Bianca Extra Band 106

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IST DIESE LIEBE FÜR IMMER? von KATIE MEYER
Eine heiße Liebesnacht mit ihrem neuen Kollegen Ryan hat für die Polizistin Jessica süße Folgen! Außerdem braucht sie dringend einen Ehemann, damit sie ihr Erbe antreten darf. Aber ob eine Scheinehe auf Zeit mit dem werdenden Daddy Ryan wirklich die Lösung ist?

RANCH DER EINSAMEN HERZEN von KATHY DOUGLASS
Eine Auszeit nach der Scheidung: Single-Mom Gabriella zieht mit ihren Kindern zurück in ihr Heimatstädtchen. Hier ist alles genau wie früher – selbst Gabriellas Jugendschwarm Carson Rivers ist noch so umwerfend wie damals. Nur dass der Rancher inzwischen das Lachen verlernt hat …

TURBULENZEN AUF WOLKE SIEBEN von MARIE FERRARELLA
Lebensretter an Bord! Die hübsche Pilotin Ellie Montenegro fliegt den New Yorker Herzspezialisten Neil Eastwood in den abgelegenen Ort Forever, wo er eine Patientin operieren soll. Doch Ellie erkennt schnell, dass der City-Arzt sie auch nach der Landung braucht – und sie ihn …

HIGH HEELS ODER COWBOYBOOTS? von NINA CRESPO
Einer wunderschönen Schauspielerin, die panische Angst vor Pferden hat, alles übers Reiten beibringen? Cowboy Tristan Tillbridge hat wirklich Besseres zu tun. Aber warum fühlt er sich nach Chloes heißem Kuss, als hätte sie mit einem Lasso sein Herz eingefangen?


  • Erscheinungstag 08.02.2022
  • Bandnummer 106
  • ISBN / Artikelnummer 9783751507776
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Katie Meyer, Kathy Douglass, Marie Ferrarella, Nina Crespo

BIANCA EXTRA BAND 106

KATIE MEYER

Ist diese Liebe für immer?

Soll Ryan wirklich eine Zweckehe eingehen? Jessica braucht einen Mann, um ihr Erbe zu sichern – und einen Daddy für ihr Baby. Aber für Ryan bedeutet ein „Ja, ich will“ auch Leidenschaft für immer …

KATHY DOUGLASS

Ranch der einsamen Herzen

Dass Gabriella Tucker mit ihren süßen Kids nebenan einzieht, beschert Rancher Carson Rivers ein Problem: Plötzlich träumt er von einer Familie zu viert – doch dieses Glück muss ihm verwehrt bleiben …

MARIE FERRARELLA

Turbulenzen auf Wolke sieben

Neil Eastwood, Herzspezialist aus New York, wagt einen Neuanfang in einem kleinen Dörfchen, wo ihn die hübsche Pilotin Ellie Montenegro hinfliegt. Startbahn frei – und Landung auf Wolke sieben?

NINA CRESPO

High Heels oder Cowboyboots?

„Wo lerne ich für meine Rolle alles über Pferde?“ Schauspielerin Chloe Daniels wählt die Tillbridge-Ranch – und findet bei Cowboy Tristan Tillbridge eine andere Traumrolle: die Frau in seinen Armen …

1. KAPITEL

Auf diesen Moment war Deputy Jessica Santiago nicht vorbereitet.

Hier halfen ihr weder ihr Bachelor in Strafjustiz noch ihre Zeit an der Polizeiakademie und erst recht nicht der Stapel Richtlinien, die sie auswendig gelernt hatte, bevor sie ihre erste Schicht beim Sheriff’s Department von Palmetto County begann. Unter der perfekt gebügelten marineblauen Uniform, die sie voller Stolz vor ein paar Stunden angezogen hatte, rann Schweiß zwischen ihre Brüste, als wollte er sich über ihre Tapferkeit im Angesicht der Gefahr lustig machen.

Aber Ryan O’Sullivan war nicht die Art von Gefahr, mit der sie als frischgebackene Polizistin gerechnet hatte.

Was tat er hier? Er trug die gleiche Uniform wie sie, und sie wurde rot, als sie daran dachte, wie er ohne Bekleidung aussah. Er sollte nicht hier in Paradise sein. Bei ihrem letzten Gespräch, hastig und verlegen, als sie sich im Morgengrauen anzog, hatte er ihr erzählt, dass er bei der Polizei seiner Heimatstadt anfangen würde. Er müsste also Hunderte von Meilen entfernt in Miami Beach sein, nicht auf der anderen Seite des Raums und so sexy, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sie hätte niemals mit ihm geschlafen, wenn sie gewusst hätte, dass sie ihn wiedersehen würde.

Natürlich war sie keine Jungfrau mehr gewesen. Ihr erstes Mal hatte sie auf dem College erlebt, mit ihrem festen Freund, der ein Jahr vor ihr die University of Florida abgeschlossen hatte und nach Oregon umgezogen war. One-Night-Stands waren nie ihr Stil gewesen. Sie war in einer religiösen Familie aufgewachsen, und obwohl sie nicht alle Lehren der Kirche befolgte, war sie noch immer das brave katholische Mädchen, zu dem ihre Mutter sie erzogen hatte. Aber Ryan O’Sullivan hätte selbst einen Engel in Versuchung geführt.

Hochgewachsen, mit breiten Schultern, die den erfolgreichen College-Schwimmer verrieten, überragte er alle anderen im Raum. Mit eins sechzig war sie einen Kopf kleiner, aber das war nicht der einzige Grund, warum sie ihn als unerreichbar eingestuft hatte. Auf der Akademie war er der ungekrönte König der angehenden Polizisten gewesen, die Art von Mann, die bei den anderen Männern Bewunderung und bei den Frauen ein tief im Bauch sitzendes Gefühl weckte.

Als Jessica ihn jetzt unauffällig musterte, verstand sie, warum er immer von Frauen umgeben zu sein schien. Er hatte dunkles Haar, klassische Gesichtszüge, um die ihn jedes männliche Model beneiden würde, und ausdrucksvolle braune Augen. Aber sie war damals auf die Akademie gegangen, um etwas zu lernen, nicht um zu flirten. Also hatte sie jedes Mal abgelehnt, wenn er sie einlud, mit ihm auszugehen – bis zur Abschlussfeier, als etwas zu viel Tequila ihr die Hemmungen genommen hatte.

Hätte sie gewusst, dass sie zwei Monate später mit ihm zusammenarbeiten würde, hätte sie ihm widerstanden, sosehr die Chemie zwischen ihnen auch gestimmt hatte.

Nein, nicht die Chemie. Eher die Erleichterung über das Ende der anstrengenden Ausbildung, das Gefühl von Freiheit zusammen mit einer hohen Dosis alkoholgeschwängerter Lust. Nein, es war ganz spontan passiert, aus einer Augenblickslaune heraus – nichts Persönliches. Vermutlich hatten sie beide so viel getrunken, dass er die Nacht längst vergessen hatte.

Sie klammerte sich an diese Hoffnung, und eilte nach der Besprechung zur Tür. Der Sergeant würde ihr einen Partner für die abendliche Streife zuteilen. Ryan verstellte ihr den Weg in den Wachraum, auf dem Gesicht ein jungenhaftes Lächeln. In ihr stieg eine böse Vorahnung auf.

„Jessica, ich habe dich gesucht.“

Sie versuchte zu vergessen, dass er sie nackt gesehen hatte. „Na ja, du hast mich gefunden.“ Geistreich. „Ich habe nicht erwartet, dich hier zu treffen.“ Oder jemals wieder.

„Jason hat in letzter Minute die Stelle in Miami genommen.“ Er zuckte mit den breiten Schultern. „Die hier war als Einzige noch frei, und du hast mal erzählt, wie schön Paradise ist.“

„Oh.“ Natürlich hatte er sich nicht für Paradise entschieden, um in ihrer Nähe zu sein. Aber dass er keine andere Wahl gehabt hatte, fühlte sich auch nicht gerade gut an. „Es ist ganz anders als Miami.“ Sie war in Little Havana aufgewachsen, Welten entfernt von dem wohlhabenden Vorort, aus dem er stammte. Sie war auf dem College gewesen, als ihre Mom und ihr Bruder nach Paradise gezogen waren. An langen Wochenenden und in den Ferien hatte sie die kleine Insel kennengelernt und fühlte sich hier zu Hause.

„Ich hoffe, du kannst mir alles zeigen.“

Sie blinzelte überrascht. „Das ist keine gute Idee.“

„Hey, nur während wir auf Streifenfahrt sind. Schließlich sind wir Partner.“

Was? Der Puls dröhnte in ihren Ohren. „Das geht nicht. Alle Neulinge werden einem erfahrenen Kollegen zugeteilt.“

„Stimmt, aber die halbe Schicht fehlt mit Grippe. Also hat der Sergeant entschieden, dass wir zusammen losfahren können, wenn wir nicht mehr Lust auf Schreibtischdienst haben. Was meinst du?“

Ryan hielt den Atem an. Jessica hatte die Stadt verlassen, bevor sie sich wiedersehen konnten. Für ihn war ihre Nacht ein unvergessliches Erlebnis gewesen, aber jetzt sah sie ihn an, als wäre sie lieber anderswo als in einem Wagen mit ihm. Vor ein paar Wochen waren sie einander so nahe gewesen, wie zwei Menschen es sein konnten, und heute ertrug sie nicht mal eine Schicht mit ihm?

„Was ist mit … du weißt schon?“ Nervös schaute sie den Korridor entlang. „Gibt es nicht eine Vorschrift, dass Leute, die eine romantische Verbindung haben, nicht zusammenarbeiten dürfen? Nicht, dass wir eine haben.“ Sie errötete. „Ich meine, es war nur eine Nacht. Aber ich will nicht gleich zu Beginn gegen die Regeln verstoßen.“

„Ich habe dem Sergeant gesagt, dass da mal was zwischen uns war. Er meinte, er hat zu wenig Leute, um sich wegen alter Gefühle Sorgen zu machen. Wenn wir beide es nicht schaffen, uns wie Erwachsene zu benehmen, sollen wir nach Hause gehen.“ Gespannt wartete er auf ihre Antwort.

Jessica seufzte hörbar. „Okay. Hoffentlich behält er es für sich. Das Letzte, was wir brauchen, ist Getuschel.“

Nicht gerade schmeichelhaft, aber wenn sie so tun wollte, als wäre nichts gewesen, sollte ihm das recht sein. Jedenfalls vorläufig. „Stimmt.“

In ihren Augen blitzte Erleichterung auf. Und etwas, das er nicht deuten konnte. Dann wurde ihre Miene wieder so professionell, wie er sie kannte. Auf der Akademie hatten viele Männer sie für kalt – oder schlimmeres – gehalten, aber vermutlich waren sie nur gekränkt gewesen, weil sie sich mehr für das Studium als für sie interessiert hatte. Sie hatte zu den Jahrgangsbesten gehört. Er bewunderte ihre Einstellung, auch wenn sie seine Avancen lange zurückgewiesen hatte. Trotzdem hatte er sie im Auge behalten. Mir ihrer glatten, kupferfarbenen Haut, den fast mandelförmigen Augen und den langen, rabenschwarzen Locken wirkte sie selbst entschlossen und konzentriert extrem sexy.

Auch jetzt, trotz des strengen Pferdeschwanzes und der Uniform, die ihre üppigen Kurven zu verbergen versuchte, begehrte er sie. Er wusste, wie weich ihre Haut war und wie ihre Lippen sich an seinen anfühlten, und sollte so tun, als würden sie beide sich kaum kennen? Er hatte gehört, dass die ersten Wochen im Dienst die Hölle waren, aber so quälend hatte er sich den Start nicht vorgestellt.

Aber er wusste, wann ein Flirt unangebracht war. Sie wollte Professionalität, und die würde er ihr geben, bis er sie umstimmen konnte. „Hier ist unser Auftrag.“ Er reichte ihr den Zettel mit dem Einsatzgebiet und hielt die Wagenschlüssel hoch. „Was dagegen, wenn ich fahre?“

Sie zog eine Augenbraue hoch. „Findest du nicht, dass ich fahren sollte? Du hast mich gebeten, dir alles zu zeigen.“

Erwischt. Widerwillig gab er ihr die Schlüssel. „Das nächste Mal fahre ich.“

„Du bist ein Kontrollfreak“, stellte sie fest und steuerte den Ausgang an.

„Du nicht?“

Sie nickte. „Mag sein. Aber ich fahre trotzdem.“

Er lächelte. Heute ließ er sie gewinnen. Aber falls sie glaubte, das würde er immer tun, stand ihr eine Überraschung bevor.

Im Streifenwagen schnallte sie sich an und schaute auf den Zettel mit dem Einsatzgebiet. „Wir decken Paradise und die Nebenstraßen zwischen hier und dem Highway ab.“ Ihr Lächeln erinnerte ihn an die Momente, in denen er sie in den Armen gehalten hatte. „Sieht aus, als bekämst du doch noch deine Besichtigungstour.“

„Dann mal los.“ Er war froh, dass sie an ihrem ersten Abend dieses Gebiet bekommen hatten. Die anderen Streifen übernahmen die kleinen Rancherstädte und die unwegsamen Gegenden weiter im Inland, die auch noch zu Palmetto County gehörten. Als Großstadtjunge fühlte er sich zwischen Häusern wohler, selbst wenn es nur eine Kleinstadt wie Paradise war. Hier hatten sie etwas zum Reden, und das war besser als eine lange, schweigsame Nacht. Wenn er sie dazu bringen konnte, ihm von ihrer geliebten Insel zu erzählen, würde sich die Anspannung zwischen ihnen vielleicht legen und sie beide konnten noch mal von vorn anfangen.

