Bianca Gold Band 78

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

GOLDENER GLANZ DER HOFFNUNG von CHARLOTTE DOUGLAS
Jennifer kehrt zurück in ihre Heimat – und zu ihrer Jugendliebe Luke? Nie hat sie aufgehört, ihn zu lieben. Aber warum hat er nie auf ihre Briefe geantwortet? Was Jennifer auch tut, Luke verschließt sein Herz vor ihr. Bis ein Schneesturm sie beide einschließt …

EIN HAPPY END FÜR UNSERE LIEBE von BRENDA HARLEN
Schmuckdesignerin Penny McCord ist glücklich verliebt in den erfolgreichen Unternehmer Jason Foley. Sie kann es kaum erwarten, ihm zu verraten, dass sie sein Kind unter dem Herzen trägt. Doch ein Anruf ihrer Schwester verändert alles. Hat Jason sie etwa nur benutzt?

FÜR IMMER ALLEIN, SCHWESTER JULIA? von CAROLINE ANDERSON
Nach einer schrecklichen Enttäuschung will die hübsche Krankenschwester Julia für immer allein bleiben. Doch das macht ihr der erfolgreiche Chirurg David Armstrong schwer. Denn er umwirbt sie und ist immer für sie da. Soll Julia es wirklich wagen und an ein neues Glück mit David glauben?


  • Erscheinungstag 18.11.2023
  • Bandnummer 78
  • ISBN / Artikelnummer 8092230078
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Charlotte Douglas, Brenda Harlen, Caroline Anderson

BIANCA GOLD BAND 78

PROLOG

„Alles?“ Jennifer Faulkner bekam weiche Knie. Sie umklammerte den Telefonhörer, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten. Ungläubig ließ sie sich auf den nächstbesten Stuhl sinken.

„Die Cottonwood Farm“, sagte der Anwalt mit näselnder Stimme, „und das Geld, das Ihr Großvater kürzlich in der Lotterie gewonnen hat. Er hat alles Ihnen hinterlassen.“

„Ich verstehe.“

Aber Jennifer verstand ganz und gar nicht. Nach dem Tod ihrer Großmutter vor zehn Jahren hatte Grandpa sie fortgeschickt, und seitdem hatte er sich nicht mehr bei ihr gemeldet. Warum hatte er ausgerechnet sie zur Alleinerbin bestimmt?

„Sie werden einen ganzen Batzen Erbschaftssteuern zahlen müssen“, fuhr der Anwalt fort, „trotzdem bleibt mehr als eine Million Dollar für Sie übrig.“

„Eine Million Dollar“, flüsterte Jennifer, während ihr Verstand versuchte, mit diesem Schock fertig zu werden.

Sie wollte das Geld nicht. Sie wollte Grandma Dolly und Grandpa Henry zurück. Sie sehnte sich nach der warmen, gemütlichen Küche der Cottonwood Farm außerhalb von Jester im Südosten Montanas. Als Kind hatte sie stets die Ferien dort verbracht, während ihre Eltern rund um den Globus gejettet waren. Doch selbst eine Million Dollar würde ihr die Großeltern nicht zurückbringen.

„Miss Faulkner? Sind Sie noch dran?“

„Verzeihung. Was haben Sie gesagt?“

„Es wäre gut, wenn Sie herkommen und sich um die Farm kümmern. Außerdem müssten Sie ein paar Papiere unterschreiben. Mein Büro ist in Pine Run, südwestlich von Jester. Kennen Sie den Ort?“

„Ja, zumindest kannte ich ihn vor zehn Jahren.“

„Seitdem hat sich nichts verändert.“ Der Anwalt lachte. „Meine Kanzlei befindet sich direkt gegenüber vom Gericht.“

„Wie war noch mal Ihr Name?“

„Durham. Hank Durham.“

Unwillkürlich musste sie lächeln. In Montana hatten selbst die Anwälte Namen wie Rodeoreiter. Montana. Ihr Zuhause.

Sie verdrängte die nostalgischen Erinnerungen, die in ihr aufstiegen. „Ich weiß noch nicht, wann ich kommen kann. Ich melde mich bei Ihnen.“

Jennifer beendete das Gespräch und lehnte sich zurück. Der Tag hatte eine ganz und gar unerwartete Wendung genommen. Als sie heute Morgen aufgewacht war, hatte ein eisiger Wind den Schnee durch die Straßen Chicagos getrieben. Augenblicklich war ihr klar geworden, dass sie keinen weiteren Tag als Verwaltungsassistentin von Brad Harrison bei Lake Investment Consultants überstehen würde. Sie hatte sich heute krankgemeldet, um ihre Kündigung zu schreiben.

Hank Durhams Anruf hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Sie war bereit, Chicago hinter sich zu lassen. Sie schaute sich in dem winzigen möblierten Apartment um. Der Umzug würde ein Kinderspiel werden. Ihr gehörte nichts in dieser Wohnung außer einem Übertopf mit duftenden Narzissen, einem gerahmten Foto ihrer Großeltern an deren vierzigsten Hochzeitstag und dem durchscheinenden Moosachat, den Luke McNeil ihr im Sommer vor zehn Jahren geschenkt hatte.

Luke McNeil.

Er hatte ihr das Herz gebrochen. Ob sie schlief oder wach war: Noch immer sah sie sein Bild vor sich, auch wenn sie ihn seit zehn Jahren weder gesehen noch seine Stimme gehört hatte. Aber wie sollte sie einen Mann vergessen, den sie seit dreiundzwanzig Jahren liebte? Damals war sie fünf Jahre alt gewesen, und er hatte ihr das Leben gerettet.

Sie schloss die Augen und sah die Prärie vor sich, die zwischen der Farm der Faulkners und der McNeils lag. Fast spürte sie wieder die Wärme auf der Haut. Der Sommerwind hatte das dicke Moskitogras gekräuselt und die Köpfe der gelben und rosa Wildblumen nicken lassen. Der Duft von Sonnenhut hatte die Luft erfüllt.

„Wer zuerst beim Bach ist!“, hatte Lukes jüngere Schwester Vickie McNeil gerufen. „Der Verlierer füttert die Schweine!“

Jennifer liebte die kleinen Ferkel der McNeils, aber sie hasste die großen Sauen. Wann immer sie sich ihr näherten, zitterte sie vor Furcht. Vickies Herausforderung verlieh ihr Flügel, und in ihren Turnschuhen jagte sie über den Pfad aus festgestampfter Erde, der zum Bach und dem schmalen Steg führte. Die Sonne brannte ihr ins Gesicht. Als Vickie sie einzuholen drohte, rannte sie schneller. Mit viel Schwung erreichte sie die einfache Holzbrücke, doch die Bohlen waren vom Sprühnebel des Flusses glitschig. Sie wollte bremsen. Bevor sie zum Stehen kam, stürzte sie schon kopfüber in den schnell dahinfließenden, von der Schneeschmelze angeschwollenen Bach.

Sie konnte nicht schwimmen, und selbst wenn sie es gekonnt hätte, wäre sie niemals gegen die reißende Strömung angekommen. Ehe das eiskalte Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug, hörte sie nur noch Vickies panischen Schrei.

Wie durch ein Wunder wurde sie von starken Händen gepackt und an die Oberfläche gezogen.

„Bisschen kalt zum Schwimmen, Kleines!“, meinte der zehnjährige Luke scherzhaft. Der Schrecken stand ihm allerdings ins Gesicht geschrieben, als er Jennifer zu sich und seiner Angelrute ans Ufer zog.

„Ich bin ausgerutscht“, gab sie zurück und biss sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten. Sie bewunderte Luke McNeil und wollte sich auf keinen Fall noch weiter vor ihm blamieren. Mit den guten Absichten war es jedoch im nächsten Moment vorbei: Sie spuckte das Wasser aus, das sie geschluckt hatte, und begann in den nassen Kleidern zu zittern.

„Deine Knie bluten ja!“ Luke fischte ein Tuch aus seiner Angelausrüstung, tauchte es in den Bach und tupfte ihr anschließend die Beine ab. Vorsichtig versorgte er sie, kümmerte sich um sie wie um ein neugeborenes Fohlen oder ein krankes Kälbchen. „Du musst dich an einem Stein gestoßen haben.“

Lukes Gesicht entspannte sich langsam zu einem Lächeln, und Jennifers Kinderherz schlug Purzelbäume. Das kohlschwarze, dichte und glatte Haar, die hohen Wangenknochen und die dunkle Haut waren das Erbe seiner indianischen Vorfahren in der ansonsten rein schottischen Familie. Der einzige Hinweis auf seine keltische Abstammung waren die Augen, die blau waren wie ein See in den Highlands. Ohne diese Augen – und ohne Jeans, Stiefel und T-Shirt – hätte man ihn leicht für einen jungen Krieger vom Stamm der Sioux oder Crow halten können. Jennifer wusste, dass er wie der Wind rennen und reiten konnte, als sei er im Sattel zur Welt gekommen. Für einen Jungen seines Alters war er außerdem ungewöhnlich kräftig, denn sonst hätte er sie kaum aus den tosenden Fluten ziehen können.

Im Schatten der Weiden und Pappeln säuberte er behutsam ihre Wunden, dann riss er zwei Streifen von seinem Hemd ab und verband damit ihr Knie. Später hatte seine Mutter ihm eine Standpauke gehalten, weil er sein neues Hemd ruiniert hatte.

