nicht einmal sicher, was das Wort bedeutet! Man benutzt es, um auszudrücken, was man an einem Tag schafft. Tage … Nächte … was bedeutet das schon in einem Verlies ohne Sonnenlicht? Wo man einfach nur überlebt.“

„Ja, aber hier draußen scheint die Sonne, es gibt andere Menschen und Terminpläne. Genau an diesem Punkt kommt Brianna ins Spiel. Wir haben nicht endlos Zeit, sondern müssen sehen, dass du bald den Thron besteigst. Das Volk muss erfahren, dass es wieder frei ist. Ich würde dir gern alle Zeit der Welt einräumen, dich wieder einzuleben, aber wenn du hauptsächlich als Repräsentationsfigur fungierst, musst du in der nötigen Form dafür sein.“

Es war wirklich befremdlich. Sein Bruder agierte in einem ganz anderen Tempo als er. Er trug teure Anzüge, das Haar modisch kurz geschnitten, bewegte sich rasch und präzise.

Riyaz dagegen verharrte manchmal völlig reglos und beobachtete nur. Er konnte schnell sein, falls erforderlich, sah aber keinen Sinn darin, Energie zu verschwenden. Sein Handeln war immer zweckgerichtet. Er hatte ein Leben in engen Grenzen geführt, was ihn gelehrt hatte, mit seinen Kräften hauszuhalten.

Cairo lebte ganz offensichtlich nach ganz anderen Wertmaßstäben. Er war der personifizierte Exzess. Zählte Brianna zu seinen Exzessen?

Unwillkürlich knurrte er wieder.

„Was soll das?“, Cairo sah ihn aufhorchend an.

„Mir kam ein Gedanke, der mir nicht gefiel.“

„Du musst mit diesem Knurren aufhören.“

„Warum?“

„Weil die Leute so etwas nicht erwarten und verstehen.“

Riyaz blickte sich in dem opulenten Thronsaal um. Sah Brianna an, die ihm an die Seite gestellt wurde als … eine Art Führerin? Sah seinen Bruder an, der im Begriff war, zu gehen. „Ich habe nichts von dem erwartet, was in den letzten acht Tagen passiert ist. Warum sollte ich es anderen leicht machen, indem ich ihnen gebe, was sie erwarten?“

„Weil du der Scheich bist. Du musst gewisse Erwartungen erfüllen.“

„Wie sieht dein Plan aus?“, fragte Riyaz.

„In einem Monat möchte ich dich unserem Volk präsentieren. Bis zur offiziellen Präsentation will ich jedoch das, was geschehen ist, geheim halten. Wir müssen vorsichtig vorgehen. Niemand darf denken, dass wir schwach sind. Nach allem, was wir ertragen mussten, dürfen wir keine neuerlichen Unruhen riskieren.“ Cairo wandte sich um, um zu gehen. „Ich komme nächste Woche zurück. Danach fliege ich nach Europa, um Ariel zu holen, wie du mich angewiesen hast.“

„Gut.“

Sein Bruder verneigte sich kurz und verließ den Thronsaal, sodass Riyaz mit Brianna Whitman allein zurückblieb. Jetzt würde er sie alles fragen, was er wollte, denn Cairo war nicht mehr da, um sich einzumischen.

„Ist mein Bruder Ihr Liebhaber?“

Sie errötete heftig. „Wie bitte?“

„Er berührte Sie auf sehr vertrauliche Weise.“

„Cairo ist nicht …“ Wie sie seinen Namen aussprach und noch tiefer errötete, verriet ihm, dass ihr die Vorstellung nicht unangenehm gewesen wäre. „Wir sind Freunde. Wir haben nicht … diese Art von Beziehung.“

„Haben Sie einen Liebhaber?“

Sie presste die Lippen zusammen. „Hier geht es nicht um mich, sondern um Sie. Sollen wir jetzt zu Mittag essen?“

„Ich kann dieses Essen nicht essen“, sagte er. „Nicht jeden Tag. Es ist zu viel. Diese Vielfalt an Konsistenz, Geschmack, Aromen … zusätzlich zu all den anderen Veränderungen. Wie soll ich einen klaren Gedanken fassen mit …“, er deutete um sich, „… alldem um mich her?“

„Gibt es etwas Bestimmtes, das ich aus der Küche kommen lassen soll?“

„Haferbrei“, sagte er, „und Toast.“ Am Tag seiner Befreiung hatte er einen Cheeseburger gegessen. Doch danach war er zu dem zurückgekehrt, was er all die Jahre gekannt hatte. Eine Veränderung pro Tag war in Ordnung, aber alles auf einmal … war überwältigend.

„Dann lasse ich das für Sie bringen.“

„Und dann?“

„Und dann beginnt Ihr Training.“

2. KAPITEL

Brianna atmete tief ein, während sie im Speisesaal auf Riyaz wartete.

Sie war nicht auf ihn vorbereitet gewesen. Natürlich war sie hergekommen, weil Cairo sie darum gebeten hatte. Sie würde alles tun, worum dieser sie bat. Doch beunruhigender Weise hatte Riyaz das anscheinend sofort erkannt.

Ist er Ihr Liebhaber? Nein, Riyaz, aber ich habe jahrelang genau davon geträumt, während er so ziemlich mit jeder Frau geschlafen hat außer mit mir.

Tatsächlich waren ihre Gefühle für Cairo dafür verantwortlich, dass sie noch unschuldig war.

Er hatte sie gerettet, indem er sie aus dem verbrecherischen Syndikat ihres Vaters herausgeholt hatte, als sie fünfzehn Jahre alt war. Sie war im Grunde eine Gefangene gewesen. Rapunzel, eingesperrt hoch oben im Turm. Bis ihr Vater entschied, sie an einen rivalisierenden Bandenchef zu verkaufen, der seine Geschäfte vor allem im Menschenhandel machte. Cairo, der, wie sie inzwischen wusste, schon damals viele Fühler ausstreckte, um von langer Hand die Rückeroberung des Palasts von Nazul vorzubereiten, tauchte am Rand dieser Szenerie auf und rettete sie aus dem Haus ihres Vaters, wo er zu einer Party eingeladen war.

Nachdem er belauscht hatte, wie ihr Vater mit anderen seinen Plan besprach, sie an diesen Mann zu verkaufen, den er sich zum Verbündeten machen wollte. Cairo hatte sie daraufhin gesucht, und Brianna erinnerte sich immer noch ganz genau an das erste Mal, als er sie angesprochen hatte.

Er war nur einige Jahre älter als sie, groß und verwegen, wie ein gefallener Engel.

Dein Vater hat vor, dich zu verkaufen.

Ich weiß.

Sie hatte es gewusst und große Angst gehabt. Sie hatte sogar Fluchtpläne geschmiedet, aber nicht gewusst, wie sie es hätte anstellen sollen.

Komm mit mir.

Natürlich war es ein Risiko gewesen. Sie hätte buchstäblich vom Regen in die Traufe geraten können. Doch sie hatte sich entschieden, das Risiko einzugehen.

Ihr Mut zahlte sich aus. Cairo half ihr, sich eine neue Identität und ein neues Leben zu schaffen. Er brachte sie zuerst in einem Internat unter und … natürlich verliebte sie sich in ihn. Obwohl er eigentlich nicht der Mann war, den sie sich wünschte. Cairo führte ein Leben auf der Überholspur. Er reiste ständig in der Welt herum und hatte unzählige Affären. Brianna wünschte sich aber ein ruhigeres Leben. Etwas Normales. So wie das Stadthaus, das er ihr gekauft hatte und das sie so liebte, weil es sie an ihre Lieblings-Familien-Sitcoms erinnerte, mit denen sie aufgewachsen war: hübsche Tapeten, eine Wanduhr in der Küche, Efeupflanzen in den Regalen.