Die Sonne ging gerade unter und färbte die Wolken rosig. An der Lighthouse Avenue, der Hauptstraße von Paradise, schlenderten die Leute zu den Restaurants oder eilten nach einem langen Arbeitstag nach Hause. Straßenlaternen flackerten und zogen Motten und wahrscheinlich auch Moskitos an. Der Sommer begann erst in einem Monat, aber es war schon warm und die Menschen trugen luftige Kleidung, die auch an den Strand gepasst hätte.

Anders als in Miami, wo alle auf ein modisches Outfit achteten, liefen die Leute in abgeschnittenen Jeans und Tank Tops herum. „Hier wirft man sich nicht in Schale, was?“

„Nein, abgesehen von Marken-Sonnenbrillen und Flip-Flops mit Strass.“ Jessica lächelte. „Die meisten Leuten hier kennen sich, seit sie in den Windeln lagen, und müssen einander nicht beeindrucken.“

„Dann muss ich meine Garderobe wohl etwas anpassen, sonst falle ich unangenehm auf.“ Nicht, dass er Anzüge mit Weste trug, aber seine Designerhosen und Shirts wären vermutlich auch schon übertrieben.

„Mit einem Polizistengehalt fällt es deutlich leichter, sich lässig anzuziehen“, erwiderte sie.

„Stimmt.“ Ein Kleinstadt-Deputy verdiente nicht viel, und seine Eltern unterstützten ihn nicht mehr, seit er das College abgeschlossen hatte. „Meine Ersparnisse sind für die Akademie draufgegangen. Meine Eltern hätten mir geholfen, wenn ich Jura studiert hätte, aber wie mein Stiefvater sagte, einen Streifenpolizisten wollten sie nicht finanzieren.“ Er zuckte mit den Schultern. „Von ihm habe ich nichts anderes erwartet, aber ich dachte, meine Mutter würde zu mir halten, zumal mein Dad fast zwanzig Jahre lang eine Polizeimarke getragen hat.“

„Dein Stiefvater war also dagegen, aber hat sich dein Dad nicht für dich eingesetzt?“

Ryan schluckte. „Er war Polizist. Er hatte einen Herzinfarkt in dem Jahr, bevor ich auf die Highschool gegangen bin. Mit der erneuten Hochzeit meiner Mom hat sie sich, gemessen an der Stufenleiter der Strafjustiz, um einen Schritt verbessert. Mein Stiefvater ist Anwalt.“

„Deshalb wollte er, dass du Jura studierst?“

„Genau. Und was ist mit dir? Unterstützt deine Familie dich?“

Sie lachte bitter. „So würde ich es nicht nennen.“

Ryan schwieg und schien darauf zu warten, dass sie mehr erzählte.

Warum nicht? In einer Kleinstadt wie Paradise gab es ohnehin keine Geheimnisse. „Mein Dad war kaum da, als ich aufgewachsen bin. Er liebte uns, kam aber nicht zur Ruhe. Dauernd jagte er dem nächsten Abenteuer hinterher und hoffte, dass das nächste Wagnis sich endlich auszahlen würde. Das ist nie passiert. Er ist früh gestorben, und meine Mom hat meinen Bruder und mich praktisch allein aufgezogen. Jetzt macht sie sich natürlich Sorgen um mich. Mein Bruder dagegen …“ Jessica suchte nach den richtigen Worten. „Er will, dass ich etwas anderes – egal was – mit meinem Leben anfange.“

Verwirrt runzelte er die Stirn. „Aber ist er nicht auch Polizist?“

„Ist er. Aber er ist eben auch ein typischer älterer Bruder und meint, er muss mich beschützen – und vor mir selbst retten.“

„Ich verstehe. Sein Beruf ist zu gefährlich für die kleine Schwester?“

Sie verzog das Gesicht. „Genau.“ Wäre es nach Alex gegangen, würde sie jetzt in einem Büro sitzen. „Aber seit einiger Zeit lässt er mich in Ruhe, weil meine Mom ihn dazu gezwungen hat. Er ist zäh, aber sie ist zäher.“

„Bei euch haben also die Frauen das Kommando.“

„Das könnte man sagen.“ Sie fuhr langsam um den Park. Ein paar ältere Teenager spielten Basketball, auf einer Bank steckte ein Paar die Köpfe zusammen, aber abgesehen davon lag der Park ziemlich verlassen da. Sie bog auf die Straße ein, die zum Strand an der Ostküste der Insel führte.

Entlang der Dünen war es stockdunkel. Dahinter erstreckte sich das Meer bis nach Afrika. „Mir wird erst jetzt klar, wie sehr ich auf der Akademie den Ozean vermisst habe.“

„Ja. Gainesville ist eine tolle Stadt, aber wenn man am Wasser aufwächst, wird man nirgendwo anders glücklich.“

„Da hast du recht.“ Widerwillig lenkte sie den Streifenwagen nach Westen, weg vom Meer, und steuerte die Brücke zum Festland an. „Warum hast du an der University of Florida studiert und nicht irgendwo im Süden?“

„Aus dem gleichen Grund wie du, wette ich. Die Strafjustiz dort zählt du den besten Studiengängen im ganzen Land. Ich wollte kein Polizist werden, der nur wegen des Blaulichts und der Waffe dabei ist. Ich wollte das Gesetz kennen und es hüten.“ Er zuckte mit den Achseln. „Klingt kitschig, oder?“

„Nein, überhaupt nicht.“ Sie wusste, was er meinte. „Du siehst es als Berufung, nicht nur als Job.“

„Stimmt. Vielleicht macht es nicht so viel her wie ein Abschluss in Jura, aber für mich bedeutet die Dienstmarke etwas.“

„Hey, die Anwälte wären alle arbeitslos, wenn es uns nicht gäbe. Wir sind die beiden Seiten der Medaille. Es wundert mich, dass dein Stiefvater das nicht begreift.“

„Ich glaube, er steckt noch in der Zeit fest, in der man mit nur einem Highschool-Abschluss Polizist werden konnten. Außerdem verdiene ich ihm nicht genug Geld.“

„Da hat er nicht ganz unrecht. Vor allem wenn man bedenkt, wie teuer ein Studium geworden ist.“

„Deshalb musste ich ein Stipendium beantragen. Ich wollte keine Schulden machen. Die abzuzahlen hätte mit einem Polizistengehalt zu lange gedauert.“

„Genau das habe ich auch gedacht.“ Dass er mit einem Stipendium studiert hatte, überraschte sie. Sie hatte ihn als jemanden eingeschätzt, der sich von seinen reichen Eltern aushalten ließ. Jedenfalls hatte er sich so gekleidet, von Kopf bis Fuß in Designersachen. Wenn sie dem glänzenden Abzeichen an ihrer Brust Ehre machen wollte, musste sie aufhören, Menschen nach ihrem Äußeren zu beurteilen.

Das Knistern des Funkgeräts holte sie aus ihren Gedanken. Die Worte der Kollegin aus der Einsatzzentrale verpassten ihr einen Adrenalinstoß.

Betrunkener Gast randaliert in Pete’s Crab Shack. Möglicherweise bewaffnet.

„Sind wir da nicht gerade vorbeigekommen?“, fragte Ryan angespannt.

„Ja.“ Sie wendete so abrupt, dass sie es im Bauch fühlte. Sie hatte die ganze Woche vor Nervosität einen empfindlichen Magen gehabt, und der Schock, Ryan wiederzusehen, hatte es noch schlimmer gemacht. Sie würde später Tabletten nehmen. Jetzt hatte sie einen Job zu erledigen, und ein paar Schmetterlinge im Bauch würden sie nicht davon abhalten.

Als Jessica kehrtmachte und zum Strand zurückfuhr, versuchte Ryan, an den bevorstehenden Einsatz und nicht an die Frau neben ihm zu denken. Er hatte hart für diesen Moment gearbeitet, aber es waren nicht die Sirene und das Blaulicht, die sein Herz klopfen und die Handflächen schwitzen ließen. Nein, das war allein einer gewissen Schwarzhaarigen zu verdanken. Der mit der glattesten Haut, die er gesehen hatte. Oder berührt, um genau zu sein.

Und das war ein gewaltiger Fehler gewesen. Nicht weil er es nicht genossen hatte, sondern weil ein One-Night-Stand nicht geeignet war, einer Frau echtes Interesse zu signalisieren. Und er war eindeutig an ihr interessiert. Zuerst war sie nur eine Herausforderung gewesen. Aber dann hatte er begriffen, dass sie sich nicht abweisend oder unfreundlich gab. Sie nahm das Studium ernster als alle anderen, und das respektierte er, auch wenn ihr mangelndes Interesse an ihm ihn traf.

Und jetzt, nach so kurzer Zeit mit ihr, ärgerte er sich schwarz darüber, dass er mit Jessica Santiago zu schnell zu weit gegangen war. Hätten sie ihre letzte Nacht an der Akademie damit verbracht, zu reden und einander besser kennenzulernen, anstatt ins Bett zu gehen, hätte er jetzt eine bessere Ausgangsposition. Ihm war durchaus bewusst, dass jede Anspielung auf ihre gemeinsame Nacht als sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gewertet werden konnte. Und sie hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass das Thema ihr unangenehm war. Sie war wieder unnahbar geworden, und er wusste nicht, was er dagegen tun konnte.

Was für eine Ironie des Schicksals. Normalerweise war er derjenige, der sich abschottete, damit jeder Frau klar war, dass es für sie nicht mehr als eine Nacht mit ihm geben würde. Aber das erklärte er ihnen immer vorher, denn er wollte keiner etwas vormachen. Aber manchmal wurden die Dinge etwas kompliziert, und dann musste er die Ansprache halten, die er gerade von Jessica gehört hatte: dass das zwischen ihnen vergangen war und es auch bleiben sollte. Jetzt war er es, dem die Tür höflich, aber bestimmt vor der Nase zugeknallt wurde.

Nicht das beste Gefühl auf der Welt. Zumal er sie noch immer anziehend fand. Und das nicht nur körperlich.

Aber zunächst musste er sich auf ihren ersten Einsatz konzentrieren. Er überflog die Informationen auf dem Computerbildschirm des Streifenwagens. Ein Gast, der zu viel Bier getrunken hatte, bedrohte den Barkeeper, der ihm keines mehr servieren wollte.

Hoffentlich ging es nur um ein paar böse Worte. Jedenfalls hatte der Barkeeper richtig gehandelt und den Notruf gewählt. Nichts war so unberechenbar wie eine Person unter Drogen oder Alkohol. Mut aus Flaschen senkte die Hemmungen. Verdammt, seine Nacht mit Jessica war dafür Beweis genug.

Er warf ihr einen Blick zu und staunte darüber, wie gefasst sie war. Ohne das Tempo, das der Tacho anzeigte, hätte man glauben können, sie wäre auf einem Sonntagsausflug. Gleich würden sie das erste Mal nach der Ausbildung einer echten Prüfung unterzogen werden. Er konnte nur hoffen, dass er der Situation gewachsen war. Sie beide waren Neulinge auf dem Weg zu einem gefährlichen Einsatz.

Jessica bog auf den Parkplatz des Restaurants ein und hielt vor den hölzernen Stufen zum Eingang. Pete’s Crab Shack warb mit den frischesten Meeresfrüchten, dem kältesten Bier und den größten Burger und war bei Einheimischen und Touristen beliebt. Außerdem galt es als familienfreundlich. Heute Abend war offenbar eine Ausnahme.

Sie meldete, dass sie vor Ort waren. Als einzige Frau der Truppe musste sie sich beweisen – nicht nur als Anfängerin, auch als Angehörige des vermeintlich schwächeren Geschlechts. Das konnte sie nur, indem sie professioneller und selbstsicherer als ihre Kollegen war. Jedes Zeichen von Schwäche würde gegen sie verwendet werden – und gegen jede andere Frau in Uniform.

Deshalb war das Letzte, was sie brauchte, ein Gerücht über eine romantische Beziehung am Arbeitsplatz. Es würde alle Vorurteile bestätigen, vor allem jenes, wonach Frauen sich auch im Dienst von ihren Hormonen leiten ließen. Jessica hatte gelernt, dass sie sachlicher und disziplinierter als die Männer sein musste, wenn sie ernst genommen werden wollte. Es war nicht einfach gewesen, aber sie hatte es geschafft, bei der Arbeit keine Gefühle zu zeigen. Nicht nur ihre Karriere, auch die Sicherheit ihrer Mitbürger stand auf dem Spiel.

Sie stieg aus dem Wagen und ging zur Treppe. Wenigstens waren die Schmetterlinge aus ihrem Bauch verschwunden.