Jennifer hatte die Stofffetzen heimlich ausgewaschen und in ihrer Schatzkiste aufbewahrt, bis sie die Cottonwood Farm für immer verlassen hatte. Das war im selben Jahr geschehen, in dem Luke sie gebeten hatte, ihn zu heiraten.

Seit jenem Morgen vor dreiundzwanzig Jahren liebte sie Luke McNeil. Und so sehr sie es versuchte: Sie schaffte es nicht, ihn aus ihrem Herzen oder ihren Gedanken zu verbannen. Luke war vermutlich auch der Grund, warum es mit Brad Harrison nicht klappte. Oder mit den anderen Männern, mit denen sie vor Brad zusammen gewesen war. Wer konnte schon gegen so einen mächtigen Konkurrenten bestehen?

Unvermittelt klingelte das Telefon, und Brad meldete sich: „Ich brauche dich hier. Auf der Stelle, Jen.“

„Ruf die Aushilfe an. Ich komme nicht.“

„Den ganzen Tag nicht?“

„Nie mehr“, sagte sie mit ungeheurer Befriedigung. „Morgen hast du meine Kündigung.“

Ehe er protestieren konnte, legte sie ohne schlechtes Gewissen auf. Seit dem katastrophalen Trip nach Paris vor einigen Wochen sah sie Brad Harrison in einem ganz neuen Licht. Er hatte ihr einen romantischen Urlaub versprochen, nur sie beide in der Stadt der Liebe. Allerdings hatte er wohl vergessen zu erwähnen, dass sie von morgens bis abends an Meetings mit französischen Bankern und Brokern teilnehmen würden und dass sie genug Arbeit für fünf Sekretärinnen erledigen sollte. Doch Brad hatte erwartet, dass Jennifer alles allein bewältigen würde.

Sehr romantische Ferien.

Es war noch schlimmer gekommen. Als sie wieder in Chicago gewesen war, hatte sie eine Nachricht von Finn Hollis erhalten, dem Freund ihres Großvaters. Während sie sich in Paris hatte ausbeuten lassen, war ihr Großvater gestorben, und sie hatte die Beerdigung verpasst.

Schuldgefühle hatten sie gequält. Schon vor Monaten hätte sie sich bei ihrem Großvater melden sollen, nachdem in den Zeitungen und im Fernsehen ausführlich über die „Main Street Millionäre“ aus Jester berichtet worden war. Grandpa Henrys Tippgemeinschaft hatte bei der Montana-Lotterie den Jackpot geknackt, und die zwölf glücklichen Gewinner hatten sich vierzig Millionen Dollar teilen dürfen. Der Anteil ihres Großvaters hatte nach Abzug der Steuern bei etwas über einer Million gelegen.

„Genial“, hatte Brad gesagt, als er den Namen ihres Großvaters in der Zeitung gelesen hatte. Er wusste, dass sie in Jester gelebt hatte. „Wir sollten den alten Knaben besuchen. Ich könnte ihm Tipps geben, wie er seinen Gewinn gut anlegen kann.“

„Ich kann ihn jetzt nicht anrufen.“

„Warum nicht?“

Zwar sehnte sie sich von ganzem Herzen nach Grandpa Henry und der Cottonwood Farm. Doch sie war unter äußerst unerfreulichen Umständen von dort fortgegangen. Vorher war es ihr unwahrscheinlich erschienen, dass sie nach zehnjähriger Unterbrechung die Beziehung je wieder aufnehmen könnte – nach der Nachricht war es ihr nun geradezu unmöglich vorgekommen. „Nach all diesen Jahren wird er denken, ich sei nur hinter seinem Geld her.“

„Du kannst ihn davon überzeugen, dass es nicht so ist“, hatte Brad argumentiert, aber Jennifer war sich dessen nicht so sicher gewesen.

Eigentlich hatte sie nie verstanden, warum ihr Großvater sie gebeten hatte, die Farm zu verlassen. Er hatte nur gesagt, dass er ihren Anblick nicht länger ertragen würde. Kein besonders verheißungsvolles Zeichen, um die Beziehung wiederaufleben zu lassen.

Ein paarmal hatte Jennifer ihrem Großvater geschrieben und ihn angerufen. Ihre Briefe waren ungeöffnet zurückgekommen, ihre Anrufe nie erwidert worden. Aus Angst vor weiteren Zurückweisungen hatte sie schließlich aufgegeben. Und nun war es zu spät. Für immer.

Erfüllt von Trauer und Heimweh, sah Jennifer jetzt in den Schneesturm vor ihrem Fenster hinaus.

Hank Durham lieferte ihr den perfekten Vorwand, um nach Jester zu fahren. Aber ihr Großvater war tot und Luke McNeil nur noch eine Erinnerung. Warum also sollte sie zurückkehren?

1. KAPITEL

Eine Woche später

Sheriff Luke McNeil fuhr sich durch das dichte schwarze Haar und blickte finster in das Weiß, das draußen vor dem Fenster seines Büros herumwirbelte. Für den Monat März war es reichlich winterlich, und es sah aus, als würde das noch eine Weile so bleiben. Wie sollte Luke den eingestürzten Pavillon im Stadtpark richtig untersuchen, wenn die Ruinen unter einer zentimeterdicken Schneedecke verborgen waren?

Er wusste nicht, ob er es mit einem Unfall, einem unglücklichen Zufall oder gar einem Mordversuch zu tun hatte. Der Gedanke machte ihn kribbelig. Seine Aufgabe war es, die Menschen von Jester zu beschützen, und das konnte er nicht, wenn er die Fakten nicht kannte.

Gott sei Dank war niemand ums Leben gekommen. Aber warum war der Pavillon überhaupt zusammengebrochen? Luke lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. Wenn das verdammte Schneetreiben nur aufhören würde, dann könnte er die Überreste untersuchen, anstatt im Büro herumzuhängen und wilde Spekulationen anzustellen.

Genauso gut konnte er sich dem Papierkram widmen. Der Stapel auf seinem Tisch war bedrohlich hoch und konnte jeden Moment in einer Lawine niedergehen, wenn er ihm nicht auf der Stelle zu Leibe rückte.

Gerade griff er nach der obersten Akte, als die Bürotür aufflog und gegen die Wand knallte. Derselbe eisige Windstoß, der die Tür aufgedrückt hatte, wehte Wyla Thomsen in sein Büro.

Luke kam mit den meisten Leuten gut aus, aber Wyla Thomsen machte ihn jedes Mal nervös. Vielleicht lag das an ihrem Talent, ihre Nase ständig in die Angelegenheiten anderer zu stecken. Oder daran, dass sie so schamlos mit ihm flirtete, obwohl sie mehr als zehn Jahre älter war als er und zwei Scheidungen hinter sich hatte.

Sie packte die Tür und versuchte sie zuzudrücken. Selbst eingemummt wie ein Eskimo wirkte die große Frau spindeldürr. Als er ihr helfen wollte, konnte sie die Tür trotz der heftigen Windes endlich schließen. Sie drehte sich zu Luke um. Ein paar kurze rote Haare lugten unter ihrer Kapuze hervor. Sie verzog das Gesicht, als hätte sie etwas Schlechtes gegessen oder gerochen.

„Du musst schnell kommen, Sheriff“, erklärte sie atemlos.

„Gibt es ein Problem?“ Trotz seiner Abneigung sprang Luke sofort auf die Beine und griff nach seiner Jacke.

„Amanda Bradley und Will Devlin.“

Luke entspannte sich und sank wieder auf den Stuhl. Seit mindestens zwei Jahren stritten sich Amanda und Dev um das Gebäude, das ihnen beiden gehörte. Dev betrieb in seiner Hälfte den Heartbreaker Saloon, Amanda den Ex-Libris-Buchladen in ihrer. Die beiden waren wie Öl und Wasser, und die Geschäfte passten genauso wenig zusammen wie ihre Eigentümer. Dev war fest entschlossen, Amanda ihre Hälfte mit seinem Lottogewinn abzukaufen. Allerdings weigerte Amanda sich ebenso beharrlich, zu verkaufen.

„Es ist schlimmer als je zuvor.“ Wyla klopfte sich den Schnee vom Parka. „Es geht um Leben und Tod!“

„Jetzt übertreib mal nicht. Es wird vielleicht mal etwas lauter, aber ich habe noch nie erlebt, dass Dev oder Amanda sich geprügelt hätten.“

„Vorhin standen sie kurz davor. Außerdem frieren sie sich noch zu Tode, wenn du nicht dazwischengehst.“

Ungläubig schüttelte Luke den Kopf. „Sie sind draußen? Bei diesem Wetter?“

„In Hemden!“

Luke unterdrückte einen Fluch, zog Jacke und Handschuhe an und griff nach seiner Mütze. In seinem Job musste er die Leute beinahe öfter vor ihrer eigenen Dummheit bewahren als vor kriminellen Elementen.

Ihm voraus trippelte Wyla aus der Tür hinaus auf die Main Street. Luke kämpfte sich durch das Schneegestöber, überquerte den Big Drawn Drive und ging am Friseurgeschäft vorbei auf den Saloon zu. Der Wind wehte Wyla förmlich vor ihm her.

