Das Experiment

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Sechs junge Frauen: hochbegabt, schön - und tot. Nur die Journalistin Virginia Shapiro lebt noch, und deshalb muss FBI-Agent Sullivan Dean sie unbedingt finden. Denn er glaubt nicht, dass die sechs Frauen freiwillig aus dem Leben gegangen sind. Sullivans Instinkt sagt ihm, dass ein besonders raffinierter Mörder am Werk ist, dass sie sterben mussten, weil vor Jahren in ihrer Begabtenklasse etwas passierte, das niemand jemals erfahren darf. Doch als er Virginia endlich in ihrem Versteck entdeckt, in das sie sich in ihrer Todesangst geflüchtet hat, kann sie sich an nichts erinnern, was damals geschehen ist ...


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955762322
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Dinah McCall

Das Experiment

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ralph Sander

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MIRA® TASCHENBUCH


MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,

Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg

Deutsche Taschenbucherstausgabe

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Storm Warning

Copyright © 2001 Sharon Sala

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: The Image Bank, München

Satz: Berger Grafikpartner, Köln

ISBN 978-3-95576-232-2

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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PROLOG

Im Norden des Staates New York, 1979

Edward Fontaine stand an der Tür und beaufsichtigte die Kinder auf dem Spielplatz, während er auf das Wetter achtete. Als Leiter der Montgomery Academy, einer kleinen Privatschule, war es seine Pflicht, sich um alle Aspekte der täglichen Routineabläufe zu kümmern. Und dazu gehörte selbstverständlich auch das Wohlergehen der Kinder.

Zwar leisteten seine Lehrer ebenfalls ihren Teil, doch von seiner Position auf der obersten Stufe der Treppe hatte er den besten Überblick über den Platz. Er spürte, dass ein Wind aufkam, und sah zum Himmel. Die leichte Bewölkung hatte sich mittlerweile zu einer dunklen Unwetterfront zusammengebraut. Auch wenn die Pause noch nicht vorüber war, wollte er nicht das Risiko eingehen, dass eines der Kinder von einem Blitz getroffen werden konnte. Er eilte in sein Büro und betätigte die Schulglocke, die über den Spielplatz schrillte. Er war noch immer im Gebäude, da konnte er schon die empörten Rufe der Kinder hören.

Als er wieder die Treppe erreicht hatte, ließ der erste Donnerschlag die Fensterscheiben der Schule erzittern. Die Lehrer begannen, die Kinder zurück ins Haus zu schicken.

„Schnell, schnell!“ rief Edward den jüngsten Kindern zu, die am weitesten entfernt waren. „Es kommt ein Unwetter! Ihr müsst ins Haus laufen!“

Virginia Shapiro und ihre beste Freundin Georgia hatten gerade die Rutsche erklommen, als die Klingel zum ersten Mal ertönte. Gerade mal sechs Jahre alt standen sie jetzt vor dem Dilemma, entweder die Leiter wieder hinunterzuklettern oder aber die Rutsche zu benutzen, was den Eindruck hätte erwecken können, als wollten sie weiterspielen, obwohl sie ins Gebäude kommen sollten. Als ein zweites Donnern förmlich den Himmel über ihnen zerriss, begann Virginia zu weinen. Georgia fasste ihre Hand, wusste aber nicht so recht, was sie machen sollte.

Edward erkannte die Situation und rannte zu den beiden, als er die ersten Regentropfen auf seinem Gesicht spürte.

„Kommt, Kinder, kommt“, drängte er sie, als er die Rutsche erreicht hatte. „Das ist schon in Ordnung. Rutscht runter, und dann gehen wir gemeinsam ins Haus.“

Georgia zog an Virginias Hand und lächelte aufmunternd.

„Komm, Ginny, wir machen das zusammen. So wie immer.“

Ginny schniefte, dann nickte sie, und Momente später waren sie bereits in Mr. Fontaines Armen gelandet.

