Baccara Spezial Band 20

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AUF DER FLUCHT IN NEW ORLEANS von CASSIE MILES
Fantasievolle Kostüme, heiße Rhythmen: Ausgelassen wird in New Orleans Halloween gefeiert. Doch FBI-Agent Rafe hat nur Augen für eine zierliche Frau in der Menge. Er weiß, dass Alyssa Bailey im Zeugenschutzprogramm ist. Und er weiß auch, dass sie in dieser Nacht entführt werden soll!

ÜBERLEBEN, UM ZU LIEBEN? von HEATHER GRAHAM
Ein unbeschwerter Abend im Vergnügungspark endete in einem blutigen Massaker und zerstörte auch die junge Liebe zwischen Sarah und Tyler. Zehn Jahre später wird einer der Überlebenden ermordet – und Tyler, inzwischen Privatdetektiv, kehrt in Sarahs Leben zurück …

RAVEN’S HOLLOW – DIE RÜCKKEHR von JENNA RYAN
Raven’s Hollow hat ein düsteres Geheimnis: Vor Jahren wurde in dem Küstenort ein Mord begangen, der Täter nie überführt. Nun erhält eine Frau unheimliche Drohungen. Ermittler Eli Blume muss schnell handeln. Denn Sadie Bellam, deren Tod angekündigt wird, ist seine Geliebte!


  • Erscheinungstag 07.10.2022
  • Bandnummer 20
  • ISBN / Artikelnummer 8062220020
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Cassie Miles, Heather Graham, Jenna Ryan

BACCARA SPEZIAL BAND 20

CASSIE MILES

Auf der Flucht in New Orleans

Bei der legendären Halloween-Parade in New Orleans geschieht es: Männer in Skelettkostümen greifen Alyssa an, wollen sie kidnappen! Der attraktive Rafe Fournier kommt ihr zu Hilfe. Aber ist er wirklich ein Ex-FBI-Agent, wie er vorgibt? Alyssa hat keine Wahl: Er ist ihre einzige Rettung. Gemeinsam fliehen sie vor ihren Feinden durch die Stadt …

HEATHER GRAHAM

Überleben, um zu lieben?

Der Killer lauert im Dunkeln – dann schlägt er zu. Privatdetektiv Tyler ahnt, dass der Mord etwas mit den schrecklichen Ereignissen vor zehn Jahren in dem Vergnügungspark in Brooklyn zu tun hat. Damals waren er und Sarah jung, sehr verliebt – und zu Tode verängstigt. Jetzt muss Tyler den erneuten Mord klären. Und seine schöne Ex beschützen …

JENNA RYAN

Raven’s Hollow – Die Rückkehr

Die abergläubischen Einwohner von Raven’s Hollow sind sicher, dass ein böser Geist in dem Küstenstädtchen sein Unwesen treibt. Schließlich fanden hier sogar Hexenverfolgungen statt! Aber die junge Verlegerin Sadie ist überzeugt: Ihr Stalker ist ein Mensch. Den sie zusammen mit dem Ermittler Eli Blume überführen muss, bevor sie sein nächstes Opfer wird …

1. KAPITEL

Am Tag der Toten schlängelte sich ein Umzug aus geschmückten Wagen, Musikanten, Geistern, Skeletten und Zombies durch das nächtliche French Quarter von New Orleans. Manche Feiernde hielten Fackeln, andere schwenkten Neonlichter. Alyssa Bailey stand am Straßenrand und sah dem Umzug zu. Sie überlegte, in der Parade mitzutanzen, aber traute sich nicht. Vor drei Jahren, als sie in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen worden war, hatte sie alles Bekannte hinter sich gelassen, aber sie führte immer noch das ruhige Leben einer ehemaligen Buchhalterin.

Sie hatte sich für dieses Jahr vorgenommen, etwas daran zu ändern, denn sie war siebenundzwanzig und würde nicht zusehen, wie das Leben an ihr vorbeizog. Am Wochenende nach Halloween während des Día de los Muertos verschwamm die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Verstorbenen. Das Lachen, die Lieder und die Freude der Feiernden ehrten die Toten, und Alyssa wollte sich dieser Stimmung anschließen.

Kurz vor ihrem Feierabend um halb neun war sie angerufen worden. Die Stimme des Anrufers war verzerrt gewesen, sodass Alyssa nicht hatte erkennen können, ob sie männlich oder weiblich gewesen war. Sie hatte ihr mitgeteilt, dass sie sich bei der Parade sehen würden. Deshalb hielt Alyssa Ausschau nach bekannten Gesichtern.

Schließlich gab sie sich einen Ruck und folgte dem lockenden Takt der Trommeln und Tambourins. Neben ihr bliesen Musiker so laut in Trompeten und Saxofone, dass es in den Ohren schmerzte. Menschen tanzten in verrückten Kostümen um sie herum. Sie versuchte, sich einzureden, Spaß zu haben, aber sie konnte sich nicht überzeugen. Im Wirbel heller Neonlichter und bunten Konfettis fühlte sie sich, als würde sie in einem Kaleidoskop stecken und durchgeschüttelt werden.

Ein Pirat aus dem neunzehnten Jahrhundert mit einer Geistermaske trat zu ihr, zog seinen Dreispitz und verbeugte sich. Er nahm ihre Hand und zog sie zu sich. Ein neues Lied begann, schneller als zuvor, und Alyssa ließ sich von dem Piraten führen. Sie tanzten einen Tanz, der weder Walzer noch Polka war, aber aufregender als alle Dates, die sie in den letzten drei Jahren gehabt hatte.

Der Pirat lehnte sich zu ihr und fragte: „Wer bist du? Was soll dein Kostüm darstellen?“

Alyssa hatte sich für ein zusammengewürfeltes Outfit aus einer weiten Hose, einem altertümlichen Gewand mit tief ausgeschnittenem Mieder, Spitzenrand und ausgefranstem Saum entschieden. Ihr Kostüm war eine Hommage an ihre Mutter, die aus Savannah stammte und vor fünf Jahren bei einem Unfall mit Fahrerflucht gestorben war. Auch wenn Alyssa bis zu dem Zeitpunkt, als sie nach New Orleans kam, nie an einem anderen Ort als Chicago gelebt hatte – ihrer Mutter hatte man stets angesehen, dass sie aus dem Süden stammte.

Alyssa legte den Kopf schief und schaute in das von der Maske halb verdeckte Gesicht des Piraten. Sie konnte seine Augen nicht erkennen, aber den Mund umso besser. Er hatte ein Grübchen am Kinn, was sie sehr sexy fand. Sie schluckte und antwortete: „Ich bin Scarlett O’Hara als Zombie.“

„Gute Wahl, chérie. Mit deinen dunklen Haaren und grünen Augen bist du eine sehr hübsche Scarlett.“

Ihre Mutter hatte das auch immer gesagt. „Hast du mich angerufen?“, fragte sie. „Sollte ich dich hier treffen?“

„Wir sind nicht verabredet.“

„Hätten wir aber sein sollen. Bist du ein berühmter Pirat?“ Sie deutete auf sein weißes Hemd und die burgunderrote Weste mit Goldknöpfen, die er darüber trug. „Jean Lafitte?“

Wieder zog er seinen Hut und verbeugte sich. „Ich bin der Geist des verstorbenen Kapitäns Jean-Pierre Fournier. Er war Pirat der Karibik und einer meiner Vorfahren. Ich heiße Rafael Fournier.“

„Ich bin überaus erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Rafael“, sagte Alyssa mit einem übertriebenen Südstaaten-Akzent. Sie machte nicht oft Scherze und war sich nicht sicher, ob er ihren Witz verstand.

Enchanté, Mademoiselle. Du kannst mich Rafe nennen.“

Er führte sie in eine Drehung und zog sie fester an sich. In der Menge fühlte es sich intim an, ihm so nahe zu sein. Ihre Brüste drückten sich in dem tief ausgeschnittenen Kleid gegen ihn, und ihre Beine streiften seine. Rafe führte sie geschickt durch die Menge, und Alyssa fühlte sich elegant, schön und ein wenig verrucht. Sie nahm kaum wahr, dass der Song in einen anderen übergegangen war. Ein Tango?, fragte sie sich überrascht.

Sie kannte die Schritte nicht, aber schlecht konnte sie nicht sein, denn andere Tänzer machten ihnen Platz und applaudierten sogar, als sie an ihnen vorbeizogen.

Als das Lied endete, beugte sich Rafe vor und gab Alyssa einen Kuss auf die Stirn. „Merci, ma belle.“

Mit einem überschwänglichen Winken tauchte er in der Menge unter, was angesichts seiner Größe und seiner breiten Schultern in dem weit geschnittenen Hemd bemerkenswert war. Schade, dass er weg war. Dieser Mann hatte ihr einen Kuss gegeben und sie belle genannt.

Nach dem Tanz kam sie sich mutiger vor. Sie wollte feiern. Als ein lachender Zombie ihr ein Bier in die Hand drückte, zögerte sie nicht lang und nahm einen großen Schluck. Sie tanzte, ließ sich von der Parade mitziehen, wackelte mit den Hüften, schnippte im Takt mit. Ihre Mutter hätte das geliebt, sie hätte die Nacht durchgetanzt, und Alyssa feierte in Erinnerung daran. Sie schwang mit Piraten die Hüften und hielt Ausschau nach der Person, die ihr die anonyme Nachricht übermittelt hatte.

An einer Straßenecke entdeckte sie einen Mann, der wie Baron Samedi, ein bekannter Voodoo-Geist, verkleidet war. Er trug eine Skelettmaske und einen Zylinder und blies weiße Kreidewolken in die Menge, sodass alle Tanzenden noch gespenstischer wirkten. Um Alyssa herum lachten die Menschen, sie winkten einander zu und tranken ausgelassen. New Orleans hatte immer Zeit für eine Party – von Mardi Gras über Begräbnisse bis hin zum Día de los Muertos.

Sie ging einer Dreiergruppe mürrischer Skelette aus dem Weg und schloss sich Zombie-Bauchtänzerinnen mit Tambourins an. Eine vierköpfige Band spielte „When the Saints Go Marching in“, und Alyssa sang für ihre Verhältnisse laut mit und tanzte an der Straße entlang, die hauptsächlich von Voodoo-Läden gesäumt war. Wahrsager standen am Bürgersteig und lockten Touristen mit dem Angebot, für ein wenig Geld mit geliebten Verstorbenen sprechen zu können. Obwohl Alyssa Voodoo-Praktiken nicht als Betrug ansah, glaubte sie nicht daran. Trotzdem kam ihr der Gedanke, wie wundervoll es wäre, noch einmal mit ihrer Mutter sprechen zu können.