Die Menschen in Jester hatten einen gesunden Respekt vor der Kälte. Diejenigen, die ihn nicht hatten, überlebten hier nicht. Dev und Amanda mussten sich ganz schön in Rage geredet haben, um diese Eiseskälte zu ignorieren. Luke konnte ihre Silhouetten vor sich kaum erkennen, und der Wind riss ihre Stimmen mit sich fort.

Er begann zu laufen. Diese Dummköpfe mussten ins Warme, ehe sie sich eine Unterkühlung oder gar Frostbeulen holten!

Gerade als er den Eingang zum Buchladen erreichte, trat eine Kundin aus dem Geschäft. Sie hatte den Kopf tief gegen den Wind gebeugt und die Arme voller Bücher. Luke versuchte auszuweichen, trat jedoch in dem Moment auf Eis. Es kam ihm vor, als würde er in Zeitlupe über das Eis schlittern, obwohl es vermutlich nur den Bruchteil einer Sekunde dauerte.

Der Zusammenstoß brachte sie beide aus dem Gleichgewicht, und die Bücher flogen im hohen Bogen durch die Luft. Angefeuert vom Adrenalin reagierte Luke im Nu. Wenn es sich um eine ältere Frau handelte, könnte sie sich bei einem Sturz die Hüfte brechen. Also schlang er die Arme um sie, zog sie an seine Brust und fing ihren Sturz ab, indem er sich auf den Rücken warf.

Der Aufprall war so heftig, dass ihm die Luft wegblieb. Doch vorher nahm er noch den Duft von Rosen wahr – ein vertrauter Duft, der ihn mit wehmütigen Erinnerungen und Sehnsucht erfüllte.

Wie betäubt lag er auf dem eiskalten Gehweg. Die Frau befand sich auf ihm. Trotz der dicken Kleidung schienen ihre Körper auf sehr intime Weise miteinander zu verschmelzen. Ihr Gesicht ruhte an seinem Hals, sodass er ihren warmen Atem auf der Haut spürte. Obwohl der Wind heulte, vernahm er ihr helles Lachen und Wylas Kreischen.

Gerade als Luke sich gefasst hatte und die Frau fragen wollte, ob sie verletzt sein, regte sie sich. Sie hob den Kopf, der nur wenige Zentimeter von seinem entfernt war. Erneut verschlug es ihm den Atem.

Jennifer Faulkner!

Dunkelblonde Haarsträhnen lugten unter der Strickmütze hervor und umrahmten das engelgleiche Gesicht. Ihr Lachen spiegelte sich in den aquamarinblauen Augen, die ihn schon immer an eine tropische Lagune erinnert hatten. Ihre Mundwinkel zuckten, ihre Lippen luden zum Kuss ein, und ihre entzückenden Grübchen strahlten ihn an. Von der Kälte hatte sie rosige Wangen bekommen, und die Spitze ihrer kleinen, aber perfekt geformten Nase war ganz rot. Von den unwiderstehlichen Sommersprossen war deshalb kaum etwas zu erkennen.

Als sie ihn endlich erkannte, erstarb ihr Lachen. „Luke.“

Hastig kam sie auf die Füße. Beinahe wäre sie wieder hingefallen, wenn er sich nicht ebenfalls aufgerichtet und sie festgehalten hätte.

„He, nicht so schnell“, sagte er. Verärgert stellte er fest, dass er ein plötzliches Verlangen verspürte, das er zehn Jahre lang vergraben hatte. „Hast du dir wehgetan?“

Sie entzog sich seinem Griff, und er hätte schwören können, dass die arktischen Temperaturen um weitere zwanzig Grad gesunken waren.

„Nein“, erwiderte sie knapp. Sie wich seinem Blick aus und begann, ihre Bücher einzusammeln.

Offensichtlich hatten Dev und Amanda Waffenstillstand geschlossen, um ihr dabei zu helfen. Als Dev eines der Bücher aus einer Schneewehe fischte, riss Amanda es ihm jedoch aus der Hand. Sie wischte den Schnee mit ihrer Strickjacke ab und steckte es in eine Plastiktüte mit dem unverkennbaren Ex-Libris-Logo.

Eilig stopfte Jennifer zwei weitere Bücher in die Tüte. Vorher konnte Luke noch einen Blick auf die Titel werfen. So bekommen Sie mehr für Ihr Haus, Leben in Arizona und Langfristig investieren.

Er wollte sie beruhigen, doch Amanda Bradleys Zittern und der blaue Schimmer auf ihren Lippen erinnerten ihn daran, warum er überhaupt hier war. „Amanda“, meinte er, „sieh zu, dass du ins Warme kommst, ehe du hier draußen erfrierst.“

„Erfrieren?“, schnaubte Dev. „Diese Frau ist so hitzköpfig, die könnte glatt die ganze Stadt versengen.“

Luke drehte sich zu dem Barbesitzer um und warf ihm einen Blick zu, der schon härtere Burschen zur Räson gebracht hatte. „Wut schützt nur scheinbar vor Kälte, und ihr beide seid erstklassige Kandidaten für Frostbeulen und eine Unterkühlung. Ich schlage vor, dass ihr in eure Läden verschwindet, ehe ich euch wegen Störung der öffentlichen Ordnung festnehme.“

Der Wirt öffnete den Mund, als wollte er protestieren. Nach einem weiteren drohenden Blick von Luke überlegte er es sich aber anders. Er drehte sich abrupt um, was ein mutiges Unterfangen auf dem vereisten Gehweg war, und stapfte zurück in den Heartbreaker Saloon.

Mit einem abfälligen Naserümpfen machte auch Amanda auf dem Absatz kehrt. Sie verschwand mit Wyla Thomsen im Schlepptau im Buchladen.

Luke drehte sich zu Jennifer um und blinzelte überrascht. Sie war verschwunden.

Einen Moment lang empfand er einen starken Impuls zu fliehen. Genauso hatte er sich in den letzten Jahren hundertmal gefühlt, wenn er aus einem Traum von Jennifer erwacht war. Sein Rücken schmerzte an der Stelle, an der er auf den Gehweg gestürzt war. Dieser Schmerz überzeugte ihn, dass die Begegnung mit der Frau, die er vor langer Zeit geliebt hatte, kein Traum gewesen war. Sie war aus Fleisch und Blut und benutzte immer noch denselben Rosenduft wie mit achtzehn.

Doch das frische natürliche Mädchen von damals war in den letzten zehn Jahren zu einer kühlen eleganten Schönheit herangereift. Einen kurzen Moment lang hatte er sie im Arm gehalten, und jetzt spürte er den erneuten Verlust umso stärker.

Verärgert mahnte er sich selbst zur Vernunft. Er war dreiunddreißig Jahre alt, und die alte Schwärmerei aus seiner Jugendzeit sollte längst vergessen sein. Warum überraschte es ihn so, dass Jennifer verschwunden war? Wenn sie auch nur einen Hauch von Anstand hatte, müsste ihr das Treffen mit ihm peinlich sein. Schließlich war sie vor zehn Jahren ohne Abschiedsgruß und ohne ein Wort der Erklärung einfach gegangen.

Obwohl seine Schwester und Jennifer noch Geburtstags- und Weihnachtsgrüße austauschten, wusste er so gut wie nichts über die Frau, die ihn einmal heiraten wollte.

Damals war sie plötzlich weg gewesen, genau wie heute.

Vermutlich war Jennifer zu seiner Schwester gegangen. Auch gut. Er musste sie nicht sehen. Dabei würden nur all die alten Emotionen wieder hochkommen – er sollte nicht auch noch Salz in die Wunden streuen. Am besten vergaß er, dass er sie überhaupt gesehen hatte. Sollte sie sich ruhig das Geld ihres Großvaters unter den Nagel reißen, die Farm verkaufen und sich wieder aus dem Staub machen! Hauptsache, sie störte nicht sein friedliches Leben, das er sich ohne sie aufgebaut hatte.

Wem versuche ich etwas vorzumachen?

Angestrengt redete er sich ein, dass die bittere Kälte der Grund für den Schmerz in seinem Inneren war. Gleichzeitig spürte er, dass es derselbe Schmerz war wie in jenem heißen Sommer. Was zum Teufel hatte sie in Jester zu suchen? Hätte sich Henrys Anwalt nicht um den Verkauf der Farm kümmern und ihr den verdammten Scheck per Post schicken können?

Er stampfte mit den Füßen auf, um die Blutzirkulation in Gang zu bringen. Nachdem er die Main Street überquert hatte, kämpfte er sich durch das Schneegestöber zum Eingang des Café-Restaurants Brimming Cup. Ein heißer Kaffee und ein Teller von Dans fantastischem Chili würden ihn wieder aufwärmen.

Als Luke die Tür aufstieß, hörte er das vertraute Klingeln der Glocke. Die warme Luft umhüllte ihn, und eine erneute Woge nostalgischer Erinnerungen überrollte ihn.

Seit Shelly Duprees Eltern das Diner in den Fünfzigerjahren eröffnet hatten, hatte sich bis auf die Top Ten der Country- und Westernsongs in der Jukebox nichts verändert. Alles sah genauso aus wie damals, als er Jennifer freitags nach der Kinovorstellung zum Heidelbeerkuchen eingeladen hatte.