Ryan ging neben ihr. Die Kellnerin kam ihnen entgegen. „Gott sei Dank sind Sie hier. Der Kerl ist völlig außer Kontrolle!“

„Anna“, sagte Jessica nach einem Blick auf ihr Namensschild. „Bleiben Sie ruhig und erzählen Sie uns, was los ist.“

Die junge Frau schluckte. „Es ist Bill. Er ist Stammgast. Meistens macht er keinen Ärger, aber seit einiger Zeit trinkt er mehr als sonst. Jemand hat gesagt, dass seine Frau ihn verlassen hat. Als Denny – das ist der Barkeeper – ihm nichts mehr geben wollte, fing er an zu schreien, dass alle gegen ihn sind und er sich das nicht mehr bieten lässt. Als die Geschäftsführerin ihn beruhigen wollte, hat er sie niedergeschlagen. Jetzt ist er auf der Terrasse, schreit herum und lässt niemanden an sich heran.“

„Ist er bewaffnet?“, fragte Ryan.

„Nein. Glaube ich jedenfalls. Aber er ist massig – nicht dick, sondern groß. Wie ein Footballspieler. Ich glaube, er arbeitet auf dem Bau oder so.“ Ängstlich blickte sie über die Schulter.

„Können Sie mir sagen, wo genau auf der Terrasse er sich befindet?“, bat Jessica.

„Gleich links von der Treppe, noch vor der Bar.“

Verdammt. Das bedeutete, dass sie das Restaurant nicht evakuieren konnten.

Ryan nickte der Kellnerin zu. „Danke, Anna. Wir übernehmen.“

Sie ließen die Frau draußen zurück und stiegen die Stufen hinauf.

Jessica entdeckte den Mann zuerst. „Dort drüben, am Geländer.“

„Ich sehe ihn. Langsam. Vielleicht können wir ihn zur Vernunft bringen.“

Sie nickte. Vielleicht würde allein der Anblick der Uniformen ihn beruhigen. Er sah aus wie Ende dreißig oder Anfang vierzig, mit zottigem dunklem Haar, das über den Kragen des fleckigen T-Shirts fiel, und einem Bierbauch, der aus den Shorts quoll. Aber die Kellnerin hatte recht, der Mann war muskulös. Im Moment murmelte er etwas, das sie nicht verstand und ging am Geländer der erhöhten Terrasse hin und her.

„Bill?“ Jessica trat vor und rang sich ein Lächeln ab. „Können wir kurz reden?“

Der Mann drehte sich zu ihr um, in der Hand eine Bierflasche mit abgebrochenem Hals. Keine echte Waffe, aber gefährlich.

„Vorsicht“, warnte Ryan. „Er hat eine …“

„Die sehe ich.“ Jessica ließ den Mann nicht aus den Augen. „Bill, können Sie die Flasche hinlegen? Sie wollen doch niemanden verletzen, oder?“

Seine Augen waren blutunterlaufen und glasig, aber eine Sekunde lang glaubte sie, er würde auf sie hören. Aber dann hob er drohend die Flasche. „Du Bitch! Du bist genau wie meine Frau und denkst, du könntest mich herumkommandieren. Ich zeig dir, was mit Frauen passiert, die sich für etwas Besseres halten!“ Und dann stürzte er sich auf sie.

Ryan rief eine Warnung, als er sah, wie der Betrunkene die kaputte Flasche auf Jessicas Brust richtete. Er griff nach seinem Taser. Aber schon als er ihn aus dem Gürtel zog, wusste Ryan, dass er damit zu langsam war. Der Mann war zu schnell und zu nah. Ryan hätte nicht zulassen dürfen, dass Jessica die Wut des Betrunkenen auf sich zog. Er hätte vorangehen müssen.

Hinter ihm gingen die Gäste in Deckung.

„Zurück!“, rief Jessica und dann hob sie – direkt vor Ryans Augen – die Gesetze der Schwerkraft auf. Jedenfalls sah es so aus, als sie dem ausgestreckten Arm des Angreifers auswich, ihn packte und den Mann über ihre Schulter beförderte, als könnte er plötzlich fliegen.

Die Landung dagegen war hart. Ryan schaffte es gerade noch, dem Mann auszuweichen, aber Jessica landete halb unter ihm.

Um dem Kerl keine Chance zu geben, wieder auf die Beine zu kommen und noch mehr Schaden anzurichten, steckte Ryan den Taser wieder ein, packte den Mann und drehte ihm die Hände auf den Rücken. Der Aufprall zeigte Wirkung, denn er wehrte sich nicht, sondern stöhnte nur leise auf. Die zerbrochene Flasche war nirgends zu sehen, aber wenigstens konnte Ryan sich sicher sein, dass der Mann sie nicht mehr in der Hand hielt. Rasch aktivierte er sein Funkgerät und rief einen Krankenwagen. „Polizeibeamtin möglicherweise verletzt“, fügte er hinzu und betete, dass er nur übervorsichtig war.

„Hol ihn von mir runter“, keuchte Jessica. Ihr Kopf und Oberkörper waren sichtbar, der Rest war unter dem Betrunkenen begraben. Ryan packte ihre schmalen Handgelenke mit einer Hand, hob mit der anderen den Mann an. Sie glitt unter ihm hervor, kniete sich schwer atmend hin und schüttelte den Kopf. Ihr Haar hatte sich gelöst und flatterte im Wind. An ihrem Hemd fehlte ein Knopf, und am Bauch breitete sich ein dunkler Fleck aus.

Blut?

O verdammt, sie blutete. Der Mistkerl hatte sie erwischt. Ryan zerrte ihr Hemd aus der Hose und knöpfte es auf. Er musste die Wunde finden und die Blutung stoppen.

Jessica schlug nach seinen Händen. „Was zum Teufel tust du da?“ Sie schob ihn von sich. „Lass das, oder ich schwöre, ich setze dich auch außer Gefecht.“

„Wo hat er dich erwischt?“

„Was?“ Verwirrt schaute sie an sich hinab. „Es geht mir gut.“

„Nein, tut es nicht“, widersprach er und bereute es sofort. Er durfte sie nicht aufregen. „Ich meine, du blutest.“ Er hatte gehört, dass Adrenalin die Schmerzempfindlichkeit verringerte. Sie stand unter Schock. Verzweifelt suchte er nach der Wunde. Bronzefarbene Haut kam zum Vorschein. Haut, die er vor weniger als zwei Monaten unter ganz anderen Umständen erkundet hatte. Er fand Blutspuren, aber keine Verletzung.

Jessica zog das Hemd über ihrem Bauch zusammen. „Das ist nicht mein Blut, du Idiot.“

„Was?“ Verwirrt hielt er inne.

„Ich habe gesagt, das ist nicht mein Blut.“ Sie stemmte sich gegen den Angreifer neben ihr, um ihn auf den Rücken zu drehen. „Der Kerl ist auf die Flasche gefallen.“

Ryan half ihr. Bills T-Shirt war voller Blut. Durch einen Riss war zu erkennen, wo der gezackte Flaschenhals eine tiefe Wunde hinterlassen hatte. Es sah schlimm aus, aber bei allem Entsetzen war Ryan erleichtert, dass Jessica nichts passiert war.

„Tut mir leid, ich dachte, er hätte dich erwischt“, sagte Ryan.

Jessica war blass und starrte mit glasigen Augen auf das Blut an ihrem Körper.

„Jessica, alles okay?“ Vielleicht war sie doch verletzt.

Sie blinzelte einmal, dann verdrehte sie die Augen und kippte nach vorn. In seine Arme.

2. KAPITEL

Jessica kam wieder zu sich, als sie eine Art Alarm hörte. War das ihr Wecker? Nein, der klang anders.

Langsam wurde ihr bewusst, dass jemand mit ihr sprach, aber sie verstand die Worte nicht. Sie schienen aus weiter Ferne zu kommen, oder der Sprecher war unter Wasser. Was immer er sagte, sie wollte, dass er sie in Ruhe ließ. Sie wollte nicht aufwachen. Noch nicht.

„Jessica! Wach auf, komm schon, Baby, du musst aufwachen.“

Jetzt schüttelte er sie auch noch. Verärgert nahm sie alle Kraft zusammen und öffnete erst ein Auge, dann das andere. „Ryan?“ Träumte sie etwa schon wieder von ihm? Seit ihrer gemeinsamen Nacht tauchte er in äußerst erotischen Träumen auf, aus denen sie erhitzt und mit geröteter Haut erwachte. Als sie erneut blinzelte, sah sie, dass etliche Leute um sie beide herumstanden. Das gehörte definitiv nicht zu ihren Fantasien.

Was bedeutete, dass es real war.

Hastig befreite sie sich aus seinen Armen und wehrte sich gegen die plötzliche Übelkeit.

„Langsam. Die Sanitäter sind unterwegs. Halt noch eine Minute still.“

Sanitäter? Was zum Teufel war los? Sie wich eine Handbreit zurück, ganz vorsichtig, um mehr zu erkennen – was nicht einfach war, denn um sie herum drehte sich alles. Oder drehte sie selbst sich? „Was ist passiert?“

„Du bist ohnmächtig geworden. Du musst dir den Kopf gestoßen haben, als dieser Trottel auf dir gelandet ist.“

Sie erinnerte sich an den Einsatzbefehl, den Mann mit der Flasche. Sie hatte ihn zu Boden gebracht. Aber sie hatte sich nicht den Kopf gestoßen. Oder doch? Behutsam bewegte sie ihn.

Der Schwindel war verschwunden, und als sie sich durchs Haar strich, fand sie keine schmerzhaften Stellen. „Mit tut nichts weh.“

„Na ja, lassen wir die Sanitäter das entscheiden.“

„Im Ernst, du hättest sie nicht zu rufen brauchen. Es geht mir gut.“ Hastig knöpfte sie das ruinierte Uniformhemd zu und hoffte, dass er nicht bemerkte, wie sehr ihre Hände zitterten.

„Wie gesagt, du bist in Ohnmacht gefallen. Das ist nicht gut. Außerdem musste ich sie sowieso rufen.“

Sie warf einen Blick auf dem Mann, der neben ihr lag, und schluckte. Verdammt, sie hatte sich nicht den Kopf gestoßen, der Anblick des blutüberströmten Verletzten hatte sie aus der Fassung gebracht. Das war nicht gerade förderlich für ihren Ruf. Sie wandte sich ab und schaute zur Treppe, auf der zwei Sanitäter in weiß mit einer Trage erschienen.

„Nehmt den da mit. Mir geht es gut“, sagte sie. Um es zu beweisen, stand sie auf und wäre fast wieder umgefallen. Ryan packte ihre Schulter und funkelte sie an, bevor er sich an das Rettungsteam wandte. „Sie muss auch ins Krankenhaus. Sie hat das Bewusstsein verloren, nachdem der Riese auf sie gefallen ist. Vielleicht hat sie eine Gehirnerschütterung.“

„Mein Kopf ist in Ordnung. Wahrscheinlich bin ich bloß unterzuckert. Ich bin vor der Schicht nicht zum Mittagessen gekommen.“ In Wahrheit war sie viel zu nervös gewesen, um das würzige Bohnengericht zu essen, das ihre Mutter ihr gekocht hatte. Aber das konnte sie vor Ryan unmöglich zugeben. Ihr Image war durch diesen Auftritt schon angekratzt genug.

„Wenn das so ist, können sie dir in der Klinik bestimmt etwas zu essen geben. Du fährst mit, und wenn ich dich mit Handschellen an den Krankenwagen fesseln muss.“

„Versuch es nur. Ich glaube, ich habe gezeigt, dass große Männer mir keine Angst machen.“

Sein Mundwinkel zuckte hoch. „Ja, das habe ich gesehen. Und sobald der Doc dir sein Okay gibt, musst du mir den Zaubertrick beibringen, mit dem du den Kerl zu Boden befördert hast.“

„Das war kein Zaubertrick, sondern Aikido. Das trainiere ich, seit ich dreizehn war und ein Basketballspieler meiner Highschool versucht hat, mich in seinen Wagen zu ziehen.“ Sie lächelte. „Wie sich zeigte, musste er lernen, besser auf seine Bälle aufzupassen … Aber ich wusste, dass es beim nächsten Typen vielleicht nicht so einfach sein würde, deshalb habe ich mir einen Trainer gesucht, damit ich mich selbst verteidigen kann.“

„Das hat sich gelohnt.“

Sie verzog das Gesicht. „Ja, aber Schwung und Hebelkraft allein reichen nicht. Morgen früh habe ich garantiert ein paar Blutergüsse.“

„Die können sie sich im Krankenhaus auch ansehen.“ Er hob eine Hand, um ihrem Protest zuvorzukommen. „Vergiss es, Santiago. Du stimmst mich nicht um. Ich muss einen Bericht schreiben. Unsere Chefs werden eine ärztliche Bestätigung wollen, dass du wieder dienstfähig bist.“

Mist, er hatte recht. Spätestens morgen würde sie sich untersuchen lassen müssen, also konnte sie es ebenso gut auch sofort hinter sich bringen. „Okay. Aber kein Krankenwagen.“ Auf keinen Fall würde sie sich neben einem Typen, dessen Eingeweide aus dem Bauch quollen, auf eine Trage schnallen lassen. Normalerweise war sie nicht so zart besaitet, aber heute schien eine Ausnahme zu sein.

Ryan nickte widerwillig. „Na gut, wenn die Sanitäter es erlauben, fahre ich dich selbst hin. Nachdem ich die Zeugenaussagen aufgenommen habe.“

„Dabei kann ich helfen“, beharrte sie.

„Damit sie vor Gericht nicht zugelassen werden, weil die aufnehmende Polizistin dienstunfähig war? Ganz sicher nicht.“

„Okay.“ Frustriert setzte sie sich an einen freien Tisch, um zu warten, bis die Sanitäter Zeit für sie hatten. Wie um alles in der Welt sollte sie sich beweisen, wenn sie ihre erste Schicht als Zuschauerin beendete?