Plötzlich kribbelte ihr Nacken, als wenn eine Spinne darüber gelaufen wäre. Sie blickte auf und entdeckte ein paar Wahrsagerinnen am Straßenrand. Eine Frau stach aus der Menge heraus. Mit ihren silbergrauen Locken sah sie Alyssas Mutter ähnlich. Unheimlich ähnlich. Sie stand im Türrahmen eines Hauses und warf den Kopf in den Nacken, als sie lachte.

Wäre es etwa möglich, dass … Nein, ihre Mutter konnte nicht am Telefon gewesen sein, sie hätte sie erkannt. Ihre Mutter war tot, und daran bestand kein Zweifel – Alyssa hatte die Leiche identifizieren müssen.

Sie sah noch einmal zu der grauhaarigen Frau, die ihr so ähnelte. Sehe ich einen Geist?

Alyssa löste sich aus der Parade und rannte auf die Frau zu. Sie wich einem Musiker mit Posaune aus, dann einer Cancan-Tänzerin. Ein Lied in Moll begann, und in Alyssas Magen zog sich etwas zusammen. Sie erreichte den Voodoo-Laden. Die Tür war abgeschlossen, die Frau verschwunden.

Panisch fragte sie Nebenstehende, ob sie die Frau gesehen hatten, aber niemand wusste etwas oder wollte ihr antworten. „Laissez les bons temps rouler – Lass uns die gute Zeit genießen“, bekam sie immer wieder zu hören.

Aber Alyssa konnte nicht einfach vergessen, was sie gerade gesehen hatte. Sie musste die Frau finden, die ihrer Mutter so ähnelte. Sie folgte ihrem Instinkt und huschte durch eine Gasse. Die Straße dahinter war leerer. Sie ging über eine Ampel zu einem Park, lief über den gepflasterten Platz an den Bronzestatuen von Jazzlegenden vorbei und sah sich um.

Am Rande einer Rasenfläche neben breiten Palmen sah sie drei Männer mit Skelettmasken, die ihr bekannt vorkamen. Sie warfen ihr kalte, ernste Blicke zu. Waren sie ihr gefolgt?

Der Größte wandte sich an sie: „Brauchen Sie Hilfe?“

„Ich suche nach einer Frau. Sie hat graue Locken.“

„Ah, ja, die haben wir gesehen. Kommen Sie mit uns.“

Die drei Männer stellten sich um Alyssa. Sofort bekam sie Angst. „Ist schon gut. Tut mir leid, dass ich Sie gestört habe“, sagte sie.

Der große Mann trat näher. „Du kommst mit uns mit.“

Seitdem sie ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen worden war, hatte Alyssa sich vor solch einem Augenblick gefürchtet. Ihre Aussage hatte gefährliche Kriminelle hinter Gitter gebracht, und sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie Alyssa finden und sich an ihr rächen würden. Sie wirbelte herum und wollte losrennen.

Der Anführer der Gruppe hielt sie am Arm fest und zog sie zurück. Die anderen beiden kamen näher. Im nächsten Moment presste ihr jemand ein Tuch vor den Mund. Sie konnte nicht um Hilfe schreien. Sie bekam keine Luft. Ein eklig-süßer Geruch drang ihr in die Nase. Die Männer lachten. Alyssa hörte, wie sie zu jemandem sagten, Alyssa habe zu viel getrunken und sie würden sie nach Hause bringen.

Sie wehrte sich und trat nach den Männern. Sie schlug nach ihnen und zog einem die Maske herunter. Eine Fratze mit einem raubtierhaften Ausdruck sah sie an. Dunkle, ausdruckslose Augen, ein fieses Grinsen – dieser Mann hatte keinerlei Mitleid mit ihr.

Das Gesicht verschwamm vor ihren Augen. Sie verlor das Bewusstsein.

Halb nahm sie noch wahr, wie jemand eines der Skelette zur Seite schubste. Es war ihr Pirat. Er verlangte, dass die Männer sie losließen. Alyssa wollte ihm sagen, er solle sich in Acht nehmen, aber sie konnte keinen Laut von sich geben. Der Pirat griff die Männer an. Sie dachte kurz, dass sie einen Taser in seiner Hand sah, aber sie war sich nicht sicher.

Der Skelettmann ließ sie los, und sie fiel auf den Rasen. Verzweifelt krabbelte sie davon. Ihr war schwindelig, ihre Arme und Beine wurden taub. Sie musste entkommen. Ein Tritt erwischte sie, aber sie spürte kaum etwas.

Sie schaffte es, sich aufzurichten, und stolperte davon. Ihre Beine fühlten sich wie Gummi an. Sie fiel erneut zu Boden.

Da wurde sie hochgehoben und über eine Schulter geworfen. Sie versuchte, sich zu befreien, aber ihre Bewegungen wurden zu schwer, und der Versuch kostete sie ihre letzte Kraft. Sie gab nach. Sie war gefangen. Die Männer hatten sie. Sie wünschte sich nur, dass sie schnell sterben dürfte.

Jemand warf sie auf einen Autositz und griff über sie hinweg, um ihr den Gurt anzulegen. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, und sah den schneidigen Piraten vor sich. Er hatte sie gerettet. Merci, Captain Fournier, war ihr letzter Gedanke.

2. KAPITEL

Alyssa erwachte mit einem Schreck und sah sich um. Wo bin ich?

Sie schien in ihrem Schlafzimmer zu sein, eingekuschelt unter ihrer Chenille-Bettdecke. Auf dem Nachttisch leuchtete die gläserne Lampe mit dem Fransenschirm, daneben stand ihre Spieluhr – ein Geschenk ihres Vaters.

Durch die Jalousie vor dem Fenster drang kein Licht. Sie versuchte, die roten Zahlen ihres Digitalweckers auf der Anrichte zu sehen, aber es gelang ihr nicht. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie nach Hause gekommen war. Sie erinnerte sich an die Parade des Día de los Muertos. Sie hatte den Geist ihrer Mutter gesehen und war von Skeletten angegriffen worden. Hab ich das nur geträumt? Sie wusste nicht mehr, was Wahrheit und was Traum war.

Sie drehte den Kopf zur Spieluhr. Wenn der Deckel geöffnet wurde, spielte die Uhr „Lara’s Theme“ aus Doktor Schiwago ab. Lara war ihr wirklicher Name. Als sie ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen worden war, hatte sie nichts Persönliches behalten dürfen, aber die Spieluhr hatte sie sich nicht nehmen lassen. Dabei konnte sie sich weder an den Namen ihres Vaters erinnern noch daran, wie er ausgesehen hatte. Sie wusste nur, dass er sie geliebt haben musste, denn er hatte ihr die Spieluhr zum vierten Geburtstag geschenkt.

Als Alyssa zum Nachttisch sah, fiel ihr auf, dass sie weder ihr Handy noch ihr Ladekabel entdecken konnte. Seltsam. Sie lud das Handy jede Nacht auf. Irgendetwas fühlte sich falsch an. Sie betrachtete das Poster der Cancan-Tänzerin von Toulouse-Lautrec im Dunklen an der Wand. Ohne Zweifel, sie war zu Hause.

Ich darf mich nicht ablenken lassen, rief sie sich zurecht. Als sie die Hand nach ihrer Spieluhr ausstreckte, sah sie an ihrem Handgelenk eine Bandage. Nun bemerkte sie auch die Schmerzen. Ihr Kopf pochte unangenehm, und beim Atmen taten ihre Rippen weh. Alyssa schlug die Decke zurück. Sie trug einen schwarzen Sport-BH und einen blauen Seidenslip. Zusätzlich zu ihren Verletzungen am Oberkörper hatte sie Verbände um die Knie.

Sie setzte sich auf und griff nach der Spieluhr. Sanft strich sie über die vertrauten Kanten des Holzes – sie war eine Erinnerung an eine andere Zeit, ein anderes Zuhause, ein anderes Leben. Als sie den Deckel öffnete, tanzte die Ballerina auf Zehenspitzen, und Alyssa hörte klimpernd „Twinkle, Twinkle, Little Star.“ Das ist nicht mein Lied! Das ist nicht meine Spieluhr!

Die Tür schwang auf, und ein Mann trat ein.

„Wer bist du? Was machst du hier?“ Alyssas Angst wurde von ihrer Wut verdrängt.

„Keine Sorge, chérie. Gleich siehst du es.“

Er schaltete das Licht an, und Alyssa konnte ihre Umgebung genauer sehen. Das Fenster befand sich an der falschen Stelle. Die Möbelstücke im Raum waren nicht ihre eigenen. „Wo bin ich hier?“

Der Mann trat einen Schritt auf sie zu. „Bitte hab keine Angst, ich kann es erklären.“

„Komm nicht näher.“

Doch der Mann kam ungerührt auf sie zu. Alyssa griff nach der Spieluhr und warf sie mit voller Kraft nach ihm. Die hölzerne Schachtel knallte gegen die Wand.

Sie griff nach einer kleinen Schale, die auf dem Nachttisch stand, und holte aus.

Der Unbekannte hob eine Hand. „Warte!“

Sie zögerte. „Wieso sieht es hier wie in meinem Schlafzimmer aus?“

„Du bist nicht in Gefahr“, sagte der Mann und lächelte freundlich. „Ma chérie, stell die Schüssel hin, sonst haben wir nur Scherben auf dem Boden.“

Auf einmal wurde sich Alyssa der Absurdität der Situation bewusst. Sie ließ die Arme sinken. „Wo bin ich?“

„Erkennst du mich nicht?“

Er kam ihr vertraut vor. Sie wollte ihm glauben, dass er ihr nichts Böses wollte, aber sie war nicht dumm. Sie musste herausfinden, wer dieser charmante Franzose war und was er mit ihr vorhatte. „Wo zum Teufel bin ich hier und wie bin ich hier gelandet?“

Sie hatte verschwommene Erinnerungen, von jemandem in einen SUV getragen zu werden. „Du … Du bist mein Pirat.“

„Rafe Fournier.“ Seine Verbeugung war weniger überzeugend in T-Shirt und Jeans. „Zu Diensten, ma belle.“

Den Akzent und das sexy Grinsen hatte sie wiedererkannt, aber der Rest seines Gesichts war unter einer Maske versteckt gewesen. „Es war mutig von dir, dich einzumischen“, sagte sie warnend. „Mit diesen Männern ist nicht zu spaßen.“

„Sie sind Feiglinge. Jeder, der sich an einer Frau vergreift, hat eine Lektion verdient.“

Das mochten äußerst noble Ansichten sein, aber sie waren schlecht durchdacht – er hätte sterben können. Alyssa schüttelte den Kopf und bereute die Bewegung sofort. Ihr Mund war trocken und ihre Kehle ausgedörrt. Doch trotz der Schmerzen dachte sie immer klarer. „Du bist mir gefolgt, nicht wahr?“

„Das bedarf einer längeren Erklärung. Leg dich hin und ruh dich aus, während ich es dir erzähle.“

Ihr wurde bewusst, dass sie in Unterwäsche vor ihm stand. Sie riss die Decke vom Bett und wickelte sie um sich. „Wieso hast du mich ausgezogen?“

„Entschuldige, s’il te plaît. Ich musste mich um deine Verletzungen kümmern.“

So leicht kam er ihr nicht davon. „Wo sind meine Klamotten?“

„Im Schrank. Ich habe alles dort hineingelegt außer dein Handy, weil ich es in der Küche auflade.“

Alyssa ging auf den Schrank zu, aber verlor kurz das Gleichgewicht. „Komm nicht näher!“, rief sie sofort, als Rafe ihr augenscheinlich zu Hilfe eilen wollte.