Cairo war kein Mann, der sich Efeu in den Küchenregalen gewünscht hätte.

Doch Brianna liebte ihn, obwohl sie wusste, dass sie nie zusammenkommen würden. Es war keine vernünftige Liebe. Aber sie kam von Herzen, ob das realistisch war oder nicht.

Er war ihr Freund. Er hatte ihr das Haus gekauft und ihr nach ihrem Studium geholfen, sich geschäftlich zu etablieren, denn er führte ihr Menschen zu, denen sie helfen konnte, weil er mit Leuten zu tun hatte, die aus ihrem alten Leben geflohen waren. Sie fand es demzufolge nur logisch und richtig, dass sie anderen bei dem Übergang half, den sie selbst so erfolgreich geschafft hatte.

Als sie sich jedoch auf diese Sache hier einließ, hatte sie mit einem nicht gerechnet: mit Riyaz. Schon als er den Thronsaal betrat, schlug ihr das Herz bis zum Hals.

Sein Anblick war irgendwie Furcht einflößend: breitschultrig, sonnengebräunter Teint, ein wahres Muskelpacket. Die dunklen Haare fielen ihm auf die Schultern, der Blick seiner dunklen Augen war durchdringend und beunruhigend. Ein dunkler, jetzt gepflegt gekürzter Bart betonte sein markantes Kinn. Zwei feine Narben über der einen Wange, waren Überbleibsel der schrecklichen Ereignisse von vor Jahren.

In manchem ähnelte er Cairo. Aber dieser hatte viele Jahre in der westlichen Welt verbracht und strahlte trotz seiner athletischen Statur mit seinen teuren Maßanzügen weltmännische Eleganz aus. Riyaz wirkte wie ein Krieger aus früheren Zeiten. Man konnte ihn sich gut mit Schwert und Schild vorstellen. Er hatte etwas Ungezähmtes an sich. Was für ein Wunder? Nach all den Jahren in Gefangenschaft. Er musste verwildert sein.

Ihr Job war es, ihm zu helfen und nicht … bei seinem Anblick zu zittern. Schon gar nicht, peinlich berührt zu sein, dass er ihr Verhältnis zu Cairo so scharfsinnig erfasst hatte.

„Wie seltsam, an einem Tisch zu essen“, sagte er, als er hereinkam. Er zog sich einen Stuhl hervor, ließ sich schwer darauf sinken und kippte dann den Stuhl zurück.

Es wirkte auf Brianna so unzivilisiert, dass es sie nervös machte. Noch nie war ihr jemand begegnet, der so ungehemmt und ohne jegliche Manieren war. Riyaz erwartete offensichtlich, dass sich die Welt um ihn drehte.

„Nun, ich stelle es mir schwierig vor, Essen und Trinken mit den nötigen Utensilien zu mir zu nehmen, ohne dabei an einem Tisch zu sitzen.“

„Es ist nicht unmöglich.“

„Nun, unser Ziel ist es, eine andere Situation zu schaffen.“

Sie hatte sich entschieden, das Gleiche wie er zu essen. Was sie beim Anblick des Porridges bereute. Wenigstens hatte man einen kleinen Teller mit Trockenobst und etwas Zucker dazu serviert, was Riyaz jedoch ignorierte. Stattdessen nahm er eine Scheibe Toast und tunkte sie in den Haferbrei.

Brianna rümpfte die Nase und verteilte Datteln auf dem Brei.

„Sie haben gesagt, Sie hätten einen ähnlichen Hintergrund wie ich. Erzählen Sie“, sagte er.

„Sich in Gesellschaft zu bewegen, bedeutet unter anderem, gewisse stillschweigende Übereinkünfte zu beachten“, erwiderte sie. „Eine solche Übereinkunft ist, dass wir Menschen, die wir nicht kennen, keine sehr persönlichen Fragen stellen. Schon gar nicht in einer Umgebung wie dieser. Wenn wir uns bei einem Staatsdinner befänden, könnten Sie nicht einen der Anwesenden nach einem erlittenen Trauma befragen. Genauso wenig würde man Ihnen Fragen nach Ihrer Zeit in der Gefangenschaft stellen.“

„Warum nicht? Die letzten fünfzehn Jahre habe ich nichts anderes erlebt.“

„Richtig. Aber viele Menschen möchten nicht über Dinge reden, die ihnen Schmerz verursachen.“

„Schmerz? Wissen Sie, was mir Schmerz verursacht? Die Erinnerung daran, wie meine Eltern gestorben sind. Wie ich im Getümmel im Thronsaal meinen Bruder aus den Augen verlor und mich fragte, ob er auch niedergemetzelt worden war, während ich von zehn Männern fortgeschleppt wurde. Zehn Männer, so viele waren nötig, obwohl ich erst sechzehn war. Zuerst habe ich nur gewütet. Aber man lernt, dass man nicht ewig wütend sein kann. Man lernt zu warten. Genau das habe ich all die Jahre getan. Ich habe meinen Körper fit gehalten und auch meinen Geist. Natürlich bin ich nicht mehr derselbe, der ich war, als man mich wegsperrte. Doch ich habe mich auch nicht ganz verloren.“

„Ich verstehe.“

Er legte den Kopf schief. Seine Augen funkelten amüsiert. Brianna fragte sich, ob er nicht sogar gelächelt hätte, wäre er nicht Riyaz gewesen. „Jetzt sind Sie neugierig geworden“, sagte er, „und würden mir gern einige Fragen stellen. Aber nachdem Sie mich gerade eben für meine Fragen zurechtgewiesen haben, tun Sie es nicht.“

„Also schön, wie haben Sie es angefangen?“

„Training ist sehr gut für den Geist und den Körper. Also habe ich dafür gesorgt, dass ich mich bewege, und ich habe gelesen. Hunderte von Büchern, Tausende. Einer der Wächter brachte sie mir. Wissen Sie, was mir an den Personen in Büchern gefällt? Man liest ihre Gedanken. Sie werden klar und deutlich vor einem ausgebreitet. Wenn ich Sie ansehe, kann ich Ihre Gedanken nicht lesen. Also frage ich Sie, was Sie denken. Ich würde Sie gern lesen wie ein Buch, würde gern die Abschnitte sehen, die zwischen den Worten liegen, die Sie aussprechen, denn ich glaube, dass es einige sind.“

„Mag sein“, räumte sie vage ein. „Aber das ist ein interessanter Punkt. Was waren Ihre Lieblingsbücher?“

„Unterschiedlich. Natürlich habe ich viel gelesen, um an Informationen zu gelangen, denn ich konnte ja nicht hinausgehen und mich anders informieren. Ich habe aber auch gern Thriller und Spionageromane mit viel Action gelesen.“

„Liebesromane?“

Ein seltsamer Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Das war manchmal schwierig für mich.“

Natürlich, da ging es ganz wesentlich um zwischenmenschliche Beziehungen, und genau die waren ihm in all den Jahren seiner Gefangenschaft vorenthalten worden.

„Schön, zumindest ist es gut, zu wissen, dass Sie gern lesen. Das liefert Ihnen viele Themen, über die Sie reden können. Bücher eignen sich perfekt für Small Talk.“

Nur, dass er überhaupt nicht der Typ Mann zu sein schien, der Small Talk machen wollte. Fast bedauerte Brianna das, was sie zu tun im Begriff stand.