Ryan versuchte, geduldig zu bleiben, während er die noch immer verängstigten Zeugen des Vorfalls befragte. Er wäre lieber an Jessicas Seite und würde sich um sie sorgen, bis ein Arzt sie untersucht hatte.

„Er muss schon an der Bar gesessen haben, als wir kamen, denn ich habe ihn gar nicht bemerkt. Wie auch? Ich hatte damit zu tun, Fred meine neue Uhr zu zeigen. Die war ein echtes Schnäppchen.“ Sie hielt ihm das Handgelenk unter die Nase. Zum Glück war die Aussage des Ehemanns hilfreicher gewesen. „Jedenfalls, ich erzähle ihm gerade, wie viel ich gespart habe, da drängt sich der Mann an unserem Tisch vorbei und schreit etwas von einer Lady namens Doreen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, er war betrunken. Alkohol führt zu nichts Gutem, hat mein Dad immer gesagt. Er war Prediger, wissen Sie.“

Ryan wusste es, denn sie hatte es schon mehrfach erwähnt. Zusammen mit dem Beruf ihres Mannes, wo sie zur Schule gegangen war und wie sie ihr Fischsandwich fand – zu trocken. „Haben Sie gesehen, wie er meine Kollegin angegriffen hat, Ma’am?“

„O nein. Leider nicht. Ich habe Fred angesehen und ihm erzählt, was ich von Männern halte, die trinken. Zum Glück hat Fred noch nie einen Tropfen angerührt.“

Fred musste ein Heiliger sein, wenn er seine endlos plappernde Frau nüchtern ertrug. Ryan hätte jetzt selbst einen Schluck brauchen können. Wenigstens hatte sie endlich zugegeben, dass sie den Vorfall nicht mitbekommen hatte, und er konnte ihre Befragung abschließen. Ihr Ehemann, einige andere Gäste und die noch immer erschütterte Kellnerin hatten ihm genug Informationen geliefert.

Inzwischen waren der Sanitäter mit Jessica fertig, und er wollte hören, was der Profi zu sagen hatten – sie selbst würde mögliche Blessuren sowieso herunterspielen.

Er gab der Zeugin seine Karte und ging dorthin, wo ein Sanitäter seine Ausrüstung zusammenpackte. „Wie geht es ihr?“

„Ihre Reflexe sind gut, die Pupillen reagieren, aber der Blutdruck ist niedriger, als er angesichts der Aufregung sein sollte. Kann harmlos sein, aber sie muss sofort ins Krankenhaus, um innere Blutungen auszuschließen.“

„Ernsthaft?“ Jessica runzelte die Stirn. „Kann der niedrige Blutdruck nicht daher kommen, dass ich nicht gegessen habe?“

Der Mann zuckte mit den Schultern. „Möglich. Aber es kann auch am Blutverlust liegen. Der Kerl war groß, und wenn er Ihre Milz richtig erwischt hat, kann sie beschädigt sein. Mit einem CT lässt sich das abklären.“

„Das bekommt sie“, versicherte Ryan.

„Gut. Sobald der Rettungswagen zurück ist, bringen wir sie in die Klinik.“ Er fing ihren wütenden Blick auf. „Falls das für Sie okay ist, Ma’am.“

„Na gut.“ Resigniert ließ sie die Schultern sinken.

„Augenblick. Was soll das heißen, sie muss auf den Rettungswagen warten? Steht der nicht unten auf dem Parkplatz? Sie sind doch damit gekommen.“

„Der Angreifer war in kritischem Zustand, und Ihre Partnerin hat gesagt, sie braucht keine medizinische Versorgung. Also haben die Kollegen ihn mitgenommen, und ich bin hiergeblieben, um nach ihr zu sehen. Sie schicken den Wagen gleich zurück.“

Auf keinen Fall. So lange würde Ryan nicht warten. „Ich fahre sie selbst.“

Erstaunt sah Jessica ihn an. „Was ist mit den Zeugenaussagen?“

„Ich habe, was ich brauche.“ Sie waren nicht im Film, wo niemand gehen durfte, bevor er mit einem Cop gesprochen hatte. Nur wegen einer weiteren Aussage würde er Jessica nicht verbluten lassen.

Sie stand auf, folgte ihm und warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, als er auf der Treppe ihren Arm nahm. Unter angekommen, streckte er die Hand aus, und sie legte die Wagenschlüssel hinein.

Erst nachdem sie losgefahren waren, sah sie ihn hoffnungsvoll an. „Ich kann dich wohl nicht überreden, mich einfach nach Hause zu bringen, was?“

„Nein.“ Sein Mund wurde noch schmaler, als er Gas gab.

„Habe ich mir gedacht.“ Sie ließ sich in den Sitz zurückfallen. „Ich fühle mich jetzt wirklich gut.“

„Das freut mich zu hören. Und ich freue mich noch mehr, wenn jemand mit einem medizinischen Abschluss das bestätigt.“ Er fühlte sich wegen ihres One-Night-Stands schuldig genug und hatte nicht vor, sie nach Hause zu bringen, wenn sie in ärztliche Behandlung musste. Sein Gewissen war nicht unbegrenzt belastbar.

Krankenhäuser rochen immer gleich, nach Angst und Desinfektionsmitteln. Jessica versuchte, durch den Mund zu atmen.

„Alles in Ordnung? Bekommst du zu wenig Luft?“ Besorgt, fast panisch sah Ryan sie an. „Vielleicht sollte ich eine Schwester holen.“

Jessica seufzte und atmete wieder durch die Nase. Das hier war schlimm genug, er musste sie nicht auch noch bemuttern. „Es geht mir gut. Aber ich glaube, ich wäre jetzt lieber allein.“

„Sicher? Wenn du eine Kopfverletzung hast, solltest du jemanden bei dir haben.“

„Ryan, ich habe keine Kopfverletzung. Und gleich muss ich mich vielleicht ausziehen und eins dieser albernen Krankenhaushemden anziehen, da kann ich auf Zuschauer verzichten.“ Auch wenn er sie schon in weniger gesehen hatte. Daran wollte sie im Moment nicht denken.

„Okay. Ich bin im Warteraum, falls du mich brauchst.“

„Du brauchst nicht zu bleiben. Ich kann mich abholen lassen, wenn sie mit mir fertig sind.“

Er kniff die Augen zusammen. „Ich bin im Warteraum.“

„Na gut. Wenn du willst.“ Wenigstens war sie ihn erst einmal los. Und sie wollte ihre Mutter oder ihren Bruder nicht anrufen – denn dann würde sie zugeben müssen, dass sie sich an ihrem ersten Abend als Deputy verletzt hatte. Ihre Mutter würde sich Sorgen machen, und ihr Bruder würde sagen, dass er genau das vorhergesagt hatte. Ryans Fürsorge war leichter zu ertragen.

Als er fort war, lehnte sie sich auf dem einzigen Stuhl in dem durch einen Vorhang abgetrennten Bereich zurück. Wahrscheinlich sollte sie sich hinlegen, aber damit würde sie akzeptieren, dass sie Patientin war. Nein danke. Sie würde hier sitzen bleiben, bis jemand kam.

„Miss?“ Eine hochgewachsene Frau mit grauem Haar erschien. „Ich bin Elsie, eine der Krankenschwestern. Wie fühlen Sie sich?“

Jessica musste lächeln. Elsie klang mitfühlend und konnte nichts dafür, dass sie sich gleich bei ihrem ersten Einsatz blamiert hatte. „Ganz gut. Ich möchte nur so schnell wie möglich von hier weg.“

„Da haben Sie Glück. Abgesehen von dem Mann, der Sie angegriffen hat, haben wir heute Abend nicht viel zu tun.“

„Sie haben davon gehört, was?“

„O ja. Alle reden über die tapfere junge Frau, die ganz allein Pete’s Crab Shack vor einem wütenden Betrunkenen beschützt hat. Sie sind so etwas wie eine Heldin.“

Jessica verzog das Gesicht. Sie hatte gehofft, ihrer Familie das Debakel verheimlichen zu können, aber wenn Elsie recht hatte, würde die ganze Stadt davon erfahren, noch bevor die Sonne aufging. Und sie bezweifelte, dass ihr Bruder oder der Rest der Truppe sie für eine Heldin halten würden. Heldinnen fielen nicht in Ohnmacht und landeten auch nicht in der Notaufnahme.

Die Schwester fragte sie nach ihrem Gesundheitszustand, ihrem Zyklus und Vorerkrankungen. Danach musste sie eine Urinprobe abliefern, die sie bestimmt nach Drogen untersuchen würden. Das taten sie bei Arbeitsunfällen immer, oder?

Nachdem man ihr auch noch Blut abgenommen hatte, tauchte ein Arzt auf. In mittlerem Alter, mit einem Teint, der ein Outdoorhobby vermuten ließ, bat er sie, auf die Liege zu klettern und fand mit geschickten Fingern jede schmerzende Stelle. Er leuchtete ihr in die Augen, klopfte mit einem kleinen Hammer auf ihre Knie, versprach ihr, so bald wie möglich mit Ergebnissen zurückzukehren, und verschwand.

Endlich wieder allein, versuchte sie, sich darauf zu konzentrieren, wie sie ihren lädierten Ruf reparieren konnte. Auf der Akademie hatte sie es geschafft, sich cool, stark und selbstbewusst zu geben, und jetzt war sie das Mädchen, das beim Anblick von Blut ohnmächtig wurde. Das war Unsinn, denn damit hatte sie noch nie Probleme gehabt. Es musste am Stress des ersten Tages im neuen Job liegen. Und daran, dass sie zu wenig gegessen hatte. Aber das interessierte diejenigen nicht, die der Ansicht waren, dass Frauen bei der Polizei nichts zu suchen hatten.

Ein Rascheln holte sie aus den Gedanken, und als sie sich umdrehte, sah sie Ryan den Kopf durch den Vorhang stecken. Seine Augen waren geschlossen.

„Bist du angezogen? Ich weiß, du willst allein sein, aber der Captain hat sich nach dir erkundigt, und die Schwester will mir nichts sagen.“

Sie schaute an sich hinab. Das dünne Krankenhaushemd bedeckte alles, was bedeckenswert war. „Komm herein – und mach die Augen auf. Ich warte auf die Ergebnisse aus dem Labor, und eventuell machen sie noch weitere Untersuchungen. Es könnte eine Weile dauern.“

„Sicher?“

„Ja.“ Das Alleinsein hatte den Reiz verloren. Sie war für jede Ablenkung dankbar.

Als könnte er ihre Gedanken lesen, setzte er sich zu ihr auf die Liege.

Eine Minute später kam der Arzt mit einem Klemmbrett zurück und blieb abrupt stehen, als er Ryan sah. „Sir, dürfte ich Sie bitten, kurz hinauszugehen?“

Ryan wollte aufstehen, aber Jessica legte eine Hand auf seinen Arm. „Er kann gern bleiben.“ Wenn es schlechte Nachrichten gab, wollte sie nicht allein sein. „Er ist mein Partner und muss wissen, was mit mir los ist. Medizinisch gesehen.“ Das klang besser, als einfach zuzugeben, dass sie Angst hatte, oder?

„Wenn Sie meinen.“ Der Arzt schaute auf seine Unterlagen und räusperte sich. „Die gute Nachricht ist, wir glauben nicht, dass Sie innere Blutungen haben.“

„Sie glauben es nicht?“, warf Ryan ein. „Sollten Sie sich nicht sicher sein? Vielleicht sollten Sie ein CT machen.“

Der Arzt zog eine Augenbraue hoch. „Nach den bisherigen Untersuchungen gehen wir davon aus, dass keine innere Blutung vorliegt. Natürlich würde ein CT genauere Ergebnisse liefern, aber ich fürchte, das ist bei einer Schwangerschaft kontraindiziert.“

„Was? Ich bin nicht schwanger.“

Er hielt ihr das Klemmbrett hin und zeigte dorthin, wo das Wort positiv dick unterstrichen war. „Doch, Miss Santiago, das sind Sie.“

Jessica lachte, und selbst in ihren eigenen Ohren hörte sie sich leicht hysterisch an. „Schwanger? Soll das ein Scherz sein? Oder Sie haben die Ergebnisse verwechselt. Oder was auch immer.“ Das letzte Wort klang erstickt, als Panik sie erfasste.

Sein Blick wurde sanft, und er senkte die Stimme. „Leider nicht, es tut mir leid. Ich dachte, Sie wüssten es. Nach Ihrem Hormonspiegel müsste bereits eine Monatsblutung entfallen sein.“

Schwanger? Monatsblutung? Irgendwie ergaben die Worte keinen Sinn. Aber der Arzt schien auf eine Antwort zu warten. Wie auf Autopilot gab sie ihm eine. „Ich habe einen unregelmäßigen Zyklus. Manchmal bleibt die Regel monatelang aus. Das liegt in der Familie.“

„Und Sie verhüten nicht?“

„Das brauchte ich nicht.“ Sie errötete. Sie hatte es durchaus gebraucht, jedenfalls das eine Mal. Aber sie hatten ein Kondom benutzt. Tequila oder nicht, daran erinnerte sie sich genau.

„Aber wir haben uns geschützt“, sagte Ryan. Unter den dunklen Bartstoppeln war er blass geworden.