„So ist’s gut, Mädchen“, sagte er und nahm sie an der Hand. „Jetzt müssen wir aber rennen. Wetten, dass ihr schneller seid als ich?“

Die Mädchen kreischten und rissen sich los, dann stürmten sie auf das Schulgebäude zu, während Edward ihnen erleichtert folgte, obwohl ihm klar war, dass er es nicht trockenen Fußes bis dorthin schaffen würde.

Als er das Gebäude betrat, waren sie schon nicht mehr zu sehen. Erst nachdem sich seine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, entdeckte er sie am Ende des Flurs, wo sie gerade ins letzte Zimmer auf der linken Seite verschwanden.

Fast hätte er es vergessen. Heute war Donnerstag. Die Klasse der Begabten und Talentierten kam jeden Donnerstag zusammen. Nicht zum ersten Mal verspürte er dieses Gefühl des Unbehagens, während er zusah, wie die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel. Es war keineswegs so, als würde er zulassen, dass ihnen etwas angetan wurde. Ganz im Gegenteil. Diese sieben Mädchen hatten etwas gemeinsam, was ihnen die Teilnahme an diesem Unterricht überhaupt erst gestattete. Das Geld, das ihm „gestiftet“ wurde, weil er diesen Unterricht weiter laufen ließ, war zudem etwas, worauf er nur ungern verzichtet hätte. Es bereitete ihm oft Sorgen, dass die Eltern nicht wussten, was dort wirklich ablief, aber er wusste, dass den Kindern kein Leid zugefügt wurde. Außerdem wäre es jetzt ohnehin zu spät gewesen, noch einen Rückzieher zu machen.

Er wandte sich akuteren Dingen zu und begab sich in sein Büro, wo immer Arbeit auf ihn wartete.

Im letzten Zimmer links saßen sieben kleine Mädchen ruhig auf ihren Plätzen und warteten darauf, dass ihr Lehrer mit dem Unterricht begann. Sie nahmen weder den Regen wahr, der gegen die Fenster prasselte, noch die Blitze, die den Raum in gleißendes Licht tauchten. Ihre Augen waren auf den Lehrer gerichtet, ihr Verstand nahm nur den Klang seiner Stimme wahr.

In der nächsten Nacht tobte das Unwetter noch immer. Windgepeitschte Bäume bogen sich im Sturm, ihre Äste drohten, der auf sie einstürmenden Gewalt nichts entgegensetzen zu können.

Kurz vor Mitternacht schlug ein Blitz in die Schule ein und setzte sie in Brand. In kürzester Zeit stand das gesamte Gebäude in Flammen. Gegen Morgen waren eine stehen gebliebene Mauer und ein verkohlter, immer noch rauchender Holzhaufen alles, was an die Schule erinnerte.

Edward Fontaine stand auf dem Spielplatz und starrte ungläubig auf das, was vom Gebäude übrig war. Er besaß nicht die Mittel, um noch einmal von vorne anzufangen, und wieder als Lehrer zu arbeiten, erschien ihm keine geeignete Möglichkeit. Sein Traum war ausgeträumt, sein Herz gebrochen.

Innerhalb einer Woche waren alle Schüler auf umliegende Privatschulen umverteilt worden, einige waren auch auf öffentliche Schulen zurückgekehrt. Die sieben Mädchen, die sich als besonders begabt entpuppt hatten, wurden in drei verschiedenen Schulen untergebracht. Das Leben ging weiter, aber nicht ihr besonderer Unterricht. Sie wurden größer, und jeden Abend brachten ihre Eltern sie zu Bett, ohne zu ahnen, welche Zeitbombe in ihren Köpfen tickte.

1. KAPITEL

Heute, Seattle, Washington

„Mama, Mama, Hunger. Will einen Keks!“

Die siebenundzwanzig Jahre alte Emily Jackson sah von ihrem Computer auf und blickte zur Uhr. Sie verdrehte erschrocken die Augen, dann stand sie auf, um sich um ihren zweijährigen Sohn zu kümmern. Kein Wunder, dass er Hunger hatte. Es war bereits halb eins. Sich um ein Kind zu kümmern und gleichzeitig von zu Hause aus weiter als Buchhalterin zu arbeiten, war nicht so einfach, wie sie es sich anfangs vorgestellt hatte, auch wenn der Computer für den Kontakt zu ihren Kunden ein Geschenk des Himmels gewesen war.