„Du vertraust mir nicht.“

„Darauf kannst du wetten!“ Alyssa glaubte nicht an Zufälle, und Rafe war in einem auffällig passenden Moment aufgetaucht.

„Du musst etwas trinken.“ Auf der Anrichte standen mehrere Wasserflaschen. Rafe warf eine davon auf das Bett.

Vorsichtig nahm sie die Flasche in die Hand und begutachtete sie. Dann erst nahm sie ein paar Schluck. Sofort fühlte sie sich besser.

„Trink. Das sollte helfen. Ich kann dir auch etwas gegen die Schmerzen geben.“

„Glaubst du wirklich, dass ich so dumm bin und von dir Medikamente annehme? Du könntest derjenige gewesen sein, der mich unter Drogen gesetzt hat.“

„Erinnerst du dich daran?“

„Nicht wirklich.“ Sie erinnerte sich an das Tuch vor ihrem Mund und das Schwindelgefühl. „Ich weiß, dass die drei Skelette da waren. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich mich verletzt habe.“

„Sie haben dich angegriffen.“

„Wer sind sie? Was ist passiert?“

„Ich habe dich befreit, zu meinem Auto gebracht und bin hierhergefahren.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Türrahmen. „Jetzt bist du dran, chérie. Verrate mir, woran du dich noch erinnerst.“

„Wieso willst du das wissen?“

Er zuckte nonchalant mit den Schultern. „Wenn du mir mehr verrätst, können wir herausfinden, warum sie dich angegriffen haben.“

Wenn sie wusste, wer ihre Angreifer waren, konnte sie sich vor ihnen schützen. Oder sie könnte die Untersuchung dem Zeugenschutzprogramm, dem WitSec, überlassen, aber die Marshals würden ihr nichts verraten. Rafe bot ihr die Chance, sich selbst um das Problem zu kümmern. „Was möchtest du wissen?“

„Alles. Fang von vorne an.“

„Ich war auf der Arbeit im Bistro.“ Verrate ihm nicht zu viel, rief sie sich zurecht. Ich sollte von hier verschwinden. Ich muss abhauen.

„Ist alles in Ordnung?“

„Ich habe mich im Personalraum umgezogen“, begann sie, „obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich überhaupt auf den Umzug gehen will. Dann wurde ich von jemandem angerufen, der mich dort treffen wollte.“

„Wer hat dich angerufen?“

„Das weiß ich nicht“, sagte sie. „Es war eine unbekannte Nummer. Ich dachte mir, ich sollte auch einmal Spaß haben, und bin deshalb hingegangen.“

„Hast du den Anrufer nicht erkannt?“

„Nein.“ Von draußen hörte sie das Rattern einer Straßenbahn. „Es hätte ein Mann oder eine Frau mit einer tiefen Stimme sein können. Oder du.“

„Ich war es nicht.“

„Du hast mich sofort angesprochen, als ich auf die Parade gegangen bin. Wieso?“

Chérie, ich verspreche, dir alles zu erklären, aber erst muss ich es aus deiner Perspektive hören. Details können der Polizei helfen, die Männer zu finden.“

„Nein, keine Polizei.“

Sie hatte die strikte Anweisung, in solch einer Situation dem WitSec Bescheid zu geben. Aber irgendetwas hielt sie zurück.

Ihr Blick wanderte zu Rafe. Als sie in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen worden war, hatten die Marshals sie darüber ausgefragt, wie die Täter in Chicago ausgesehen hatten. Sie verglich ihre Erinnerungen mit Rafe. Er war knappe ein Meter neunzig und musste um die neunzig Kilo wiegen. Das Grübchen an seinem Kinn stach markant hervor und verlieh seinem Gesicht etwas Besonderes. Er war ein gut aussehender Mann mit lockigem braunem Haar, grauen Augen und einem Lächeln, das ihr Herz schneller schlagen ließ.

„Ich erinnere mich an unseren Tango“, sagte sie.

„Wir haben gut zusammengepasst.“

„Nachdem du in der Menge verschwunden bist, habe ich mit einer Gruppe Bauchtänzerinnen getanzt und gesungen.“

„Du hast eine kräftige Stimme, auch wenn du nicht besonders gut singen kannst.“

„Hast du mich beobachtet?“

„Natürlich, chérie.“

„Folgst du mir?“

„Ich weiß grundsätzlich, wo du bist. Du hast einen sehr regelmäßigen Tagesablauf.“

Sie trank das Wasser aus und warf die leere Flasche auf das Bett. „Ich hätte gerne noch eine. Und mein Handy.“

Falls sie sich dafür entschied, den Vorfall dem WitSec zu melden, war es mit ihrem Leben in New Orleans vorbei.

Rafe warf ihr eine neue Flasche zu, ohne näher zu kommen, und er hielt ihr eine Packung Schmerzmittel hin. „Sie sind eingeschweißt“, sagte er. „Du kannst also kontrollieren, dass ich sie nicht geöffnet habe.“

Sie nahm die Packung entgegen und schluckte zwei Tabletten. Noch hatte sie Schmerzen, aber langsam fühlte sie sich, als würde sie die Kontrolle über ihren Körper und ihre Sinne wiedergewinnen. „Und mein Handy?“

„Wie lange warst du bei den Bauchtänzerinnen?“

„Ein paar Blocks lang. Bis wir zu den Voodoo-Läden kamen.“ Dort hatte sie das Lachen ihrer Mutter gehört. „Ich habe eine silberhaarige Frau gesehen. Du auch?“

Er nickte. „Eine hübsche Frau.“

„Ich dachte, sie wäre meine Mutter Claudia, aber das ist unmöglich. Sie ist vor fünf Jahren gestorben.“

„Ich weiß“, sagte Rafe.

„Woher?“

„Ich weiß eine Menge über dich. Erzähl weiter.“

„Ich wollte der Frau folgen und bin in die Richtung gelaufen, von der ich annahm, dass sie sie eingeschlagen haben könnte. Bis in den Park, wo mich die Männer umzingelt haben. Als sie mich festgehalten haben, konnte ich einem die Maske vom Gesicht reißen.“

„Hast du sein Gesicht gesehen?“

„Ja.“

„Und hast du ihn erkannt?“

„Nein“, sagte sie, auch wenn das nicht stimmte. Seine leeren, ausdruckslosen Augen würden sie bis in den Schlaf verfolgen.

„Vielleicht“, begann Rafe, „kannst du dich doch erinnern. Gehen wir es Stück für Stück an. Hatte er braune oder blonde Haare?“

„Ich weiß es nicht“, entgegnete sie ausweichend.

„Ich möchte, dass du dir Fahndungsfotos ansiehst.“

Er hatte sich nicht von der Stelle bewegt, aber wirkte immer weniger wie ein entspannter Stadt-Pirat. „Du klingst wie ein Polizist.“

„Gut erkannt, chérie. Ich war früher beim FBI.“

„Und jetzt?“

„Bin ich Privatdetektiv“, sagte er. „Jemand hat mich vor zweieinhalb Wochen angeheuert, dir zu folgen.“

Alyssa setzte sich auf die Bettkante. „Wer? Hat dein Auftraggeber dich auch angewiesen, das Schlafzimmer so zu gestalten?“

„Ich darf dir den Namen meines Klienten nicht verraten. Aber ich kann dir versichern, dass er dir nichts Böses will. Er dachte, dass du dich wohler fühlst, wenn es hier wie bei dir zu Hause aussieht.“

„Wieso das? Das hier ist nicht mein Zuhause. Du glaubst doch hoffentlich nicht, dass du mich hier festhalten kannst.“

„Nein, tue ich nicht.“

Auf einmal kam ihr ein schrecklicher Gedanke. „Woher weißt du, wie mein Schlafzimmer aussieht? Warst du in meinem Haus?“

„Ich versuche, das Gesetz so wenig wie möglich zu brechen.“

„Hast du Bilder gemacht?“

„Es wurden Bilder gemacht, ja.“

„Du hast mich ausspioniert. Wie ein Stalker.“

„Ich habe immer versucht, deine Privatsphäre nicht zu verletzen.“

Das konnte sie ihm kaum glauben. Er hatte sie ausgezogen, sobald er die Chance dazu gehabt hatte. Zugegeben, ihre Verletzungen hatten ihm auch einen guten Grund dafür geliefert, dennoch war ihr der Gedanke unbehaglich. „Du meintest, du bist vor zweieinhalb Wochen angeheuert worden …“

„Vor sechzehn Tagen.“

„Und du bist mir seitdem gefolgt. Ich würde sagen, das ist Stalking. Du bist ein Stalker.“

„Nein, bin ich nicht“, widersprach er. „Ich habe dich beschützt.“

„Warum?“

Er zuckte mit den Schultern. „Es ist mein Job.“

Wenn es nur das wäre, hätte Alyssa keinen Grund, das WitSec nicht anzurufen. Sie setzte sich ans Kopfende des Betts und zog die Decke wieder über sich. Sie war wütend und erschöpft zugleich. „Was ist, wenn ich gehen möchte? Lässt du mich hier raus?“

„Selbstverständlich. Aber ich rate dir, darüber nachzudenken, wer dich angegriffen haben könnte. Noch ist die Erinnerung frisch, und wir müssen herausfinden, wer dahintergesteckt hat.“

„Wieso wir? Warum sollte ich mit dir zusammenarbeiten?“

„Weil ich auf deiner Seite bin. Und weil ich beim FBI Techniken gelernt habe, um unterbewusste Erinnerungen wieder hervorzuholen. Ich kann dir helfen.“ Seine Stimme war weich und sanft, er war ein charmanter Mann. „Wir können es mit ein paar Konzentrationsübungen versuchen, chérie. Du wirst dich erinnern.“

„Lass mich in Ruhe.“

„Du musst dich nur entspannen. Schließ einfach deine Augen.“

Unwillkürlich schloss sie die Lider. Meditation und Atemübungen waren nichts Neues für sie. Während Rafe in einem sanften Ton zu ihr sprach, konzentrierte sie sich auf die Erinnerung. Sie sah das Gesicht des Mannes vor sich, der sie angegriffen hatte. Die Angst erwachte, aber Alyssa schob sie zur Seite. Mit blondem Haar und dunklen, kalten Augen sah der Mann unauffällig aus. Er hatte einen breiten Mund und ein großes, fast pferdeähnliches Gebiss. Ich kenne ihn. Sie kam nicht auf den Namen, aber sie hatte ihn im WitSec-Büro gesehen. Der Mann hinter der Maske war ein US-Marshal.