Er gefiel ihr so, wie er war. Geradeheraus, anders. Das Problem mit ihrer Arbeit bestand nicht zuletzt darin, dass sie vor allem eine Persönlichkeit, die anders war, in die Gleichförmigkeit zurückführen sollte. Genau das wollten … oder brauchten … die Menschen, die sie engagierten, aus den unterschiedlichsten Gründen.

Und Cairo hatte ihr die Bedeutung der Lage klargemacht. Sie würde also tun, worum man sie gebeten hatte.

„Als Erstes sollten wir uns wohl mit den richtigen Tischmanieren befassen.“

„Die hat man mir schon als Kind beigebracht.“ Seine Miene wurde finster.

„Nach meiner Erfahrung bringt es mehr, direkt von vorn zu beginnen, als alte Erinnerungen hervorzukramen. Erinnerungen sind oft mit schmerzlichen Erlebnissen verknüpft. Ich könnte mir vorstellen, dass es für Sie leichter ist, einfach neu anzufangen.“

Er sah sie skeptisch an. „Meinetwegen.“

Sie stand auf und stellte sich neben ihren Stuhl. „Wie wär’s, wenn Sie aufstehen? Und dann versuchen Sie noch einmal, sich hinzusetzen.“

„Warum?“

„Das, wie Sie das vorhin gemacht haben, war etwas ungehobelt.“

Riyaz erhob sich also, und Brianna wurde sich auf fast unerträgliche Weise bewusst, wie klein sie neben ihm war. Sie reichte ihm gerade bis zu den Schultern. Er war so breit und imposant … er hätte sie mit einer Hand zerdrücken können.

Allerdings schien er nicht unberechenbar zu sein. Zumindest hoffte sie das. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, und er wich zur Seite wie ein großer Hengst, dem man sich nur behutsam nähern durfte. Brianna war fast versucht, die Hand auszustrecken und ihm beschwichtigend ein Stück Zucker zu reichen.

Er ist kein Tier, sondern ein Mann.

Doch wenn sie ihn ansah, meinte sie deutlich, beides in ihm zu sehen. Galt das nicht für alle Menschen? Nur dass sie alle mehr oder weniger gelernt hatten, die eine Seite zu unterdrücken: die elementare Seite.

In der kurzen Zeit, die sie bisher in Riyaz’ Gesellschaft verbracht hatte, war ihr aufgefallen, wie elementar er reagierte.

„Sie ziehen den Stuhl langsam zurück“, wies sie ihn nun an, „und versuchen, kein Geräusch dabei zu machen.“

„Ich verstehe es nicht. Warum versuchen die Leute immer … leise zu sein?“

„Sie sind es gewohnt, allein zu sein. Hier aber sind immer viele Menschen. Wenn wir alle so laute Geräusche machen würden, wie wir wollten, könnte das … problematisch werden.“

„Aber ich bin der Scheich. Als der darf ich doch wohl so laut sein, wie ich will.“

„Schön, das klingt nachvollziehbar. Aber … warum lernen wir nicht erst einmal und sehen dann …“

„Sie erinnern mich an meinen Lehrer, als ich ein Junge war. Ich bin aber kein Kind mehr.“ Er machte einen Schritt auf sie zu. „Sie müssen nicht mit mir reden, als wüsste ich gar nichts.“

Er war ihr jetzt so nah, dass sie seinen Duft einatmete. Brianna spürte, wie ihr die Hände zitterten und das Herz pochte, und sie war dagegen vollkommen machtlos.

„Sie sind sehr schön“, sagte er in unverändertem Ton. Nicht sanft, nicht schmeichelnd. Es war einfach nur eine Feststellung, wie alles, was er bisher geäußert hatte. Was seine Worte irgendwie … noch schmeichelhafter machte, denn er log nicht. Er sagte nichts, um eine bestimmte Reaktion zu bewirken.

„Danke“, erwiderte sie. Tatsächlich erinnerte sie sich nicht, wann jemand sie zuletzt so unumwunden als schön bezeichnet hatte.

„Ist Ihnen klar, wie viele Jahre ich mein Leben fristen musste, ohne irgendetwas Schönes zu sehen? Keine Blume. Nicht die Sonne. Nicht die Wüste. Keine Frau. Nur graue Mauern und eiserne Gitter. Männer in Uniform. Immer das gleiche Essen. Dieselben vier Wände. Hier draußen ist alles anders.“

„Richtig. Machen wir weiter. Jetzt nehmen Sie Platz. Aber … sanfter.“

Nun lächelte er wirklich. „Ich weiß nicht, ob ich fähig bin, irgendetwas sanft zu machen. Aber vielleicht achtsamer.“

„Bitte.“

Sie beobachtete, wie er sich wieder hinsetzte. Diesmal war es viel besser.

„Rücken Sie Ihren Stuhl so zurecht, dass Sie den Personen gegenüber am Tisch gerade ins Gesicht blicken.“

„Warum haben Sie für sich das Gleiche servieren lassen wie ich?“, erkundigte er sich und nahm erneut einen Löffel voll Porridge.

„Es schien mir eine Frage der Höflichkeit, denn ich vermute, dass Sie nicht freiwillig all die Jahre Porridge gegessen haben. Ich wollte so zeigen, dass mir das bewusst ist.“

„Sie machen sich zu viele Gedanken über andere Menschen. Mir ist es völlig egal, was Sie essen.“

„Das merke ich mir fürs nächste Mal.“

„Werden wir alle Mahlzeiten gemeinsam einnehmen?“

„Eine Weile, ja.“

„Und was für Lektionen wird es sonst noch geben?“

„Sie haben da eine falsche Vorstellung. Es gibt keinen festen Stundenplan. Ich möchte es für Sie einfacher machen. Wenn es also etwas gibt, das Sie besonders schwierig finden, dann sagen Sie es mir.“

Er lachte tatsächlich. „Sie wollen, dass ich Ihnen sage, wenn ich mich unbehaglich fühle?“

„Was ist daran so lustig?“

„Ich weiß gar nicht mehr, woran ich Unbehagen erkennen soll. Anders gesagt … alles hier bereitet mir Unbehagen. Ich habe mich in meinem Verlies wohlgefühlt.“ Er verstummte, und sie konnte ihm ansehen, wie er bewusst entschied, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. „Ich mag es, wie es sich anfühlt, Ihren Namen auszusprechen. Brianna. Es ist ein interessanter Name. Ich habe ihn noch nie zuvor ausgesprochen.“

„Nun, ich habe den Namen Riyaz auch das erste Mal ausgesprochen, als ich mich auf unser Treffen vorbereitet habe. Das ist also anscheinend etwas, das wir … gemeinsam haben.“

„Ich denke nicht, dass dies hier eine Frage des Wohlbefindens ist“, kehrte er unvermittelt zum ursprünglichen Thema zurück. „Wie sollte es auch? Ziel ist es nicht, dass ich mich wohlfühle, sondern dass die Ordnung im Land wiederhergestellt wird. Wir sollten also nicht über mein Wohlbefinden sprechen.“

Brianna versuchte es erneut. „Sie hatten einen Plan, um sich während der Zeit im Verlies nicht selbst aufzugeben. Es ist eine Methode, sich ganz auf sich zu konzentrieren. Sie haben systematisch Ihren Körper trainiert. Dies hier ist ganz ähnlich. Es gibt eine Mission: Ihre Rückkehr auf den Thron. Das ist es, was wir fürs Erste ins Auge fassen. Es geht nicht um die ganze Zukunft, sondern nur um diesen Moment: Wenn Sie dem Volk als rechtmäßiger Herrscher präsentiert werden.“

„Ich werde heiraten“, warf er ein.