„Eine Minute, mein Schatz“, rief sie, gab ihm einen Keks, küsste ihn flüchtig auf die Stirn und eilte zum Kühlschrank. Es war noch genug Essen von der letzten Mahlzeit übrig, und er befand sich in einer Phase, in der er praktisch alles aß. Sie würde nur ein paar Minuten benötigen, um etwas in der Mikrowelle aufzuwärmen.

Drei zugedeckte Schüsseln und sein Fläschchen standen bereits auf der Arbeitsplatte, und gerade wollte sie nach der vierten Schüssel greifen, als das Telefon klingelte.

„Das fehlt gerade noch“, murmelte sie und nahm den Hörer ab. „Jackson … ja, hier spricht Emily. Wer ist da?“

Nach einer kurzen Pause am anderen Ende der Leitung hörte sie auf einmal fernen Donner, gefolgt von einem Glockenspiel wie an der Eingangstür zu einem Geschäft. Als sie das Geräusch wahrnahm, schaltete sich ihr Verstand ab. Sie wandte ihr Gesicht der Wand zu, den Hörer immer noch ans Ohr gepresst. Die kalte Luft aus dem Kühlschrank strich über ihre Beine, aber sie spürte es nicht. Ihr Geist war schon längst woanders.

Im nächsten Moment legte sie den Hörer auf die Arbeitsplatte, nahm eine Packung Kekse und eine Flasche Milch für ihr Kind, hob den Jungen auf den Arm und brachte ihn wortlos zu Bett. Sie gab ihm die Kekse und die Milch, dann drehte sie sich um und ging weg.

Der Junge war mit dem zufrieden, was seine Mutter ihm gegeben hatte. Und während er sich über die Kekse hermachte, stieg Emily in ihren Wagen und rangierte ihn aus der Einfahrt zum Haus. Eine Nachbarin winkte ihr von der anderen Straßenseite zu, doch Emily schien sie nicht zu sehen. Die Nachbarin dachte sich nichts dabei, bis ihr auffiel, dass Emily die Haustür hatte offen stehen lassen.

„Oh je“, rief sie und ging zum Haus, um ihrer nachbarschaftlichen Pflicht nachzukommen. Als sie die Veranda erreicht hatte, übermannte sie ein plötzliches Gefühl der Neugierde. Anstatt die Tür zuzuziehen, dachte sie daran, einen Blick ins Haus zu werfen. Was würde ein harmloser kurzer Blick schon ausmachen?

Ein wenig schuldbewusst schaute sie über die Schulter, dann trat sie ein und schloss die Tür hinter sich. Einen Moment lang stand sie einfach nur da, bewunderte die Farbgebung und die ausladenden Polstermöbel im Wohnzimmer rechts von ihr. Sie machte ein paar Schritte, als sie ein Geräusch aus der Richtung des Schlafzimmers hörte. Wie dumm von ihr! Nur weil Emily weggefahren war, musste das Haus nicht zwangsläufig verlassen sein. Ihr Mann Joe war Fluglotse, und vermutlich hatte er seinen freien Tag.

„Joe? Joe! Ich bin’s, Helen. Emily hat die Tür offen stehen lassen, und ich bin nur schnell rübergekommen, um sie zuzumachen.“

Niemand antwortete, aber sie konnte hören, dass jemand im Haus war.

„Joe? Ich bin’s, Helen. Bist du angezogen?“

Ein grelles Kreischen ließ sie zusammenzucken. In dem Moment fiel ihr der Junge ein. Sie war davon ausgegangen, dass Emily ihn im Wagen mitgenommen hatte, weil sie ohne ihn so gut wie nie das Haus verließ. Sie ging weiter durch den Flur, darauf gefasst, dass Joe jeden Augenblick auftauchen konnte, um sie zur Rede zu stellen, was sie in seinem Haus suchte. Doch je weiter sie ging, desto sicherer war sie, dass er nicht da war.