Der Doktor warf ihm einen belustigten Blick zu und räusperte sich wieder. „Ich verstehe. Aber Sie wissen bestimmt, dass Kondome nicht hundertprozentig sicher sind. Wie alles andere auch.“

Ryan nickte, die Zähne so fest zusammengebissen, dass Jessica fürchtete, er würde einen abbrechen.

„Der Angreifer ist auf meinen Bauch gefallen. Glauben Sie, das Baby …“

„Ihm oder ihr geht es vermutlich gut. Der menschliche Körper ist so konstruiert, dass der Fötus geschützt wird. Aber um sicherzugehen, möchte ich ein Ultraschallbild machen. Dann wissen wir auch, wie weit Sie sind.“

„Achte Woche.“

Verdutzt sah Ryan sie an, und der Arzt hob den Blick vom Klemmbrett. „Entschuldigung, ich dachte, Sie wussten nicht, dass Sie schwanger sind.“

„Tu ich nicht. Ich meine, ich wusste es nicht. Aber die Abschlussfeier ist zwei Monate her, und es gab nur das einzige Mal …“ Sie errötete. Ihr Sexualleben – oder dass sie keins hatte – ging den Doktor nichts an. Und Ryan auch nicht. Abgesehen davon, dass er daran teilgenommen hatte.

„Ich möchte trotzdem eine Ultraschalluntersuchung vornehmen.“

Sie nickte, zu schockiert, um ein Wort herauszubringen.

„Dann hole ich das Gerät.“ Er ging hinaus. Ryan stand an der Wand, wie erstarrt, und wich ihrem Blick aus.

„Ich wusste es nicht.“ Irgendwie war es wichtig, dass er das begriff. Auch wenn es nichts änderte.

„Das habe ich gehört.“

Zorn sprudelte an die Oberfläche, vorbei am Schock und der Panik. „Es ist wahr. Ich habe das hier ganz bestimmt nicht geplant. Und ich habe mich nicht allein in diese Situation gebracht.“

„Das habe ich nicht gemeint. Oder vielleicht doch – verdammt, ich weiß nicht, was ich gemeint habe.“ Er strich sich durchs Haar.

Der Arzt schob ein Ultraschallgerät herein.

„Wenn Sie sich hinlegen, schauen wir mal genauer hin.“

„Richtig. Entschuldigung.“ Vorsichtig legte sie sich hin wieder hin, bedeckte ihren Unterleib mit der dünnen Papierdecke und zog das Hemd hoch.

„Dad, Sie müssen schon näherkommen, wenn Sie auf den Bildschirm sehen wollen.“

Ryan zuckte zusammen und schüttelte den Kopf.

In Jessica zog sich etwas zusammen. Er wollte das Baby nicht sehen, wollte vermutlich mit der Schwangerschaft nichts zu tun haben. Warum sollte er auch? Er kannte sie ja kaum. Toller Sex und die gleiche Uniform reichten nicht aus, um eine Beziehung einzugehen oder gar eine Familie zu gründen.

Das kalte Gel an ihrem Bauch holte sie aus den Gedanken. Sie starrte auf den Monitor, aber nichts von dem, was sie erkannte, erinnerte entfernt an ein Baby. Sie wusste erst seit wenigen Minuten, dass sie schwanger war, und kam sich schon jetzt wie eine schlechte Mutter vor. Verzweifelt kniff sie die Augen zusammen.

Der Arzt lächelte. „Sehen Sie den dunklen Bereich? Das ist die Gebärmutter. Und dieser weiße Fleck, der wie eine Erdnuss aussieht, ist Ihr Baby.“

Ihr Atem stockte. Ihr Baby.

„Und die Bewegung? Was ist das?“ Ryan beugte sich vor.

„Der Herzschlag. Geben Sie mir eine Sekunde, dann können Sie ihn hören.“

Jessica hob den Blick, bis er sich mit Ryans traf, als ein dumpfes Pochen den Raum erfüllte. Durch die unvergossenen Tränen hindurch sah sie ihn schlucken.

„Hundertsiebzig Schläge pro Minute.“

„Ist das gut?“, fragte sie.

„Ja. Alles perfekt.“

„Perfekt.“ Sie wiederholte das Wort des Doktors und wusste, dass er sich täuschte. Natürlich war sie froh, dass den Baby nichts passiert war. Wirklich. Aber die Situation war alles andere als perfekt. Im Gegenteil, ihr Leben war aus den Fugen geraten. Und sie hatte keine Ahnung, was sie dagegen tun sollte.

Mindestens ein Dutzend Emotionen hatten Ryan durchzuckt, seit er das Wort schwanger gehört hatte. Aber jetzt, als er auf den Monitor schaute, erfüllte ihn nur ein einziges Gefühl.

Liebe.

Nicht zu Jessica. Natürlich nicht. Alles wäre einfacher, wenn sie beide ein glückliches, verliebtes Paar wären. So befanden sie sich höchstens in einer Art Lustphase. Aber für das kleine Baby, das in ihr heranwuchs, fühlte er eine so starke Liebe, wie er sie nicht für möglich gehalten hatte. Er hatte versucht, auf Distanz zu bleiben, in jeder Hinsicht, aber als der Arzt auf das winzige Baby gezeigt hatte, hatte er sehen wollen. Sehen müssen. Und seitdem war es um ihn geschehen.

Er wusste besser als die meisten, wie viel Einfluss ein Vater auf ein Kind hatte. Dazu war er noch lange nicht bereit, aber auf keinen Fall würde er sein eigen Fleisch und Blut im Stich lassen.

Und er sah Jessica an, dass sie genau das befürchtete.

Nicht dass sie es sich anmerken lassen würde – sie schreckte vor keiner Herausforderung zurück. Das hatte sie vorhin beim Einsatz bewiesen, aber jetzt wurden ihre Augen feucht und er wusste, dass er für ihre Angst verantwortlich war. Hätte er doch nur die Hände von ihr gelassen …

Aber das hatte er nicht. Und jetzt musste er einen Weg finden, es wiedergutzumachen. Für sie. Und für ihr gemeinsames Kind.

Ryan nahm Jessicas Hand. Ihr Gesicht war fast so weiß wie die Papierdecke, mit der sie sich zugedeckt hatte. Er drückte, um ihr zu signalisieren, dass er zu ihr halten würde. Das war ein Anfang.

Er versuchte, sich nicht von ihrer weichen Haut ablenken zu lassen, während der Arzt von Vitaminen, Stichtagen, regelmäßigem Essen und Flüssigkeitszufuhr sprach. Als der Mann fertig war, gab er ihr eine Überweisung an einen ortsansässigen Gynäkologen und einen Flyer über Geburtsvorbereitungskurse im Krankenhaus und riet ihr eindringlich, sich den Rest des Abends zu schonen.

Dann waren sie allein, in der angespannten Stille, unterbrochen nur von den Geräuschen der Geräte und den leisen Stimmen des Personals, das sich um andere Patienten kümmerte. Wortlos wischte Jessica das Gel ab. Er starrte auf ihren noch flachen Bauch.

„Könntest du …“

„Was?“

„Ich muss mich anziehen. Allein.“

„Klar.“ Er räusperte sich. „Ich warte draußen.“

Er ging auf den grünen und weißen Fliesen auf und ab, während sie sich anzog, und zerbrach sich den Kopf darüber, was er jetzt tun konnte. Aber als sie in einem geliehenen Klinik-Overall erschien, ihre blutigen Sachen in einem Plastikbeutel, war er noch immer zu schockiert, um einen klaren Gedanken zu fassen.

„Alles okay?“, fragte er.

„Okay?“ Ihre Stimme klang brüchig. „Nichts ist okay! Aber keine Sorge, ich werde damit fertig.“

„Was soll das heißen, du wirst damit fertig? Es ist so sehr mein Problem wie deins.“

„Problem? Dafür hältst du es? Was das Baby ist? Ein Problem? Danke, aber nein danke. Ich brauche deine Hilfe nicht.“

Verdammt. Er machte alles nur noch schlimmer. „Ich habe nicht gemeint, dass du ein Problem bist. Oder das Baby. Ich meinte nur, dies ist eine schwierige Situation und ich möchte helfen. Werde meinen Teil übernehmen.“

„Deinen Teil? Was heißt das? Willst du das Baby austragen? Oder dich morgens übergeben? Oder es zur Welt bringen? Willst du deinem Vorgesetzten erklären, warum du nach weniger als einem Jahr im Dienst in den Mutterschutz gehen musst?“

Ihre Augen wurden wieder feucht, und er wünschte, er hätte eine gute Antwort. „Du hast recht. Das kann ich dir nicht abnehmen. Aber ich will helfen. Sag mir einfach, was du brauchst, was ich tun soll.“

„Ehrlich, Ryan, im Moment gibt es nichts, was du tun kannst. Oder doch – geh mir endlich aus dem Weg.“

Jessica war zugleich überrascht und erleichtert gewesen, als Ryan sie widerstandlos aus dem Krankenhaus gehen ließ. Sie fühlte sich sogar etwas schuldig, weil sie so abweisend zu ihm gewesen war. Aber verdammt, sie war müde und hungrig, und ihr tat alles weh. Außerdem war ihr Leben auf den Kopf gestellt worden, und sie war es leid, höflich zu sein.

Sie unterdrückte ein unerwartetes Kichern, als sie in das Taxi stieg. Mit Ryan zu fahren kam nicht infrage. Und ihre Familie anzurufen auch nicht. Was bedeutete, dass sie gerade die bedeutendste Neuigkeit ihres Lebens erfahren hatte und nur einem übergewichtigen Taxifahrer davon erzählen konnte, der nach Zigarettenrauch und billigem Aftershave roch.

„Ich bin schwanger.“

„Häh?“

Sie lachte, und es klang eher hysterisch als belustigt. Immer noch besser, als in Tränen auszubrechen. „Ich bin schwanger. Und ich kenne den Vater kaum. Und vielleicht verliere ich meinen Job.“

„Dann … Glückwunsch. Und das tut mir leid.“

Sie lachte über sein verdutztes Gesicht im Rückspiegel, und ihre Anspannung löste sich, bis sie sich wie ein Ballon ohne Luft fühlte. Bestimmt hielt Mister Rauchschlot sie für verrückt, aber das machte nichts. Ihr Ruf, den sie sich so hart erarbeitet hatte, war ruiniert, was spielte es da noch für eine Rolle, was ein Taxifahrer von ihr hielt?

Minuten später stand sie vor ihrer eigenen Tür, genauer gesagt, vor der ihrer Mutter. Sie würde erst im nächsten Monat in ihre eigene Wohnung ziehen, ein heruntergekommenes Apartment im übelsten Teil der Stadt, aber mehr konnte sie sich von ihrem neuen Gehalt nicht leisten. Sobald sie genug gespart hatte, würde sie etwas Besseres finden, aber jetzt, mit dem Baby konnte sie nicht wissen, wann das sein würde.

Dabei hatte sie viel Geld auf der Bank. Sie hatte es von ihrer Großmutter geerbt, aber es lag in einem Treuhandfond, der erst ausgezahlt wurde, wenn sie ihr erstes Kind zur Welt gebracht hatte. Oder an ihrem dreißigsten Geburtstag, wenn sie vorher so alt wurde. Aber ihre Großmutter war gläubige Katholikin gewesen und hatte bestimmt, dass Jessica das Geld nur bekam, wenn sie bei der Geburt des Babys verheiratet war. Uneheliche Kinder waren keine Option.

Sie war zu müde und zu hungrig, um sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Kostenloses Essen gehörte zu den Vorzügen ihrer aktuellen Wohnsituation. Leider kamen die Gerichte ihrer Mutter immer mit Ratschlägen, die sie nicht brauchte. Jessica war sich nicht sicher, ob ihre Mutter so überfürsorglich war, weil Jessica das einzige Mädchen oder das jüngste Kind war, oder ob es daran lag, dass ihr Bruder Alex eine eigene Familie hatte. Warum auch immer, in den letzten zwei Jahren war es schlimmer geworden.

Und jetzt musste sie ihrer Mutter auch noch erzählen, dass sie an ihrem ersten Tag in Uniform im Krankenhaus gelandet war. Das würde nicht gut ankommen.

Ganz und gar nicht.

Und die Schwangerschaft? Diese Neuigkeit konnte warten. Eine Krise nach der anderen.

So leise wie möglich öffnete sie die Tür.

„Jessica, bist du das?“

Si, Mama.“

„Na, dann komm her, damit ich nicht so schreien muss.“

Widerspruch war zwecklos, also ging sie in die kleine, aber behagliche Küche ihrer Mutter. „So früh habe ich dich nicht erwartet. Oder hast du Pause? Lass mich rasch abwaschen, dann mache ich dir etwas zu essen.“

„Ich bin für heute fertig. Es gab einen kleinen Vorfall …“

Ihre Mutter wirbelte herum. „Einen Vorfall? Dios mio, was ist passiert? Wo sind deine Sachen – deine Uniform? Hast du gekündigt?“

Jessica entging der hoffnungsvolle Unterton nicht, der in der Besorgnis mitschwang.

