Between the Lines: Weil du alles für mich bist

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Reid - der Bad Boy hat sein Herz verloren. Mit Dori zusammen scheint er endlich die Balance zwischen Glamour und Alltag gefunden. Doch plötzlich taucht seine Ex wieder auf - im Gepäck eine Nachricht, die alles verändern wird.

Dori - ist total verliebt in Reid. Aber kann dieser wirklich den Verlockungen der Glitzerwelt widerstehen? Oder wird sie ihn an seine wilde Vergangenheit verlieren?

Brooke - möchte ihr Leben auf die Reihe bringen. Der erste Schritt dazu: ihre und Reids Geschichte aufzuarbeiten. Dafür müssen sich beide der Wahrheit stellen …

Der krönende Abschluss der fesselnden New-Adult-Serie von SPIEGEL ONLINE-Bestsellerautorin Tammara Webber


  • Erscheinungstag 05.12.2016
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783956499579
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tammara Webber

Between the Lines:
Weil du alles für mich bist

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Anke Brockmeyer

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Here Without You

Copyright © 2013 by Tammara Webber

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: büro pecher, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Dreamstime/Undrey

ISBN eBook 978-3-95649-957-9

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Reid

Meine Freundin hat ihren Eltern nichts von mir erzählt.

Es ist jetzt eine Woche her, aber noch immer ist es ein Geheimnis – wir verbringen Zeit zusammen, gehen jedoch nie gemeinsam aus, es ist genau so, wie wir es letzten Herbst getan haben. Obwohl ich es zu schätzen weiß, wie sie diese Zeit mit mir verbringen will, möchte ich nicht mit Dori bei mir zu Hause eingesperrt sein. Sie ist wie ein neues Spielzeug, das ich nicht herumzeigen kann – es war idiotisch, dass mir das herausgerutscht ist, sie hat allerdings nur die Augen verdreht, als ich es gesagt habe.

So, wie es scheint, ist John der einzige meiner Freunde, der über meinen neuen Beziehungsstatus im Bilde ist. Aber meine Schauspielerkollegin aus meinem letzten Film – Chelsea Radin – hat jedes Mal vielsagend gegrinst, sobald sie uns zusammen bei der Arbeit am Habitat-Gebäude gesehen hat. Ich glaube, sie weiß es. Insbesondere, nachdem sie uns dabei erwischt hat, wie wir aus einer Nische im Haus kamen. Doris Pferdeschwanz war gelöst, ihr Gesicht gerötet, und ich hatte ein siegessicheres Lächeln aufgesetzt.

John und ich stehen am Spielfeldrand, als er beschließt, über meine heimliche Affäre zu sprechen, sein Timing ist genauso wie sein Taktgefühl – nicht vorhanden.

„Wann willst du denn nun diese sogenannte Beziehung endlich öffentlich machen?“

Im Geräuschpegel des Staples Centers geht unser Gespräch unter, aber das heißt nicht, dass ich mitten zwischen achtzehntausend Menschen über Dori reden will – abgesehen von den mehreren Hundert Kameras, die das Spiel an ein paar Millionen weitere Zuschauer übertragen. Außerdem sagt er Beziehung in einem Ton, den die meisten Leute für das Wort Geschlechtskrankheit reserviert haben. Als ich ihm einen scharfen Blick zuwerfe, schaut er mich unschuldig an. Ich denke, dieser Gesichtsausdruck hat bei seinem Dad jahrelang funktioniert, ehe der begriff, dass John exakt die jüngere Version von ihm ist.

„Was denn? Reid Alexander hat eine Freundin.“

Beim letzten Wort wird seine Stimme leiser – nicht etwa, weil er sich an meinen Maulkorberlass hält, sondern mehr so, als wäre diese Tatsache zu entsetzlich, um sie laut auszusprechen.

Ich starre auf den Spieler, der einen Drei-Punkte-Wurf ausführt, doch der geht daneben. Wir stöhnen beide.

„Das sind spannende Neuigkeiten, Alter! Warum diese Zurückhaltung?“

Falls John mit einer Antwort rechnet, kann er verdammt lange warten.

Kobe wird dafür bestraft, dass er losgelaufen ist – das ist noch nie passiert –, und ich lasse mich in meinen Sitz zurückfallen und verschränkte die Arme fest vor meiner Brust. „Shit.“ Dieser Fluch beschreibt sowohl meine Gefühle für die Lakers als auch für Dori, die ich beide liebe. Denn beide lassen mich am langen Arm verhungern.

Grinsend stößt John mir einen Ellbogen in die Seite. „Komm schon, Mann, ich bin die Diskretion in Person.“

Seltsamerweise stimmt das sogar.

Als ich nicht sofort zu sprechen anfange, beginnt er zu mutmaßen: „Also ist es vorbei? Ist es das? Alter, ich habe doch gesagt, es wird nicht lange hal…“

„Sie hat es immer noch nicht ihren Eltern erzählt.“

Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie er verwirrt die Stirn runzelt und mich anstarrt, als hätte ich in einer unbekannten Sprache geredet, und er wartete nun auf die Übersetzung.

Während ich weiter aufs Spielfeld starre, füge ich hinzu: „Ich fühle mich, als würde ich in einer dieser verdammten Abend-Nickeloden-Sitcoms festhängen.“

John zieht eine Augenbraue hoch. „Warte. Du meinst das ernst. Das ist der Grund? Weil sie es ihren Eltern noch nicht erzählt hat? Ich könnte hundert Mädchen auftreiben, die Luftsprünge machen würden, falls sie auch nur ein Mal mit dir ausgehen dürften. Dieses Mädchen ist deine Freundin, und sie hat es nicht jedem gesagt, den sie kennt?“

Ich zucke die Achseln, aber es trifft mich, wenn er es so ausdrückt. Wie ich schon erklärte – Takt ist nicht Johns Stärke.

Er schüttelt den Kopf. „Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erlebe, an dem Reid Alexander unter dem Pantoffel steht – Au! Alter!“ Er reibt sich den Arm, wo ich ihn geschlagen habe, und blitzt mich an. „Was ist an diesem Mädchen dran, das dich so verdammt gewalttätig macht?“

Ich lache, weil wir gerade auf dem Bildschirm über dem Centercourt zu sehen sind. Es wird Zeit, so zu tun, als hätten wir Spaß, statt eine private Schlägerei anzufangen, mit der wir den Lakers und den Jazz heute Abend die Show stehlen würden. „Kamera.“

Auf das Stichwort ist John wie ausgewechselt und spielt mit, während er mich zurückdrängt.

„Das war die letzte Warnung, Mann.“ Mein kamerataugliches Lächeln nimmt der Drohung in meiner Stimme nicht ihre Schärfe. „Sprich nicht so über sie.“ Er hat Glück, dass ich nur seinen Bizeps zerquetscht und nicht sein Gesicht demoliert habe.

„Ich habe über dich geredet“, erwidert er knurrend, während er ein ebenso strahlendes Lächeln aufsetzt wie ich.

Brooke

„Miss Cameron? Bethany Shank hier. Ich habe ihn aufgespürt.“

Ich hätte ihren Anruf nicht mitten in einer Pediküre annehmen sollen, aber als ich ihren Namen auf dem Display aufleuchten sah, war meine Neugier zu groß. Unvorstellbar, dass diese Nachricht auf der Mailbox landet. Beim Anheuern der Privatdetektivin habe ich angenommen, dass sie meinen Sohn findet. Ich meine, hey – natürlich habe ich erwartet, dass sie ihn findet. Dennoch bringen mich diese Neuigkeiten völlig aus dem Gleichgewicht. Mein Herz rast, als würde Espresso durch meine Adern fließen.