„Richtig.“ Cairo und er hatten über eine Frau gesprochen, während sie dabeistand. „Kennt diese Frau Sie?“

„Sie wurde mir vor Jahren versprochen, als wir noch Kinder waren. Mein Bruder weiß, wo sie ist. Sie wird die Vereinbarung achten.“

Brianna kämpfte gegen ein seltsames Gefühl von Verlassenheit an. Cairo würde nach Nazul zurückkehren, um seinem Bruder zur Seite zu stehen. Vermutlich als oberster Kommandant des Militärs. Sein bisheriges Leben in Europa und Amerika hatte damit ein Ende, und er würde auch nicht mehr Teil ihres Lebens sein. Sein Platz war hier. So wie Riyaz’ Platz und der dieser Frau, die Riyaz heiraten würde, hier war.

Nur sie, Brianna, hatte keinen Platz.

Im Grunde hätte sie daran gewöhnt sein müssen. Trotzdem wurde sie plötzlich von einem Gefühl unendlicher Einsamkeit überwältigt.

„Nun, ich werde Sie auch auf Ihre Heirat vorbereiten.“

3. KAPITEL

Riyaz wachte am nächsten Morgen auf, als die Kälte des Steinbodens, auf dem er schlief, ihm so sehr in die Glieder kroch, dass er sie nicht mehr ignorieren konnte. Diese körperlichen Schmerzen waren für ihn gleichbedeutend mit dem Sonnenaufgang. So begrüßte er den Tag und wusste, dass er noch lebte.

Nachdenklich strich er mit den Fingerspitzen über die Einkerbungen, die er in das Mauerwerk geritzt hatte, um den Verlauf der Zeit zu markieren und die Kontrolle zu bewahren. Als er in das Verlies geworfen worden war, hatte er die Wahl gehabt, sich der Gefangenschaft zu ergeben oder das Verlies in sein ganz persönliches Königreich zu verwandeln, in dem er regierte.

Er hatte sich für Letzteres entschieden. Innerhalb der Mauern seines Gefängnisses war er der uneingeschränkte Herrscher gewesen.

Es verlassen zu können, wann immer er es wollte, war immer noch ein überraschendes Gefühl. Als er die Treppen hinaufging, spürte Riyaz, wie er sich unwillkürlich innerlich wappnete … gegen die überwältigende Helligkeit und die Vielfalt der Geräusche.

Nicht vorbereitet war er auf den Anblick Briannas. Sie stand, von ihm abgewandt, oben auf den Stufen, bekleidet mit einem cremefarbenen Kleid, das gerade über die Knie reichte. Fasziniert betrachtete er ihre zierlichen Fesseln, den makellosen, hellen Teint ihrer schlanken Beine. Wie sich der feine Stoff ihres Kleids an ihren wohlgerundeten Po schmiegte, weckte in ihm ein Verlangen, das alle Gelüste überstieg, die er bislang verspürt hatte.

Sie drehte sich zu ihm um, und es war, als würde die Sonne aufgehen. „Oh“, sagte sie, „wo sind Sie gewesen?“

„Ich habe geschlafen“, antwortete er.

„Aber, der Bedienstete sagte mir, dass Sie nicht in Ihrem Zimmer seien.“

„Ich war dort“, widersprach er. „Dort unten.“

„Das ist nicht Ihr Zimmer. Das ist ein Verlies.“

Er zuckte mit den breiten Schultern. „Es war fünfzehn Jahre lang der einzige Ort, an dem ich geschlafen oder irgendetwas getan habe. Zu viel Veränderung ist mir unangenehm. Ich ziehe es vor, an einem vertrauten Ort zu schlafen.“ Er bemerkte das Mitleid in ihrem Blick. „Sehen Sie mich nicht so an. Ich bin kein Tier, das Sie retten müssen.“

„Ich bemitleide Sie nicht“, sagte Brianna.

Er sah sie zweifelnd an. „Tatsächlich nicht?“

„Nein. Ich bin vielleicht etwas besorgt. Warum bestrafen Sie sich?“

„Stellen Sie sich vor, Sie müssten versuchen, in der Wüste zu überleben. Dort gibt es keinen Schutz vor den Elementen. Alles ist so viel heller, heißer, als Sie es gewohnt sind. Alles fühlt sich anders an. Natürlich habe ich hier schon gelebt. Aber das ist sehr lange her, und alles, was Sie vernünftig und bequem finden, ist nicht vernünftig und bequem für mich. Ich muss mich davor schützen, so wie Sie sich schützen müssten, wenn Sie da draußen in der Wüste wären.“

„Ich verstehe. Es tut mir leid. Mir ist bewusst, dass Sie es tun, weil Sie sich nur so wohlfühlen, und dass es Ihnen völlig vernünftig erscheint. Aber wir … Woran wir arbeiten wollen, ist das Erscheinungsbild nach außen.“

„Richtig. Deshalb sollte es Ihnen egal sein, was ich tue, wenn keiner mich sieht.“

„Es ist mir aber nicht egal. Ich möchte nicht, dass Sie auf einem Steinboden schlafen, wenn oben ein gutes Bett auf Sie wartet.“

Heißes Verlangen durchzuckte ihn, überraschend und unerwartet. Ein Bett, das klang verlockend. Solange sie darin lag. Er versuchte, sie sich nackt vorzustellen. Ob ihre Haut am ganzen Körper so makellos hell schimmerte?

Er hatte in seiner Gefangenschaft auch einige Kunstbände studiert. Brianna erinnerte ihn an die Darstellungen nackter Schönheiten aus der Renaissance. Dieses rote Haar, dieser blasse Teint, die reizvollen weiblichen Rundungen. Würde sie ihn voller Verlangen oder voller Mitleid ansehen, wenn er sie berührte?

Letzteres hätte er nicht ertragen.

„Welche Lektion steht heute an?“

„Ich dachte, wir würden zusammen frühstücken und dann etwas Zeit in der Bibliothek verbringen. Es gibt hier im Palast eine beeindruckende Bibliothek.“

„Immer noch?“ Tatsächlich hatte er noch nicht gewagt, danach zu sehen, aus Angst, die kostbare Literatursammlung seines Vaters sei zerstört worden. Allein die Vorstellung war für ihn unerträglich gewesen, waren doch Bücher in den einsamen Jahren der Gefangenschaft seine treuen Begleiter gewesen.

„Ja“, bekräftigte Brianna nun. „Es ist eine wundervolle Sammlung. Ich habe mir auch schon einige Bücher daraus ausgeliehen.“

„Der Plan gefällt mir.“

„Und später kommen wir vielleicht noch dazu, uns einen Film anzusehen.“

Den letzten Film hatte er als Teenager gesehen. „Auch das würde mir gefallen.“

„Gut, dann bereiten wir das vor. Ich kann Ihnen etwas über einige der Filme erzählen, die gedreht wurden, seit Sie in das Verlies gesperrt wurden.“ Sie sah ihn entschuldigend an. „Es tut mir leid, das klang irgendwie … respektlos.“

„Ich kann die Jahre nicht auslöschen. Sie haben mich zu dem gemacht, was ich bin, mit allen Vor- und Nachteilen. Ich empfinde keinen Zorn deswegen. Ich bin nicht verletzt.“

„Wie ist das möglich?“

„Weil ich gelernt habe, im Augenblick zu leben. Und da kommen die Bücher ins Spiel.“

„Ich verstehe. Wollen wir jetzt frühstücken gehen?“

„Ja.“

„Ich habe mir die Freiheit genommen, Ihnen heute Morgen aus der Küche etwas anderes bringen zu lassen. Ich dachte, wir wagen eine kleine Veränderung.“

„Was ist das?“, fragte Riyaz, als sie den Speisesaal betraten. Auf dem Tisch stand eine Schüssel, deren Inhalt seinem gewohnten Porridge ähnelte. Aber es war anders. Es waren Früchte und Zucker darüber verteilt, und auf einem Teller daneben lag eine Art Brot, aber es war kein Toast.