Als sie das Kinderzimmer betrat, stockte ihr einen Moment lang der Atem. Der Junge saß auf seinem Bett, in einer Hand die Keksschachtel, in der anderen seine Flasche Milch.

„Keks?“ fragte er, als er Helen sah.

„Oh, mein Gott“, murmelte sie und hob ihn hoch. Sie war sicher, dass es nicht so sein konnte, wie es auf den ersten Blick aussah. Emily Jackson war nicht die Frau, die aus dem Haus ging und ihr Kind unbeaufsichtigt zurückließ.

Mit dem Jungen auf dem Arm eilte sie von Zimmer zu Zimmer, bis sie die Küche erreichte und erkannte, dass etwas nicht stimmen konnte. Essen stand herum, der Hörer lag neben dem Telefon, die Kühlschranktür war weit offen. Sie wollte ein wenig Ordnung schaffen, als eine innere Stimme ihr riet, nichts zu verändern. Stattdessen packte sie ein paar Windeln und nahm den Jungen mit.

Als Helen in ihr Haus zurückgekehrt war und Joe an seinem Arbeitsplatz anrufen wollte, befand sich Emily Jackson bereits auf einem Kollisionskurs mit ihrem Schicksal.

Emily fuhr quer durch Seattle, ohne sich um den Verkehr zu kümmern. Sie fuhr bei Rot über Kreuzungen und interessierte sich weder für andere Autofahrer noch für Fußgänger. Als sie die Narrows Bridge erreicht hatte, wurde sie von einer Kolonne aus Streifenwagen verfolgt, die es mit der von O. J. Simpsons Flucht hätte aufnehmen können. Die Polizei wusste es noch nicht, aber Emily hatte ihr Ziel erreicht. Am anderen Ende der Brücke erwartete sie ein Kordon aus Polizeiwagen, außerdem waren Straßensperren aufgebaut worden.

Doch die andere Seite der Brücke war für Emily ohne Bedeutung. Auf halber Strecke hielt sie plötzlich ihren Wagen an, stellte den Motor ab und stieg aus. Bevor der erste Streifenwagen hinter ihr zum Stehen gekommen war, hatte sie bereits das Geländer der Brücke erreicht. Als die Polizisten losrannten und hinter ihr herriefen, kletterte sie über das Geländer.

Die Beamten schrien ihr zu, sie solle nicht springen, sie machten ihr Versprechungen, die sie niemals hätten halten können, doch Emily hörte nur ein lautes Tosen. Sie breitete die Arme aus, als wäre sie ein Vogel, der sich zum Abflug bereitmachte, hob den Kopf zum Himmel und sprang.

Sie wirbelte um ihre eigene Achse, nur der Wind rauschte in ihren Ohren, als sie ausführte, was man ihr aufgetragen hatte.

Drei Tage lang war Seattle von diesem Zwischenfall erschüttert, bis diese Nachricht von einer anderen, gleichermaßen tragischen Geschichte abgelöst wurde. Emily hinterließ ihren Mann, der um sie trauerte und sich den Kopf über die Gründe für ihren Selbstmord zerbrach, und einen kleinen Jungen, der nach seiner Mutter rief, die niemals zurückkommen würde.

Eine Woche später, Amarillo, Texas

Josephine Henley, von den Gästen in Haley’s Bar nur kurz Jo-Jo genannt, servierte gerade einige Drinks, als Barkeeper Raleigh ihr quer durch das Lokal zurief: „Hey, Jo-Jo, ein Anruf für dich.“

Sie winkte ihm zu, um anzudeuten, dass sie ihn gehört hatte, dann kassierte sie das Trinkgeld ein, das ein paar betrunkene Trucker ihr gegeben hatten, die sie um einen Kuss anbettelten.

„Komm schon, Jo-Jo, nur einen für unterwegs“, sagte Henry.