„Das ging schnell.“

Die Frau, die gerade meine Füße trocken tupft, gibt vor, meinen Teil der Unterhaltung nicht zu verfolgen, und ich frage mich, ob sie den donnernden Schlag meines Herzens hören kann.

„Na ja, ich hatte Ihnen ja gesagt, dass es nicht lange dauern würde, nachdem Sie mir den Startschuss für die Durchführung der Suche gegeben haben.“

„Und was passiert jetzt?“ Ich habe ihn gefunden. Trotz meiner zur Schau gestellten Zuversicht beginnen meine Hände zu zittern. Ich wünschte, ich wäre zu Hause, allein, dann könnte ich mich hinlegen oder umherlaufen – alles, nur nicht hier sitzen mit einem Fuß auf dem Knie einer Fremden und so nervös wie der überzüchtete Pekinese meiner Mutter, der schon lospinkelt, wenn nur jemand niest.

„Ich habe hier eine Menge sensibler Informationen. Zu viele, um sie am Telefon zu besprechen. Möchten Sie lieber morgen zu mir ins Büro kommen, oder soll ich zu Ihnen kommen?“

Okay, er ist vier. Wie viele Informationen kann es da geben? Er hat endlich aufgehört, ins Bett zu machen. Zeigt gelegentlich extreme Wutanfälle. Hat in der Vorschule gelernt, seinen Namen zu schreiben. Führt ein normales Leben. Das Letzte ist alles, worum ich mich wirklich sorge. Ich wünsche mir zu erfahren, dass er ein normales Leben führt, damit ich in Ruhe meins wieder aufnehmen kann.

Ein Teil von mir fühlt sich auf hundert Arten wie ein Idiot, weil ich all das tue. Abgesehen davon habe ich seit Monaten einen immer wiederkehrenden Albtraum wegen des Babys, das zu sehen ich mich geweigert habe, bis mein Anwalt und der Sozialarbeiter es an seine Adoptiveltern übergeben haben. In meinem Traum halte ich ihn im Arm, und er sieht mich an. Und dann bricht er in Tränen aus, weint, als würde sein Herz zerspringen, und ich wache auf – begraben unter einer Lawine von Schuldgefühlen.

Es gibt keinen Grund, sich schuldig zu fühlen. Keinen einzigen. Warum zum Teufel träume ich von ihm, wie er weint? Und warum wache ich mit tränennassem Gesicht auf?

Ich möchte dieses Kapitel endlich abschließen. Einen Schlussstrich ziehen und vielleicht ein Foto von ihm bekommen.

„Ich schätze, es geht ihm gut. Richtig?“

Wenn sie mir auch nur mit einer Silbe versichert, dass es so ist, kann ich sie aufhalten. Wenn es ihm gut geht, brauche ich keine weiteren Details. Und ein Bild ist möglicherweise eine dumme Idee. Ich muss nicht wissen, ob er eher mir ähnelt oder Reid.

„Es wäre das Beste, wenn wir dies persönlich bereden könnten. Ich verbinde Sie mit meiner Sekretärin, damit Sie einen Termin vereinbaren.“

Bethany Shank klingt gleichgültig und distanziert – das ist typisch für sie. Aber ihr reserviertes Auftreten ist heftiger – und beunruhigender – als normalerweise. Unterschwellig schwingt ein Ton mit, und ich kann ihn einfach nicht ignorieren.

„Stimmt etwas nicht?“

Statt des sofortigen Widerspruchs, den ich erwartet habe, entsteht eine unvorhergesehene Pause, und plötzlich brauche ich meine Privatsphäre. Jetzt. Ich bedenke die Fußpflegerin mit einem finsteren Blick – denn wie verdammt lange kann es dauern, einen Fuß abzutrocknen, um Himmels willen?

Als spürte sie, wie sich mein Blick in ihren Kopf bohrt, sieht sie auf und erbleicht. Ich lege eine Hand über den Handylautsprecher. „Könnten Sie mich einen Moment allein lassen? Danke.“

Nachdem sie davongeschlurft ist, bitte ich Bethany Shank, das zu wiederholen.

„Ich rate Ihnen für dieses Gespräch zu einem Treffen in meinem Büro, Miss Cameron.“ Im Hintergrund klickt ihre Tastatur. „Ich glaube, morgen Nachmittag um drei habe ich noch einen Termin frei.“

Das alles gefällt mir gar nicht. Sie beantwortet meine Frage nicht, was bedeutet, dass irgendetwas nicht stimmt. Jetzt wirbeln die Gedanken in meinen Hirn nur so durcheinander: geistige Behinderung … sterbenskrank … tot?

„Nein. Heute. Und kommen Sie zu mir nach Hause.“

Meine Privatdetektivin seufzt ins Telefon, als würde ich mich überhaupt nicht darum kümmern, dass ich gerade ihren äußerst wichtigen Zeitplan durcheinandergebracht habe. Wortlos warte ich, bis sie nachgibt.

„Vor sieben Uhr heute Abend habe ich keine Zeit …“

„Sieben passt gut. Bis dann.“

Sie ist mitten in einem Seufzer, während ich auflege. Wenn ich nicht in einem Spa in Beverley Hills vor der neugierigsten Fußpflegerin der Welt säße, hätte ich Bethany gezwungen, mir genau jetzt zu erzählen, was zum Teufel sie herausgefunden hat, so muss ich noch drei Stunden warten.

„Sind Sie bereit für die Ölmassage?“ Etwas eingeschüchtert kehrt die Fußpflegerin zurück.

„Klar. Aber ich habe meine Meinung zu den French Nails geändert. French Nails sind was für den Sommer. Wir haben Februar. Ich möchte Rot. Blutrot.“

Sie nickt. „Ja, natürlich, Miss Cameron.“

2. KAPITEL

Reid

„Bleib.“ Ich schiebe mich auf Dori und halte eins ihrer Handgelenke über ihrem Kopf fest. Dann küsse ich sie hingebungsvoll, damit sie mir nicht widersprechen kann – obwohl ich weiß, dass sie es tun wird. Das lässt es unvernünftig erscheinen, wie sehr es mich auf die Palme bringt, als sie genau das tut.

„Reid“, stößt sie stöhnend dicht an meinen Lippen hervor, „du weißt, dass ich nicht bleiben kann.“

Ich starre in ihre tiefdunklen Augen, Enttäuschung breitet sich in mir aus, und ich bin bereit zu kämpfen. „Du bist kein Kind mehr, Dori. Du bist fast neunzehn. Daher kannst du es durchaus.“

Ich lasse ihr Handgelenk los, und sie hebt die Hand und legt sie an mein Gesicht, vergräbt die Finger in meinen Haaren und streichelt mich sanft.

„Ich werde es ihnen erzählen. Das werde ich. Vertraust du mir nicht?“

Natürlich geht mein Temperament mit mir durch und macht alles kaputt.

„Nein, tatsächlich tue ich das nicht. Weil du nächste Woche nach Berkeley ziehst. Und weil du mich, als ich dir das letzte Mal hierbei vertraut habe, im Stich gelassen hast.“

Sie lässt die Hand sinken, zwischen ihren Brauen bildet sich eine kleine Falte.

„Es ist nicht wie letztes Mal.“

Ich lege mich auf den Rücken, weil ich ihr glauben möchte, aber in meinem Hinterkopf – allerdings nicht zu weit hinten – steckt die Erinnerung daran, dass ich einen der schlimmsten Monate meines Lebens verbracht habe, als ich glaubte, sie nie wiederzusehen. Ich bin nicht bereit, das noch einmal hinzunehmen.

„Genau“, sage ich.