„Es sind auch Haferflocken, nur die Konsistenz ist anders. Mit Früchten und Zucker, wie ich es mag und dazu amerikanische Biscuits.“

„Biscuits? Ist man die nicht zum Dessert?“, fragte er verwirrt.

„Nein. Diese sind eher wie die englischen Scones. Und auch wieder nicht. Ich habe ein Rezept gefunden, und in der Küche hat man sie gern für Sie gebacken.“

„Ich weiß nicht, ob ich die mag.“

„Ich weiß es auch nicht. Aber Sie können sich ja immer noch Toast bringen lassen, denn Sie sind kein Gefangener mehr, und dies ist kein Verlies. Sie müssen nicht essen, was immer man Ihnen serviert. Sie sind der Scheich.“

Sie sah ihn erwartungsvoll an. Hoffnungsvoll. Also nahm er Platz, so wie sie ihn tags zuvor angewiesen hatte … und bemerkte, wie ihre Augen erfreut aufblitzten.

Das wollte er so oft wie möglich bei ihr bewirken. Er probierte das Hafermüsli, fand es nicht zu sehr anders, obwohl die Beigabe von Früchten und Zucker ihm einen stärkeren Geschmack verlieh. Zwar war er sich nicht sicher, ob ihm das besser schmeckte, aber da Brianna offensichtlich zufrieden war, wollte er ihr die Freude nicht verderben.

Die Biscuits schmeckten ihm tatsächlich gut.

„Nehmen wir sie mit in die Bibliothek“, entschied er spontan, denn er hatte es plötzlich sehr eilig, diesen Raum zu sehen, den er, seit er ein Junge war, nicht mehr betreten hatte.

Es war seltsam, all diese Orte wieder aufzusuchen. Den Thronsaal. Das Schlafzimmer, das man für ihn hergerichtet hatte. Den Speisesaal. Draußen war er noch nicht gewesen. Größere Ausflüge schienen derzeit noch nicht ratsam. Riyaz hatte das merkwürdige Gefühl, sich auf zwei verschiedenen Zeitebenen zu bewegen. In der Gegenwart und viele Jahre zuvor, als er noch ein Junge gewesen war. Damals hatte er Bücher noch nicht zu schätzen gewusst.

Das hatte er in der Gefangenschaft gelernt. Sie waren seine einzige Flucht gewesen. Sein einziges Fenster zur Welt draußen. Und obwohl er Brianna gesagt hatte, dass Liebesromane nicht so sein Ding gewesen seien, lag es vor allem daran, dass sie Sehnsüchte in ihm geweckt hatten. Nach Gesellschaft. Und natürlich die Beschreibung der körperlichen Liebe zwischen Mann und Frau … In vielen Romanen war detailreich beschrieben, wie der Mann die Frau befriedigte oder die Frau den Mann. Gelegentlich regte es seine Fantasie derart an, dass es ihn überwältigte. Wenn ihn eines in seiner Gefangenschaft unglücklich gemacht hatte, dann die vergebliche Sehnsucht nach der Berührung einer Frau.

Die Nähe zu Brianna ließ ihn dieses Gefühl nur noch heftiger empfinden. Zum ersten Mal stand er neben einer Frau, deren Hände er wirklich auf seinem Körper fühlen wollte. Es war ein Verlangen, das alles übertraf, was er je zuvor gespürt hatte.

Doch dann öffnete sie die Tür zur Bibliothek, und seine Gedanken wurden erst einmal abgelenkt. Von Erinnerungen. Von der erhabenen Pracht dieses Raums, von Büchern vom Boden bis zur hohen Decke. Leitern an den Regalen stellten sicher, dass man an all die Schätze gelangen konnte.

Sein Vater hatte Stunden hier verbracht. Riyaz hatte es damals nicht verstanden. Inzwischen begriff er die Bedeutung.

„Ich kann nicht glauben, dass man sie nicht zerstört hat. Als Akt reiner Boshaftigkeit wäre es so naheliegend gewesen.“

„Ich weiß nicht sehr viel über die Leute, die den Palast besetzt hielten, bevor Ihr Bruder … die Macht zurückerobert hat“, sagte Brianna. „Allerdings habe ich den Eindruck, dass es ziemlich dunkle Zeiten waren.“

„Auch wenn es komisch klingt, weil ich als Einziger die ganze Zeit über hier gelebt habe, aber ich weiß auch nicht viel über sie. Ich hatte eigentlich nur Kontakt zu der Palastwache. Ehrlich gesagt, habe ich nie wirklich verstanden, warum der Diktator mich hier als Gefangenen gehalten hat. Vielleicht hat es ihm eine persönliche Befriedigung, ein besonderes Machtgefühl verschafft, mich wie einen Hund zu halten, anstatt mich zu töten. Ich werde es wohl nie erfahren. Er hat wie so viele andere den Umsturz nicht überlebt. Nur die Wache, die mir die Bücher brachte, hat Cairo verschont. Ich hatte ihn darum gebeten.“

„Oh.“ Brianna war blass geworden.

„Haben Sie gedacht, es wäre unblutig gewesen? Das ist ein Staatsstreich nie, und der ursprüngliche, widerrechtliche war es ganz sicher nicht.“ Beklemmende Erinnerungen drohten ihn zu überwältigen … an jene letzten Momente im Palast, ehe man ihn in das Verlies schleppte. Er wollte nicht daran denken. Wollte nicht noch einmal seine Mutter sterben sehen. Seinen Vater. Vielleicht war er deshalb davor zurückgeschreckt, den Palast ausgiebig zu erkunden. Es brachte ihm die Vergangenheit zu nahe.

All die Jahre hatte er nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart gelebt. Nur das war erträglich. Diese Flure waren voller Geister der Vergangenheit. Er war es nicht gewohnt, damit umzugehen.

Er ging zum ersten Regal und nahm ein Buch heraus. „Little Women … Kleine Frauen, von Louisa May Alcott. Das habe ich gelesen.“

„Wirklich? Es ist eines meiner Lieblingsbücher“, sagte Brianna begeistert.

„Ja, es ist gut.“ Riyaz strich über den Titel auf dem Einband. Es war viele Jahre her, dass er es gelesen hatte, denn es war eines der ersten Bücher gewesen, die der Wächter ihm gebracht hatte. Er ging weiter an dem Regal entlang. „Die Schweizer Familie Robinson. Das habe ich auch gelesen. Stolz und Vorurteil von Jane Austen.“

Er berührte den Buchrücken eines weiteren Buchs. „Ich hätte nie gedacht, dass mein Vater dieses in seiner Bibliothek hatte.“ Es war ein sehr freizügiges Buch über die erotische Beziehung zwischen einer jungen Frau und einem Milliardär. Riyaz hatte es sehr lehrreich gefunden.

Sie zog vielsagend die Brauen hoch. „Ich glaube, so ziemlich jeder hat es gelesen, als es herauskam.“

„Sie auch?“

Brianna lachte. „Nein, ich hatte kein Interesse. Das hat Ihnen tatsächlich einer der Wächter gebracht?“

„Ja, es war zumindest sehr … informativ.“

Sie lachte wieder. Riyaz hatte plötzlich den Verdacht, dass sie nur lachte, weil sie es eben nicht gelesen hatte und deshalb nicht wusste, wovon er sprach.