„Kommt gar nicht in Frage“, erwiderte sie. „Du bist verheiratet.“

„Ja, aber ich bin auch einsam.“

„Du bist nicht einsam, du bist nur scharf, und ich werde dir den Gefallen nicht tun.“

„Dann gib mir meine fünf Dollar zurück“, sagte er im Scherz.

„Oh nein, die habe ich mir verdient. Außerdem musstest du schon einiges mehr als nur fünf Dollar hinblättern, um mich rumzukriegen.“

„Wie viel denn?“ fragte er. Sein Interesse war sofort wieder geweckt.

„So viel Geld kannst du niemals zusammenbekommen, Mister. Und jetzt gib auf. Da wartet ein Anruf auf mich.“

Sie befreite sich aus seinem Griff und ging zum Telefon.

„Einen Bourbon mit Soda“, gab sie eine neue Bestellung weiter, bevor sie den Hörer nahm.

„Hallo! Hallo?“

Es war zu laut, als dass sie etwas hätte hören können. Sie legte die Hand über die Sprechmuschel und wandte sich den Gästen zu.

„Geht das ein bisschen leiser?“ brüllte sie. „Ich kann ja kein Wort verstehen.“

Sie versuchte es erneut. „Hallo? Ja, ich bin Josephine Henley.“

Während sie wartete, dass weitergesprochen wurde, hörte sie auf einmal ein fernes Donnern. Sie drehte sich um und überlegte, ob sie die Fenster ihres Wagens geschlossen hatte. Dann folgte ein weiteres Geräusch, und im gleichen Augenblick wurde ihr Gesicht völlig ausdruckslos. Sie stand da, sprach kein Wort, hatte die Augen geschlossen und ließ die Schultern hängen.

Raleigh bemerkte das und sah sie erstaunt an. Das war nicht Jo-Jos Art. Er berührte sie an der Schulter.

„Hey, Kleine, stimmt was nicht?“

Sie reagierte nicht auf seine Frage, sondern ließ nur den Hörer los und versuchte, an ihm vorbeizukommen.

„Hier ist der Bourbon mit Soda“, sagte er und reichte ihr ein Tablett mit einem Glas, doch sie schob ihn so heftig aus dem Weg, dass das Tablett auf den Boden fiel.

„Hey, war das mein Drink?“ rief jemand.

„Halt die Klappe“, gab Raleigh zurück und fasste Jo-Jo am Arm. „Was ist los mit dir? Hast du mich nicht gehört?“

Dann sah er ihr ins Gesicht, und der Blick in ihren Augen ließ fast sein Herz stillstehen.

Wie in Trance bewegte Jo-Jo sich auf den Ausgang zu, als Raleigh in Panik geriet und einem der Männer zurief, sie aufzuhalten. Seine Worte gingen im allgemeinen Trubel unter.

„Hey, Jo-Jo, was ist denn los? Komm zurück!“ rief er und lief um die Theke herum. Noch bevor die Gäste verstanden hatten, dass etwas nicht stimmte, war er schon hinter ihr her aus dem Lokal gestürmt. Gut ein halbes Dutzend Männer folgte ihm und begann, auf dem vollen Parkplatz nach ihr zu suchen. Ihr Wagen stand noch da, also musste sie sich zu Fuß auf den Weg gemacht haben.

„Jo-Jo! Jo-Jo! Komm zurück, Schatz. Wenn dir nicht gut ist, dann fährt dich einer von den Jungs nach Hause.“

Es kam keine Antwort, und er konnte sie auch nirgends sehen. Hektisch bahnten sich die Männer einen Weg zwischen den geparkten Fahrzeugen und riefen immer wieder ihren Namen.

Raleigh wollte ihr Verhalten fast schon als irgendeine typisch weibliche Marotte abtun, als jemand seinen Namen rief. Die Angst, die in der Stimme mitschwang, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Er begann zu rennen, vorbei an einer Reihe geparkter PKWs und einigen schweren Trucks, bis er am Highway angelangt war und Jo-Jo sah.