Und ja, es ist mir klar, dass es nicht der beste Weg ist, sich wie ein Arsch zu verhalten, um zu kriegen, was ich von ihr will. Realistisch betrachtet passt nichts, was mit Dori zu tun hat, in mein Schema, das beim Rest der Welt funktioniert – das ist eins der Dinge, die ich an ihr liebe –, aber ich kann nicht logisch denken, wenn ich sauer bin.

Sie gleitet von der Matratze und streicht ihre Kleider glatt, die bei unserer unterbrochenen Kuschel-Session erfreulich verrutscht sind. Zur Hölle mit meinem Temperament, denn eigentlich wäre sie mindestens noch eine halbe Stunde länger geblieben, was ich dadurch zerstört habe, dass ich mich wie eine Klette aufgeführt habe. Dieser Gedanke entfacht eine weitere Runde unnützer Wut. Es scheint so, als könnte ich sie nicht ausblenden.

„Es ist schon spät. Ich muss los“, erklärt Dori.

Sie steht neben dem Bett, während ich an die Decke starre.

Mein neues, einfühlsameres Alter Ego plädiert dafür, es einfach dabei zu belassen, aber der arrogante Arsch in mir schmollt. Nicht ich liege falsch. Sondern sie. Und das weiß sie auch – deshalb klingt es, als weinte sie, während sie sich umdreht und geht.

Ach, verdammt.

Zehn Minuten später habe ich mich beruhigt und gebe zu, dass ich ein selbstsüchtiger Idiot bin. Ich rufe sie an, doch sie nimmt nicht ab, und ich lege auf, als der Anrufbeantworter anspringt. Bei der Vorstellung, wie ich ihre Eltern vor vollendete Tatsachen stelle und alles öffentlich mache – ich muss nur in meinen Wagen springen und ihr nach Hause folgen –, kann ich mir ein leises Lachen nicht verkneifen. So, wie sie fährt, überhole ich sie noch, obwohl sie einen zehnminütigen Vorsprung hat.

Nachdem ich mir eine Kleinigkeit zu essen aus der Küche geholt habe, surfe ich im Internet, vergeude erfolgreich mindestens eine Dreiviertelstunde und versuche es dann erneut bei Dori. Wieder der AB. Klick. Ich beantworte eine E-Mail von George und gehe auf meine Fanseite, wo sich herausstellt, dass John recht hat mit der Bemerkung über die Mädchen, die sich ein Körperteil abhacken würden, um nur ein einziges Mal ein Date mit mir zu haben. Doch keine von ihnen kennt mich. Ich bin nur ein hübsches Gesicht, ein heißer Typ, eine Mädchenfantasie, und obwohl ich ihren Rückhalt zu schätzen weiß, könnten mich ihre oberflächlichen Huldigungen kaum weniger interessieren.

Zum dritten Mal höre ich, wie die fröhliche, melodische Ansage von Dori erklingt, ich solle eine Nachricht hinterlassen. Ich senke den Kopf und warte auf das Piepen. Dabei halte ich das Telefon in der einen Hand und greife mir mit der anderen in den Nacken, als könnte ich so ein bisschen Verstand in meinen Kopf fließen lassen.

„Dori, es tut mir leid. Ich habe dir gesagt, dass wir es in deinem Tempo machen, und dieses Versprechen habe ich gebrochen. Nur … ich vertraue dir mehr als ich jemals einem anderen Menschen vertraut habe. Vielleicht sagt das nicht viel – oder genug –, aber so ist es.“

Ich beiße die Zähne zusammen. Es sind zwei unterschiedliche Dinge, ob ich von Vertrauen spreche oder ob sie es tut. Wir sind wirklich ein Paar, das versucht, die Mitte zwischen seinen Weltanschauungen, seinen Leben zu finden. Während sie sich bemüht, ihren in jeder Hinsicht verlorenen Glauben wieder zu kitten, stolpere ich schon darüber, überhaupt zu vertrauen.

„Gib mich nicht auf.“ Ich lege auf, lass mich rücklings aufs Bett fallen und wünsche mir, ich könnte einfach den Mund halten, wenn ich sauer bin.

Ich kann dem Drang kaum widerstehen, das Telefon durch den Raum zu schleudern, deshalb konzentriere ich mich und zähle bis zehn. Mein Therapeut (ein weiteres Novum) ist hartnäckig, was Konzentration und Zählen betrifft, um mein Temperament zu kühlen, statt impulsiv zu handeln. Er beharrt darauf, dass es eine Angewohnheit sei, die ständige Übung erfordere. Bestenfalls funktioniert es sporadisch – insbesondere, da ich vergesse, es anzuwenden. Zum Beispiel, als Dori noch Minuten vorher bei mir gewesen ist. Verdammt.

Kaum dass das Telefon klingelt, durchströmt mich ein Gefühl von Erleichterung. „Hey.“

„Ich habe ein paar Neuigkeiten. Bist du allein?“

Ich brauche eine Sekunde, um zu begreifen. Eine vertraute Stimme, aber nicht Dori. „Brooke?“

Laut seufzt sie. „Siehst du jemals vorher nach, wer anruft, bevor du rangehst? Bist du allein oder nicht?“

Ich schließe die Augen und beginne wieder mit dem stummen therapeutischen Zählen. Das funktioniert so was von gar nicht.

„Ja, ich bin allein.“ Die Zähne fest zusammengebissen, warte ich auf das, was auch immer sie sagen will. Ich bin nicht in der Stimmung für Brooke Cameron. Ein Mindestmaß an Gelassenheit ist unerlässlich für meine Fähigkeit, sie zu ertragen, und im Moment ist das aufgebraucht.

„Meine Privatdetektivin hat ihn gefunden.“

Ihn?

Oh, Shit. Das Kind.

„Das ging schnell.“

„Allerdings. Wir müssen reden. Kannst du zu mir kommen?“

Bei Brooke ist das Wort Aufmerksamkeit immer mit höchste verbunden. Ich schlucke eine Erwiderung hinunter – meine Theorie darüber, weshalb Telefone erfunden wurden; nämlich um persönliche Treffen mit Menschen, die wir nicht sehen möchten, zu vermeiden. Zehn zu eins, dass Alexander Graham Bell eine problematische Exfrau oder eine herrische Schwiegermutter hatte.

„Wann?“

„Jetzt?“

Ich blicke auf die Uhr. „Brooke, ich bin müde.“ Und was wichtiger ist, ich hoffe, dass Dori jeden Moment zurückrufen wird. „Kannst du mir nicht am Telefon erzählen, worum auch immer es geht?“ Ich bin es nicht gewohnt, mich mit Brooke freundschaftlich zu unterhalten – oder zumindest so freundschaftlich, wie wir beide es schaffen. Das ist an sich schon bizarr.

„Ach, Shit, Reid. Vergiss es einfach.“

Ich höre, wie ihr Akzent immer stärker wird, und weiß, dass ich sie – allen Bemühungen zum Trotz, sie nicht aufzuregen – längst wütend gemacht habe.

„Sei nicht so.“

„Was zum Teufel meinst du?“ Laut stößt sie den Atem aus. „Das hier ist wichtig, und du servierst mich ab. Doch damit hätte ich wohl rechnen müssen. Bist du wirklich allein, oder sagst du das nur so?“

Ich streiche mit einer Hand durch mein Haar und schließe die Augen. Sämtliche Konzentrations- und Zählübungen der Welt würden nicht reichen, um mit Brooke Cameron klarzukommen. „Warum sollte ich deswegen lügen?“

„Wieso beantwortest du nicht einfach die Frage?“

„Weil ich das schon getan habe, verdammt.“

Als sie mich darauf nicht anfährt, ist das für mich das erste Zeichen, dass etwas sie ziemlich aus der Bahn geworfen hat.