Wie die Straße war auch das Diner bis auf den Koch verwaist. Dan Bertram hatte die Arme auf den grauen Tresen gestützt und blätterte in einer Ausgabe der Pine Run News.

Luke setzte sich auf einen der verchromten Barhocker am Tresen und zuckte leicht zusammen, weil sein Rücken immer noch wehtat. Dan faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite.

„Nicht viel los bei diesem Sturm, wie?“, begrüßte Dan ihn lächelnd. „Was kann ich dir bringen?“

„Kaffee und einen Teller Chili.“

„Kommt sofort.“

Während Dan sich an die Arbeit machte, blätterte Luke in der Zeitung. Dabei wanderten seine Gedanken wieder zum mysteriösen Einsturz des Pavillons. Er konzentrierte sich auf dieses Problem. Im Moment war er froh um alles, das ihn von Jennifer Faulkner ablenkte.

Dan kehrte mit einem großen Becher voll dampfendem Kaffee und einem Teller Chili zurück. Das Essen war mit gehackten Zwiebeln und geriebenem Käse garniert, genau wie Luke es gern mochte.

Automatisch nahm Luke den Teller und trug ihn zu seinem Stammplatz: Vom letzten Tisch am großen Fenster konnte er die ganze Straße überblicken. Während er noch immer über den Pavillon grübelte, stellte er das Geschirr auf den Tisch und wollte sich auf die blau gepolsterte Bank setzen. Mitten in der Bewegung stellte er fest, dass die andere Bank des Tisches bereits besetzt war.

„Hallo Luke. Verfolgst du mich?“

Jennifer!

Halb über der Bank schwebend, erwog Luke die Möglichkeiten, die er hatte. Er könnte wie ein Feigling zu einem anderen Tisch gehen. Oder er könnte seinen Stammplatz verteidigen und Jennifer beweisen, dass er sich nichts mehr aus ihr machte.

Und wie soll das funktionieren? Indem ich das Atmen einstelle?

Seufzend ließ er sich schließlich nieder. „Ich dachte, du wärst bei Vickie.“

„Da will ich gleich hin. Ich warte nur, bis der Sturm etwas nachlässt.“

„Das kann eine Weile dauern. Hast du den Wetterbericht nicht gehört?“

Ihre Wangen, die an Porzellan erinnerten, röteten sich. Sie schüttelte den Kopf. „Es ist zu lange her. Ich habe vergessen, wie wichtig das Wetter hier draußen ist.“

„Sieht aus, als hättest du eine Menge vergessen.“ Die Worte waren ihm unabsichtlich herausgerutscht, und er verfluchte sich im Stillen. Nachher glaubte sie womöglich, es würde ihm noch etwas ausmachen!

Sie mied seinen Blick und sah sich im Raum um. „Meinen … unseren Lieblingsplatz habe ich nicht vergessen.“ Nickend deutete sie auf seinen Teller. „Oder wie gut Dans Chili schmeckt. Oder dass sein Kaffee so stark ist, dass der Löffel darin stehen bleibt.“

Jennifer hatte Mütze, Handschuhe und Jacke abgelegt. Luke musste sie einfach bewundernd ansehen. Früher hatte sie das von der Sonne aufgehellte blonde Haar meist zum Pferdeschwanz gebunden. Heute trug sie einen etwas dunkler getönten städtischen Haarschnitt, der ihre hohen Wangenknochen betonte und die überwältigenden blauen Augen gut zur Geltung brachte.

Luke spürte, wie sein alter Groll bei ihrem Anblick langsam verblasste. Rasch rief er sein Herz zur Ordnung. „Zu schade, dass du es nicht vorher nach Jester geschafft hast, als dein Großvater noch gelebt hat. Es muss ihm das Herz gebrochen haben.“

Der rosige Schimmer auf ihren Wangen färbte sich tiefrot. „Du ahnst gar nicht, wie gerne ich ihn wiedergesehen hätte.“

„Und warum bist du dann nicht gekommen?“

Sie senkte den Blick und betrachtete die schlanken Finger, mit denen sie den Kaffeebecher vor sich umklammerte. „Ich konnte es mir nicht leisten“, flüsterte sie.

Sie sagte nicht die Wahrheit. Als Sheriff roch Luke so etwas zehn Meilen gegen den Wind. Mit dieser Kleidung und der Frisur lebte sie offenbar nicht gerade in ärmlichen Verhältnissen.

„Busfahrkarten sind billig“, gab er unverblümt zurück. „Und Finn Hollis hat gemeint, du wärst in Europa gewesen, als Henry gestorben ist.“

„Das war eine Geschäftsreise. Die hat die Firma bezahlt, für die ich gearbeitet habe.“

„Wie praktisch.“ Er konnte sich einen weiteren Seitenhieb nicht verkneifen. „Da hast du auch gleichzeitig das Fahrgeld für die Beerdigung gespart.“

„Ich habe es nicht gewusst.“ Der Kummer in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Sonst wäre ich gekommen, selbst aus Europa.“ Sie klang überzeugend.

Doch in dem Moment fiel es ihm wieder ein. „Klar. Die meisten Leute würden um den halben Globus fliegen, wenn eine Million für sie dabei herausspringt.“

Wut blitzte in ihren Augen auf. Es sah aus wie ein Wirbelsturm auf einem tropisch blauen See. „So war es nicht. Du verstehst gar nichts.“

Auch er konnte seinen Zorn kaum zurückhalten. „Verdammt richtig, dass ich nichts verstehe. Eine Menge Leute in Jester begreifen es nicht. Willst du es mir nicht erklären?“

Trotzig hob sie das Kinn und hielt seinem Blick stand. „Ich wollte Grandpa besuchen. Ich war gerade dabei, all meinen Mut zusammenzukratzen, als die Geschichte mit dem Lottogewinn in der Zeitung stand.“ Sie verzog das Gesicht. „Wenn ich zurückgekehrt wäre, hätte doch jeder – auch Grandpa Henry – geglaubt, dass ich es nur wegen des Geldes getan hätte. Ich habe einfach nicht gewusst, was ich tun sollte. Finns Nachricht habe ich erst gefunden, als ich aus Europa zurückkam.“ Der wütende Ausdruck in ihrem Blick war verschwunden und hatte stller Trauer Platz gemacht. „Es war zu spät, um Grandpa noch einmal zu sehen oder auch nur zu seiner Beerdigung zu kommen.“

Längst vergessen geglaubte Empfindungen brachten Lukes normalerweise sehr zuverlässigen inneren Lügendetektor durcheinander. Er hatte keine Ahnung, ob sie die Wahrheit sagte oder nicht, aber er traute ihr nicht. Sie hatte ihn schon einmal beschwindelt, und das würde ihm kein weiteres Mal passieren.

„Zu spät für die Beerdigung, aber nicht zu spät für das Geld“, entgegnete er bitter.

„Ich würde liebend gern darauf verzichten, wenn ich Grandpa dadurch wieder lebendig machen könnte.“ Eine einsame Träne lief ihr über die Wange.

Luke widerstand dem Drang, die Hand auszustrecken und sie mit dem Daumen fortzuwischen. Jennifer wirkte zwar vollkommen aufrichtig, doch die Fakten sprachen gegen sie.

Vor zehn Jahren war sie aus Henrys und seinem Leben verschwunden, ohne einen Grund dafür zu nennen. Sie hatte sich nicht einmal von ihm verabschiedet. Falls sie Henry irgendetwas erklärt hatte, dann hatte dieser es für sich behalten und mit ins Grab genommen. In all den Jahren hatte sie weder mit Luke noch mit ihrem Großvater Kontakt aufgenommen.

Es war und blieb ungeklärt. Und wenn Luke etwas nicht ausstehen konnte, dann war es ein Rätsel, das er nicht lösen konnte.

Ehe er sie weiter ausfragen konnte, war Jennifer aufgestanden und schlüpfte in ihren Mantel. Ihre langen schlanken Beine lenkten ihn einen Moment ab, und er vergaß alles andere. Sie war gut einen Meter siebzig groß, sodass sie bis an sein Kinn reichte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er sie in den Armen gehalten und das Kinn auf ihren Haarschopf gelegt hatte. Fast spürte er, wie sie seine Taille umschlungen und ihr Gesicht an seinen Brustkorb gepresst hatte …

„Tut mir leid, dass ich nicht deinen Erwartungen entspreche.“ Sie hatte die Mütze aufgesetzt, die Handschuhe angezogen und hielt die Tüte mit den Büchern fest. „Auf Wiedersehen, Luke.“

Er öffnete den Mund, um sie zum Bleiben zu bewegen – um mehr von ihr zu erfahren und nicht etwa, weil er ihre Gesellschaft genoss. Doch sie hatte bereits das Restaurant verlassen und trat dem Schneegestöber und dem wütenden Wind entgegen.

Er nahm einen großen Schluck vom inzwischen lauwarmen Kaffee. Auch gut. Sie würde die Farm verkaufen, sich das Geld schnappen und verschwinden. Mit etwas Glück würde er Jennifer Faulkner nie wieder zu Gesicht bekommen.

Unwillkürlich dachte er daran, wie es vor zehn Jahren gewesen war. Zusammen mit der achtzehnjährigen Jennifer hatte er an genau diesem Tisch gesessen. Die Musikbox in der Ecke hatte vor sich hin gedudelt. Allerdings hatte Jenny nicht auf der anderen Bank, sondern neben ihm gesessen. Sie hatte sich an ihn gekuschelt, während sie über ihre gemeinsame Zukunft in Jester gesprochen hatten.