Sie rannte gerade auf die Überholspur des Highways, die Arme ausgebreitet wie ein Kind, das so tut, als wolle es fliegen.

Raleigh sah die Scheinwerfer eines herannahenden Trucks und begann zu rennen, obwohl er wusste, dass er zu spät kommen würde.

Der Geruch von Gummi erfüllte die Luft, als der Fahrer auf die Bremse trat, um die Frau, die praktisch aus dem Nichts vor ihm auf der Straße aufgetaucht war, nicht zu überfahren. Das Kreischen der blockierenden Reifen übertönte das dumpfe Geräusch, als ihr Körper mit dem Truck zusammenprallte. Wie eine Puppe wurde sie durch die Luft gewirbelt und schlug hart auf dem Mittelstreifen auf.

Die Männer starrten ungläubig auf den Highway.

Raleigh wandte sich um und sagte zu dem Mann, der direkt neben ihm stand: „Los, ruf einen Krankenwagen.“ Dann begann er den herannahenden Wagen zu winken, damit die langsamer wurden und sie die Straße überqueren konnten.

Der Detective der Mordkommission erklärte den Zwischenfall zu einem offensichtlichen Selbstmord und schloss die Akte.

Nur Raleigh teilte diese Ansicht nicht. Er schwor, dass mit Jo-Jo bis zu diesem Anruf alles in Ordnung gewesen war.

Zwei Tage später, Chicago, Illinois

Mit achtundzwanzig Jahren hatte Lynn Goldberg einen Meilenstein in ihrer Karriere als Strafverteidigerin erreicht. Ihr bisheriges Leben lang hatte man ihr gesagt, sie sei zu hübsch, um als Anwältin erfolgreich sein zu können, aber sie hatte alle Besserwisser ignoriert und war einfach ihrem Herzen gefolgt. Und heute hatte sie bewiesen, dass sie nicht einfach nur ein hübsches Gesicht war. Sie hatte ihren ersten Mordfall gewonnen, und es war ein verdammt gutes Gefühl. Noch besser war aber, dass sie davon überzeugt war, einen wirklich Unschuldigen erfolgreich verteidigt zu haben, was in ihrer Branche nicht immer der Fall war.

Sie packte die Fälle, die sie vor dem morgigen Tag noch durchgehen wollte, in ihre Aktentasche und sah auf die Uhr. Sie hatte noch genau sechsunddreißig Minuten Zeit, um die Stadt zu durchqueren und sich mit ihrem Mann Jonathan zum Abendessen zu treffen. Er wusste es noch nicht, aber heute Abend würde sie ihn zum Dinner einladen. Sie konnte es kaum erwarten, sein Gesicht zu sehen, wenn sie ihm von ihrem ersten Sieg erzählte.

Sie sah sich ein letztes Mal in ihrem Büro um, griff nach dem Telefon und rief ein Taxi. Bis sie die fünfzehn Etagen bis zum Ausgang aus dem Bürogebäude zurückgelegt hatte, in dem sich die Anwaltskanzlei befand, in der sie arbeitete, würde das Taxi schon vorgefahren sein. Sie strich ihren Nadelstreifenanzug glatt, legte den Regenmantel über den Arm und griff nach ihrer Aktentasche, als das Telefon klingelte.

„Oh nein, heute nicht mehr“, murmelte sie und ging zur Tür.

Aber das Klingeln hörte nicht auf. Es könnte Jonathan sein, dachte sie. Es wäre ärgerlich, wenn sie den ganzen Weg zurücklegen würde, um dann festzustellen, dass er absagen musste. Sie eilte zum Schreibtisch und nahm den Hörer ab.

„Hallo? Ja, Sie sprechen mit Lynn Goldberg.“

Es folgte ein Augenblick der Stille, dann ein fernes Donnern. Ihr schauderte, während sie zum Fenster sah und froh war, dass sie den Regenmantel dabeihatte. Dann hörte sie über den Donner ein weiteres Geräusch, Glocken, die in langsamer Folge angeschlagen wurden. Im gleichen Moment sanken ihre Augenlider herab, und sie ließ ihre Schultern hängen.