Ihr Unterbewusstsein hatte sie schützen wollen. Deshalb konnte sie dort nicht anrufen – sie konnte ihnen nicht trauen.

„Du hast dich an etwas erinnert.“

Er würde sie sicherlich nicht gehen lassen, wenn sie ihm etwas verriet. Du kannst niemandem trauen, wiederholte sie immer wieder in Gedanken. Sie musste fliehen.

Mit Absicht gähnte sie lange. „Ich bin erschöpft, lass mich bitte schlafen.“

„Wir müssen darüber sprechen.“

„Jetzt nicht … Bin zu müde. Bitte mach das Licht hinter dir aus.“

Um sie herum wurde es dunkel. Als sie ihre Lider einen Spalt öffnete, sah sie den leeren Platz auf ihrem Nachttisch, an dem die Spieluhr gestanden hatte.

„Schlaf gut, chérie“, flüsterte Rafe.

Dann schloss er die Tür hinter sich.

3. KAPITEL

Rafe ging bewusst mit lauten Schritten von der Schlafzimmertür durch den Flur zum Badezimmer. Er vermutete, dass Alyssa lauschte. Sie würde abwarten, bis nichts mehr zu hören war, und dann würde sie fliehen. Über den Flur oder aus dem Fenster. Er hatte die Hoffnung, dass sie sich ausruhen und nach dem Aufwachen eine vernünftige Unterhaltung mit ihm führen würde, aber die Hoffnung war klein. Sie vertraute ihm nicht, und nichts, was er sagte, konnte das ändern.

Nach zwei Wochen Beschattung hatte er ein gutes Gespür für Alyssa entwickelt. Sie spielte ihre schüchterne, liebe Art nicht vor, aber sie konnte stur und unnachgiebig wie eine Wand sein. Wenn sie sich etwas vornahm, dann ließ sie sich nicht davon abbringen.

Rafe vermutete, dass andere Personen ihr Vertrauen schneller gewinnen könnten. Eine Frau könnte Alyssa vielleicht überzeugen, dass er ihr nichts Böses wollte.

Er ging in die Küche des kleinen Hauses und rief eine seiner langjährigen Informantinnen an. Sheila Marie kannte alles und jeden in New Orleans. Sie wusste sich in den Gerichtshäusern der Pfarrgemeinden so gut zurechtzufinden wie in den Voodoo-Hütten im Bayou oder auf den wilden Partys im French Quarter.

Es klingelte zweimal, dann nahm sie ab. „Rafe, du hübscher Mann, was verschafft mir die Ehre?“

Im Hintergrund gab ein Saxofon Jazzmusik zum Besten. „Klingt, als würdest du den Tag der Toten feiern.“

„Und wo bist du? Ich hatte erwartet, dich als Pirat herumstolzieren zu sehen. Wusstest du, dass mir einmal der verruchte Jean-Pierre selbst über die Schulter geschaut hat? Ich habe ihn gehört. Er sieht es lieber, dass du nun als Privatdetektiv arbeitest und nicht mehr bei den Cops.“

Manchmal war es praktisch, eine Informantin zu haben, die mit Geistern sprechen konnte. „Ich habe eine Aufgabe für dich.“

„Hab nichts anderes erwartet.“

„Ich suche eine Frau, die beim Umzug war. Sie muss in der Nähe von Jolenes Gris-Gris-Laden gewesen sein. Groß, schlank, mit silbernem Lockenkopf. Um die sechzig.“

„Im blühenden Alter des Lebens“, sagte Sheila Marie. „Ich werde mich umhören.“

„Und falls ich heute noch Hilfe von dir brauche?“

„Bin ich in Becca’s Bar in der Canal Street.“

„Du bist magnifique.“

„Das sagst du doch zu allen Ladys, mein Lieber.“

„Nein, nur zu dir, Sheila Marie.“

Er legte auf, schlich zu Alyssas Schlafzimmertür und lauschte. Alyssa hatte nicht unrecht, als sie ihn einen Stalker genannt hatte. Ein Großteil seiner Arbeit als Privatdetektiv hatte damit zu tun, Menschen zu beschatten. Der Unterschied zwischen ihm und einem echten Stalker war, dass er diesen Teil seiner Arbeit nicht mochte.

Er wollte Alyssa die ganze Wahrheit sagen, aber er war sich nicht sicher, ob er ihr trauen konnte. Seine Recherche zu ihrer Vergangenheit hatte ihn auf Auffälligkeiten stoßen lassen. Er wusste, dass sie mindestens einen falschen Ausweis besaß und zwei Schließfächer bei unterschiedlichen Banken.

Bisher hatte sie ihn nicht direkt angelogen, aber sie hatte ausweichend geantwortet. Besonders auffällig war, dass sie das WitSec nicht informieren wollte. Sein Auftrag wäre dadurch noch schwieriger geworden.

Vielleicht traute sie den Marshals nicht zu, sie zu schützen. Nach dem Angriff konnte Rafe ihr das nicht verdenken. Die maskierten Männer waren ungeschickt vorgegangen, aber sie hatten gewusst, wo Alyssa sein würde.

Rafe hörte, wie die Matratze im Schlafzimmer leise quietschte. Alyssas Schritte waren kaum zu vernehmen, der Kleiderschrank machte ein leises Geräusch. Rafe hatte es ihr nicht schwerer als nötig gemacht. Ihr Kostüm war im Schrank, aber er hatte zusätzlich ein paar seiner T-Shirts und eine Sporthose hineingehängt. Beides würde ihr zu groß sein.

Als er Alyssa in dieses Haus gebracht hatte, war er sichergegangen, dass ihnen niemand gefolgt war. Die Alarmanlage war vergleichbar mit der in einem Safehouse des FBI. Er hatte alles mit Kameras und Sensoren ausgestattet, sodass ihm ein stiller Alarm mitteilte, sobald jemand eine Tür oder ein Fenster ohne sein Wissen öffnete. Keine seiner Anlagen war mit der Polizei vernetzt, und niemand außer Rafe wusste von dem Haus.

Er hörte ein paar dumpfe Geräusche aus dem Zimmer, dann einen leisen Fluch. Sich im Dunkeln anzuziehen, sollte keine große Herausforderung darstellen, es sei denn, sie versuchte, sich in das Mieder zu zwängen. Dabei war es für eine Frau wie Alyssa vollkommen überflüssig. Sie brauchte ihre Taille nicht schmaler zu machen, denn sie hatte schöne, natürliche Kurven und ihre langen, muskulösen Beine waren unbestreitbar magnifique.

Auch wenn er nicht als ihr Bodyguard angestellt war, wollte er sie beschützen. Er hatte gesehen, wie sie sich an ihn erinnert hatte. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und das Gesicht verzogen.

Als er von Fahndungsfotos gesprochen hatte, war ihre Reaktion ähnlich gewesen. „Keine Polizei“, hatte sie gesagt. Er fragte sich nach dem Grund, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass Alyssa etwas mit den Verbrechen ihres alten Chefs zu tun hatte. Trotzdem war sie in ihrem Job als Buchhalterin so gut gewesen, dass sie die Geldwäsche und den Betrug ohne Weiteres hätte verschleiern können.

Ihre Fähigkeiten, mit Zahlen umzugehen, hatten Rafes Arbeitgeber Sorgen bereitet. Davis James hatte ihm einen guten Grund geliefert, warum er persönlich an Alyssa interessiert war, aber Rafe hatte sofort gewusst, dass mehr dahinterstecken musste. Er hatte seinen Freund Chance Gregory um Hilfe gebeten, der ein Computergenie und ebenfalls für das FBI tätig war.

Chance hatte mehr als genug über Davis James herausfinden können, angefangen bei dem Namen. Der Mann hieß in Wirklichkeit Viktor Davidoff. Er handelte mit Gebrauchtwagen in der Umgebung von Chicago – seine Läden hießen Diamond Jim’s. Man sagte, er sei der Anführer einer internationalen Schmuggelbande, die mit Autos in Millionenwerten handele.

Aus dem Zimmer hörte Rafe, wie das Fenster mit einem kratzenden Geräusch aufgeschoben wurde, und sein Handy alarmierte ihn still im selben Moment.

Er wusste, dass Alyssa einige Zeit brauchen würde, um das Fliegennetz zu entfernen, und er schlich aus der Hintertür hinaus. In der Garage hinter dem Haus stand seine Kawasaki.

Rafe wartete, bis er Alyssa aus dem Haus über den Bürgersteig stolpern sah. Sie versteckte sich hinter einer Eiche. Er konnte sich vorstellen, wie schnell ihr Herz schlagen musste, während sie versuchte, in der Dunkelheit Ausschau nach ihm und den Skeletten zu halten. Ihre Kleidung war ziemlich auffällig: Sie hatte sein übergroßes T-Shirt mit dem goldenen Wappen der New Orleans Saints und die weite Hose ihres Kostüms angezogen.

Rafe konnte sie wieder einfangen, aber er wusste, dass er Alyssa nur schützen konnte, wenn sie ihm vertraute. Außerdem war er neugierig.

Er ließ ihr einen Block Vorsprung, bis er mit dem Motorrad losfuhr. Zwei Straßen weiter befand sich eine Straßenbahnstation. Um ein Uhr nachts am Samstag des Día de los Muertos fiel Alyssa in dem weiten T-Shirt nicht weiter auf.

Rafe hielt sich bedeckt, als er sah, wie sie sich an ein Bahngleis stellte. Sie war nicht auf dem Weg nach Hause, denn sie stand auf der Seite, die in die entgegengesetzte Richtung führte. Es gab unzählige Möglichkeiten, wohin sie fahren könnte: Vielleicht wollte sie zu ihrer Arbeit oder sie kannte jemanden, bei dem sie untertauchen könnte.

Rafe hatte ihr über zwei Wochen folgen können, ohne bemerkt zu werden, aber jetzt wusste sie, wie er aussah. Es würde zehnmal schwerer sein, nicht aufzufallen. Er holte sein Handy hervor und schrieb Sheila Marie. Er brauchte Unterstützung.

Und in der Zwischenzeit würde er weiter Stalker spielen.

4. KAPITEL

Alyssa hielte sich von der Straße fern und versteckte sich im Schutz einer Hecke, während sie an der Straßenbahnhaltestelle wartete. Alles tat ihr weh. Sie wünschte sich, sie könnte eine Schmerztablette nehmen und schlafen, aber das war unmöglich. Sie war auf der Flucht. Irgendjemand in New Orleans verfolgte sie.

Trotz der späten Uhrzeit schwitzte sie. Die schwüle Brise, die ihr um die Beine strich, war ihr mehr als willkommen. In der Ferne sah sie den Nebel über New Orleans hängen und versuchte sich einzureden, dass er sie unsichtbar machte.