„Nein, ich habe nicht gekündigt. Ich war an einer Festnahme beteiligt, und ein Mann wurde verletzt. Es gab viel Blut … nein, nicht meins, und ich musste mich umziehen.“

„Aber das sind Sachen aus dem Krankenhaus.“

Jessica seufzte. „Es geht mir gut. Wirklich. Sie haben mich nur vorsichtshalber ins Krankenhaus gebracht.“

„Und mehr ist nicht passiert?“

Der forschende Blick ihrer Mutter glich dem, den sie mit fünf Jahren bekommen hatte, nachdem sie einen Blumenkübel der Nachbarn beschädigt hatte. Er funktionierte besser als jeder Lügendetektor. „Ich bin in Ohnmacht gefallen“, gab sie zu. „Aber nur kurz. Ich glaube, ich ertrage den Anblick von Blut nicht mehr.“

„Seit wann?“

Jessica ignorierte die Frage. „Der Sanitäter meinte, es könnte auch daran liegen, dass ich zu wenig gegessen habe. Ich schätze, ich muss besser darauf achten.“

Ihre Mutter schluckte den Köder. „Das sage ich dir schon lange. Du ernährst dich von nichts als Fast Food und Schokoriegeln, da ist es kein Wunder, dass du Probleme bekommst. Setz dich, und ich mache dir etwas.“

Sie atmete tief durch und nahm am Tisch Platz, dankbar für die Galgenfrist. Irgendwann würde sie ihrer Mutter erzählen müssen, dass sie schwanger war. Aber nicht heute Abend. Für heute hatte sie genug durchgemacht. Alles andere konnte bis zum Morgen warten.

3. KAPITEL

Ryan verbrachte den Rest seiner Schicht am Schreibtisch. Niemand schien den Neuling wieder auf Streife schicken zu wollen, nachdem seine Partnerin im Krankenhaus gelandet war. Außerdem hatte er genug Papierkram zu erledigen, um sich eine Weile zu beschäftigen oder – wie der Sergeant sagte – „uns noch mehr Ärger zu ersparen“.

Seltsam, noch vor ein paar Stunden war seine größte Sorge gewesen, wie er seine Vorgesetzten beeindrucken konnte. Jetzt kam es ihm vor wie aus einem anderen Leben. Jetzt, da er Vater wurde, schwankte er zwischen Panik und Vorfreude. Und Hoffnung.

Familie war alles – daran hatte er immer geglaubt. Auch deshalb war er Polizist geworden. Um das Vermächtnis seines Vaters am Leben zu erhalten. Und jetzt würde es eine neue Generation geben, einen neuen O’Sullivan.

Es sei denn, Jessica wollte, dass das Baby ihren Namen trug.

Das war durchaus möglich. Sie waren nicht verheiratet, nicht mal ein Paar. Verdammt, nach heute Abend würden sie wahrscheinlich nie wieder zusammenkommen. Sie waren Kollegen, die einen One-Night-Stand gehabt hatten.

Aber der Ausdruck gefiel ihm nicht. Sie waren nur ein einziges Mal intim gewesen, aber nicht aus einer Laune heraus. Sie hatte ihn angezogen, seit er sie das erste Mal gesehen hatte. Sie hatte eine magnetische Ausstrahlung, eine Intensität, die sie besonders machte, ganz anders als die flirtenden Frauen, die er vor ihr gekannt hatte. Und jetzt, da sie sein Kind unter dem Herzen trug, war ihre Wirkung auf ihn noch stärker.

Natürlich konnte er nicht wissen, ob es ihr mit ihm auch so ging. Im Gegenteil, dass sie nach ihrer Nacht sofort gegangen war, ohne sich auch nur zu verabschieden, machte ziemlich klar, dass sie seine Gefühle nicht erwiderte. Und die mussten jetzt warten, während sie einen Weg fanden, gemeinsam Eltern zu sein.

Als Erstes musste er Jessica dazu bringen, mit ihm zu reden. Er musste sie davon überzeugen, dass er sich, so überrascht und verängstigt er auch war, auf das Baby freute und an seinem Leben teilhaben wollte. Er überlegte noch, wie er das anstellen sollte, als er im Morgengrauen seine Schicht beendete. Eigentlich sollte er erschöpft sein, aber er war zu aufgedreht, um nach Hause zu fahren und zu schlafen. Also fuhr er nach Osten, wo Land und Meer sich begegneten.

Er parkte an einer der Treppen zum Strand und atmete die saubere Salzluft ein. Sand knirschte unter seinen Füßen, als er durch die Dünen ans Wasser ging. Dort starrte er auf die im Mondschein glitzernden Wellen und suchte nach der Ruhe, die das Meer ihm immer gab. Als sein Vater gestorben war, wenn sein Stiefvater und er sich gestritten hatten, wenn er sich verloren fühlte und sich nicht sicher war, wie er weiterleben wollte – immer fand er am Strand Trost. Aber an diesem Abend schaffte selbst die Ozeanbrise es nicht, den inneren Aufruhr zu besänftigen, der ihn umtrieb.

Wie so oft wünschte er, er könnte mit seinem Vater sprechen, der in vieler Hinsicht ein einfacher Mann, aber auch voller Weisheit gewesen war. Sein Vater hatte kein Blatt vor den Mund genommen, und genau das brauchte Ryan jetzt.

„Dad, ich habe Mist gebaut. Aber ich werde es wiedergutmachen.“

Aber vielleicht war es besser, dass sein Vater nicht hier war und nicht mitbekam, wie schlimm sein Sohn versagt hatte. Schon früh hatte der Mann ihm eingeschärft, Frauen zu respektieren und beim Sex nicht leichtfertig zu sein. Natürlich hatte er ein Kondom benutzt, aber wie der Arzt gesagt hatte, waren die Dinger nicht hundertprozentig sicher. Er wusste nicht mehr, ob er das Verfallsdatum überprüft hatte. Er hatte keine Ahnung, wie alt die Schachtel gewesen war – er hatte sich in dieser Zeit so aufs Studium konzentriert, dass er nie in die Verlegenheit gekommen war, sie aus der Schublade zu holen.

Er hätte nachsehen müssen.

Er hätte Jessica fragen sollen, ob sie verhütete.

Und er hätte nach jener Nacht mit ihr in Verbindung bleiben müssen.

Was wäre passiert, wenn er nicht nach Paradise gekommen wäre? Wenn sein Kumpel nicht nach Miami gegangen wäre? Hätte er überhaupt von der Schwangerschaft erfahren? Hätte Jessica gewusst, wo sie ihn finden konnte? Hätte sie nach ihm gesucht?

Bei der Vorstellung, ein Kind zu haben, von dem er nichts wusste, wurde ihm fast schlecht. So ein Mann hatte er nie sein wollen. Er würde Jessica beweisen, dass er der Mann war, den sein Vater sich als Sohn gewünscht hätte. Der Mann, der er selbst sein wollte. Ein Mann, der sie wert war.

Am Morgen wurde es viel zu früh hell, und Jessica kniff die Augen zusammen, als sie nach dem Schlummerknopf tastete. Noch zehn Minuten, dann würde sie aufstehen. Sie zog die Decke wieder über sich und suchte auf dem klumpigen Schlafsofa nach einer bequemen Position.

Zwei Wochen. In vierzehn Tagen konnte sie ihre neue Wohnung beziehen. Bis dahin schlief sie im Nähzimmer ihrer Mutter. Die Couch war besser als nichts und kostete sie keine Miete, aber die Situation war alles andere als ideal. Für kurze Besuche während des Studium hatte es ausgereicht, aber jetzt lebte und arbeitete sie in Paradise und brauchte ein eigenes Dach über dem Kopf. Und etwas Abstand von ihrer wohlmeinenden, aber allgegenwärtigen Mutter.

Wie aufs Stichwort klopfte es an der Tür. „Jessica, du hast Besuch. Un muy guapo Besucher.“

Jessicas Bauch vollführte einen Salto – nicht wegen der morgendlichen Übelkeit, nur wegen der guten alten Nerven. Der einzige Mensch, der sie so früh besuchen würde, war Ryan. Und ja, er sah gut aus, aber er war auch die letzte Person, die sie jetzt sehen wollte.

Es klopfte wieder. „Jessica, es ist unhöflich, einen Mann warten zu lassen.“

Entzückend. Jetzt wollte ihre Mutter auch noch Amor spielen. Na ja, dazu war es etwas zu spät. Sie und Ryan hatten die Flirtphase übersprungen und waren gleich ins Bett gegangen. Ihre Mutter würde nicht begeistert sein, auch wenn die Aussicht auf ein neues Enkelkind sie wohl etwas besänftigen würde. Und schon immer hatte ihre Mutter sich eine schöne große Hochzeit für sie vorgestellt. Seit Jessicas Bruder Alex eine eigene Familie hatte, war es noch schlimmer geworden.

Jessica freute sich für ihren Bruder, aber eine Ehe kam für sie nicht infrage. Als Nesthäkchen der Familie hatte sie genug davon, dass andere Leute für sie entschieden. Erst auf dem College hatte sie sich wirklich frei gefühlt. Sie war unabhängig geworden, und es gefiel ihr, so zu leben.

Auch wenn sie auf der Couch ihrer Mutter schlief, musste sie die alten Muster endgültig hinter sich lassen.

Stöhnend zog sie Sweatpants und ein altes Footballtrikot an.

Zuerst Kaffee. In den Unterlagen aus dem Krankenhaus stand, dass zwei Becher am Tag in Ordnung waren – und einen davon brauchte sie jetzt dringend.

Dann Ryan.

Dann ihre Mutter.

Und danach würde sie zur Arbeit fahren und sich all den unangenehmen Fragen stellen.

Ryan wartete im Wohnzimmer, auf der geblümten Couch gegenüber dem Lieblingssessel ihrer Mutter, in dem sie wie eine Königin thronte. Eine wahre Matriarchin, die ihre Familie mit gutmütiger, aber fester Hand regierte.

„Da bist du ja, Jessica. Ich habe Ryan gerade zum Frühstück eingeladen.“

„Mom, bestimmt hat Ryan keine Zeit. Wir müssen nur kurz über Papierkram sprechen, nicht wahr, Ryan?“

Ryan warf ihr einen verwirrten Blick zu. „Ja … das stimmt. Papierkram. Ich brauche Jessicas Unterschrift auf ein paar Berichten von gestern Abend.“

Jessica atmete auf. „Ryan, ich hol dir einen Kaffee, und wir treffen uns auf der Veranda.“

„Klingt gut.“ Er stand auf. „War nett, Sie kennenzulernen, Mrs. Santiago.“

Ihre Mutter zog eine Augenbraue hoch. Kein Zweifel, sie ahnte, dass das hier kein normaler Besuch war, und würde ihre Tochter löchern, sobald Ryan fort war.

„Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite. Ich freue mich immer, Jessicas Freunden zu begegnen. Kommen Sie doch ein andermal vorbei und bleiben zum Abendessen. Jessica ist eine fantastische Köchin.“

Jessica verdrehte die Augen. „Ich komme gleich nach.“

Als Ryan auf die Veranda ging, eilte sie zurück in die Küche und belud ein Tablett mit zwei dampfenden Kaffeebechern, Zucker und Sahne.

„Soll ich euch etwas Gebäck nach draußen bringen?“, fragte ihre Mutter, die zweifellos hoffte, etwas von ihrem Gespräch mitzubekommen.

„Nein danke, Mom. Ich esse etwas, wenn ich zurück bin.“

Es war erst Mai, aber auf der Veranda fühlte sie sich wie in einer Sauna. Es hatte kurz geregnet, und die Luft war schwül. Jessica schloss die Haustür hinter sich, stellte das Tablett auf den Tisch und bedeutete Ryan, sich zu bedienen.

„Danke, dass du mitgespielt hast“, begann sie. „Ich habe es meiner Mutter noch nicht erzählt. Bitte denk nicht, dass sie glaubt, du wärst irgendwie für mich verantwortlich. Nur damit du es weißt, ich erwarte nichts von dir. Es war ein Unfall, und ich gebe dir keine Schuld daran. Falls du also hier bist, um dein Gewissen zu erleichtern, lass es. Ich habe alles im Griff.“

Ryan blinzelte, trank einen Schluck Kaffee und stellte den Becher ab. „Das war eine tolle Ansprache. Wie lange hast du daran gefeilt?“

„Es ist keine Ansprache. Es ist die Wahrheit.“ Dass sie stundenlang darüber nachgedacht hatte, brauchte er nicht zu wissen.

„Ich habe auch eine Ansprache für dich“, sagte Ryan, während er aufstand und sich auf ein Knie niederließ. „Jessica Santiago, willst du meine Frau werden?“

Ryan wartete stumm, während Jessica ihn mit offenem Mund anstarrte. Einerseits freute es ihn, sie mal sprachlos zu erleben, andererseits war er gespannt, wie sie antworten würde. Aber vor allem fand er, dass sie noch atemberaubender als sonst aussah.

Es gefiel ihm, wie sie mit zerzaustem Haar und verschlafenen Augen vor ihm saß. Das hatte er nach ihrer gemeinsamen Nacht verpasst, weil sie davongeschlichen war, bevor er aufwachte. Er hatte vor, das alles nachzuholen.

Und das würde Realität werden, wenn sie mit seinem Plan einverstanden war.

Sie musste einverstanden sein, alles andere ergab keinen Sinn. Jedenfalls hatte er das gegen vier Uhr morgens entschieden, nachdem er jede mögliche Alternative durchgegangen war. Jetzt musste er sie nur noch überzeugen.