Am Telefon blinkte eine kleine Lampe, die ein weiteres eingehendes Gespräch signalisierte. Aber sie nahm es nicht wahr, und selbst wenn, wäre sie nicht in der Lage gewesen, irgendeine Entscheidung zu treffen. Stattdessen legte sie den Hörer auf, verließ ihr Büro in Richtung der Aufzüge.

Ihr Anwaltskollege Gregory Mitchell blickte auf, als sie an seinem Schreibtisch vorbeiging.

„Hey, Lynn, ich wusste gar nicht, dass du noch immer hier bist. Meinen Glückwunsch zum gewonnenen Fall.“

Sie schien ihn nicht gehört zu haben. Verwirrt sah er sie aus der Kanzlei gehen, bis er erkannte, dass sie ihre Aktentasche und den Regenmantel an der Tür zu ihrem Büro hatte liegen lassen. Er wusste, dass sie noch einmal fünfzehn Etagen nach oben fahren musste, wenn ihr unten auffiel, dass sie beides vergessen hatte. Also lief er ihr in dem Glauben nach, sie am Aufzug zu erwischen. Sie würde über ihre Vergesslichkeit lachen, ihre Sachen holen, dann würde sie sich nach unten und er sich zurück an seinen Schreibtisch begeben.

Als er am Aufzug ankam, sah er zu seinem Erstaunen, dass seine Kollegin offensichtlich in einen Aufzug gestiegen war, der nach oben fuhr. Die oberste Etage im Gebäude stand zur Zeit leer und wurde renoviert.

„Verdammt, Lynn, wo hast du heute deinen Kopf?“ murmelte er und wartete, dass sich jeden Moment die Aufzugtüren öffneten und sie ihn verlegen angrinsen würde. Aber die von oben kommende Kabine war leer.

Kurz entschlossen betrat er den Aufzug und fuhr in die sechzehnte Etage. Immer wieder sagte er sich, dass es eine logische Erklärung geben musste. Aber als er im obersten Stockwerk angekommen war, hörte er nur den Wind, der sich in den Plastikplanen fing, die in Kürze durch neue Fenster ersetzt werden sollten.

„Lynn? Lynn? Wo bist du? Ich bin’s, Greg!“

Vom anderen Ende des Flurs war ein lautes Rascheln zu hören. Er machte sich in diese Richtung auf und rechnete damit, dass sie jeden Augenblick von irgendwoher auftauchte, auf der Suche nach dem Weg zurück zum Aufzug.

Doch das große Eckbüro, das er betrat, war leer. Frustriert wandte er sich ab, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Er näherte sich der vorübergehend mit Plastik verkleideten Ecke, da wurde ihm klar, dass sich jemand auf dem Gerüst an der Außenseite des Gebäudes befand.

„Das kann doch nicht sein“, murmelte er und stürmte durch das Zimmer, weil ihm ein ungutes Gefühl sagte, dass da draußen sonst niemand sein konnte.

Er riss die Plastikplane zur Seite und erstarrte. Lynn stand auf einem Stahlträger sechzehn Stockwerke über der Erde. Der Wind, der um die Hausecke wehte, zerrte an ihrem Jackett und blähte es auf.

„Mein Gott, Lynn! Was soll denn das? Komm sofort rein, bevor dir was passiert!“

Wieder schien sie ihn nicht zu hören. Zu seinem Entsetzen breitete sie stattdessen die Arme aus, als würde sie ein unsichtbares Orchester dirigieren wollen. Greg geriet in Panik. Die Situation war völlig außer Kontrolle geraten. Er wollte nach seinem Handy greifen, als ihm einfiel, dass es auf seinem Schreibtisch lag. Da er nicht tatenlos zusehen konnte, begann er, aus dem Fenster auf das Gerüst zu klettern, während er so ruhig wie möglich auf sie einredete, obwohl er vor Entsetzen am liebsten geschrien hätte.