Sie wollte mehr über Rafe wissen. Es gefiel ihr nicht, dass er den Namen seines Auftraggebers nicht verriet. Sie wollte ungern riskieren, dass er für jemanden arbeitete, gegen den sie ausgesagt hatte. Rafe hatte sie vor den maskierten Männern beschützt, aber er war bei den Cops gewesen, und Alyssa konnte vom FBI oder einem US-Marshal verfolgt werden. Nur wieso? Was hat die Welt gegen mich?, fragte sie sich.

Sie war am Ende ihrer Kräfte und drückte sich tiefer in die Hecke. Nur wenige Autos fuhren vorbei. Sie konnte Rafe nirgends entdecken. Aber sie hatte ihn die vergangenen Wochen schließlich auch nicht bemerkt. Sie war entweder sehr unaufmerksam oder er sehr gut in seinem Job.

Als sie das Rattern der Straßenbahn hörte, trat sie vor, damit der Fahrer sie sehen und anhalten würde. Sie hatte als Vorbereitung auf New Orleans alle Linien auswendig gelernt. Mit dieser Bahn würde sie anderthalb Kilometer fahren, dann auf die Canal Line umsteigen und damit ihr Ziel erreichen. Alyssa stieg ein und ließ sich auf einen der Holzsitze fallen. Nur fünf weitere Personen saßen in der Bahn. Ein junges Paar, eine Krankenschwester in Uniform und zwei Kellnerinnen in rosafarbenen Schürzen. Obwohl sie Rafe nirgendwo entdeckte, hielt sie sich in Richtung des Fensters die Hand vor das Gesicht.

Sie wusste nicht, was sie von dem großen, gut aussehenden Mann halten sollte. Er hatte sie vor den Skelettmännern gerettet, und dafür war sie ihm dankbar, aber er hatte sie zwei Wochen lang gestalkt. Deshalb war sie sich nicht sicher, ob sie schreien oder sich an ihn schmiegen würde, sollte er sich auf einmal in der Bahn neben sie setzen.

Sie wünschte sich, dass das Leben einfacher wäre – weshalb trugen gute Menschen keine Heiligenscheine und schlechte Teufelshörner? Manche der Verbrecher, gegen die sie ausgesagt hatte, würden dann sicherlich mit einem Geweih durch die Gegend spazieren. Sie waren weder vor Gewalt zurückgeschreckt noch zeigten sie Reue oder Mitgefühl. Rafe schien anders zu sein, aber er konnte für einen von ihnen arbeiten. Geld sprach eine eigene Sprache.

In den drei Jahren in New Orleans hatte Alyssa sich eigene Fluchtpläne zurechtgelegt. Bei ihr zu Hause warteten vier verschiedene Kennzeichen für ihr Auto, zwei gepackte Koffer und genug Bargeld sowie Ausweisdokumente, um ein neues Leben anzufangen. Leider konnte sie nicht dorthin, denn die Leute vom Zeugenschutzprogramm wussten, wo sie wohnte und arbeitete. So fiel auch die Notfalltasche weg, die sie auf der Arbeit in einem Spind versteckt hatte.

Alyssa stieg an der Canal Street aus und mischte sich unter die Menge vor einem Restaurant. Sie war zurück im French Quarter, und es waren mehr Menschen unterwegs – manche davon maskiert oder verkleidet. Die Viertelstunde, die sie auf die nächste Straßenbahn wartete, kam ihr wie eine Ewigkeit vor.

Sobald sie einstieg, versteckte sie sich wieder vor neugierigen Blicken von außen, aber sie sah zwischen ihren Fingern hindurch, wie die Palmen der Canal Street vor dem Fenster vorbeizogen. Als sich eine Frau mit langen Dreadlocks neben sie setzte, schaute sie nur kurz auf.

„Es ist schon spät“, sagte die Frau. „Hast du Hunger?“

„Ja“, antwortete Alyssa und wurde sich in dem Moment erst bewusst, wie hungrig sie tatsächlich war. „Ich fahre zum Café du Monde.“

„Da gibt es die besten Beignets der Welt“, stimmte die Frau zu und lachte. Sie hatte drei Goldzähne. „Du kommst allein klar. Das ist gut. Rafe meinte, du bist schlau.“

Rafe? Alyssa sah sich ihre Sitznachbarin genauer an. Die Frau wirkte alterslos, zwischen vierzig und hundertvierzig Jahren. Ihre Dreadlocks schimmerten teilweise grau. Sie trug violetten Lidschatten und hätte gut in einen Voodoo-Laden gepasst, denn sie trug einen gemusterten Rock, ein Batik-Top in Gelb und Rot und außergewöhnlich viel Schmuck.

„Entschuldigung?“, entgegnete Alyssa. „Hast du Rafe gesagt?“

„Er ist so ein Hübscher, stimmt’s? Er hat mir gesagt, dass ich dich nicht aufregen darf, meine Liebe.“

„Wie heißt du?“, fragte sie.

„Alle nennen mich Sheila Marie.“

„Warum hat Rafe dich zu mir geschickt?“

„Nicht wichtig. Vertraust du ihm nicht?“

„Kein Stück.“

„Kluges Mädchen.“ Sheila runzelte die Stirn. „Du solltest keinem Mann einfach blind vertrauen. Rafe Fournier ist der Ururururenkel von Jean-Pierre Fournier, dem Piraten. Er ist ein guter Mann, aber er ist ein Mann, wenn du verstehst, was ich meine. Er kann nicht anders – er denkt nicht immer richtig. Deshalb hat er mich geschickt.“

„Nur, damit ich das verstehe“, sagte Alyssa, „Rafe glaubt, dass ich dir vertraue, obwohl ich dich noch nie gesehen habe. Ich wette, du kannst dich nicht einmal ausweisen.“

„Ausweisen“, wiederholte Sheila Marie mit einem Goldlächeln. „Was willst du? Eine Visitenkarte? Ein Arbeitszeugnis?“

„Ich will wissen, was du machst.“ War sie eine Wahrsagerin, ein Medium oder eine Voodoo-Hexe, die etliche Zaubersprüche in der Tasche hatte? „Wenn du eine Visitenkarte hättest, was würde darauf stehen?“

„Dass ich anderen helfe. Dass ich gut darin bin, verschwundene Personen wiederzufinden. Und ein gewisser Pirat hat mir verraten, dass du nach einer großen Frau mit silbernen Locken suchst.“

Alyssa schnappte erschrocken nach Luft. „Hast du sie gefunden?“

„Nein, aber ich wurde auch erst vor ein paar Stunden um Hilfe gebeten.“ Als sie aufstand, klimperten die vielen Ketten und Armringe. „Hier müssen wir aussteigen.“

Das Café du Monde war nicht weit von der St. Peter Street. „Wie hast du mich gefunden?“, fragte Alyssa.

„Immer mit der Ruhe.“

Alyssa stieg aus der Bahn und ging Arm in Arm mit ihrer neuen Bekannten zum Café. Die Bäckerei hatte Tag und Nacht geöffnet. Schon aus der Ferne sah sie Rafe auf der Veranda des Ladens stehen. Er trug eine braune Lederjacke und blaue Jeans und sah darin fast genauso gut aus wie als Pirat.

Er begrüßte Sheila Marie mit einem Kuss auf die Wangen und überreichte ihr eine Tüte. Dann wandte er sich Alyssa zu. „Wir müssen weiter, chérie.“

Alyssa bewegte sich nicht. Sie würde erst weitergehen, wenn sie eine Erklärung bekam. „Woher wusstest du, wo ich hinwollte?“

„Geheimnisse über Geheimnisse“, sagte Sheila Marie erheitert. „Ihr beide passt perfekt zusammen.“

Rafe drehte sich zu ihr. „Kannst du kurz bleiben?“

„Weißt du was? Ich begleite euch. Kommt mit.“

Sie ging voran in das Café und wurde von mehreren Gästen begrüßt, als wäre sie eine langjährige Freundin. Rafe wollte Alyssas Arm nehmen, aber sie entzog sich ihm. So hatte sie das nicht geplant. „Woher wusstest du, dass ich hierherkommen würde?“

„Komm mit und ich verrate es dir.“

Zögerlich folgte Alyssa ihnen. „Dann fang mal an.“

„Letzte Woche habe ich gesehen, wie du hier warst. Du hast dir Beignets und einen Zichorienkaffee geholt. Danach bist du ein paar Blocks weiter zu einem alten Backsteinhaus spaziert. Erst bist du absichtlich daran vorbeigegangen, aber dann bist du zurückgekehrt und hast in dem Büro für irgendetwas gezahlt. Mit Bargeld.“

An dem Tag hatte sie sich den Kaffee geholt, damit sie unauffällig die Umgebung beobachten und sichergehen konnte, dass niemand sie verfolgte. Wie hatte sie ihn nicht bemerken können? „Ich muss echt blind sein.“

„Nachdem du gegangen bist, habe ich mich umgesehen. Du hast für einen Lagerraum bezahlt. Keine Sorge, ich bin nicht eingebrochen.“ Er zog sie hinter sich her. „Wir müssen uns beeilen, chérie.“

„Wieso das?“

„Weil ich sofort wusste, wo du hinwolltest, als du in die Bahn zur Canal Street eingestiegen bist. Ich habe Sheila Marie losgeschickt, die glücklicherweise in der Nähe war. Aber wenn ich voraussehen kann, wo du hinwillst, können andere es auch.“

Er hatte recht. Ihre Feinde konnten ihr auf der Spur sein, und sie wäre mit der Bahn direkt in eine Falle gefahren.

5. KAPITEL

Rafe sah, dass seine Warnung den gewünschten Effekt auf Alyssa hatte. Sie war wütend, daran zweifelte er keine Sekunde, aber auch die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Und das war mehr als gerechtfertigt. Jemand hätte es Rafe nur nachmachen müssen, um ihr folgen zu können.

In dem T-Shirt, das ihr bis zu den Knien ging, mit zerzausten Haaren und den Spuren ihres gestrigen Make-ups sah Alyssa übermüdet und erschöpft aus. Sie fragte Rafe zögerlich: „Hast du jemanden gesehen?“

„Noch nicht.“

„Sie könnten überall sein.“

Sheila Marie hielt Alyssa einen Pappbecher mit Zichorienkaffee hin und wandte sich an Rafe. „Du musst einen besseren Platz für Missy Alyssa finden. Die Süße sieht aus, als könnte sie sich kaum auf den Beinen halten.“

„Bitte geh nicht“, bat sie Sheila Marie. „Du musst die Frau für mich finden. Sie sah wie meine Mutter aus, sie hatte ihr Lachen.“

„Ist ja gut, ist ja gut, Süße.“ Sheila Marie zog sie mit einem Arm zu sich. Sie sprach in einem sanften Ton. „Deine Mama ist vor ein paar Jahren von uns gegangen.“ Rafe erinnerte sich nicht, dass er Sheila Marie davon erzählt hatte. „Hör mir zu, Süße. Du musst jetzt tun, was ich dir sage“, erklärte die in einem freundlichen, aber strengen Ton.