„Willst du nichts sagen?“

Sie schüttelte den Kopf, plötzlich hellwach und mit großen Augen. „Ist das ein übler Scherz? Ich finde es nämlich nicht lustig.“

„Es ist mein voller Ernst. Wir wissen beide, wie es ist, mit nur einem Elternteil aufzuwachsen. Ich möchte unserem Kind mehr als das geben und glaube, du möchtest es auch.“

„Wir können nicht nur deshalb heiraten, weil wir ein Kind bekommen. Dies sind nicht die Fünfzigerjahre.“

Vielleicht nicht, aber das war nicht sein einziger Grund. Natürlich würde er ihr keinen Antrag machen, wenn sie nicht schwanger wäre. Sie faszinierte ihn seit ihrer ersten Begegnung, weshalb er die Stelle in Miami gern einem Freund überlassen hatte. Spät nachts, wenn er nicht schlafen konnte, dachte er an sie. Aber er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie davon nichts hören wollte. Wenn er behauptete, dass sie seine Gefühle erwiderte, würde sie ihn auffordern, sich nicht lächerlich zu machen.

„Du musst zugeben, dass es Vorteile hätte“, fuhr er fort. „Oder hast du etwa vor, das Baby hier aufzuziehen?“

„Eindeutig nicht“, erwiderte sie entsetzt. „Ich liebe mein Mom, aber wir halten einander nur in kleinen Dosen aus.“ Sie nippte am Kaffee. „Aber das bedeutet nicht, dass ich mit dir zusammenziehen muss. Ich bekomme meine eigene Wohnung – in ein paar Wochen, der Mietvertrag ist schon aufgesetzt.“

„Ich weiß, wie viele Quadratmeter sich eine frisch gebackene Polizistin leisten kann.“

„Du verdienst nicht mehr als ich. Wie kommst du darauf, dass du eine bessere Wohnung hast?“

„Weil ich keine mieten muss. Ich habe etwas Geld aus der Lebensversicherung meines Dads und hab damit ein Cottage auf der anderen Seite der Stadt angezahlt. Es ist alt, aber ich mache es mir nach und nach zurecht und kann den Kredit mit meinem Gehalt tilgen.“

„Du brauchst mich nicht auszuhalten. Ich kann selbst für mich sorgen.“ Jessicas Augen blitzten, und er fand es höllisch sexy. Aber wenn er das zugab, würde sie ihn vermutlich mit einem Fußtritt von der Veranda befördern.

„Hör zu, ich bestreite nicht, dass du es allein schaffst, aber hier geht es nicht nur um dich. Wenn das Baby da ist, kannst du mit deinem Stolz doch kein Laufgitter oder Windeln kaufen. Gib zu, dass du Hilfe brauchen wirst.“

„Kann sein“, gestand sie widerwillig. „Aber es gibt so etwas wie Kindesunterhalt. Wenn du unbedingt helfen willst, schreib einen Scheck.“

„Wenn du nur den annimmst, tue ich das. Aber ich will mehr tun. Ich finde, unser Kind verdient mehr. Ich will dabei sein, wenn du es das erste Mal fühlst. Ich will um Mitternacht losfahren, wenn du plötzlich Heißhunger auf Eiscreme bekommst. Ich will dabei sein, wenn es mitten in der Nacht gefüttert werden muss. Ich will dem Baby ein Vater sein, und um das zu können, will ich dir ein Partner sein.“

„Bitte. Du willst mir doch wohl nicht einreden wollen, dass du mich liebst und wir eine große glückliche Familie sein werden, oder? Wer, wenn nicht du, sollte den Unterschied zwischen Sex und Liebe kennen? Oder machst du allen deinen One-Night-Stands einen Heiratsantrag?“

Er verzog das Gesicht. „Nein, natürlich nicht. Und ich will nicht lügen und behaupten, ich wäre in dich verliebt. Aber mit dir zu schlafen war mehr als Lustbefriedigung. Gib’s zu, Jessica, zwischen uns ist etwas. Etwas, das du nicht bestreiten kannst.“

Jessica ließ sich einen Herzschlag lang Zeit, bevor sie antwortete. Hätte sie länger gewartet, wäre sie versucht gewesen, seinen Vorschlag anzunehmen – und damit endlich an das Geld aus ihrem Treuhandfond zu kommen. „Es tut mir leid, Ryan, aber ich kann dir nicht sagen, was du hören willst. Was immer du für mich zu empfinden glaubst … Es ist nicht real.“ Seltsam, dass die Worte sich auf ihrer Zunge wie eine Lüge anfühlten.

Sie rang sich ein Lächeln ab. „Es ist wirklich süß von dir, dir die Mühe zu machen. Sehr ritterlich. Du hast nicht zufällig irgendwo einen Schimmel versteckt, oder?“

Ryan ließ sich seine Frustration nicht anmerken. „Na gut. Ich hatte gehofft, du würdest uns eine Chance geben. Aber ich will dich zu nichts drängen. Du hast ein Recht auf deine Gefühle.“

Sie seufzte erleichtert. Gefühle würden das hier nur noch komplizierter machen. „Schön. Dann sind wir uns einig, dass wir die Sache rein logistisch angehen.“

„Freut mich, dass du das sagst. Ich habe nämlich einen Plan B.“

„Und wie sieht der aus?“

„Eine Zweckehe.“

Jessica verschluckte sich am Kaffee, musste husten und sprühte ihn überallhin. „Eine was? Gibt es so etwas überhaupt noch?“

„Hör mir einfach zu. Mehr verlange ich nicht.“

Verblüfft nickte sie und wischte sich das Gesicht mit dem T-Shirt ab.

„Die finanziellen Vorteile des Zusammenziehens habe ich schon erwähnt.“

Sie nickte wieder. Ganz vorsichtig.

„Die allgemeinen Lebenshaltungskosten wären niedriger. Wir wissen beide, wie knapp ein Polizistengehalt ist. Ehrlich gesagt, der Kindesunterhalt wäre echt hart für mich, zusätzlich zu meinen eigenen Rechnungen. Aber ich zahle ihn, wenn wir das so beschließen. Ich will mich nicht vor der Verantwortung drücken. Aber das Geld reicht eher, wenn wir unsere Haushalte zusammenlegen.“

Irgendwie hatte sie nicht erwartet, dass ein Heiratsantrag ein Sparkonzept beinhalten würde. Selbst sie war zu romantisch dafür.

Aber er war noch nicht fertig.

„Außerdem ist da die Versicherung.“

„Versicherung?“ Wahrscheinlich sollte sie sich gar nicht erst auf dieses Gespräch einlassen, aber seine Einstellung färbte auf sie ab.

„Krankenversicherung.“

„Die habe ich schon. Die gleiche wie du.“

„Ich weiß. Aber was passiert, wenn es Probleme gibt und du nicht arbeiten kannst? Oder wenn du nach der Geburt zu Hause bleiben willst?“

Sie hob eine Hand. „Ich werde wieder arbeiten.“ Das war nicht verhandelbar.

„Okay. Ich unterstütze dich bei allem, was du vorhast. Aber es besteht immer das Risiko, dass in der Schwangerschaft etwas passiert. Außerdem wäre eine Familienversicherung günstiger, wenn das Baby erst einmal da ist.“

Sie nickte automatisch. Stimmte sie ihm etwa zu? Nach dem Ohnmachtsanfall am Abend zuvor konnte sie nicht bestreiten, dass die Schwangerschaft sie verletzlicher machte. Sie konnte nicht wissen, was für medizinische Komplikationen ihr vielleicht bevorstanden – und das beunruhigte sie. Das Gefühl gefiel ihr nicht. „Ich verstehe, was du meinst. Das heißt nicht, dass ich dir zustimme, aber ich möchte deine Überlegung nachvollziehen. Das hier klingt nicht wie ein Plan B, sondern wie ein Plan A, nur mit anderer Begründung. Ich werde mich nicht bis zum Tod an jemanden binden, nur weil die Versicherung dann weniger kostet.“ Geldmangel war kein Heiratsgrund. „Wie war das noch damit, dass man für ein vorübergehendes Problem keine dauerhafte Lösung wählen sollte?“

Ryan beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. „Hab ich schon mal gehört. Aber was, wenn es keine lebenslange Bindung wäre? Wenn es nur für einen festgelegten Zeitraum wäre?“

„So funktioniert eine Ehe nicht. Ryan.“

„Könnte sie aber. Wenn wir es wollen. Ein Jahr, denke ich. Bis dahin ist das Baby alt genug für den Kindergarten. Du hast die Mutterzeit hinter dir und kannst wieder arbeiten. Und hast Zeit, genug für eine bessere Wohnung zu sparen, in der du mit dem Kind leben kannst, wenn wir beide getrennte Wege gehen. Das ist vernünftig, Jessica. Das weißt du.“

„Ein Jahr?“ Dass sie es überhaupt in Betracht zog, war Beweis genug, dass sie ihren Kopf untersuchen lassen sollte. Aber so absurd sein Vorschlag auch klang, irgendwie ergab er einen Sinn. Die Vorstellung, sich aushalten zu lassen, gefiel ihr nicht, aber das das Geld, das sie an der Miete sparte, würde ihr ein finanzielles Polster verschaffen, selbst wenn er es sich nach ein paar Monaten anders überlegte. Und wenn sie durchhielten, bis das Baby kam, würde sie sich ihr Erbe auszahlen lassen können. In dem Testament stand nichts davon, dass sie verheiratet bleiben musste. Sie musste es nur sein, wenn das Baby geboren wurde …

Und es wäre einfacher, ihrer Mutter von der Schwangerschaft zu erzählen, wenn sie gleichzeitig verkünden konnte, dass sie verlobt war. Vermutlich wäre es auch besser für ihren Ruf. Selbst heutzutage wurden ledige Mütter noch schief angesehen.

Sie fand es nicht gut, Ryan auszunutzen, aber es war schließlich seine Idee gewesen. Er hätte es nicht vorgeschlagen, wenn er nichts davon hätte, oder? Er wollte wirklich ein richtiger Vater sein. Durfte sie es ihm verwehren? Es war auch sein Baby.

Aber da war noch eine Sache, bei der sie nicht kompromissbereit war.

„Wir müssen über Sex reden.“

4. KAPITEL

Ryans Körper reagierte, obwohl sein Verstand ihm sagte, dass ihm vermutlich nicht gefallen würde, worauf Jessica hinauswollte. „Was ist damit?“

„Wir werden keinen haben. Sex, meine ich. Wenn es eine Ehe nur auf dem Papier ist, kann sie nicht körperlich werden. Ich will die Dinge nicht kompliziert machen.“

„Honey, ich würde sagen, die körperliche Seite der Dinge ist der unkomplizierteste Teil unserer Beziehung. Und es ist ja nicht so, dass du noch schwangerer werden kannst.“

„Ich meine es ernst. Wenn ich mitmache, und ich sage nicht, dass ich das tun werde, musst du meine Grenzen respektieren.“

„Was für Grenzen? Abgesehen von keinem Sex.“

„Ich will ein eigenes Konto. Ich will keine gemeinsamen Finanzen.“

„Okay.“ Er nickte, lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Dass sie ihr eigenes Geld wollte, war kein Problem. Außerdem wollte er für das Baby ein eigenes Sparkonto anlegen, fürs College oder was immer er oder sie brauchte.

„Ich treffe meine eigenen Entscheidungen. Nur weil wir irgendwelche Papiere unterschreiben, sagst du mir nicht, was ich tun soll oder wie ich lebe.“

„Natürlich nicht. Ich möchte es dir und dem Baby nur leichter machen. Sonst noch etwas?“

Sie tippte auf den Tisch. „Ich glaube nicht.“

„Dann möchte ich eine Ergänzung vorschlagen.“

„Kein Sex, dabei bleibe ich“, beharrte sie.

Er lächelte. „Wie wäre es mit: kein Sex, es sei denn, du bittest darum? Ich möchte nicht, dass du dich auf etwas festlegst, was du später bereuen könntest.“

Sie verdrehte die Augen. „Ich werde nicht darum bitten.“

„Ich weiß nicht. Ich habe gehört, dass schwangere Frauen oft sehr … wie soll ich sagen … liebesbedürftig werden. Das liegt an den Hormonen.“

Sie zog eine Augenbraue hoch. „Und wo genau hast du das gehört? Klingt nicht nach etwas, das man in der Umkleidekabine im Fitnessstudio aufschnappt.“

„Na ja …“ Er schaute auf den Boden der Veranda. „Es war in einer Realityshow … in einer über reiche Hausfrauen …“ Er rieb sich den Nacken.

Ihr Kichern ließ ihn den Kopf heben. Sie war eine Göttin, wenn sie lachte, und er würde sich gern häufiger blamieren, wenn er sie dafür so sehen konnte.

„Ich glaube nicht, dass das als zuverlässige Quelle gilt.“

„Vielleicht nicht, aber mal abgesehen davon erinnere ich mich, dass du unsere Nacht zusammen genossen hast“, sagte er leise – schließlich waren sie im Freien. „Ich glaube sogar, du hast um mehr gebettelt. Das spricht dafür, dass du es irgendwann vielleicht wiederholen möchtest.“

Sie errötete und wich seinem Blick aus. „Es bringt nichts, die Vergangenheit aufzuwärmen. Aber glaub mir, ich werde um nichts betteln.“

„Wenn du meinst.“ Er leerte den Becher und stellte ihn ab. „Wie sollen wir es angehen? Es öffentlich ankündigen? Mit einem Pfarrer reden?“ Sie hatte erwähnt, dass sie wie er katholisch war.