„Hier ist etwas, das ich nicht gelesen habe.“ Er zog einen reichlich zerlesenen Band heraus, auf dessen Einband ein Mann mit einer Pistole abgebildet war. Offenbar eine Spionagegeschichte. Es schien zu einer ganzen Serie zu gehören, weshalb er gleich mehrere Bände herausnahm. Schließlich konnte er jetzt wählen, was er lesen wollte.

Neben ihm begann Brianna, eine der Leitern hochzusteigen. Unwillkürlich folgte er ihr mit seinen Blicken, in der Hoffnung, noch etwas mehr von ihren hübschen Beinen zu sehen.

Doch dann wurde die schwere Holztür zur Bibliothek unvermittelt aufgestoßen. Brianna schnappte hörbar nach Luft, ihr Fuß glitt auf der Leitersprosse aus und sie drohte hinzufallen. Geistesgegenwärtig sprang Riyaz vor und fing sie in seinen Armen auf. Erschrocken blickte sie zu ihm auf.

Schlagartig war er nicht mehr im Hier und Jetzt. Das angstvolle Gesicht, in das er blickte, war nicht mehr Briannas, sondern das seiner Mutter.

Er stellte sie auf die Füße und schob sie schützend hinter sich, während er sich der Tür zuwandte. Auf der Schwelle sah er einen Mann stehen. Riyaz knurrte wie ein Raubtier und stürzte sich auf ihn.

„Sheikh Riyaz!“ Der Mann hob erschrocken beide Hände, aber Riyaz ließ sich nicht beirren.

„Wie kannst du es wagen!“

„Mein Scheich!“

Ein Geräusch. Riyaz flog herum. Nichts. Er wandte sich wieder dem zitternden Mann zu, der … der irgendetwas getan hatte. Menschen starben um ihn her. Ein heilloses Chaos. Alles brach zusammen. Der Mann war schuld, und andere Männer waren es auch.

Voller Wut packte Riyaz einen Tisch und schleuderte ihn zur Seite. Dann einen Stuhl, den er gegen die Wand schmetterte. Doch er konnte nicht klar sehen. Sein Zorn übermannte ihn. Wieder schleuderte er einen Stuhl zur Seite, dann einen Tisch. Wo versteckten sie sich?

„Riyaz.“

Wie aus weiter Ferne hörte er eine Stimme. Die Stimme einer Frau. Er wandte sich zu ihr um und nahm sie schützend in seine Arme.

„Riyaz“, sagte sie, leise und beruhigend. „Ich bin es. Brianna. Alles ist in Ordnung. Ich habe mich nur erschrocken. Es war ein kleiner Unfall.“

Er knurrte.

„Nein“, sagte sie beschwichtigend. „Es ist alles in Ordnung. Wir sind in der Bibliothek. Sie sind in Sicherheit.“

„Sie …“

„Ich auch. Ich bin in Sicherheit.“

Sie legte ihm beide Hände auf die breite Brust. Für Riyaz war es, als würde sie wie mit einem Defibrillator sein Herz wieder in den richtigen Rhythmus versetzen.

Brianna. Er blickte in ihr Gesicht und las die Angst in ihren weit geöffneten Augen.

Sie hatte Angst vor ihm.

„Ich dachte … Ich habe gesehen …“

„Ich weiß“, sagte sie. „Es tut mir leid. Ich habe mich erschrocken und bin von der Sprosse abgerutscht. Ich hätte mich auf der Leiter besser festhalten sollen.“

„Nein.“ Er berührte ihre Wange. Ihre Haut war tatsächlich so zart, wie er es sich vorgestellt hatte. „Sind Sie in Ordnung?“

„Ja.“

Riyaz wich zurück, weil ihre Nähe plötzlich ganz andere Gefühle in ihm weckte. Wie hatte er sich so vergessen können? Das war ihm noch nie zuvor passiert.

Oh doch, das ist es!

Nur im Schlaf. In den Albträumen, von denen er regelmäßig heimgesucht wurde. Man hatte streng darauf geachtet, dass sich in solchen Phasen keine losen Gegenstände in seiner Zelle befanden, weil er mit Sachen warf. Weil er gefährlich war, und das betraf ihn, aber auch jeden, der sich in der Nähe der Gitter befand. Doch in diesem Zustand zwischen Wachen und Schlafen wusste er nicht wirklich, was er tat. Das konnte er einordnen.

Aber das hier … das war etwas ganz anderes. Wenn er am hellen Tag so ausrastete … Keiner würde sich in seiner Nähe mehr sicher fühlen. Keine Frage, er musste Briannas Hilfe annehmen, oder er würde für jeden im Palast eine Gefahr darstellen.

Und natürlich musste er sie beschützen. Vor ihm.

„Wo ist der Mann?“

„Er ist gegangen“, antwortete Brianna sanft. „Keine Sorge, wir …“

„Ich hätte Sie verletzen können.“

„Aber Sie haben es nicht getan.“

„Nein.“ Doch allein die Möglichkeit … Wie konnte sie nur so gelassen damit umgehen?

Und plötzlich begriff er. Er war nur eines von vielen Monstern, denen sie geholfen hatte. Eine Episode wie diese konnte sie vermutlich gar nicht überraschen. Vielleicht hatte jeder ihrer Klienten sich das eine oder andere Mal so vergessen, vielleicht hatte jeder davon sie in den Armen gehalten …

Riyaz knurrte unwillkürlich.

„Was ist?“ Sie sah ihn an.

„Ich muss das wiedergutmachen.“ Er entschied sich, ihr den wahren Grund für seine Reaktion besser zu verschweigen.

„Unsinn. Sie müssen gar nichts wiedergutmachen, Riyaz.“

„Ich sollte eine Weile in das Verlies zurückgehen.“

„Das ist wirklich nicht nötig …“

Doch seine Entscheidung stand fest. Er ließ sie stehen und machte sich auf den Weg.

4. KAPITEL

Nun, das war ein ziemliches Desaster gewesen.

Brianna bebte immer noch. Sein Zorn war schrecklich mit anzusehen gewesen. So furchterregend. Zu tun, als hätte sie keine Angst, war eines der schwersten Dinge gewesen, die sie je getan hatte.

Aber sie hatte den Schrecken in seinem Gesicht gesehen und ihn nicht noch verstärken wollen, indem sie Riyaz ihre Angst zeigte.

Sie atmete tief ein und blickte sich in der demolierten Bibliothek um. Unwillkürlich legte sie sich eine Hand auf die Brust, um zu fühlen, wie ihr Herz pochte.

Dann erinnerte sie sich, wie es sich angefühlt hatte, die Hände auf Riyaz’ breite Brust zu legen. Er war so athletisch. So stark. Er hätte diesen armen Mann mit bloßen Händen ins Jenseits befördern können, und er hatte ganz so ausgesehen, als hätte er es beabsichtigt.

Wie er sie in seinen Armen gehalten und an sich gedrückt hatte … Er hatte ihr nicht wehtun wollen, das bezweifelte sie nicht eine Sekunde. Er hatte sie beschützen wollen. Aber was war in diesem Moment in ihm vorgegangen? Für wen hatte er sie gehalten?

Er ist traumatisiert.

Dessen war sie sich natürlich bewusst. Sie war im Haus eines Mafiabosses aufgewachsen. Wer dort verkehrte, fasste andere nicht mit Samthandschuhen an. Zwar hatte man sie, so weit wie möglich, vor Gewalt und anderen unschönen Dingen abgeschirmt, aber als ihr Vater ihr eröffnet hatte, dass er sie an einen Rivalen verkaufen wolle, hatte dieser Mann ihr unmissverständlich erklärt, was er mit ihr vorhabe. Es war ein schreckliches und auch gewaltsames Szenario gewesen.