„Aber ich …“

„Reiß dich zusammen“, sie gab Alyssa einen Kuss auf die Stirn, „und komm mit.“

Sheila Marie führte sie durch die Küche des Cafés hinaus. Die Mitarbeiter sahen ihnen mit müden Blicken hinterher.

Es war eine gute Entscheidung gewesen, sie anzurufen, dachte Rafe. Alyssa schien ihr instinktiv zu vertrauen. In solchen Momenten vermisste er es, für das FBI zu arbeiten, denn dort war ihm widerspruchslos gehorcht worden. Alyssa musste akzeptieren, dass er die Entscheidungen traf. Sie konnten sich nicht erlauben, alles auszudiskutieren.

Sie gingen durch die Straßen und hielten unter einer Überdachung. Leise sagte Rafe zu Alyssa: „Dir muss klar werden, in welcher Gefahr du dich befindest, chérie.“

„Ich weiß.“

„Diese Männer wollten dich entführen.“

„Ich weiß.“

„Du kannst nicht aus dem Fenster klettern und wegrennen.“

„Ich hab dir nicht vertraut.“ Er sah im Licht einer Straßenlaterne, wie sie ihn kritisch betrachtete. „Das hier ist nicht deine Sache, Rafe. Es geht um mich, und ich kann auf mich selbst aufpassen.“

„Mach jetzt keinen Fehler“, sagte Sheila Marie. „Du hast einen Ex-FBI-Agenten vor dir, der hübsch und groß ist und sich um die Bösen kümmern kann.“

Rafe flüsterte: „Ich bin nicht der Einzige, der sie beschützen möchte.“

„Du meinst, es gibt andere, die noch größer und stärker sind als du?“ Sheila Marie biss in einen Beignet aus ihrer Bäckertüte und verteilte eine Wolke Puderzucker in der Luft. „Na, da bin ich ja mal gespannt.“

„Das WitSec“, erklärte er und wandte sich an Alyssa. „Wieso hast du dort nicht angerufen?“

„Das will ich dir nicht sagen.“

„Und ich habe keine Lust mehr zu raten.“

„Von mir erfährst du nichts.“

Hinter ihrer Weigerung, das WitSec zu informieren, musste mehr stecken. Er sah sich um. Einen halben Block weiter stand das alte Backsteinhaus. „Gib mir deinen Schlüssel, und ich hole dir, was du brauchst.“

„Das mache ich selbst.“

Genau das hatte er vermeiden wollen. Er wollte keine Zeit damit verschwenden, ihr zu erklären, wieso das eine schlechte Idee war.

„Sheila Marie, bitte halte im Café Ausschau, und sag mir, wenn auffällige Personen auftauchen.“

Er griff sich an den Knöchel und reichte Alyssa eine Waffe. „Was ist das?“, fragte sie.

„Eine Glock 43.“

„Ich weiß, dass es eine Glock ist“, erwiderte sie. „Ich dachte, du hast nur einen Taser dabei.“

„Ich war beim FBI.“

„Die Waffe hast du bei den Skeletten nicht benutzt.“

„Es gibt gewisse Waffen für gewisse Situationen. Und das hier ist eine ernste Situation, chérie.“ Als er sie ansah, dachte er immer wieder: Bitte komm nicht mit ins Lagerhaus, bitte komm nicht mit, bitte komm nicht mit … Laut sagte er: „Du bleibst bei Sheila Marie und hörst auf sie.“

Alyssa schüttelte mehrmals den Kopf. „Lass uns einen Kompromiss machen. Wir gehen gemeinsam. Durch den Hintereingang.“

So viel zu seiner Hoffnung, dass sie draußen bleiben würde. Rafe wartete ab, bis ein Lieferwagen vorbeigefahren war, und trat mit Alyssa auf die Straße. Sie humpelte ein wenig, aber blieb an seiner Seite. Über einen Innenhof war der Wareneingang des Lagerhauses leicht zu finden. Rafe ging vor, aber an der Tür drückte Alyssa ihn zur Seite.

„Ich mache das.“

Sie griff an die Rückseite eines Metallpfeilers neben der Tür und gab kurz einen Zahlencode in ein Eingabefeld ein. Eine kleine Öffnung klappte auf. Rafe sah zu, wie Alyssa einen Schlüssel herausnahm, die Tür zum Lagerhaus aufschloss und den Schlüssel zurücklegte.

„Du bist vorbereitet“, kommentierte er. „Nicht schlecht.“

„Mir war bewusst, dass ich jederzeit Zugang bräuchte, deshalb zahle ich mehr, um diesen Eingang nutzen zu können.“

Er folgte ihr in das Gebäude. Es war totenstill, roch nach Dreck und Rattenkot, und das einzige Licht kam von ein paar Fenstern unter der Decke. Rafe zog eine kleine Taschenlampe hervor und sah sich um. Ein alter Empfangsschalter war zu erkennen, dahinter ungeordnete Reihen an Kisten, Schließfächern und Lagerräumen.

Er lauschte. „Nicht das Licht einschalten.“

„Wie viel kann ich mitnehmen?“

„Nicht mehr, als du tragen kannst.“

„Du weißt schon“, sagte sie, „dass es einfacher wäre, wenn ich deine Taschenlampe hätte?“

Ohne mit ihr zu diskutieren, reichte er die Taschenlampe an sie weiter. „Ich bin direkt hinter dir.“

Alyssa ging schnellen Schrittes an den Schließfächern und den Lagerräumen vorbei. Am Ende des Gebäudes bog sie scharf nach rechts ab. Sie standen vor einem Lastenaufzug, dessen Tür auf altmodische Art nach oben aufgeschoben wurde. Alyssa schlüpfte hinein.

„Komm schon“, sagte sie ungeduldig. „Ich muss in den zweiten Stock.“

Rafe wollte nicht mit dem alten, klapprigen Fahrstuhl stecken bleiben. Trotz der Größe der Kabine fühlte er sich eingesperrt. Er schwitzte in seiner Lederjacke. Als er die Tür herunterzog und auf den Knopf für den zweiten Stock drückte, erwachte der Motor mit einem Geräusch, das klang, als hätten ein Dutzend Alligatoren Verdauungsprobleme.

„Das ist zu laut“, sagte er und fluchte. „Das hat jeder in der Nähe gehört.“

„Oh, daran hätte ich denken sollen.“

Als sich die Tür im zweiten Stock öffnete, sprang Rafe hinaus und stieß dabei gegen Alyssas Bein. Sie zuckte zusammen, und er verfluchte sich.

„Tut es sehr weh?“, fragte er.

„Ich hätte jetzt nichts gegen ein langes, heißes Bad.“

Ihr Fluchtversuch hatte ihn verärgert, aber er konnte nicht umhin, ihre Ausdauer und Kraft zu bewundern.

Im zweiten Stock war es noch dunkler und unheimlicher. Die wenigen Fenster waren zugenagelt. An den Metalltüren, an denen sie vorbeigingen, blätterte die Farbe ab. Alyssa hielt vor der Nummer 224.

Sie gab Rafe die Taschenlampe und griff unter das weite T-Shirt, um ihren Schlüsselbund hervorzuholen.

„Es sind kaum vier Quadratmeter“, erklärte sie. „Ich dachte mir, mehr brauche ich nicht.“

Das kalte Licht einer Glühbirne erhellte den Raum. Als Erstes stach Rafe ein glänzendes, brandneues Fahrrad ins Auge. In einer Ecke daneben standen Umzugskartons und eine noch verpackte Camping-Ausrüstung: ein Zelt, ein Schlafsack, ein Gaskocher und weiteres Zubehör. An allem hingen noch die Preisschilder.

Er hob eine kleine Axt hoch. „Warst du schon oft campen?“

„Nur als ich klein war mit meinen Großeltern in Georgia.“

„Wie hast du das hier ausgesucht? Und warum?“

„Ich dachte, es wäre keine schlechte Idee, wenn ich ein paar Tage im Wald untertauchen könnte. Ich habe mich von einem Mitarbeiter beraten lassen, was ich brauche, um einen Monat zu überleben.“

Rafe ahnte, dass der Verkäufer eine saftige Provision eingestrichen hatte, als er der unerfahrenen Alyssa all diese hochwertige und teure Ausrüstung ans Herz gelegt hatte. „Hast du eine Waffe gekauft?“

„Zwei“, sagte sie. „Aber ich habe sie nicht hier.“

Sie stieg über ein paar Kisten hinweg und zog einen riesigen Rucksack an den Trageriemen zu sich. An der Seite öffnete sie eine kleine Tasche und holte eine Packung mit Schmerzmittel heraus. Sie suchte gerade nach einer Wasserflasche, als Rafes Handy vibrierte. Nur wenige hatten seine Nummer, denn sie war speziell verschlüsselt, sodass er nicht geortet werden konnte.

Er trat aus dem Lagerraum und sah auf das Display. Es war eine Nachricht von Davidoff:

Alyssa ist verschwunden. Was weißt du?

Rafe antwortete nicht. Alyssa war vor wenigen Stunden angegriffen worden, und Davidoff wusste schon, dass sie untergetaucht war. Wie konnte das sein?

Als er wieder zu Alyssa sah, zog sie gerade das übergroße T-Shirt aus und holte ein braunes Polohemd aus dem Rucksack hervor. Sie hatte sich schon eine Jeans angezogen und schlüpfte nun schnell in Sneaker und eine Jeansjacke. Es war schlichte und praktische Kleidung. Ihr Kostüm hatte ihm besser gefallen, auch wenn er nicht hätte sagen können, wieso.

„Hat dich jemand angerufen?“, fragte sie.

„Oh, nur eine Nachricht.“

„Wir sollten gehen“, meinte sie. „Es gibt ein Hotel, zu dem du mich bringen kannst.“

Das kannst du vergessen, dachte er sofort. Sie mochte glauben, dass ein Hotel sicher war, aber er würde sie zurück ins Safehouse bringen, das eine funktionierende Alarmanlage hatte. Da konnte sie protestieren, wie viel sie wollte. Entweder sie kam mit ihm mit oder sie ging zum WitSec.

Alyssa schulterte den Rucksack, der beinahe so groß wie sie selbst war, und stolperte mit der Taschenlampe durch den Flur bis zu einem schmutzigen Fenster, das ein wenig Mondlicht hineinließ. „Oh nein“, sagte sie, als sie hinaussah.