Sie schüttelte den Kopf. „Kein Pfarrer. Die ganze Sache ist schlimm genug, da will ich nicht auch noch einen Pfarrer anlügen.“ Sie lächelte matt. „Albern, oder?“

„Nein.“

„Je weniger Trubel desto besser.“

Das gefiel ihm. „Wir könnten durchbrennen. Ein Wochenende außerhalb der Stadt verbringen und verheiratet zurückkommen. Das tun Leute jeden Tag.“

Sie nickte nachdenklich. „Gute Idee. Und wenn sich erst herumspricht, dass ich schwanger bin, wird jeder es verstehen. Wir sagen einfach, dass wir an der Akademie zusammen waren und du mir nach Paradise gefolgt bist, weil du in mich verliebt warst. Ich war hingerissen, und wir haben spontan geheiratet.“

Es war nicht die Wahrheit, aber glaubhaft. Und es würde sie unter sein Dach und in sein Leben bringen. Wenigstens für eine Weile. Und wenn er die folgenden zwölf Monate dazu nutzen wollte, sie zu einer dauerhafteren Lösung zu überreden, ging es nur ihn etwas an.

Die Grippewelle endete so schnell, wie sie gekommen war. Die Polizeiwache war wieder voll besetzt, und Jessica und Ryan konnten mit erfahreneren Kollegen auf Streifenfahrt gehen. Das war gut so, denn abgesehen von der Vorschrift, dass ein Paar nicht zusammenarbeiten durfte, erforderte die Chemie zwischen ihnen, dass Jessica auf Abstand blieb. Aber wenn es schon knisterte, sobald sie zufällig an ihm vorbeiging, wie sollte sie es aushalten, mit ihm verheiratet zu sein?

Ihr Herz schlug schneller, wenn sie nur sein Aftershave roch. Ihre Handflächen wurden feucht, wenn er in einem vollen Raum zu ihr herüberschaute. Lag es an der Schwangerschaft? Sie würde die Freundinnen ihrer Mutter fragen müssen, ob sie etwas Ähnliches erlebt hatten.

Nein, das ging nicht, denn sie wollten es erst jemandem erzählen, nachdem sie offiziell verheiratet waren. Ryan kannte den Freund eines Freundes, der nebenberuflich Notar war und sie in seiner Mittagspause an seinem Arbeitsplatz trauen würde. Jetzt stand sie in einem nicht gerade noblen Einkaufszentrum und wartete auf ihren zukünftigen Ehemann. Sie schaute auf ihren geblümten Maxirock und die rote Bluse und wünschte, sie hätte etwas Angemesseneres angezogen. Was albern war, denn es war keine richtige Hochzeit. Aber die Bluse war ihre weiteste und nicht allzu tief ausgeschnitten. Mutter Natur schien sicherstellen zu wollen, dass sie in der Lage sein würde, ihr Baby zu stillen. Und der Rock war ihr einziger mit elastischem Bund.

Wenigstens würden sie keine Fotos machen lassen, also spielte es keine Rolle. Trotzdem zupfte sie nervös an der Bluse, als Ryan eintraf.

Er sah natürlich perfekt aus.

Aber das tat er immer. Sogar wenn er – wie heute – eine Khakihose und darüber ein Button-down-Hemd trug. Als er ihre Hand nahm, bemerkte Jessica mehrere Frauen, die sich nach ihm umdrehten.

Er zog sie zur Glastür.

„Wir wollen es also wirklich tun?“, fragte sie.

„Ja, wollen wir. Es sei denn, du hast einen besseren Plan.“

„Leider nicht“, antwortete sie.

Er blieb stehen, eine Hand an der Tür. „Geht es dir gut? Wenn du das hier nicht tun willst, sag es mir jetzt. Ich will dich zu nichts zwingen. Aber ich dachte, wir wären uns …“

„Sind wir. Und glaub mir, du könntest mich zu nichts zwingen, selbst wenn du es wolltest.“ Sie hatte sich auf diesen lächerlichen Plan eingelassen und würde ihn durchziehen. Sie straffte die Schultern und schob die Tür eigenhändig auf. „Komm schon. Bringen wir es hinter uns.“

Ryan atmete auf. Jessica war tatsächlich gekommen. Er hatte die Wahrscheinlichkeit auf höchstens fünfzig Prozent geschätzt und wusste, dass er verdammtes Glück hatte. Gleich würde Jessica Santiago seine Frau werden. Zugegeben, es war keine konventionelle Ehe, aber ihm blieb ein ganzes Jahr, sie zu einer richtigen zu machen. Heute war nur der erste Schritt.

Er hatte sie noch nie in einem Rock gesehen und fand, dass der feminine Look ihr ebenso gut stand wie die Uniform. Zwei Seiten ihrer facettenreichen Persönlichkeit. Erneut musste er an ihre gemeinsame Nacht denken und spürte, wie sein Körper reagierte. Ihr „kein Sex“ hatte in ihm etwas ausgelöst. Wie immer, wenn man etwas nicht bekam und es gerade deshalb umso mehr wollte.

Falls es Jessica ähnlich ging, so zeigte sie es nicht. Sie trug wieder ihre Maske, die verbarg, was in ihr vorging, als sie sich im Raum umsah. Greg kam um den Tresen herum und streckte die Hand aus.

„Hi, du musst Jessica sein. Glückwunsch.“

Sie brachte ein Lächeln zustande und murmelte etwas, das wie „Danke“ klang.

Ryan legte kurz den Arm um Greg, um ihn von Jessica abzulenken. „Hey Kumpel! Danke, dass du das für uns tust.“

Greg nickte und bedeutete ihnen, ihm über einen kurzen Korridor zu folgen. „Kein Problem.“ Er führte sie in ein kleines Zimmer mit einem runden Tisch, Stühlen, einer uralten Kaffeemaschine und zwei noch älteren Umkleideschränken. „Wir können gleich loslegen. Habt ihr aufgeschrieben, was ihr sagen wollt?“

Jessica warf Ryan einen panischen Blick zu. Nein, daran hatte er auch nicht gedacht.

„Wir sind noch nicht dazu gekommen. Gibt es nicht eine Standardformel, die wir nehmen können?“, fragte er und hoffte es inständig. Noch eine Komplikation, und Jessica wäre aus der Tür, bevor sie „ja, ich will“ sagen konnten.

Greg nickte und nahm ein kleines schwarzes Buch und einen Stempel aus einem Schrank. „Natürlich. Aber manche Leute finden es toll, etwas Individuelles zu sagen. Aber es spricht nichts gegen die traditionelle Art, habe ich recht?“

„Klar.“ Schließlich gab es nichts Traditionelleres, als in einem Einkaufszentrum zu heiraten. Er sah, wie Jessica die Augen verdrehte.

„Und ihr habt die Lizenz?“

„Heute Morgen besorgt.“ Ryan gab sie ihm. Er hatte sie online beantragen können und auf dem Weg hierher abgeholt. Noch eine Überraschung in einer Woche voller Überraschungen.

Greg überflog das Dokument. „Dann brauchen wir nur noch die Ringe.“

Jessica schüttelte den Kopf. „Keine Ringe.“

„Doch.“ Ryan holte eine kleine Tüte aus der Hosentasche. „Nur damit es richtig offiziell aussieht.“

Greg zog eine Braue hoch, fragte aber nicht nach.

Ryan wartete darauf, dass Jessica protestierte, aber sie zuckte nur mit den Schultern, und er atmete auf.

„Okay, dann bringen wir euch mal unter die Haube.“

Ryan nahm Jessicas Hand, drückte sie und machte sich bereit, einen der größten Schritte seines Lebens zu machen. Hoffentlich ging er nicht in die falsche Richtung.

Nur die Absurdität der ganzen Situation hielt Jessica davon ab, eine komplette Panikattacke zu bekommen. Sie heiratete im Pausenraum eines Kreditvermittlers. Wer tat so etwas? Die ganze Sache war absolut lächerlich, und wenn sie nicht aufpasste, würde sie gleich loskichern. Nicht dass das die Prozedur noch würdeloser machen konnte. In der Hinsicht hatten sie schon den Tiefpunkt erreicht.

Aber Lachen war besser als Weinen. Sie hatte sich geschworen, keine Tränen zu vergießen.

„Liebes Brautpaar, wir sind hier versammelt …“, begann Greg zu lesen, und Jessica fühlte ein Kichern in sich aufsteigen. Versammelt? Sie waren zu dritt.

„Brauchen wir Zeugen?“, unterbrach Ryan ihn. „Ich glaube, auf dem Formular sind deren Unterschriften vorgesehen.“

Gregs Augen wurden groß. „O ja! Das habe ich ganz vergessen. Ich habe das hier schon eine Weile nicht mehr gemacht, und meistens sind wenigstens ein paar andere Leute dabei. Nur das Brautpaar hatte ich noch nie.“

Jessica nutze ihre Chance. „Wenn wir keine Zeugen haben, geht es wohl nicht.“ Sie würde sich einen anderen Weg einfallen lassen müssen, um an ihr Erbe zu gelangen. Oder darauf verzichten. Jedenfalls erschien ihr das hier wie ein Wink des Schicksals, die ganze Sache abzublasen.

Greg schüttelte grinsend den Kopf. „Keine Sorge. Ich habe alles im Griff.“ Er ging zur Wand und nahm den Hörer des dort hängenden Telefons ab. „Hey, Darlene. Kannst du kurz in den Pausenraum kommen und Lila mitbringen? Danke.“

So viel zum Wink des Schicksals. Kurz darauf kamen zwei Frauen Anfang zwanzig herein, beide in den gleichen blauen Poloshirts und Khakihosen wie Greg. Eine war groß und mager mit blond gefärbtem Haar und genug Make-up, um die Sixtinische Kapelle auszumalen. Das war Lila, Darlene war eine kleine Brünette mit dem giftigsten Gesichtsausdruck, den Jessica je gesehen hatte. Die sprach als Erste. „Was willst du, Greg? Falls du mal wieder jammern willst, weil jemand schmutziges Geschirr in die Spüle gestellt hat, lass es. Ich war das nicht.“

„Ich auch nicht.“ Lila warf ihr Platinhaar über die Schulter. „Ich mache eine Diät und habe heute nicht mal etwas zu essen mit.“

Jessica fragte sich, warum die Frau eine Diät machte, denn sie hatte kein einziges überflüssiges Gramm Fett am Leib. Aber sie war nicht hier, um jemandes Ernährungsgewohnheiten zu kritisieren. Nein, sie war hier, um zu heiraten.

„Nein, nichts dergleichen“, versicherte Greg. „Ich brauche euch als Trauzeugen.“

Lila kreischte. „Du willst heiraten?“ Erwartungsvoll blickte sie zwischen Ryan und Jessica hin und her.

Jessica schaffte es nur mit Mühe, nicht schon wieder die Augen zu verdrehen.

„Nicht ganz.“ Greg hielt das Formular hoch. „Ihr müsst unterschreiben, wenn wir damit durch sind.“

„Oh.“ Enttäuscht zuckte Lila mit den Schultern. „Okay. Hauptsache, es gilt als Arbeitszeit. Ich brauche jeden Cent.“

„Werden wir bezahlt? Wie Schauspieler oder so?“, warf Darlene ein.

„Nein, ihr werdet nicht bezahlt. Und ja, es gilt als Arbeitszeit.“ Verächtlich schüttelte Greg den Kopf. „Du meine Güte, ihr seid nicht sehr romantisch.“

Das gab Jessica den Rest. Die Trauzeuginnen waren nicht romantisch? Als wäre der Rest keine billige Farce? Sie konnte nicht mehr an sich halten und lachte, bis sie sich krümmte, die Hände auf den Oberschenkeln. Als sie Ryans verdutzte Miene sah, wurde ihr Lachen noch hysterischer, und bald liefen ihr die Tränen aus den Augen. Alle starrten sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Vielleicht hatte sie das. Nicht dass ihr wichtig war, was die Leute von ihr hielten – sie würde sie nie wiedersehen. Na ja, außer demjenigen, den sie gleich heiraten würde. Außer Atem richtete sie sich wieder auf.

„Bist du jetzt fertig?“ Ryans ernster Tonfall hätte fast einen neuen Lachanfall ausgelöst.

„Entschuldige. Aber diese ganze Sache ist einfach nur …“ Sie suchte nach dem richtigen Wort, fand es nicht und zuckte mit den Schultern.

„Unkonventionell?“, schlug er vor.

„Eigenartig.“

„Sehr eigenartig“, bestätigte er lächelnd.

„Allerdings.“

„Aber wir machen es trotzdem, oder?“, fragte er so verunsichert, dass sie gerührt war. Er hatte Angst, dass sie gehen würde, und das gab ihr ein etwas besseres Gefühl. Noch ein Widerspruch in dem Chaos, zu dem ihr Leben geworden war. Aber hey, wenigstens war sie nicht allein.

Natürlich konnte sie allein mit allem fertigwerden. Kein Zweifel. Aber vielleicht musste sie es nicht.

Autor

Katie Meyer
<p>Katie Meyer kommt aus Florida und glaubt felsenfest an Happy Ends. Sie hat Englisch und Religion studiert und einen Abschluss in Veterinärmedizin gemacht. Ihre Karriere als Veterinärtechnikerin und Hundetrainerin hat sie zugunsten ihrer Kinder und des Homeschoolings aufgegeben. Sie genießt ihre Tage gerne mit der Familie, ihren vielen Haustieren, Downton...
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