Sie hatte immer gewusst, dass sie nicht in einer normalen Familie und in einem normalen Haus lebte. Und wie bei Riyaz waren Bücher ihr Trost gewesen. Sie hatten ihr den Blick dafür geöffnet, dass es auch ganz andere Familien und eine ganz andere Welt gab und ihr Vater ihr keineswegs Liebe entgegenbrachte.

Und dann, wie im Märchen, hatte Cairo sie gerettet.

Seitdem hatte sie sich immer nur ein ganz normales Leben gewünscht. Doch was hatte sie stattdessen getan? Sie hatte die vergangenen zehn Jahre damit verbracht, einen Mann zu lieben, der nichts von ihr wollte.

Du weißt doch längst, es ist das Risiko nicht wert.

Schon vor Langem war sie zu diesem Schluss gelangt. Sie würde es nie bei ihm versuchen. Er war ihr Freund. Sie waren zu unterschiedlich und …

In diesem Moment summte ihr Handy in ihrer Tasche.

„Ja?“

„Ich hätte gern einen Zwischenbericht“, meldete sich Cairo.

„Er schläft im Verlies und hat soeben die Bibliothek demoliert.“

„Oh. Das ist nicht akzeptabel.“

„Es tut mir leid, Cairo, aber er wird nicht einfach so über Nacht wieder in Ordnung sein. Er ist schwer traumatisiert.“

„Der Psychiater meinte, er sei völlig in Ordnung.“

„Er hält sich bemerkenswert angesichts dessen, was er hinter sich hat. Doch zu behaupten, es hätte keine Wirkung auf ihn gehabt, wäre … blind. Dumm. Natürlich gibt es Nachwirkungen. Er ist sehr achtsam, was ihn selbst betrifft, und klug. Er weiß, dass das, was er sich zumuten kann, Grenzen hat. So eine Grenze habe ich heute bei ihm erlebt. Irgendetwas ist passiert. Ein Auslöser. Ich denke, es war ein klassischer Flashback. Er dachte, ich wäre in Gefahr und …“

„Und?“, hakte Cairo nach.

„Nun, es hätte mich nicht überrascht, wenn er mich wie King Kong über die Schulter geworfen hätte und mit mir die Leiter in der Bibliothek hinaufgeklettert wäre. Er war bereit, denjenigen zu töten, den er für eine Bedrohung bezüglich meiner Person hielt.“

„Warst du denn in Gefahr?“, fragte Cairo scharf.

„Nein. Ich musste nicht gerettet werden. Obwohl Riyaz genau das versucht hat. Ich halte ihn nicht für gefährlich. Ich brauche nur etwas Zeit, und ich würde erst einmal nicht … diese Frau herbringen, wie du es vorhast.“

„Ich bin fast vor ihrer Wohnung.“

„Lass es erst einmal sein. Bring sie nicht sofort her. Alles Mögliche könnte ihn … aus der Fassung bringen. Himmel, warte einfach, bis er bereit ist, etwas Ungewöhnlicheres als Haferbrei zu essen.“

„Wenn du das sagst.“

„Ich sage es. Definitiv.“

„Also gut.“

Brianna dachte daran, wie Cairo sie vor wenigen Tagen angerufen und um diesen Gefallen gebeten hatte. Ihr Herz hatte beim Klang seiner Stimme und bei der Aussicht, ihn wiederzusehen, wie wild gepocht. Aus irgendeinem Grund erging es ihr diesmal nicht so. Wahrscheinlich hatte sie nach der Episode in der Bibliothek noch zu viel Adrenalin im Körper. „Ich muss ihm jetzt folgen und ihn irgendwie ablenken.“

„Setz ihn für heute nicht noch mehr unter Druck.“

Aber sie wollte Riyaz nicht unter Druck setzen, sondern sich vergewissern, dass es ihm gutging. „Vertrau mir. Du hast mich schließlich nicht ohne Grund angeheuert.“

„Weil ich jemanden brauchte, der ein Geheimnis bewahren kann.“

„Mag sein, aber doch wohl auch, weil du weißt, dass ich ihm helfen kann, oder?“

„Ja, natürlich.“

„Dann vertrau mir.“

Jetzt musste sie versuchen, Riyaz aus dem Verlies zu holen. Sie hatte auch eine Idee. Obwohl sie sich nicht sicher war, dass sie auf diese Weise zu ihm vordringen konnte. Doch sie hatte eine vage Vorstellung, warum er immer noch im Verlies schlief. So oder so, der Übergang nach fünfzehn Jahren Gefangenschaft ins wirkliche Leben draußen musste schwierig für ihn sein.

Kurz entschlossen ging sie in die Küche und holte ein paar Cupcakes. Würzkuchen-Cupcakes mit Cheesecake-Topping und Cupcakes mit Schokoladen-Topping und trug sie hinunter ins Verlies. Aber Riyaz war nicht da.

Brianna machte sich im ganzen Palast auf die Suche. Schließlich fand sie ihn im Thronsaal. Er stand, an die rückwärtige Wand gelehnt, und blickte sich einfach um.

„Hallo“, sagte sie.

„Was tun Sie hier?“

„Dasselbe wollte ich gerade Sie fragen. Ich hatte Sie hier nicht erwartet.“

„Sie wissen nicht alles, Brianna. Was Ihnen hoffentlich zu denken gibt.“

„Mm, nein, leider nicht.“ Sie sah ihn herausfordernd an, wollte ihm ein Lächeln entlocken. Er lächelte nicht. „Ich habe soeben Ihrem Bruder ein Update zur Lage gegeben. Und ich dachte, wir sollten vielleicht reden.“

„Warum sollten Sie mit mir reden wollen?“

„Weil es mein Job ist, Riyaz. Davon abgesehen sind Sie hier im Palast der einzige Mensch, den ich überhaupt kenne. Wenn ich also mit jemandem reden möchte, dann wohl am besten mit Ihnen.“

Statt zu antworten, warf er ihr einen argwöhnischen Blick zu.

Brianna hob das Tablett hoch, das sie in den Händen hatte. „Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.“

„Was ist das?“

„Cupcakes.“

„Ich weiß nicht, ob ich das mag.“

„Sie sollten sie probieren.“ Sein verständnisloser Blick machte sie unsicher. Deshalb entschied sie sich, das Ganze in eine Lektion umzuwandeln. „Ich denke, Sie sollten sie probieren, weil es gut für Sie wäre, überhaupt etwas Neues zu versuchen. Und ich denke, Sie sollten sie probieren, weil sie Ihnen möglicherweise schmecken werden. Warum haben Sie solche Angst davor, etwas zu genießen?“

„Ich habe vor nichts Angst“, erwiderte er prompt.