„Qu’est-ce que c’est?“ Rafe kam zu ihr. „Was ist los?“

Sie deutete hinaus. „Da drüben steht ein Mann. Ich kenne ihn.“

Er sah aus dem Fenster. Auf der anderen Seite der Straße am Eingang einer Gasse unter einer Straßenlaterne stand ein Mann. Er war nicht besonders groß und trug schwarze Kleidung. „Woher kennst du ihn?“

„Er ist einer von den Skelettmännern. Ich war mir sicher, dass ich ihn schon einmal gesehen habe, aber jetzt ist mir sein Name wieder eingefallen.“

„Wie heißt er?“

„Hugh Woodbridge.“

Rafes Handy vibrierte. Sheila Marie hatte ihm geschrieben:

Drei Schlägertypen. Verschwindet!

Auf der anderen Seite der Straße traten zwei weitere Männer neben Woodbridge. „Woher kennst du ihn?“, fragte Rafe.

Sie zögerte kurz und flüsterte: „Vom WitSec.“

Das erklärte, weshalb sie sich geweigert hatte, dort anzurufen. Sie war nirgendwo mehr sicher. „Woodbridge ist ein US-Marshal.“

„Leider ja.“

Das waren schlechte Nachrichten … für sie beide.

6. KAPITEL

Alyssa sah zu, wie Woodbridge und die beiden anderen Männer auf das Lagerhaus zugingen. Sie waren hinter ihr her. Seit dem Angriff hatte sie sich auf das Adrenalin in ihrem Blut verlassen, aber ihre Kräfte ließen nach. Der Rucksack fühlte sich an, als würde er eine Tonne wiegen, und die Welt verschwamm vor ihren Augen. Ohne Rafes Hilfe würde sie nicht entkommen können. Sie musste ihm vertrauen.

„Hast du einen Plan?“, fragte sie.

Er nahm ihr die Taschenlampe ab und gab ihr die Glock 43. „Schieß nicht, bevor ich es dir nicht sage.“

„Ist die Waffe gesichert?“

„Lass den Abzug in Ruhe, dann ist alles gut.“

Sie folgte Rafe. Er durchsuchte beim fahlen Licht der Taschenlampe ihren Lagerraum, bis er etwas in der Hand hielt: ein langes blaues Seil und mehrere kleine Gegenstände aus Metall. „Du musst diesem Verkäufer danken. Ich glaube nicht, dass du um Kletterausrüstung gebeten hast.“

„Kletterausrüstung?“

„Seil und Karabiner“, erklärte er. „Das könnte uns das Leben retten.“

Sie wollte antworten, als unter ihnen ein lautes Geräusch ertönte. Haben sie die Tür eingetreten?

Rafe zögerte keine Sekunde. Er ging zum Fenster und drückte es auf. Eine feuchte Brise zog in das Gebäude.

„Setz den Rucksack ab.“

„Ich brauche alles da drin.“

„Wir nehmen ihn mit, aber du kannst ihn nicht tragen.“

Sie ließ den Rucksack zu Boden gleiten. Sofort fühlte sie sich besser.

Rafe befestigte das Seil mit den Karabinern an einem Pfeiler neben dem Fenster. Dann knüpfte er einen Knoten.

„Was wird das?“

„Ich mache eine Schlaufe. Du stellst dich hinein, und ich lasse dich herunter.“

„Wir sind im zweiten Stock.“

„Deshalb helfe ich dir“, sagte er ruhig.

Sie passte knapp durch das Fenster. Ein ratterndes Geräusch verriet, dass der Lastenaufzug auf dem Weg nach unten war. Alyssa stellte sich in die Schlaufe. „Und nun?“

„Belaste nur den Fuß in der Schlaufe, halt dich fest, und ich lass dich langsam runter. Du kannst dich an der Hauswand abstützen.“

Sie sah nach unten. Es waren keine zehn Meter, aber es hätte ein Abgrund sein können. Der einzige Lichtblick war, dass das Fenster zu einer Gasse hinausging, die nicht leicht einzusehen war.

Alyssa versuchte, sich auf das vorzubereiten, was jetzt kommen würde. Ihr gesamter Körper schmerzte, und sie zitterte. Sie fühlte sich schwach.

„Ich kann das nicht“, stieß sie hervor. „Gibt es keine andere Möglichkeit?“

„Dafür ist keine Zeit mehr.“

Sie konnte Männerstimmen im Fahrstuhl hören. Rafe hatte recht. Mit einem Fuß trat sie in die Schlaufe und hielt sich mit aller Kraft am Seil fest. Langsam glitt sie hinunter. Ihr Bein gab beinahe nach, als sie sich von der Wand abdrückte.

Rafe redete ihr gut zu. „Du bist schon fast da.“

Wieder sah sie hinunter. Nur noch wenige Meter, dann berührte ihr Fuß den Boden. Sie hatte es geschafft.

Außer Atem brach sie zusammen und rutschte aus der Schlaufe. Rafe zog das Seil hoch, lehnte sich aus dem Fenster und warf den Rucksack hinunter. Er kletterte hinterher.

Bei ihm sah es so einfach aus, beinahe elegant.

„Wir haben es geschafft.“

„Ja, haben wir.“

Es war das erste Mal, dass sie von einem „wir“ sprach. Sie waren nicht länger zwei Einzelkämpfer – die Flucht hatte sie zusammengeschweißt. Rafe hatte sie beschützt und gerettet. Aber konnte sie ihm trauen?

Er hob ihren Rucksack hoch und schulterte ihn. „Komm mit.“

Weiter oben hörte Alyssa die Stimmen der Männer, auch wenn sie niemanden sah. Sie hätte sich gerne in Ruhe mit der Situation auseinandergesetzt, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als Rafe hinterherzustolpern.

Zwei Blocks vom Café du Monde entfernt erreichten sie die Hauptstraße. Rafe zog sie zu einem Motorrad, das am Straßenrand stand. Er holte einen Helm aus dem Stauraum und hielt ihn ihr hin.

Sie hätte ein anderes Fluchtfahrzeug vorgezogen, aber sie diskutierte nicht mit ihm. Sie mussten schnell sein, hier auf der Straße waren sie leichte Beute. Rafe befestigte den Rucksack am Gepäckträger und half Alyssa auf das Motorrad. Bevor er aufstieg, schob er ihr Visier noch einmal hoch. „Hast du genug Kraft, um dich festzuhalten?“

„Ja, habe ich.“ Auch wenn sie ihm die Führung überlassen hatte, wollte sie nicht, dass er sie für schwach hielt. „Ich habe keine Wahl. Ich kann nicht zur Polizei.“

„Was Woodbridge betrifft“, sagte er. „Keine Geheimnisse mehr.“

„Das gilt auch für dich, Rafe.“

„Eine Frage, chérie.“ Er rieb sich über das Grübchen am Kinn. „Wieso sind diese Männer hinter dir her?“

„Ich gehe von Rache aus. Durch meine Aussage sind vier von ihnen im Gefängnis gelandet, einer sogar lebenslang.“

Rafe lehnte sich näher zu ihr heran, und Alyssa hielt dem durchdringenden Blick seiner grauen Augen stand. „Und wieso ist ein US-Marshal in New Orleans hinter dir her, wenn irgendwelche Typen in Chicago verurteilt wurden?“

Sie wandte sich ab und sah über seine Schulter hinweg. „Wir sollten losfahren.“

„Wenn sie dich umbringen wollen, wieso haben sie dann keinen Scharfschützen bezahlt?“

„Weil es zu einfach wäre, mich umzubringen. Sie wollen mir wehtun.“

Sie wollte nicht über andere Möglichkeiten und Gefahren nachdenken, die ihr im Kopf herumschwirrten, seitdem das FBI zu ihr nach Hause gekommen war, damit sie eine Aussage machte. Max Horowitz, ihr alter Chef, hatte sich um die Finanzen gekümmert. In der Zeit, in der sie für ihn gearbeitet hatte, hatte sie Millionenbeträge in Rechnungen, Zahlungen, Ein- und Ausgaben eingetragen. Sie war sich der Gefahr bewusst gewesen, die mit großen Mengen Geld einherging. Das FBI hatte ihr unzählige Fragen gestellt.

„Es könnte sein“, begann Rafe, „dass du etwas hast, was sie wollen.“

„Das ist nicht dein Problem. Und wenn es dir nichts ausmacht, kannst du mich bitte zu einem Hotel bringen? Es ist in der …“

„Ich habe das Sagen, chérie. Du kommst mit mir.“ Er setzte den Helm auf und stieg auf das Motorrad. „Halt dich fest.“

Sie schlang die Arme um seinen Oberkörper und konnte spüren, wie warm und muskulös er war.

Langsam gefiel es ihr, Zeit mit Rafe zu verbringen. Wie hatte Sheila Marie ihn genannt? Einen ehemaligen Cop, der groß, stark und gut aussehend war? Er beschützte sie, und dieses Gefühl war ihr vollkommen neu. Alyssas Mutter hatte ihr Bestes gegeben, sich um sie zu kümmern, aber sie war sprunghaft und unzuverlässig gewesen – ihr eigener Spaß hatte ihr mehr bedeutet, als Alyssa eine sichere, beständige Umgebung zu bieten. Ihre Tante Charlotte hatte ebenso wenig helfen können. Niemand hatte sich je für Alyssa eingesetzt, weder als Kind noch als Erwachsene.

Als sie um eine Kurve fuhren, lehnte Alyssa sich zur Seite. Der Wind zog an ihr, und sie war dankbar für die Jeansjacke und die langen Hosen. Als sie versuchte, sich umzusehen und herauszufinden, wo Rafe hinfuhr, bog er in eine Gasse ab. Jazzmusik und Gelächter schlugen ihnen entgegen.

Straßen verschwammen ineinander, und Alyssa gab auf, über ihr Ziel nachzudenken. Sie schloss die Augen. Sofort hatte sie die Parade wieder vor Augen. Die Männer in den Masken. Rafe hatte eine schlaue Frage gestellt: Wieso waren sie hinter ihr her?

Nach unzähligen Abbiegungen fuhren sie schließlich eine Auffahrt hinauf. Alyssa öffnete die Augen, als sie vor einem Haus anhielten – dasselbe Haus, aus dem sie geflohen war. „Wir sind hier?“

Rafe stieg vom Motorrad und nahm den Helm ab. „Ich habe dir doch erzählt, dass ich beim FBI war. Ich weiß, wie man ein gutes Safehouse einrichtet. Ich habe Bewegungsdetektoren, Infrarot-Kameras – die neueste Technik. Und niemand weiß von dem Haus. Hier bist du sicherer als in einem Hotel.“

„Was ist mit deinem Auftraggeber? Er weiß doch sicherlich davon.“

„Lass das meine Sorge sein.“

Alyssa stieg mit wackeligen Beinen vom Motorrad. Sie war so müde, dass sie kaum denken konnte. Erst einmal musste sie schlafen.