„Gut. Hier kommt’s.“

Ihre Stimme klingt gepresst – jetzt, da sie ruhiger spricht, fällt mir auf, dass sie geweint hat. Was zum Teufel ist los? Liegt heute irgendwas in der Luft?

„Er ist im Heim.“

„Was?“ Ich setze mich aufrecht, das Getriebe in meinem Kopf knirscht und bleibt stecken.

„Offensichtlich haben sich die Leute, die ich als Pflegefamilie für ihn ausgewählt habe, in idiotische Meth-Junkies verwandelt, und das Jugendamt hat ihn dort rausgeholt.“

„Was?“

„Hör auf, das ständig zu sagen! Fällt dir dazu nichts anderes ein?“

„Tja, offenbar nicht. Gib mir eine Minute. Himmel, ich meine, das Jugendamt? Die Leute, die Eltern ihre Kinder wegnehmen, wenn die misshandelt worden sind?“

Ich sehe das übertriebene Augenverdrehen förmlich vor mir und bin dankbar, es nicht erleben zu müssen.

„Ja, Reid. Das meine ich.“

Mein Leben zieht an mir vorbei – das, was davon übrig geblieben ist. Denn schlagartig wird mir klar, dass ich Dori nichts von dem Kind erzählt habe. Gar nichts. In den letzten Tagen hatte sich nie der richtige Moment ergeben, um ihr zu erzählen, dass Brooke und ich einen viereinhalbjährigen Sohn haben. Einen Sohn, von dem ich bis vor ein paar Wochen behauptet habe, er könnte nicht von mir sein. Einen Sohn, den sie direkt nach der Geburt zur Adoption freigegeben hatte.

Nach dem, was Dori in der Highschool erlebt hat, ist dies kein Teil meiner Vergangenheit, den ich unvorbereitet preisgeben kann, und ich war nie jemand, der ein Händchen für das richtige Timing hat. Ganz abgesehen davon, dass ich nie einer Menschenseele von dem Kind erzählt habe. Weder John noch meinen Eltern. Niemandem.

„Fuck. Gottverdammt.“

„Genau“, meint Brooke.

Sie hat keine Ahnung.

In die Stille unseres gemeinsamen Schocks dringt das Piepen meines Handys, und dieses Mal schaue ich aufs Display. Dori ruft zurück. „Brooke, ich muss los. Ich rufe dich an.“

„Gut.“ Brooke legt auf, und ich greife hastig nach dem Handy.

„Dori, es tut mir leid …“

„Ich erzähle es ihnen morgen gleich als Erstes. Bitte versuch, mich zu verstehen – für sie ist das schwierig, besonders nach Debs Unfall. Das hat nichts mit dir zu tun, wirklich nicht. Sie kennen dich doch gar nicht. Sie befürchten nur, ich könnte verletzt werden, und darum verhalten sie sich dir gegenüber so ablehnend.“ Sie spricht, als hätte sie die Worte einstudiert, beschwichtigend und defensiv. „Vielleicht würden sie gern mit dir reden.“

Eltern, die mit mir reden wollen. Puh. Und das ist nicht nur ein Vorschlag, ich bin gezwungen, es zu machen. Das ist etwas aus einem anderen Universum.

„Ich werde dich nicht verletzen, Dori“, erwidere ich und meine es so. „Und ich hätte dich nicht drängen sollen, es ihnen zu erzählen“, füge ich halbherzig hinzu.

„Doch, das ist schon in Ordnung. Schließlich habe ich mein Versprechen dir gegenüber nicht gehalten. Ich hatte gesagt, ich würde mich nie für dich schämen – und das mache ich auch nicht, Reid –, aber es muss auf dich so gewirkt haben. Das tut mir leid.“

Bis zu dem Moment, als sie es ausspricht, war mir nicht bewusst, dass es tatsächlich genau so auf mich gewirkt hat. Sie kann mir an Stellen wehtun, von denen ich nicht annahm, dass ich dort verletzlich bin. Und sie kann Schmerzen lindern, von deren Existenz ich nichts geahnt habe. Wie kann sie so einfühlsam sein?

„Ich wünschte, du wärst jetzt hier“, sage ich, unfähig, mich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren als auf das Verlangen, sie unter mich zu ziehen und die ganze restliche Welt auszuschließen.

„Wie du weißt, war ich eben da“, entgegnet sie.

Klugscheißerin. Gott, wie sehr ich sie will.

„Ja, Himmel, ich bin ein verf… äh Idiot.“

Ihr heiseres kleines Lachen über meinen Fluch, den ich gerade noch hinunterschlucken konnte, rührt mein Herz.

„Wie wäre es, wenn ich mich zu dir schleichen und in dein Zimmer klettern würde?“

Erneut lacht sie. „In diesem Wagen kannst du dich nirgendwo hinschleichen – ganz sicher nicht in meine Nachbarschaft“, meint sie. „Außerdem gibt es keinen Baum oder ein Rankgitter, über das du zu meinem Fenster im zweiten Stock steigen könntest.“

Ich lache sanft. „Aber du denkst darüber nach, nicht wahr?“

Sie atmet tief aus, und ich kann vor mir sehen, wie sie lächelt.

„Klar.“

„Möchtest du, dass ich dir erzähle, was ich gern tun würde, wenn dein Dad vorausschauender gewesen wäre und ein Spalier angebracht oder einen Baum genau unter deinem Fenster gepflanzt hätte?“

„Vielleicht“, sagt sie weich, und ich stelle mir vor, wie sie an ihrer vollen Unterlippe knabbert.

„Vielleicht?“

„Okay. Ja. Sag es mir.“

Das ist es, was sie ausmacht – genau das hier. Sie spielt nicht die Schüchterne. Und deshalb ist der Gedanke, dass sie sich von mir abwenden könnte, unerträglich. Es ginge ihr nicht darum, Aufmerksamkeit zu erhaschen, wie es bei Brooke immer war. Für Dori heißt Schluss wirklich Schluss, und ich werde nicht zulassen, dass das geschieht.

„Schließ deine Augen und stell dir diese perfekt angeordneten Zweige direkt vor deinem Fenster vor.“

„Hm, okay.“

Ich lehne mich zurück und atme ihren Duft ein, der noch leicht auf meinem Kopfkissen liegt. „Du würdest dein Fenster offen lassen – das, an dem die Fische an deiner Decke vorbeischwimmen. Es wäre spät, und sosehr du es auch versuchen würdest, gelänge es dir nicht, wach zu bleiben und auf mich zu warten. In der Dunkelheit würde ich leise durch den Raum kommen und den Strahlen des Mondlichts zu deinem Bett folgen.“ Mir gefällt der Gedanke, wie sie sich unter die Bettedecke gekuschelt hat, und meine Finger drehen einen Knoten in die ungemachte Decke neben mir. „Was trägst du nachts?“

„Nur ein T-Shirt“, flüstert sie.

Luft zischt durch meine Zähne, da ich tief ausatme, mein Körper tobt. Zum ersten Mal in meinem Leben hoffe ich, dass das Neue sich möglichst bald abgenutzt hat – zumindest ein bisschen –, denn jedes Mal, wenn ich daran denke, sie zu berühren und wie sie darauf reagiert, wenn ich es tue, kann ich mich auf nichts anderes mehr konzentrieren.

„Bevor ich die Bettdecke hochhebe, streife ich mein Shirt ab. Vorsichtig lasse ich meine Fingerspitzen über dich gleiten und wecke dich ganz, ganz langsam.“ Jeder Nerv meines Körpers scheint aktiv zu sein. „Und was wirst du dann machen?“

„Ich greife nach dir, nehme deine Hand und ziehe dich zu mir ins Bett.“

Ihre Stimme ist so leise, dass ich mich anstrengen muss, um sie zu verstehen.