Am nächsten Tag war Jennifers Großmutter gestorben. Jenny war außer sich vor Trauer gewesen – bei der Beerdigung und an den Tagen davor hatte sie kaum mehr als drei Sätze mit ihm gewechselt. Als er am Tag darauf zur Farm ihres Großvaters kam, empfing Henry ihn an der Tür.

„Wie geht es Jenny?“, fragte Luke, nachdem er dem alten Mann erneut sein Beileid ausgesprochen hatte.

„Sie ist weg. Ich habe sie heute Morgen zum Bus gebracht. Inzwischen ist sie wohl in Billings und nimmt den Flieger nach Connecticut.“

„Sie ist zu ihren Eltern gefahren?“, fragte Luke und fühlte sich erleichtert.

Henry nickte, doch sein Blick spiegelte seine Verzweiflung. Die Kleidung war zerknittert, das graue Haar zerzaust.

„Und wann kommt sie zurück?“

„Nie mehr.“

Luke fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Verwechselte Henry seine Enkelin mit Dolly? Hatte der Verlust seiner Frau den alten Mann um den Verstand gebracht? Er erklärte: „Ich meine, wann wird sie aus Connecticut wiederkommen?“

Henry starrte ihn an. „Ich sag es dir noch einmal, Junge, und dann lass mich damit in Ruhe: Jennifer wird nie mehr nach Jester zurückkehren. Sie ist für immer gegangen.“

„Aber warum?“

Ein gequälter Ausdruck machte sich auf Henrys Gesicht breit. „Sie hat mir keine Erklärung gegeben. Nur gesagt, dass sie niemals zurückkommt.“

„Und was ist mit mir? Hat sie dir irgendeine Nachricht für mich gegeben?“

„Tut mir leid, Junge. Sie hat dich überhaupt nicht erwähnt. Und jetzt lass mich in Frieden!“

Damit hatte Henry ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Sosehr Luke sich abgemüht hatte, er hatte keine Gründe für Jennifers überstürzte Abreise gefunden. Sie hatte sich nicht bei ihm gemeldet, nicht angerufen, keinen Brief geschrieben.

Nichts.

Er hatte versucht, sie zu Hause bei ihren Eltern zu erreichen. Die waren jedoch irgendwo in Europa und unerreichbar gewesen, und Jennifer war offensichtlich nicht dort gewesen. Er hatte versucht, ihre Telefonnummer herauszubekommen. Die einzige Jennifer Faulkner, die er gefunden hatte, war siebenundachtzig Jahre alt gewesen und stocktaub.

Wochenlang hatte er verzweifelt getrauert, bis schließlich seine Wut überhandgenommen und ihn gerettet hatte.

Jennifer Faulkner hatte nichts an ihm gelegen oder daran, ihn zu heiraten, obwohl sie das Gegenteil behauptet hatte. Sie hatte ihn zum Narren gehalten.

Luke lenkte seine Gedanken wieder auf die Gegenwart und schob den Teller mit dem Chili beiseite, das er nicht angerührt hatte. Der Appetit war ihm vergangen. Vor zehn Jahren war Jenny ohne ein Wort verschwunden. Jetzt war sie wieder in der Stadt und offensichtlich immer noch nicht bereit, irgendetwas zu erklären.

Oder zu bleiben.

2. KAPITEL

Der eiskalte Wind brannte auf Jennifers Wangen, doch sie kämpfte sich den Big Draw Drive entlang durch das Schneegestöber.

Sie hätte niemals nach Jester zurückkehren dürfen.

Luke hatte recht. Die Leute verstanden nicht, warum sie ihren Großvater nie besucht hatte, und sie konnte es ihnen nicht erklären. Ohne ihren Großvater, der ihre Geschichte bestätigte, würde ihr niemand glauben. Sie konnte es selbst nach zehn Jahren kaum glauben.

Doch sie wollte die Farm und die Stadt ein letztes Mal sehen. Wollte Blumen auf das Grab ihrer Großeltern legen, Vickie besuchen und ihren Mann Nathan und die Kinder kennenlernen. Jennifer hatte gehofft, dass ein zufälliges Zusammentreffen mit Luke das Band zwischen ihnen zerreißen würde, das irgendwie die vergangenen zehn Jahre überdauert hatte.

Doch das war nicht geschehen.

Als sie ihm vor dem Buchladen buchstäblich in die Arme gefallen war, hätte sie ihn am liebsten umarmt und festgehalten. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft hatte sie wirklich das Gefühl gehabt, zu Hause zu sein.

Luke hatte sich kaum verändert. Er war höchstens noch attraktiver geworden. Allerdings spürte sie eine Reserviertheit und Traurigkeit bei ihm, die ihr neu war. Vielleicht hatte ihm eine der vielen Frauen, mit denen er laut Vickies Briefen ausgegangen war, das Herz gebrochen. Geschieht ihm ganz recht, nachdem er mich so verletzt hat! Trotzdem konnte sie den Gedanken nur schwer ertragen, dass Luke litt.

Sosehr sie es auch versuchte: Es gelang ihr nicht, an ihrer Empörung festzuhalten. Bestürzt stellte sie fest, wie stark ihre Gefühle für Luke waren. Ihr wäre sehr viel wohler gewesen, wenn er eine andere Frau geheiratet hätte und mit ihr glücklich geworden wäre. Das wäre besser, als ihn so traurig und einsam zu sehen.

Sie erreichte das Haus der Perkins und stapfte über die Auffahrt. Trotz der tiefen Schneedecke schien der Wind sie fast bis zur Tür zu schieben. Vickie musste auf sie gewartet haben: Als Jennifer die Terrasse erreichte, wurde die Eingangstür aufgerissen. Rasch zog ihre alte Freundin sie ins Haus. Die Wärme und Vickies Umarmung verscheuchten die Kälte und einen Teil des Kummers, den sie nach dem Treffen mit Luke empfand.

Wenigstens ein Mensch in der Stadt freute sich, sie zu sehen.

Vickie ließ sie los und trat zurück. „Zieh deine Jacke aus und lass dich ansehen.“

Jennifer nahm die Mütze ab und fuhr sich durchs Haar, ehe Vickie sie ins behagliche Wohnzimmer mitnahm. Die Wände waren cremefarben gestrichen und die Möbel gelb-blau gepolstert. Auf den Fensterbänken standen Grünpflanzen, und trotz des Sturmes draußen schien das ganze Zimmer von Sonnenschein erfüllt zu sein.

„Ich hätte es wissen müssen“, erklärte Vickie augenzwinkernd und mit einem theatralischen Stirnrunzeln. „Du hast kein Gramm zugenommen.“

„Und du bist noch genauso hübsch“, erwiderte Jennifer aufrichtig.

Vickies Augen waren vom selben Mitternachtsblau wie die ihres Bruders, und das lange, dichte Haar wurde von einem Seidentuch zurückgehalten. Vickie war etwas kleiner als sie und versuchte ihren „Babyspeck“ loszuwerden, seit Jennifer denken konnte. Dabei standen ihr die paar Pfund mehr ausgesprochen gut.

„Man sollte meinen, das die Kinder einen genug auf Trab halten …“, gab Vickie zurück und klopfte sich erklärend auf die Hüften, „… aber nichts da.“

Jennifer sah sich um. „Wo sind sie eigentlich?“ Der einzige Hinweis auf Kinder war ein Weidenkorb voller Spielzeug neben dem Kamin.

„Sie schlafen. Mit ein bisschen Glück haben wir Zeit für einen Kaffee und können alle Neuigkeiten austauschen, bevor sie aufwachen. Komm, lass uns rübergehen.“

Jennifer folgte Vickie in die Küche. Hier waren die Wände sonnengelb gestrichen, die Arbeitsplatten waren blau, und die Ahornschränke glänzten. „Das Haus ist fantastisch. Du hast echt ein Händchen für so etwas.“

Vickie warf ihr einen erfreuten Blick zu. „Gefällt es dir? Es hat Spaß gemacht, das alles einzurichten. Allerdings kann ich jetzt wieder von vorn anfangen.“ Sie schenkte zwei Becher Kaffee ein, dirigierte Jennifer zur Essecke und nahm ihr gegenüber Platz.

„Warum?“ Jennifer schaute sich um. „Es ist doch perfekt.“

„Das schon, aber es ist zu klein. Mit drei Kindern wird es hier langsam zu eng. Mit einem Teil seines Lottogewinns baut Nathan uns ein neues Haus.“

„Klasse. Herzlichen Glückwunsch übrigens. Ich habe euch beide in den Nachrichten gesehen, zusammen mit den anderen Main-Street-Millionären. Ich freue mich für euch.“

„Es ist toll“, gab Vickie zu. „Ich genieße es, Sachen für die Kinder, das neue Haus und für mich zu kaufen.“ Sie berührte das Tuch, mit dem sie das Haar zurückgebunden hatte. Dann wurde ihre Miene ernst. „Das mit deinem Großvater tut mir leid.“

Jennifer nickte. Plötzlich war ihre Kehle wie zugeschnürt, und sie brachte kein Wort heraus.