„Natürlich nicht. Sie sind ein Krieger. Ein mächtiger König.“

„Ich hatte keine Angst in der Bibliothek. Ich dachte, ich müsste kämpfen, und ich war dazu bereit. Ich bin immer bereit zu kämpfen.“

„Das habe ich Ihnen geglaubt, und ich habe nicht gesagt, dass Sie Angst hatten.“ Aber möglicherweise schreckte er vor einem Leben außerhalb der sicheren Begrenzung seines Verlieses zurück. Vielleicht konnte er nicht glauben, dass er wirklich frei war. Sie deutete auf den Thron. „Hier … werden Sie also sitzen? Oder was … Ich glaube, ich weiß nicht genau, wozu ein Thronsaal dient. Was hat Ihr Vater hier gemacht?“

Riyaz blickte sich in dem prächtigen Saal um. „Hier hat mein Vater die Würdenträger empfangen und zugehört, wenn sie ihm die Sorgen des Volks vortrugen, und über neue Gesetze entschieden. Der Saal hatte in erster Linie eine zeremonielle Bedeutung. Mein Vater verbrachte seine Zeit lieber in der Bibliothek. Er war anders als die Könige vor ihm. Moderner. Ich habe mich oft gefragt, ob er vielleicht deshalb sterben musste.“

„Wieso?“

„Er glaubte an die Rechte der Frauen, lehrte Cairo und mich, dass Frauen gleichberechtigt sind. Viele Gesetze hat er in diesem Sinn verändert. Auch was Menschenrechte betraf, war er vielen Staaten dieser Welt voraus. Damit eckt man an. Die Menschen mögen keine Veränderung. So mancher Traditionalist hasste ihn dafür.“

„Und trotzdem hat er es arrangiert, dass Sie die Tochter eines einflussreichen Mannes heiraten sollten.“

„Ja, solche politisch gewollten Ehen gab es immer noch. Die Ehe meiner Eltern wurde auch so arrangiert. Doch die beiden haben sich sehr bald lieben gelernt. Ich glaube, mein Vater betrachtete es eher als einen diplomatischen Akt denn als eine herabwürdigende Behandlung einer Frau.“

„Wie gut von ihm.“

„Mein Vater war ein guter Mann“, konstatierte Riyaz energisch. „Aber er war auch geprägt durch seine Kultur und seine besondere Stellung, die sich von Ihren Erfahrungen zweifellos unterscheiden.“

„Mein Vater war kein guter Mann.“

„Ich habe mir so etwas gedacht.“

„Mein damaliges Gefängnis war anders als Ihres. Mir war eigentlich nicht wirklich bewusst, dass es ein Gefängnis war. Ich lebte in einem wunderschönen Haus auf einem großen Anwesen. Es gab dort so viele wundervolle Orte zum Spielen. In den parkähnlichen Gärten. Es kam mir nicht seltsam vor, dass ich keine anderen Kinder einladen durfte und nicht zur Schule ging, sondern einen Hauslehrer hatte.“

„Sie haben gesagt, mein Bruder hätte Sie gerettet und zur Schule geschickt.“

„Ja, genau. Er hat mich auf ein Internat geschickt. Was für mich eine völlig neue, schwierige Erfahrung war. Ein Teenager, der von jetzt auf gleich mitten ins Leben geworfen wurde. Ich hatte keine Ahnung, wie man inmitten einer großen Gruppe Gleichaltriger überlebt. Das musste ich erst lernen. Doch letzten Endes wurde ich sehr beliebt.“

„Was glauben Sie, warum?“, fragte er neugierig.

„Weil ich eine entzückende Person bin?“

Er richtete sich auf und kam langsam auf sie zu. Wie ein Panther im Käfig. „Nein. Was glauben Sie wirklich, warum? Wirklich. Denn viele Menschen wünschen sich, sie wären beliebt. Ihr ganzes Leben beobachten sie die anderen Menschen um sie her und schaffen es trotzdem nicht, sich einzufügen. Doch Sie haben es geschafft.“

„Wenn man in einem Zuhause mit einem sehr jähzornigen Mann aufwächst, kann es eine Frage des Überlebens sein, die Stimmung im Raum und die Lage richtig zu lesen. Das ist vermutlich der Grund.“

Seine Miene wurde finster. „Hat Ihr Vater Ihnen wehgetan?“

„Nicht täglich, aber gelegentlich. Ich bekam eine Ohrfeige, wurde angeschrien. Niedergebrüllt. Das war kein Spaß. Also lernte ich, weil es nötig ist, zu lernen, wenn man sich in einer solchen Lage befindet. Diese Fähigkeit habe ich dann später im Internat auf meine dortigen Erfahrungen übertragen, und schließlich habe ich so auch gelernt, anderen Menschen zu helfen. Menschen wie Sie und ich.“

„Wie viele solche Menschen wie Sie und ich gibt es?“

„Mehr als Sie denken. Menschen, die in ihren Familien misshandelt wurden oder aus einer Sekte entkommen sind. Eine Person hatte viele Jahre unter einem kontrollsüchtigen Ehepartner gelitten. Es gibt unzählige Gründe, warum ein Mensch Schwierigkeiten hat, in der Welt zurechtzukommen. Sie sind keinesfalls allein.“

„Es würde mir nichts ausmachen, wenn es so wäre.“

„Natürlich nicht. Warum sollten Sie sich auch Beziehungen wünschen? Oder etwas Kuchen? Nehmen Sie sich einen Cupcake, Riyaz.“

Er sah sie skeptisch an.

„Riyaz“, sagte sie sanft. „Sie misstrauen einer Leckerei?“

Zögernd machte er einen Schritt auf sie zu.

Ein Lichtstrahl, der durch eines der hohen Fenster fiel, traf ihn. Was für ein schöner Mann er war! Seine markanten Gesichtszüge waren wie gemeißelt, und die beiden dünnen Narben auf der einen Wange verliehen ihm genauso wie der gestutzte schwarze Bart etwas Verwegenes. Er hatte eine athletische Figur. Das rigorose Training über die Jahre hatte sich ausgezahlt.

„Wir haben schon über Ihre Bücher gesprochen. Lassen Sie uns über Ihren Körper reden.“ Sie bemerkte seinen bezeichnenden Blick und errötete. „Ich meine, erzählen Sie mir, wie Sie sich so in Form halten. Ach, kommen Sie, Sie sind in erstaunlicher Form.“

Überraschenderweise grinste er fast jungenhaft. „Ihnen gefällt mein Körper?“

„Ich müsste schon blind sein, um nicht zu bemerken, wie toll Sie aussehen“, erwiderte Brianna tapfer und errötete noch mehr.

„Ich verstehe. Unten im Verlies gibt es eine schwere Steinbank, die ich zum Gewichtheben benutzt habe. Ich wollte weder meinen Körper noch meinen Verstand verlieren. Sie hatten mir so vieles genommen, wogegen ich mich nicht wehren konnte. Diese Macht über mich wollte ich ihnen nicht geben.“

„Das bewundere ich. Nur wenige Menschen hätten das gekonnt. Ich habe übrigens Gewürz-Cupcakes und Schokoladen-Cupcakes mitgebracht.“

Sie bemerkte, dass seine dunklen Augen interessiert aufleuchteten.

„Wollen Sie mal einen Schokoladen-Cupcake probieren?“

„Ich habe seit fünfzehn Jahren keine Schokolade mehr gegessen.“

„Riyaz, Sie müssen den Schokoladen-Cupcake unbedingt probieren.“

Sie nahm einen vom Tablett und hielt ihn ihm entgegen.

Riyaz nahm ihn und biss hinein, und Brianna war wider alle Vernunft hocherfreut, als sie sein Knurren hörte.

„Das sollen Sie doch nicht mehr tun, erinnern Sie sich?“

„Es macht Ihnen doch nichts aus“, erklärte er.

„Ja, das stimmt. Ich freue mich sogar darüber. Aber erzählen Sie das bloß keinem, denn ich soll Sie ja zivilisieren. Und Sie müssen lernen, nicht in der Öffentlichkeit zu knurren.“

Den Schoko-Cupcake hatte er schnell verdrückt und beäugte dann das Tablett.

„Nehmen Sie noch einen. Die sind alle für Sie.“

Er ließ sich nicht zweimal bitten.

„Vielleicht sollten Sie a...

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