Unser sexy Gespräch wird gleich um einiges heißer. „Ah, es gefällt mir, das zu hören. Aber ich trage nach wie vor meine Jeans, und du hast ein T-Shirt an.“ Ich frage mich, ob sie mutig genug ist, diese Art von Spiel weiterzutreiben. Noch vor sechs Monaten hätte ich bekifft sein müssen, um mir vorzustellen, dass sie so etwas überhaupt jemals täte. Oder dass ich mir letztendlich eine offizielle, feste Beziehung mit ihr wünsche.

Nach dem letzten Wochenende scheint alles möglich, zu dem einer von uns fähig ist.

„Hast … hast du die Jeans mit den Knöpfen?“ Ihre Worte, gehaucht und sanft, sind wie eine Liebkosung.

„Ja, wenn du das möchtest.“

„Dann, ähm, knöpfe ich deine Jeans auf …“

Ihre Stimme klingt rau und süß zugleich. Sie zögert, und ich sehe das Bild vor mir, wie sie langsam errötet.

„Du ziehst sie mir mit einem Fuß herunter und streifst dabei mein Bein“, sage ich, um ihr zu helfen, „während ich mit meiner Hand unter dein Shirt gleite.“

„Ach ja?“

Sie klingt beinahe atemlos, und ich bin absolut erregt.

„Dein MADD-T-Shirt“, ergänze ich und halte inne, da sie lacht. „Es ist ein bisschen durchsichtig, wie du weißt. Ich streichle deine Brüste mit den Fingerspitzen … beuge mich vor und schmecke dich durch den dünnen roten Stoff.“

„Oh …“ Sie keucht.

„Mit einer Hand wandere ich nach unten, an deiner Hüfte entlang, und nichts ist mehr zwischen uns … Was passiert dann?“

Verdammt, wenn sie jetzt nicht total scharf ist. Ich jedenfalls bin es.

„Trägst du … trägst du Boxershorts oder einen Slip?“

Ich lächle. „Der Gerechtigkeit zuliebe lass uns sagen nichts.“

„Oh, Mist.“

Ich unterdrücke ein Lachen.

„Ähm. Was ist mit …?“

Sanft lache ich. „Dori, Dori, so verantwortungsbewusst mitten in unserer kleinen Fantasiegeschichte. Ich bringe eine ganze Schachtel mit. Wir haben uns geschützt. Und jetzt?“

„Reid, ich will dich.“

Ihr Tonfall ist blanke Frustration, und das gefällt mir.

Mein Stöhnen ist ein Widerhall ihres Verlangens. „Baby, lass mich deinen talentierten kleinen Fingern ein paar Vorschläge machen, die sie ausführen, während ich dir die vielen, vielen Wege beschreibe, auf denen ich dich will.“

Brooke

Auch wenn Reid nichts Brauchbares zu sagen hat, hilft es, jemanden zu haben, mit dem ich darüber reden kann. Über ihn. Und wer wäre besser geeignet als sein Samenspender?

Vielleicht sollte ich aufhören, Reid so zu bezeichnen und ihm zu unterstellen, dass er meint, Teil des Ganzen zu sein, was nicht der Fall ist. Ich glaube nicht, dass er sich hinstellt und vor der ganzen Welt zugibt, der Vater dieses Kindes zu sein. Nicht wirklich.

Heute am frühen Abend habe ich den Namen meines Sohnes erfahren. River. Wie der Name des aufstrebenden jungen Schauspielers, der sein Leben auf einem Bürgersteig vor einem Club in L. A. mit einem Herzstillstand ausgehaucht hat. Ein vielversprechendes Leben einfach beendet – mit nichts Geringerem als Drogen. Großartig.

Statt mir eine jpeg-Datei zu schicken, hat Bethany Shank mir einen acht mal zehn Zentimeter großen Ausdruck des Fotos mitgebracht, das ich so gern in den Händen halten wollte. Ich bin überzeugt, dass sie meine Reaktion direkt miterleben wollte. Doch dieses offensichtliche Eindringen in meine Privatsphäre macht sie mir nicht sympathischer. Als sie das Bild über den Glastisch in meiner Küche schob, starrte ich darauf, aber ich konnte es nicht anfassen. Mein erster Gedanke war: nein. Das kann er nicht sein. Auch Stunden später hat sich das nicht geändert, obwohl ich weiß, dass es falsch ist.

Während ich jetzt das Foto anschaue – allein, ohne befürchten zu müssen, dass jemand meine Reaktion beobachtet – kann ich jedes Detail, jede Ähnlichkeit erforschen.

Er hockt vor einem Maschendrahtzaun, der an vielen Stellen kaputt und rostig ist. Mit einer Hand umklammert der Kleine einen Stock, er hält ihn wie ein Werkzeug, nicht wie eine Waffe – ich schätze, er benutzt ihn, um in der Erde zu buddeln oder zu malen. Im Hintergrund sind andere Kinder zu sehen, einige veraltete Spielgeräte und eine mäuschenhafte mittelalte Frau, die mit einem Handy telefoniert.

Im Vergleich mit meinem Stiefbruder, der ein paar Monate älter ist, wirkt dieses Kind schmächtig. Zu klein für sein Alter. Seine Kleidung passt nicht zusammen, und sein Gesicht ist schmutzig, ebenso wie seine winzigen Hände. Sein Haar ist so kurz geschoren, dass ich kaum die Haarfarbe erkennen kann – seiner DNA zufolge müsste er blond sein. Seine hellen Augenbrauen unterstreichen diese Vermutung. Sein fast kahlgeschorener Kopf lässt ihn noch verletzlicher wirken als seine Größe.

Als ich klein war, habe ich mich hinter meinem Haar versteckt. Ich streckte mein Kinn vor, betrachtete die Welt durch meine Haarsträhnen hindurch und gab vor, unbeteiligt zu sein, was die gereizte Körpersprache meiner unfassbar schlechten Eltern und ihre halbherzigen und kryptischen Gespräche betraf, die so einfach zu entschlüsseln waren. Mir war klar, dass sie sich trennen, noch bevor sie selbst es geahnt haben, und ich hatte geplant, bei meinem Dad zu bleiben, wenn sie auseinandergehen würden.

Mir fehlten jedoch ein paar entscheidende Puzzleteile und meiner Mutter dummerweise auch. Keine von uns hatte mit der anderen Frau gerechnet – der baldigen dritten Ehefrau. Der Sohn, den sie meinem Vater schenkte, als er sein drittes kleines Imperium schuf, löschte das zweite aus. Löschte mich aus.

Nun schaut mir River vom Bild in meiner Hand direkt in die Augen, als wüsste er, dass ein Teleobjektiv auf ihn gerichtet ist. Als wüsste er, dass ich mir das Foto ansehen würde. Seine Augenfarbe ist nicht wie das Eisblau, das ich von meinem Dad geerbt habe. Es ist Reids tiefes Blau. Dunkel wie der Himmel in der Dämmerung während jenes Bruchteils einer Sekunde, nachdem die Sonne gerade untergegangen ist. Und auch sein Mund ist der von Reid. Seine Stupsnase hat er von mir geeerbt.

Welch ein ungerechtes Spiel hat Gott da mit mir gespielt. Dieses schmutzige, magere Kind in der abgerissenen Kleidung ist meins, und die Vorstellung, was für ein Leben ich ihm ermöglicht habe, die ich die ganze Zeit hatte – wenn ich überhaupt an ihn gedacht habe –, war eine Lüge. Ich habe geglaubt, er werde umsorgt. Er sei erwünscht. Geliebt.