„Schade, dass du ihn vor seinem Tod nicht mehr gesehen hast.“ In Vickies Blick schwang die Frage mit, die auch Luke ihr schon gestellt hatte. Anders als ihr Bruder verurteilte sie sie jedoch nicht.

Unfähig, eine Erklärung abzugeben, wechselte Jennifer das Thema. „Und wo wollt ihr bauen?“

„Näher bei Nathans Klinik und der Schule. In der Lottery Lane.“

Beinahe hätte Jennifer ihren Kaffee wieder ausgespuckt. „Lottery Lane?“

„Peinlich, was?“ Vickie schnitt eine Grimasse. „Diese haarsträubende Idee stammt von unserem Bürgermeister Bobby Larson. Er will sogar die ganze Stadt in ‚Millionaire‘ umbenennen.“

„Das ist nicht dein Ernst!“

„Doch, leider. Außerdem versucht er, die Ratsversammlung zu überreden, ein großes Hotel im Stadtpark zu bauen.“

„Ein Hotel? Wofür?“

„Vor ein paar Wochen haben die Reporter uns regelrecht überschwemmt. Da ist Bobby auf die großartige Idee gekommen, Jester in eine Art Touristenattraktion zu verwandeln.“

„Womit will er denn Touristen anlocken? Versteh mich nicht falsch, ich liebe diese Stadt. Aber wenn sich die Dinge nicht grundlegend geändert haben, dann ist ein Besuch in Jester ungefähr so spannend, wie Farbe beim Trocknen zuzusehen.“

„Bis auf den Lottogewinn hat sich nichts geändert. Doch der hat gereicht, damit Bobby die Straßen umbenennt und sich aufspielt. Er nennt sich jetzt Robert.“

Jennifer lachte auf. „Was für ein Ehrentitel!“

In der Küche zu sitzen und wie in alten Zeiten mit Vickie zu schwatzen milderte den Schmerz, den die Begegnung mit Luke in ihr wachgerufen hatte. Wenn sie ihm für die Dauer ihres Aufenthalts aus dem Weg ging, würde ihr Besuch in Jester vielleicht kein totaler Reinfall werden.

„Hast du Luke gesehen?“, fragte Vickie.

Jennifer riss sich zusammen. Sie wollte nicht zeigen, wie quälend das Zusammentreffen für sie gewesen war. „Ich bin buchstäblich in ihn hineingerannt.“

„Wie das?“

„Er wollte einen Streit zwischen Will Devlin und Amanda Bradley schlichten.“ Jennifer ergriff die Gelegenheit, um erneut das Thema zu wechseln. „Was für ein Problem haben die beiden eigentlich miteinander?“

Vickie schnalzte mit der Zunge. „Vor acht Jahren hat Dev den Heartbreaker Saloon gekauft, und der Laden läuft ziemlich gut. Amanda hat vor zwei Jahren die andere Gebäudehälfte geerbt und darin einen Buchladen eröffnet.“

„Mit einer erstaunlich guten Auswahl. Das hätte ich in Jester nicht erwartet.“

Vickie nahm einen Schluck Kaffee. „Nicht zu vergessen den Tee und den Kuchen, den man dort bekommt. Die Kinder und ich lieben diesen Laden, aber für Farmer und Cowboys ist es nicht ganz das Richtige. Devs Saloon dagegen läuft so prächtig, dass er ihn vergrößern möchte. Er will Amanda mit dem Geld aus der Lotterie auszahlen, aber sie kommt ihm keinen Millimeter entgegen. Stattdessen beschwert sie sich darüber, dass das Gesindel aus der Kneipe ihre Kundschaft vergraulen würde.“

Jennifer begriff. „Als ich im Laden gewesen bin, hatte Amanda gerade eine Mozart-CD eingelegt. Bei dem Krach aus dem Saloon konnte ich allerdings kaum etwas davon hören. Also ist sie aus dem Laden gestürmt, ohne sich etwas überzuziehen. Kurz darauf hörte ich, wie Amanda und Dev sich gestritten und dabei sogar die Musikbox übertönt haben.“

In der warmen Küche bei einer Freundin wie Vickie spürte Jennifer, wie die Spannung langsam von ihr abfiel. Sie war dem Thema Luke erfolgreich ausgewichen und genoss den neuesten Tratsch aus der Stadt. Fast fühlte sie sich so, als sei sie nie fort gewesen.

Vickie beugte sich vor und musterte sie eindringlich. „Und du … hast also mit Luke gesprochen.“

Innerlich krümmte Jennifer sich zusammen. Sie hätte wissen müssen, dass ihre Freundin sich nicht so leicht zufriedengeben würde. „Nur kurz. Er schien nicht besonders erfreut, mich zu sehen.“

Vickie legte ihre Hand auf Jennifers. „Was ist damals zwischen euch vorgefallen? Vor zehn Jahren hätte ich Stein und Bein geschworen, dass ihr für immer zusammenbleibt.“

Jennifer holte tief Luft, um die Tränen zurückzudrängen, die ihr in die Augen traten. „Das musst du Luke fragen.“

„Er spricht nie von dir.“

„Wahrscheinlich hat er genug mit den anderen Frauen zu tun, die du in deinen Briefen erwähnt hast.“ Jennifer lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Es tat weh, über Luke zu reden, und es tat weh, an ihn zu denken. Und nach so vielen Jahren war sie wieder in seiner Nähe – sie fürchtete, dass es jetzt noch schlimmer werden würde.

„Er geht oft mit anderen Frauen aus“, räumte Vickie ein, „aber keine von ihnen hat ihn je glücklich gemacht. Nicht so wie du.“

Wenn ich ihn so glücklich gemacht habe, warum hat er sich dann nie bei mir gemeldet?

„Das ist lange her“, erklärte Jennifer so gelassen wie möglich. „Die Menschen verändern sich.“

„Luke ganz bestimmt.“

„Inwiefern?“ Die Frage war Jennifer herausgerutscht, obwohl sie doch eigentlich über etwas anderes reden wollte.

Vickie zuckte die Achseln. „Er ist härter geworden, ernster. Irgendetwas …“, meinte Vickie und musterte sie eindringlich, „… oder irgendjemand hat ihn sehr verletzt.“

Jennifer hob die Hände und bemühte sich, nicht verbittert zu klingen. „Sieh mich nicht so an! Ich bin gar nicht hier gewesen. Eine seiner unzähligen Verehrerinnen muss es getan haben.“

„Möglich“, sagte Vickie nachdenklich. „Nur wenn er mit den Kindern spielt, ist er ganz der Alte. Du weißt, dass er sich immer einen Haufen Kinder gewünscht hat.“

Jennifers Herz zog sich vor Schmerz zusammen. Sie und Luke hatten darüber gesprochen, wie gern sie Kinder hätten, wie viele sie wollten und wie sie heißen sollten.

Ein verschlafenes Gesicht lugte um die Ecke und bewahrte sie vor weiteren quälenden Erinnerungen.

„Wo wir gerade von Kindern reden …“, bemerkte Jennifer.

Vickie drehte sich zur Tür. „Hallo Schatz! Komm her und sag Jennifer guten Tag.“

„Hallo“, sagte Jennifer leise, „du musst Caitlyn sein!“

Das Mädchen rannte mit seinem abgewetzten Teddybären im Arm auf die Mutter zu und vergrub sein Gesicht in ihrem Schoß. Dann drehte die Kleine den Kopf und starrte Jennifer mit einem ihrer großen braunen Augen an.

„Caitlyn ist ein bisschen schüchtern“, erklärte Vickie.

„Braune Augen, blonde Haare“, stellte Jennifer fest. „Das Aussehen hat sie von Nathan.“

„Wie die anderen beiden auch.“

„Du musst sehr glücklich sein.“

Ein seltsamer Ausdruck huschte über Vickies Gesicht. „Das bin ich auch. So sehr, dass es mir fast Angst macht.“

„Wie meinst du das?“

„Ich habe Nathan, drei wundervolle Kinder, und jetzt haben wir auch noch in der Lotterie gewonnen. Ich habe Angst, das Schicksal damit zu stark herauszufordern.“

„Unsinn“, widersprach Jennifer. „Ich glaube, dass guten Menschen eben viel Gutes widerfährt.“

Vickie lachte. „Dann wartet etwas ganz Außergewöhnliches auf dich, Jenny. Ich habe dich nämlich immer für einen der besten Menschen gehalten. Ich bin so froh, dass du wieder in Jester bist!“

„Aber nicht für lange.“

Das Lächeln auf Vickies Gesicht erlosch. „Bleibst du nicht hier?“

„Das habe ich nie vorgehabt. Ich bin hier, um mich mit Grandpas Anwalt Hank Durham zu treffen. Dann werde ich einen Makler damit beauftragen, die Farm zu verkaufen, und schon bin ich wieder weg.“

Interessiert hob Vickie eine Augenbraue und legte den Kopf schräg. „Du hast also in Chicago jemanden, der auf dich wartet?“

Angewidert dachte Jennifer an Brad Harrison. „Ich gehe nicht zurück nach Chicago.“

Vickie nahm Caitlyn, der beinahe die Augen zufielen, auf den Arm und betrachtete ihre Freundin über das zarte Köpfchen hinweg. „Du willst wieder umziehen? Als wir Kinder waren, hast du immer gesagt, dass du in Jester Wurzeln schlagen willst.“

„Es war toll hier, früher, aber …“, antwortete Jennifer und hob die Schultern, „… nachdem meine Großeltern beide tot sind …“

Vickie seufzte. „Und wo geht’s diesmal hin?“

„Irgendwohin, wo es warm ist. Arizona vielleicht. Oder Florida.“

„Bist du nicht noch etwas zu jung, um dich zur Ruhe zu setzen? Obwohl, nachdem du Henrys Gewinnanteil geerbt hast, kannst du es dir vermutlich leisten.“

Jennifer suchte nach Worten, um zu erklären, warum sie trotzdem so unruhig und unzufrieden war. Doch es gelang ihr nicht, sosehr sie sich ihrer Freundin auch anvertrauen wollte. Sie war auf der Suche nach etwas, aber sie wusste nicht, wonach.