Nachdem Alyssa ins Bett gegangen war, schaltete Rafe die Alarmanlage ein, setzte sich an den Küchentisch und nahm sein Smartphone zur Hand. Die Unterhaltung würde nicht einfach werden. Davidoff hatte ihn eingestellt, um Alyssa zu beschützen, und die Männer aus Chicago hatten offensichtlich nichts Gutes im Sinn.

Rafe hatte vier weitere Nachrichten von Davidoff erhalten. Die letzte, die um 3:17 Uhr eingetroffen war, lautete nur noch:

Wo bist du? Ruf mich sofort an.

Rafe wusste, im Haus waren sein Computer und sein Handy nicht zu orten. Es war mittlerweile 3:34 Uhr. Rafe wählte seine Nummer.

„Nein, nein, nein, so geht das nicht … Wieso meldest du dich jetzt erst?“, fragte Davidoff sofort.

„Ich war verabredet.“

„Mit einer Frau? Du hast mir nicht geantwortet, weil du wen gevögelt hast?“

„Ich habe Zeit mit einer Frau verbracht“, antwortete Rafe ehrlich. „Und es war der Día de los Muertos. Ich hatte gehofft, die Verbindung zu meinen Piratenvorfahren aufleben zu lassen.“

„Dieser komische Voodoo-Kram und dein Sexleben sind mir egal. Wo ist Alyssa?“

Wenn Rafe irgendetwas von seinem Auftraggeber erfahren wollte, musste er die richtigen Fragen stellen, ohne sich selbst zu verraten. „Wann genau soll Alyssa verschwunden sein?“

„Sie ist nach der Arbeit nicht nach Hause gefahren.“

„Vielleicht hat sie ein Date.“

Davidoff schnaubte. „Du hast sie beschattet. Also, hat sie einen Freund?“

„Heute wird in der gesamten Stadt gefeiert. Schon möglich, dass sie verabredet ist. Wurde jemand bei ihrem Haus stationiert? Wer hat dir gesagt, dass sie nicht zu Hause ist?“

„Das hättest du gewesen sein sollen!“, rief Davidoff. „Ich zahle dir eine Menge Geld, damit du sie beobachtest. Mal ganz abgesehen von deinen zusätzlichen Spesen.“

Zugegeben, es war nicht billig gewesen, das Schlafzimmer einzurichten. Aber Rafe ließ sich nicht ablenken. „Hast du weitere Leute eingestellt, die hier in New Orleans für dich arbeiten?“

„Wieso sollte ich das machen? Ich scheiße kein Geld.“

„Wer hat dir gesagt, dass Alyssa verschwunden ist?“

„Es geht dich eigentlich nichts an, aber es war der FBI-Agent, der dich empfohlen hat.“

„Jessop, richtig?“

„Das habe ich nie gesagt.“

„Aber es stimmt. Dein Kontakt beim FBI ist Darren Jessop, n’est-ce pas?“

„Ich muss dir gar nichts sagen, du Froschfresser. Du arbeitest für mich, das hast du hoffentlich nicht vergessen?“

„Natürlich nicht.“

„Dann will ich wissen, wo sie ist.“

Rafe entschied, Davidoff ein wenig zu verraten. „Sie ist an einem sicheren Ort, an dem ihr nichts geschehen kann. Morgen früh schicke ich dir ein Bild von ihr.“

„Ein Glück.“

Seine Erleichterung schien nicht gespielt. „Sie ist dir wichtig, nicht wahr?“

„Ich sag jetzt gar nichts mehr. Schick mir morgen das Foto.“ Davidoff machte eine kurze Pause. „Vielleicht sollte ich nach New Orleans kommen. Alyssa würde mich bestimmt gerne sehen.“

Rafe bezweifelte das. „Kennt sie dich überhaupt?“

„Ja, wir kennen uns.“ Er lachte dunkel. „Man könnte sagen, ich bin der wichtigste Mann in ihrem Leben.“

„Wieso das?“

„Lass es mich so sagen: Ohne mich wäre sie nie geboren worden.“

Davidoff ist ihr Vater?

7. KAPITEL

Als Rafe am nächsten Morgen aufwachte, dachte er über Davidoff nach. Falls der wirklich Alyssas Vater war, mochten gute Absichten dahinterstecken, dass er Rafe als Bodyguard eingestellt hatte. Aber ihm fiel es schwer, das zu glauben. Bei seiner Recherche hatte er herausgefunden, dass auf Alyssas Geburtsurkunde kein Vater eingetragen war.

Am Abend zuvor hatte sie ihm von ihrer Familie erzählt. Sie hatte ihren Vater mit fünf Jahren das letzte Mal gesehen. Ihre Mutter hatte ihr nie seinen Namen verraten und behauptet, er sei gestorben. Und Alyssa hatte nie einen Grund gehabt, etwas anderes zu glauben.

Wenn Davidoff ihr Vater ist, wieso hat er nicht früher schon Kontakt zu ihr aufgenommen?, ging es Rafe durch den Kopf. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Alyssa niemanden mehr gehabt. Welcher Vater meldete sich dann nicht bei seiner Tochter?

Oder Davidoff wollte es geheim halten, dass er Alyssas Vater war, damit sie sicher vor seinen Feinden war.

Aber Rafe wollte das nicht so recht glauben. Er hielt es für wahrscheinlicher, dass Davidoff hinter etwas her war – der mysteriösen Geldsumme beispielsweise, die aus dem Geschäft von Alyssas ehemaligem Chef verschwunden war. Special Agent Jessop hatte Ähnliches erwähnt, als er Rafe an Davidoff vermittelt hatte. Er sagte, dass Alyssa Zugang zu einer Menge Geld haben könnte. Rafe hätte gern mehr erfahren, aber er wollte nicht riskieren, dass Jessop mehr herausfand und Davidoff verriet, wohin Alyssa verschwunden war.

Was, wenn Jessop dem WitSec verraten hatte, wo Alyssa war? Das wäre schon très suspect, n’est-ce pas?

Ohne das Licht einzuschalten, stand er auf und zog sich eine Jogginghose an. Er ging in die Küche, setzte einen Kaffee auf und überprüfte die Alarmanlage und die Sicherheitskameras. Alles war in Ordnung.

Er wollte ins Badezimmer gehen, aber fand die Tür verschlossen vor und hörte Wasser laufen. Alyssa war ihm zuvorgekommen, aber das störte ihn nicht weiter.

Wieder in der Küche schenkte er sich eine Tasse Kaffee ein. Die würde ihn hoffentlich wacher machen, denn er wollte überlegen, wer Alyssa verfolgte und wieso. Außerdem hoffte er, dass sie heute redseliger sein würde. Seine Rettung musste ihre Meinung zu ihm geändert haben.

Im Lagerhaus hatte es einen Moment gegeben, in dem sie ihm vertraut hatte, und er wollte, dass sie zu diesem Gefühl zurückkehrte. Rafe fand seine Arbeit schwer genug, er wollte nicht ständig aufpassen müssen, dass Alyssa aus dem Fenster floh oder wilden Ideen nachjagte.

Er beschloss, sich bei seinem Freund Chance zu melden, damit der mehr über Davidoff und Alyssas alten Chef in Erfahrung brachte. Außerdem musste er mit Sheila Marie sprechen, denn sie wusste immer über die neuesten Gerüchte in der Stadt Bescheid. Aber vor all dem musste er duschen.

Er sah um die Ecke in den Flur, aus dem Alyssa in die Küche kam. Sie war in ein blau-orange-gelbes Badetuch gewickelt, hatte nasse Haare, und das beginnende Tageslicht ließ ihre Haut golden glänzen. Ihre Wangen waren leicht gerötet. „Guten Morgen, Rafe.“

„Allo, chérie.“

Sie sah hinunter auf seine nackte Brust. „Ich hatte nicht erwartet, gleich so viel von dir zu sehen.“

Dieser eine Satz und ihr Lächeln reichten aus, dass sein durchdachter Plan für den Tag einfach verpuffte. „Ich habe Kaffee gekocht.“

„Lass mich kurz etwas anziehen, dann komme ich zu dir. Wir müssen uns etwas überlegen. Ich kann nicht zu meinem Bankschließfach, aber ich muss ein paar Dinge erledigen, bevor ich New Orleans verlasse.“

„Du kannst die Stadt nicht verlassen, wenn du keinen Plan und keine sichere Unterkunft hast.“

„Aber wenn ich bleibe, wird es gefährlicher. Ich finde mich schon zurecht. Und ich bräuchte deinen Computer, um mich nach neuen Orten umzuschauen.“

Rafe diskutierte nicht, sondern verschwand ins Badezimmer. Der Spiegel war beschlagen, sodass er sich nur verschwommen sah, aber es störte ihn nicht. Er wollte sich nicht in die Augen sehen, nachdem er sich von Alyssa hatte überrumpeln lassen.

Er beeilte sich unter der Dusche, putzte sich die Zähne und zog sich an. Als er in die Küche kam, stand Alyssa auf Zehenspitzen vor einem hohen Regal und versuchte, etwas daraus zu greifen. Ihre mintgrüne Bluse war hochgerutscht, und er konnte die zarte Haut ihrer Taille sehen.

„Ich dachte, ich mache Haferflocken“, sagte sie. „Wieso stehen sie so weit oben?“

„Weil ich lieber Maisgrütze esse“, erklärte er. „Lass mich kochen.“

Er nahm die Maisflocken von einem tieferliegenden Regalbrett und bereitete das Frühstück zu.

Alyssa setzte sich an den Tisch. „Wenn ich dir helfen kann, sag Bescheid.“

Rafe goss Milch und Wasser nach Gefühl in einen Topf. Seit seiner Kindheit aß er Maisgrütze zum Frühstück, seine Großmutter Nana Lucilla hatte ihm das Kochen beigebracht, und er hatte die Momente geliebt, in denen die Küche nach Cajun-Gewürzen gerochen hatte. In der Küche hatte er sich immer wohlgefühlt, es war ein guter Ort zum Reden.

„Ich weiß so ungefähr, wie du im Zeugenschutzprogramm gelandet bist“, eröffnete er das Thema, „aber es würde helfen, wenn du mir mehr darüber erzählen könntest.“

Alyssa stöhnte auf. „Ich habe es dir doch schon mal erzählt.“

„Wir müssen herausfinden, wer hinter dir her ist und wieso. Wie bist du in den Schlamassel geraten? Du kannst bei deinem alten Chef anfangen, s’il te plaît. Wie hast du den Job bei ihm gefunden?“

Autor

Heather Graham

Nach ihren Reisen durch Afrika, Asien und Europa entschloss sicher Heather Graham, Schriftstellerin zu werden. Ihr erster Roman wurde 1982 veröffentlicht, seitdem hat sie etwa 150 Romane geschrieben, die in über 20 Sprachen übersetzt wurden. Heute steht Heather Graham regelmäßig auf denUS-amerikanischen Bestsellerlisten.

Nach der Geburt ihres dritten Kindes entschloss...

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Jenna Ryan
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