Als ich vor vier Stunden Bethany Shank gegenübersaß, habe ich mir nicht erlaubt zu weinen, unabhängig davon, wie sehr die Tränen in meinen Augen brannten. „Ich will ihn sehen.“ Ich hörte die Worte, die ich laut sagte und die sie mit einem vernehmbaren Atemzug quittierte. Sie war nicht schockierter über mich als ich selbst.

„Nun, lassen Sie uns keine emotionale Ent…“

„Ich. Will. Ihn. Sehen“, wiederholte ich, während mein eisiger Blick sie förmlich auf ihrem Platz festfrieren ließ. „Finden Sie heraus, was wir tun müssen, um das zu ermöglichen.“

Sie räusperte sich und lächelte vage. „Treffen zu arrangieren gehört nicht zu meinen Aufgaben als Privatdetektivin, Miss Cameron.“

Miss Shank, gut ein Jahrzehnt älter als ich, ist eine von diesen Frauen, die mich fälschlicherweise für ein hohles Hollywood-Starlet halten. Ich tendiere dazu, der Welt zu erlauben, mich als verwöhnt und naiv abzustempeln. Das ist nicht nur die meiste Zeit amüsant, sondern sorgt auch für Befriedigung angesichts der schockierten Mienen meines Gegenübers bei Vertragsverhandlungen. Hinter geschlossenen Türen von Konferenzräumen bin ich die Tochter meines Vaters. Meine Agentin und mein Manager wissen das. Eine Handvoll Führungskräfte in den Studios weiß es ebenfalls.

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. „Dann schlage ich vor, dass sie es in ihre Serviceleistungen aufnehmen, Miss Shank.“

Den Mund leicht geöffnet stemmte sie sich aus dem Stuhl hoch.

Ich beugte mich vor und schaute sie eindringlich an. „Sie sind Detektivin. Ich bitte Sie, etwas für mich zu tun. Haben Sie Bedenken, dass ich nicht dafür bezahle? Erwarten Sie irgendein Entgegenkommen meinerseits? Ich habe mich überzeugen lassen, dass Sie die Beste in diesem Job sind. Es täte mir leid, potenziellen Kunden etwas anderes erzählen zu müssen.“

Rote Flecken bildeten sie sich auf ihrem Gesicht, da sie es nicht gewohnt war, von einem ihrer Meinung nach Unterlegenen eines Besseren belehrt zu werden. Zehn Minuten später verließ sie meine Wohnung, nachdem sie mir versichert hatte, dass sie sich morgen mit mehr Informationen melden würde.

Sobald sie gegangen war, ließ ich mich aufs Sofa fallen und grub Erinnerungen aus, die ich für immer vergessen wollte.

Ich beschloss, die sechs Monate, die es laut des blauen Streifens auf dem Schwangerschaftstest noch bis zur Geburt dauerte, bei meiner Stiefmutter in Texas zu leben. Meine Eltern hatten wütend und ungläubig auf meine Weigerung abzutreiben reagiert, als würde ich rebellieren, nur um eine Extraportion Aufmerksamkeit zu erheischen.

„Was willst du, Brooke?“ Meine Mutter schleuderte ihre Schuhe quer durch den Raum – obwohl eigentlich ich diejenige war, die beschuldigt wurde, bei Trotzanfällen mit Dingen herumzuschmeißen. „Was auch immer du erreichen willst, es wird dich wieder einholen. Das wird dein Leben ruinieren. Ruinieren.“

Schlagartig folgte Stille, denn der Zusammenhang war mühelos herzustellen.

Ich sagte nicht: Wie ich deins ruiniert habe? Das wäre zu einfach gewesen. Schon vor langer Zeit hatte ich gelernt, meine Verletzlichkeit nicht zu offenbaren.„Ich will es nicht behalten.“ Ich schluchzte. „Schließlich bin ich nicht blöd.“

Ihre Augen verengten sich. Sie war ebenso geübt darin, die Feindseligkeit zu erkennen, die zwischen unseren Worten mitschwang, wie ich.

„Wo willst du denn leben als schwangerer Teenager ohne Freund? Denn hier in meinem Haus wirst du nicht bleiben.“

Sie hatte sich entschieden, mir eine aufrüttelnde Dosis Realität zu liefern, und das spürte ich ebenso wie den Stich der drohenden Konsequenzen. Ich war weitaus verstörter als ich mir eingestehen wollte, doch das war nichts Neues.

„Ich wohne bei Kathryn“, sagte ich und reckte das Kinn vorn.

Bisher hatte ich noch nicht mit Kathryn gesprochen, weil ich nicht angenommen hatte, dass meine Mutter so weit gehen würde.

Nichts ließ die Farbe aus dem Gesicht meiner Mutter so schnell entweichen wie die Erwähnung meiner Beziehung zu meiner Stiefmutter, der Frau, von der sich mein Dad getrennt hat, als meine Mutter mit mir schwanger war. Sie hatte ihn angefleht, seine Frau und seine zwei Töchter zu verlassen, und er hatte es getan.

Er kam seinen Besuchspflichten bei Kelley und Kylie nach – jedoch auswärts. Seine beiden Töchter betraten nie unser Haus, sodass ich die frühere Familie meines Vaters in den ersten Jahren nie bewusst wahrnahm und sie für mich nicht wirklich real war. Bis ich in den Kindergarten ging, war ich zu jung, um zu erkennen, dass meine Mutter eine Bitch war, die eine Familie zerstört hatte.

Kelley, damals elf oder zwölf, gewann einen landesweiten Autorenpreis, und ihre Mutter Kathryn bestand darauf, dass ihr Vater – mein Vater – zur Verleihung kam, um zu zeigen, wie stolz er auf sie war. Meine Eltern stritten erbittert über diesen untypischen Wunsch seiner Exfrau. Sie liefen aufgeregt im Haus umher, und meine Mutter pochte auf ihr Recht als seine jetzige Ehefrau, während seine Schuldgefühle – schwer und erdrückend, wie sie nur längst überfällige Reue erzeugen kann – ihn zwangen, ihre Forderung abzulehnen.

Letztendlich tauchten wir alle bei der Veranstaltung auf, die nichts mit meiner Mutter oder mit mir zu tun hatte. Am Morgen nahm Mom mich mit in ihren Schönheitssalon, und wir ließen uns die Haare und die Nägel machen, als würden wir zu einer Galaparty gehen. Im Einkaufszentrum suchte sie passende Outfits für uns beide aus und kicherte vor dem Spiegel in ihrem Ankleidezimmer. Sie behauptete, dass wir eher aussahen wie Schwestern und nicht wie Mutter und Tochter.

Mein Vater und seine Exfrau saßen nebeneinander, sie wirkten harmonischer zusammen als meine Eltern. Angespannt hockten wir in einer Reihe, ein scheinheiliger Beweis eines Miteinanders nach einer Scheidung: ich, Mom, Dad, Kathryn und Kylie, die sich vorlehnte, um mir fiese Blicke zuzuwerfen, bis sich ihre Mutter zu ihr hinunterbeugte und etwas sagte, das ihr Gesicht dunkelrot anlaufen ließ.

Den letzten Ausschlag, schätze ich, gab die überschwängliche Freude meines Vaters, als Kelleys Name aufgerufen wurde und sie auf die Bühne trat. Er steckte die Finger in die Mundwinkel und pfiff, wie er es auf dem Fußballplatz tat, wenn ich dem Gegner einen Ball abnahm oder ein Tor schoss. Ich hatte nicht gewusst, dass er diese Gefühle für jemand anders als mich aufbringen konnte.

„Kenneth“, stieß Mom zischend hervor und zog seinen Arm nach unten.