Oder wollte sie Vickie und auch sich selbst nicht eingestehen, dass sie sich nach der Liebe sehnte, die sie einst mit Luke erlebt hatte? Insgeheim fürchtete sie, dass diese Erfahrung einzigartig war. Vermutlich würde sie nicht das Glück haben, dass ihr so etwas noch einmal passierte.

Zumindest wird mich dann niemand noch einmal so sehr verletzen.

Müdigkeit übermannte sie, und sie unterdrückte ein Gähnen.

„Du siehst erschöpft aus“, stellte Vickie fest. „Hast du nicht genug geschlafen?“

„Ich bin die ganze Nacht durchgefahren, weil ich vor dem Sturm ankommen wollte. Und bevor mein Wagen endgültig seinen Geist aufgibt.“

„Warum gehst du nicht in die Pension und legst dich hin? Um sieben kommst du zum Abendessen zurück. Dann ist Nathan hier, und du kannst Ricky und Shannon kennenlernen.“

Jennifer zögerte. Allerdings erschien es ihr nicht sehr verlockend, den Abend allein in dem gemütlichen Zimmer in Gwen Tanners Pension zu verbringen. „Ich komme gerne!“

Ein paar Minuten später kämpfte sie sich mit gesenktem Kopf durch die schneebedeckte Hauptstraße zur Pension. Hatte sie tatsächlich beim Abschied ein gewisses Funkeln in Vickies Augen bemerkt? War es nur eine Lichtreflektion gewesen? Oder heckte ihre Freundin wieder einmal irgendeinen Unsinn aus?

Es muss das Licht gewesen sein, entschied Jennifer im Stillen. Immerhin war Vickie längst erwachsen und Mutter von drei kleinen Kindern. Jennifer konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihr einen dummen Streich spielen würde.

Luke betrat sein Büro und gähnte. Wegen des eingestürzten Pavillons war er die ganze Nacht auf den Beinen gewesen. Seine Lider fühlten sich an wie aus Sandpapier, und vom Schlafmangel war sein Kopf wie benebelt. Die Akten auf seinem Schreibtisch schienen ihn trotzdem tadelnd anzublicken. Sehnsüchtig dachte er an die schmale Pritsche in der Zelle nebenan. Doch ihn würden nur die Erinnerungen an Jennifer Faulkner quälen, wenn er sich jetzt hinlegte. Wie schön sie geworden ist!

Nachdem er die Kaffeemaschine befüllt und eingeschaltet hatte, machte er sich resigniert an die Büroarbeit. Er griff nach der Akte, die er liegen gelassen hatte, als Wyla in sein Büro geplatzt war. Doch er konnte sich nicht auf den Bericht über einen betrunkenen und randalierenden Gast im Heartbreaker Saloon konzentrieren.

Immer wieder fiel sein Blick auf den Wandkalender neben ihm.

Vor zehn Jahren um diese Zeit war ihm klar geworden, dass er Jennifer Faulkner liebte. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel hatte ihn diese Erkenntnis getroffen. Der Winter in dem Jahr war mild und Mitte März war es bereits ungewöhnlich warm gewesen. Er hatte damals als Hilfssheriff in Pine Run gearbeitet. An jenem Tag hatte er freigehabt und hatte Vickie auf ihre Bitte hin zur Cottonwood Farm gefahren. Jennifer war aus dem Internat gekommen, um die Frühlingsferien bei ihren Großeltern zu verbringen.

Dolly Faulkner öffnete ihnen die Tür und umarmte beide zur Begrüßung. Der verführerische Duft von Zimtbrötchen erfüllte die Halle. „Kommt mit in die Küche“, lud Dolly sie ein. „Es gibt Kaffee und heiße Brötchen.“

Dolly war für sie wie eine zweite Mutter, und er konnte unmöglich Nein sagen. Außerdem hatte Luke an diesem Tag nichts vor, sein Magen knurrte, und er war gerne bei den Faulkners zu Gast.

Er folgte Vickie und Dolly. In der Küche saß bereits Henry am runden Tisch. Die blank polierte Eichenplatte glänzte und duftete angenehm nach Zitronenöl. Alles in diesem Raum schien zu strahlen und funkeln – einschließlich Henry, der wie frisch geschrubbt und herausgeputzt wirkte. Luke konnte sich nicht erinnern, ihn je anders gesehen zu haben: Als der alte Mann noch seinen Eisenwarenladen in der Main Street betrieben hatte, war er jeden Tag im frischen Hemd zur Arbeit gekommen. Sein Haar war stets ordentlich und kurz geschnitten.

Luke musste lächeln. Dolly und Henry waren ein ungleiches Paar. Sie war quicklebendig und redselig und hatte ein sonniges Gemüt; Henry dagegen war wortkarg, verschlossen und schien immer düsterer Stimmung zu sein. Doch die Liebe der beiden zueinander war fast mit den Händen greifbar.

Ihr Äußeres war beinahe so entgegengesetzt wie ihre Wesen. Dolly war klein und rund und reichte ihrem schlaksigen, langbeinigen Mann kaum bis zur Brust. Jennifer hatte das Beste von beiden geerbt. Sie war groß und schlank wie ihr Großvater, sah jedoch mit dem blonden Haar und den aquamarinblauen Augen genauso aus wie Dolly. Jennifers hübsches Gesicht hellte sich wie ein Sommertag auf, sobald sie lächelte. Die einzige Eigenschaft, die sie außerdem von Henry geerbt hatte, war seine Reserviertheit. Bei Jennifer zeigte sich diese allerdings als Schüchternheit.

Als Vickie und Luke in die Küche kamen, blickte Henry auf und schenkte ihnen so etwas wie ein Lächeln. „Sieh mal an, McNeils Sprösslinge. Jennifer kommt auch gleich. Setzt euch.“

Luke setzte sich neben Henry und behielt die Tür im Auge, während Vickie ihm gegenüber Platz nahm. Dolly stellte ihnen Teller mit Zimtbrötchen vor die Nase und griff nach der alten Emaille-Kaffeekanne, die immer auf dem Herd stand.

„Was macht Pine Run?“, fragte Henry. „Irgendwelche Schwerverbrechen, von denen wir wissen sollten?“

Luke lachte auf. In Pine Rune galten bereits drei Strafzettel wegen Falschparkens und ein Fußgänger, der in verkehrter Richtung durch die Einbahnstraße lief, als Verbrechenswelle. „Alles ruhig. Die Leute warten auf den Frühling. Was hast du dieses Jahr gesät, Henry?“

„Zuckerrüben.“

Dolly reichte Luke eine Tasse Kaffee. „Wie kommt es eigentlich, dass so ein hübscher junger Mann wie du noch nicht verheiratet ist?“

Luke trank einen Schluck von Dollys berühmtem Kaffee und schluckte den Köder bereitwillig. Seit er vor fünf Jahren von der Highschool abgegangen war, spielten sie dieses Spiel. „Sie kennen die Antwort, Mrs. Faulkner. Ich warte darauf, dass Jenny erwachsen wird, damit ich sie heiraten kann.“

In diesem Moment blickte er zur Tür, und dort stand Jenny. Er meinte, das Herz müsse ihm stehen bleiben. Es war, als hätte ihm jemand die Augen geöffnet: Jenny war nicht länger das unbeholfene, dürre kleine Mädchen, das mit seiner Schwester gespielt hatte und ihm wie ein Hündchen überallhin gefolgt war. Beim Anblick der wunderschönen Frau, zu der sie herangewachsen war, wurde sein Mund trocken.

Sie hatte genau die richtigen Rundungen, um einen Mann verrückt zu machen, und ihre schlanken Beine schienen gar kein Ende zu finden. Jeans schmiegten sich eng um ihre Hüften. Ein handgearbeiteter Gürtel mit Silberschnalle betonte ihre schmale Taille, und im Ausschnitt der frischen weißen Bluse zeigte sich ein entzückender Streifen ihrer Haut.

Doch so umwerfend ihr Körper auch sein mochte, ihr Gesicht war sogar noch faszinierender. Die kindlichen Züge waren verschwunden, obwohl ihre Nase immer noch voller Sommersprossen war. Mit den hohen Wangenknochen, der kleinen, aber ebenmäßigen Nase und dem geraden Kinn stellte sie selbst hoch bezahlte Models in den Schatten. Lange, dunkle Wimpern umrahmten Augen von einem verblüffenden Blau, und die sonnengebleichten Haare waren zu einem eleganten Knoten geschlungen. Nur ein paar einzelne Locken umspielten ihr Gesicht.

Die hübsche kleine Jenny Faulkner war zur Frau geworden. Und auf einen Schlag begriff Luke, dass er sein Leben lang auf sie gewartet hatte.

Die Antwort, die er Dolly gegeben hatte, war kein Scherz mehr. Es war die reine Wahrheit: Er hatte gewartet, bis Jenny erwachsen war, damit er sie heiraten konnte.

3. KAPITEL

Luke stieß sich mit dem Stuhl vom Schreibtisch ab und versuchte, die Erinnerungen beiseitezuschieben. Ohne Erfolg. An jenem Morgen vor zehn Jahren hatte er sich in die Frau verliebt, zu der die kleine Jennifer Faulkner geworden war.

Und es war nicht nur die plötzliche körperliche Reife, die ihn fasziniert hatte. Auch ihre Persönlichkeit hatte ihn schon immer angezogen. Ihren Großeltern brachte sie tiefen Respekt und Zuneigung entgegen. Häufig zeigte sie unerwartet humorvolle Seiten, die wie Sonnenstrahlen hinter den dichten Wolken ihrer Schüchternheit hervorbrachen.

Er konnte die Erinnerung an diesen lange zurückliegenden Märzmorgen einfach nicht abschütteln. „Ich warte darauf, dass Jenny erwachsen wird, damit ich sie heiraten kann“, hatte er gesagt.

Sie hatte ihn herausfordernd angesehen und am Tisch Platz genommen. „Im Januar werde ich achtzehn, Luke McNeil. Dann wirst du dir eine andere Ausrede einfallen lassen müssen, warum du noch nicht verheiratet bist.“

„Luke ist noch nicht so weit“, erklärte Vickie lachend und wischte sich Zuckerguss aus dem Mundwinkel. „Du weißt doch, Jungs brauchen ein bisschen länger …“

„Aber jetzt“, sagte Luke ungerührt und ohne den Blick von Jennifer abzuwenden, „wird es Zeit, eine Familie zu gründen.“

Überrascht riss Vickie die Augen auf. „Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?“

„Ich habe mich seit Jahren nicht mehr so gut gefühlt.“

Luke zwinkerte Jennifer über den Tisch hinweg zu und wurde mit einem entzückenden Erröten belohnt, das sich vom Dekolleté bis zu den Wangenknochen zog. Vickie und Henry schienen nichts zu bemerken, aber Dolly schaute mit einem wissenden Lächeln von Jennifer zu Luke.

„Was willst du machen, wenn du mit der Schule fertig bist?“, wollte Luke von Jennifer wissen. Plötzlich wollte er alles über sie erfahren. „Gehst du aufs College?“

Jenny schüttelte den Kopf. „Ich komme für ein Jahr hierher zurück und entscheide dann, was ich will.“

„Vielleicht findest du einen netten Job. So wie ich“, meinte Vickie. Sie war ein Jahr älter als Jennifer und arbeitete am Empfang in der neuen Praxis von Dr. Nathan Perkins.

„Auf der Farm gibt es genug zu tun“, gab Jennifer zurück, „und ich kann Grandma und Grandpa helfen.“

Dolly tätschelte die Hand ihrer Enkelin. „Wir freuen uns darauf, dich bei uns zu haben, Kind. Manchmal ist es hier doch recht einsam.“

Seit Henry den Eisenwarenladen verkauft hatte, verbrachte er den größten Teil des Tages mit seinen besten Freunden Dean und Finn. Luke vermutete, dass Dolly sich auf der Farm ziemlich langweilte.

Lächelnd sah Dolly von einem zum anderen. „Und was habt ihr jungen Leute heute vor?“

Jennifer sah Vickie an. „Wie wäre es mit Kino?“

„Klingt gut“, erwiderte Vickie. „Vielleicht kann Luke uns ja in die Stadt mitnehmen.“

„Ihr könnt den Wagen haben.“ Luke warf Vickie die Schlüssel zu. „Ich laufe nach Hause.“

„Komm doch mit“, schlug Jennifer vor und klang gleichzeitig schüchtern und erwartungsvoll.

Nichts täte er lieber als das, aber er musste zuerst mit Henry reden. „Danke. Vielleicht nächstes Mal.“

Die Mädchen brachen auf. Während Dolly den Tisch abräumte, folgte Luke Henry in die Scheune. Er hatte große Achtung vor dem alten Mann, aber er mochte ihn aufrichtig. Luke wollte nicht mit Jennifer ausgehen, ohne zuvor mit ihrem Großvater gesprochen zu haben.

Lukes Anliegen überraschte Henry. Er strich sich über das kurzgeschnittene Haar und schüttelte den Kopf. „Du bist fünf Jahre älter als sie!“

„Alt genug, um sie mit mehr Respekt zu behandeln als irgendein pickeliger Teenager“, konterte Luke.

Da musste der alte Mann ihm zustimmen. Trotzdem warnte er Luke, er würde es nicht zulassen, dass ihr Ruf durch „irgendeinen Unsinn“ ruiniert wurde. Das war Henrys Umschreibung für Sex.

Luke versprach ihm, sich zurückzuhalten. Allerdings stellte sich heraus, dass das gar nicht so leicht war: Nie zuvor hatte er eine Frau so sehr gewollt wie Jenny – und was er für sie empfand, ging weit über die reine körperliche Anziehung hinaus. Er liebte sie mit einer Leidenschaft, deren Kraft ihn erschreckte.

Und er hatte geglaubt, sie würde ihn ebenso sehr lieben.

Was für ein Narr war er doch gewesen!

Eine rasche Bewegung am Fenster erweckte nun seine Aufmerksamkeit. Den Kopf gegen den Wind gebeugt, kämpfte Jennifer sich die Main Street entlang. Bei ihrem Anblick packte ihn eine verwirrende Mischung aus Sehnsucht und Ärger. Ob sie zu ihrem Auto ging? Einen Moment lang machte er sich Sorgen, sie könne bei diesem Sturm fahren wollen.

Doch was kümmerte ihn Jennifers Wohlergehen? Seit zehn Jahren ging es ihn nichts an, vermutlich war es ihn nie etwas angegangen. Er war nur viel zu gutgläubig gewesen, um es zu kapieren.

Sosehr er auch versuchte, seine harte Fassade aufrechtzuerhalten: Sein Herz sprach eine andere Sprache. Er dachte an die Tränen in Jennys Augen, als er sie gebeten hatte, ihn zu heiraten. Es waren Tränen der Freude und des Glücks gewesen, und so etwas war nur schwer vorzuspielen. Auch an ihren Küssen hatte er nichts Falsches bemerkt. Er erinnerte sich an ihren warmen Atem, an das Gefühl ihrer Arme, die sie um seinen Nacken geschlungen hatte. Liebevoll hatte sie ihn angesehen und sich an ihn geschmiegt … Nein, er konnte ihr nicht egal gewesen sein.

Aber was zum Teufel war bloß geschehen?

Sie hatte sich geweigert, ihre Verlobung öffentlich zu machen. War das bereits ein erster Hinweis gewesen? Luke hatte es nie so empfunden.

Jennifer hatte befürchtet, dass die Leute sie für zu jung zum Heiraten halten würden. Deshalb hatte sie ihn gebeten, bis Weihnachten zu warten, ehe sie jemanden einweihten. Sie hatte ihm das Versprechen abgenommen, weder ihren Großeltern noch Vickie davon zu erzählen. Zu diesem Zeitpunkt hätte sie alles von ihm verlangen können, und er hatte sein Wort gehalten.

Zumindest hatte die Geheimniskrämerei ihm die öffentliche Demütigung erspart, als sie ihn sitzen lassen hatte und aus Jester verschwunden war. Aber sie hatte ihn nicht vor dem Kummer bewahrt – oder der Wut, die bis zu heute in ihm gärte.

Luke lehnte sich zurück und starrte über den Schreibtisch auf den Stuhl, auf dem Henry vor seinem Tod unzählige Male gesessen hatte. Wenn es im Friseursalon zu voll gewesen war und weder Dean noch Finn Zeit fü...

Autor

Charlotte Douglas
Die Autorin Charlotte Douglas wurde in Kings Mountain im Bundesstaat North Carolina geboren. Schon im Alter von drei Jahren konnte Sie lesen und steckte von da an ihre kleine Nase fast nur noch in Bücher – so war es unausweichlich, dass sie eines Tages selbst eins schreiben würde.

Als Sie acht...
Mehr erfahren
Brenda Harlen
Brenda ist eine ehemalige Rechtsanwältin, die einst das Privileg hatte vor dem obersten Gerichtshof von Kanada vorzusprechen. Vor fünf Jahren gab sie ihre Anwaltskanzlei auf um sich um ihre Kinder zu kümmern und insgeheim ihren Traum von einem selbst geschriebenen Buch zu verwirklichen. Sie schrieb sich in einem Liebesroman Schreibkurs...
Mehr erfahren
Caroline Anderson

Caroline Anderson ist eine bekannte britische Autorin, die über 80 Romane bei Mills & Boon veröffentlicht hat. Ihre Vorliebe dabei sind Arztromane. Ihr Geburtsdatum ist unbekannt und sie lebte die meiste Zeit ihres Lebens in Suffolk, England.

Mehr erfahren