Sie begannen zu streiten, zunächst in leisen Worten und mit düsteren Blicken, dann lauter, bis mein Vater sie am Ellbogen fasste und sie in den Gang und aus dem Zuschauersaal dirigierte. Kylies weit aufgerissene Augen sagten mir, dass sie es nicht gewohnt war, diese Art von Ausbrüchen mitzuerleben, die für mich normal war. Kathryn verzog besorgt ihre Lippen und schaute mehrmals zum Ausgang hinüber, da sich die Veranstaltung dem Ende näherte und meine Eltern immer noch nicht zurückgekehrt waren.

Mit einer hölzernen Plakette in den Händen tauchte Kelley vor unserer Reihe auf. Ihr Name und ihre Leistung waren in die Kupferplatte graviert, die vorn auf der Plakette befestigt war. „Guck mal, Mom, sie haben meinen Namen richtig geschrieben! Wo ist Daddy? Können wir jetzt Milchshakes trinken gehen?“

Kathryn sah zu mir herüber, dann zu den beiden leeren Sitzen zwischen uns und zum Gang; von meinen Eltern immer noch keine Spur. „Ich weiß nicht genau, wo dein Dad ist, aber wir können Brooke hier nicht allein lassen.“

Kelley und Kylie starrten mich an, und ich starrte zurück. Ihre klaren blauen Augen hatten dieselbe Farbe wie meine. Dieselbe wie die meines Vaters. Unseres Vaters. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich Schwestern hatte. Außerhalb der Sichtweite ihrer Mutter funkelte Kylie mich an.

Ich hatte Schwestern, und sie hassten mich.

„Dann kommt sie halt mit uns!“, sagte Kelley schulterzuckend.

So begann meine seltsame Beziehung zur früheren Familie meines Vaters.

Elf Jahres später war es Kathryn, die ich um Hilfe bat. Es war Kathryn, die mich aufnahm, einen Anwalt engagierte, um die Adoption in die Wege zu leiten, und die mir half, die Alben durchzublättern, die potenzielle Adoptiveltern angefertigt hatten – alle mit weißen Zähnen, makellosen Häusern und finanziell guten Verhältnissen und dem Versprechen einer Zukunft voller Liebe für ein glückliches Kind.

Ich habe die falsche Wahl getroffen, oder? Schlechter hätte sie nicht ausfallen können.

Da ich mich weigerte, mich über die Zeit nach der Schwangerschaft zu informieren, hatte ich keinen Schimmer, was mich erwarten würde, nachdem mein Sohn geboren war. Kathryn versuchte, mich vor den möglichen physischen und psychischen Nebeneffekten zu warnen, aber ich schlug ihre Warnungen in den Wind und beharrte darauf, dass mein Personal Trainer und ich die körperlichen Angelegenheiten in den Griff bekämen. Und wegen der sogenannten mentalen Probleme – ich würde nicht ein Baby vermissen, das ich nicht haben wollte. Das wäre schließlich verrückt.

Nachdem ich am Tag nach der Geburt die Unterlagen unterschrieben hatte, verschwanden mein Anwalt und der Sozialarbeiter mit dem Baby. Ich lag im Bett der Klinik, knetete mit den Händen meinen wunden, plötzlich wieder flachen Bauch wie Brotteig und gab vor, gleichgültig gegenüber dem zu sein, was die Leere bedeutete. Ich hatte meinen Sohn nicht sehen oder in den Armen halten wollen, doch es war mir mehr und mehr vertraut geworden, dass er sich in mir bewegte. Noch vor einer Woche hatte ich deutlich den Abdruck eines Fußes gesehen, der sich unter meinem Rippenbogen nach außen presste. Fasziniert und erschrocken zugleich hatte ich mit einem Finger hineingepikst, und der Fuß hatte den Druck zurückgegeben.

Tränen stiegen mir in die Augen und rannen über mein Gesicht, und dieses eine Mal erlaubte ich mir, über den Verlust eines Kindes zu weinen, dem es ohne mich besser ginge, ebenso wie ich ohne den kaltherzigen Typen besser dran war. Ich starrte auf den unbenutzten Schaukelstuhl in der Ecke des freundlich eingerichteten kleinen Zimmers und schwor mir, alles hinter mir zu lassen, wenn ich von diesem Ort abhaute. Ich würde mein Leben führen und meine brillante Karriere vorantreiben. In dem Moment, wo ich das Krankenhaus verließ, würde ich all dies vergessen.

Zwei Tage später waren meine Brüste geschwollen und tropften. Der Arzt hatte diese Möglichkeit erwähnt, allerdings hatte ich mir das nicht wirklich vorstellen können. Mein dummer Körper glaubte, er müsse ein Baby ernähren. Oder ein Dutzend Babys, so, wie es aussah.

„Was zum Teufel?“, jammerte ich Kathryn gegenüber. „Was zum Teufel ist das?“ Ich fühlte mich, als hätte jemand Fußbälle unter die viel zu stark gespannte Haut meiner einst perfekten Brüste geschoben.

„Schatz, dein Körper weiß nicht, dass du dein Baby nicht mehr hast.“

Ich explodierte fast vor Empörung. „Das ist erniedrigend! Mach, dass es aufhört!“ Schmerzhaft sickerte es aus meinen Brustwarzen, durchnässte mein T-Shirt, und ich saß auf dem Fußboden und weinte. All die Kraft, die ich zuvor gespürt hatte, verschwand unter den Hormonschüben, die ich nicht unter Kontrolle bringen konnte. Mein Körper betrog mich.

Kathryn rief den Arzt, der sich weigerte, mir etwas anderes als Schmerzmittel zu verschreiben, die zu nehmen wiederum ich mich weigerte. Drei Wochen lang schnürten wir meine riesigen Brüste ein, die zu einer Comicfigur zu gehören schienen, und Kathryn reichte mir Tiefkühlgemüse, das ich darauflegte, während ich fernsah und Drehbücher las.

Kylie, die am Wochenende nach Hause kam, beobachtete das Treiben und schlug vor, ich solle es als eine ungewöhnliche Sportverletzung betrachten. „Erst mal sitzen deine Brüste wegen einer Verletzung auf der Reservebank“, sagte sie, und wir lachten hysterisch, während Kathryn nur den Kopf über uns schüttelte und mir zwei neue Tüten mit Tiefkühlerbsen brachte.

„Ich werde nie wieder Erbsen so sehen können wie zuvor“, bemerkte sie, presste die kalten Tüten gegen meine Brust und warf die aufgetauten, matschigen Tüten in den Mülleimer.

Kathryn. Genau sie brauche ich jetzt. Ohne weiter darüber nachzudenken, greife ich zum Telefon.

„Brooke, wie geht es dir, Süße?“

Allein diese Worte von ihr reichen, um mich zum Weinen zu bringen. Verdammt.

„Ich bin für dich da“, erklärt sie und wartet, während ich die Suche nach einer Packung Taschentücher aufgebe und ein Handtuch benutze, um die plötzlichen Tränen zu trocknen und meine laufende Nase zu putzen. Wie gut, dass ich nicht vorhatte, heute Abend auszugehen.

„Ich habe ihn gefunden, Kathryn. Ich habe ihn gefunden und glaube, dass er … mich vielleicht braucht.“

„Langsam, Brooke. Wen hast du gefunden?“

Ich schluchze ins Telefon, ohne darauf vorbereitet zu sein zu sprechen.

„Oh. Oh.

Genau deshalb habe ich meine Stiefmutter angerufen. Sie ist so scharfsinnig und so gut auf mich eingespielt. Ich hatte ihr nicht mal erzählt, dass ich nach River gesucht habe, aber sie begriff sofort, als ich sagte: Ich habe ihn gefunden.

3. KAPITEL

River

Ich bin klein. Ich bin still. Ich wünschte, ich wäre unsichtbar.

In meinem früheren Zuhause habe ich mich versteckt, wenn Leute kamen. Einmal war ich auf der Couch neben Mama eingeschlafen, als ihr Freund Harry vorbeischaute. Harry ist gemein und laut, ihn hasse ich am allermeisten. Ich habe mir die Decke über den Kopf gezogen. Dann hielt ich den Atem an und rührte mich nicht.

Aber er nahm die Decke weg. „Ist dieser nutzlose Wurm immer noch hier?“

Als er meinen Arm packte, schüttelte ich den Kopf, bis ich Harry nur noch unscharf sehen konnte. Ich bin kein Wurm. Bin ich nicht.

Er lachte, und aus seinem Mund roch es wie der Müll unter der Spüle.

„Würmer wie dieser sind sogar noch kleiner, wenn du sie häutest.“

Seine Hand war wie eine Klaue, und ich konnte mich nicht aus seinem Griff lösen, obwohl ich so sehr zerrte, wie ich konnte.

„Harry, lass ihn in Ruhe.“

Mama hatte die Augen zusammengekniffen, doch ihre Lippen waren nicht zusammengepresst, wie in den Momenten, wenn sie schrie oder mich schlug. Sie schlug mich nie besonders stark, aber ich mochte es nicht, wenn sie so ausrastete. Manchmal umarmte sie mich später und sagte, es tue ihr leid.

Harry drückte meinen Arm fester, als wenn er ihn in zwei Stücke brechen wollte. Ich fragte mich, was für ein Geräusch es wohl machen würde, wenn er es täte.

Seine Finger sahen aus wie die Knochen eines Skeletts.

Einmal habe ich Knochen im Garten unter ein paar alten Brettern gefunden. Sie hatten die Form eines Vogels, aber flach. Ich war vorsichtig, als ich den Boden darum gelockert und sie ausgegraben habe, um sie Mama zu zeigen, aber ihr Mund war zu einem geraden Strich verzogen, und sie kniff die Augen zusammen und schrie, ich solle das schmutzige tote Ding aus ihrer Küche bringen. Ich habe ein Loch in den Dreck gegraben, die Knochen hineingelegt und es zugeschaufelt, weil man tote Dinge in der Erde vergraben muss.

Skelette sind viele Knochen, die ein ganzes Ding darstellen. Ein einziges Mal habe ich ein menschliches Skelett gesehen, an Halloween. Es saß in einem Stuhl, als warte es auf jemanden. Es hatte große Löcher ohne Augen im Kopf, aber es sah aus, als wenn es lächelte. Keine Eingeweide oder ein Gehirn oder wenigstens ein Herz. Es war leer.

Harry war wie ein Skelett, das ein Haut-T-Shirt über dem ganzen Körper trug. Mama sagte immer wieder, dass er kein Herz habe. Und wenn er nicht da war, erzählte sie mir, er habe kein Hirn. Ich weiß nicht, ob er Eingeweide hat.

„Spricht er eigentlich nie?“

Harry starrte mich an, als wäre ich ein Insekt. Als dächte er darüber nach, mich zu zerquetschen.

„Nicht wirklich.“

Mama seufzte, weil ich sie traurig machte.

„Ein Junge von dieser Größe, der nicht spricht? Ist er zurückgeblieben? Du solltest ihn mir eine Woche oder so überlassen. Ich würde ihm beibringen zu sprechen.“

Ich starrte Mama an und bedeutete ihr nein mit meinen Augen. Mein Blick versprach ihr, dass ich jeden Tag brav sein würde und alles täte, was sie sagte.

„Dieser kleine Scheißer sieht nicht mal aus wie du. Bist du sicher, dass er von dir ist?“

Als er erneut lachte, versuchte ich, den Gestank nicht einzuatmen.

„Er ist adoptiert.“

„Du hast ihn adoptiert? Warum verdammt hättest du das tun sollen?“

Mama sah mich an und zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, ich wollte ein Baby. Eine Familie.“

„Shit, Alte – du fängst jetzt besser nicht wieder an, über deinen früheren Kerl zu weinen, weil ich dann auf der Stelle aufstehe und gehe …“

Mamas Augen weiteten sich. „Das werde ich nicht. Das hatte ich nicht vor.“ Ihre Stimme zitterte.

„Uh-huh.“

Harrys Finger lösten ihren Griff ein bisschen, und ich zog meinen Arm heraus und rannte zur Treppe. Mein Herz schlug in meinem Körper, als wollte es hinaus. In meinen Ohren rauschte es so laut, dass ich meine Schritte oder seine nicht mehr hören konnte. Ich erreichte Mamas Zimmer, die Tür zu ihrem Schrank stand offen. Ich schlüpfte in die Dunkelheit und zog die Tür fest hinter mir zu. Dann ließ ich mich auf alle viere fallen und krabbelte durch die Schuhe und Kleider und den Kram auf dem Fußboden.

Ich fand einen Platz in der Ecke und zog die Knie ans Kinn. Ich sehnte mich nach meiner Bettdecke, und mein Magen knurrte, weil ich hungrig war, aber ich würde nicht wieder nach unten gehen. Nicht, ehe Harry fort wäre. Nicht, bevor Mama kam und mich herausholte.

Wendy vergisst nie, Abendessen zu machen. Ich esse, bis mein Bauch voll ist, aber ich verstecke trotzdem Essen in meiner Serviette und nehme es mit in das Zimmer, das ich mit Jerry und Sean teile. Ab und zu durchsuche ich auch den Mülleimer in der Küche und finde dort zusätzlich noch etwas. Das verstecke ich alles in meinem Zimmer. In einer Schachtel unter meinem Bett oder in den Schuhen in meinem Schrank.

Wenn Wendy es findet, macht sie einen langen Atemzug. Sie findet es fast immer, aber manchmal erst nach ein paar Tagen.

„Puh, was für ein entsetzlicher Geruch! Grundgütiger! River, du musst kein Essen mehr verstecken. Hier bekommst du drei Mahlzeiten am Tag. Weißt du das nicht?“

Sie hält sich die Nase zu und wirft das Hühnchensandwich in eine Mülltüte. Ich habe es in drei Stücke teilen müssen, damit ich es in meine Schuhe stecken konnte.

Jetzt nicke ich und starre auf den Boden.

Wendy kneift die Augen nicht zusammen, und sie schlägt mich nie, aber sie guckt traurig, wenn sie das Essen findet. Wenn ich schlimme Träume habe, schüttelt sie mich leicht, um mich aufzuwecken. „Hier bist du sicher“, sagt sie immer. Ich sage nichts darauf. Ich sage nie etwas. Und darüber ist sie auch traurig.

Aber ich verstecke weiterhin Essen und weine nachts und vermisse Mama, auch wenn ich mich schlecht fühle, weil ich Wendy traurig mache. Genauso wie ich Mama traurig gemacht habe.

Dori

Ich habe meinen Eltern gerade erzählt, was Reid vergangenen Herbst für Deb getan hat. Sie sind schockiert und gleichzeitig dankbar, aber es hat ihre Meinung über ihn, soweit es mich betrifft, nicht geändert.

„Er nutzt sein Geld, um dich zu kaufen.“ Fassungslos schüttelt Mom den Kopf. „Er hat unendliche finanzielle Mittel – so unmöglich es für uns wäre, dieses Privatzimmer zu bezahlen, so wenig ist es ein Opfer für ihn. Er reißt sich deinetwegen kein Bein aus.“

Prüfend sehe ich sie an. „Was erwartest du von ihm, das deine Meinung über ihn ändern würde?“

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