„Lynn, sieh mich an! Sieh nicht nach unten, hörst du? Du nimmst jetzt meine Hand und dann kommst du mit mir nach drinnen. Du wirst nicht …“

Mitten im Satz blickte sie auf einmal zum Himmel und machte einen Schritt nach vorne, fort vom Gerüst. Greg sah noch, dass sie lächelnd und mit ausgebreiteten Armen in die Tiefe sprang. Er sah nicht, wie sie auf dem Fußweg aufschlug, weil er auf dem Gerüst kniete und sich übergab.

Der Zwischenfall wurde in den Zeitungen nur am Rande erwähnt. Menschen, die in den Tod springen, waren in Chicago keine Besonderheit.

Am nächsten Abend, in der Nähe von Denver, Colorado

Wie schon so oft in den letzten fünf Jahren war Frances Waverly davon überzeugt, dass es ein Fehler gewesen war, Charlie zu heiraten. Ganz egal, was sie tat, sie konnte es ihm nie recht machen. Den ganzen Tag über brüllte und meckerte er nur, und sobald der Abend anbrach, wollte er sofort mit ihr schlafen. Er konnte nicht verstehen, dass sie sich nicht von ihm anfassen lassen wollte, und unterstellte ihr, sie habe eine Affäre.

„Eine Affäre!“ fuhr Frankie ihn an. „Im Moment würde ich mich nicht mal mit Donald Trump und seinen Millionen einlassen, ganz abgesehen davon, dass er an jemandem wie mir sowieso nicht interessiert wäre. Dein ewiges Genörgel hat mich vorzeitig altern lassen, und mir reicht es! Hast du mich verstanden? Mir reicht es!“

Charlie packte sie am Arm. Er hörte das nicht zum ersten Mal, er kannte die immer gleiche Leier, und er wollte jetzt mit ihr ins Bett gehen.

„Ach, sei doch endlich ruhig, Frankie. Du hast überhaupt keinen Grund, dich zu beklagen. Du hast ein schönes Haus, der Wagen ist noch so gut wie neu. Du hast alles, was du brauchst. Alles, was ich von dir will, sind deine ehelichen Pflichten. Du bist meine Frau, ich habe ein Recht darauf, mit dir zu schlafen.“

Frankie lachte schrill auf. „Mit mir schlafen! Das ist doch das Einzige, worum es dir geht. Du liebst mich doch gar nicht, du bist nur auf meinen Körper scharf.“

„Das ist nicht wahr!“ brüllte Charlie sie an. „Ich habe dir …“

In dem Moment klingelte das Telefon. Frankie nahm den Hörer ab. Sie war bereit, mit jedem zu reden, selbst wenn es irgendein Telefonverkäufer war, solange sie kein weiteres Wort von Charlie Waverly hören musste.

„Waverly“, sagte sie knapp. Als Charlie versuchte, ihr den Hörer zu entreißen, schlug sie ihm auf die Hand und wandte sich ab. „Ja, hier ist Frances Waverly.“

„Verdammt, Frankie, leg den Hörer auf. Wir sind hier mitten im Gespräch. Wer immer das ist, du rufst zurück.“

Aber Frankie reagierte nicht, sondern sank gegen die Wand und erstarrte förmlich. Einen Moment lang glaubte er, sie würde ohnmächtig. Dann schloss sie die Augen und ließ die Schultern sinken.

„Was ist?“ herrschte er sie an, während er befürchtete, dass über ein Familienmitglied irgendeine Katastrophe hereingebrochen war. „Wer ist das? Ist das Mom? Ist Dad in Ordnung?“

Frankie erwiderte nichts, woraufhin er noch panischer wurde. Er sah sie an und bemerkte, dass eine Träne über ihre Wange lief. Mit einem Mal tat es ihm furchtbar Leid, dass er sie angeschrien hatte.

„Hör zu, Schatz, ganz egal, was passiert ist, wir stehen das schon durch“, sagte er. „Ich bin für dich da.“

Er legte eine Hand an ihren Hinterkopf und drückte sanft ihren Nacken. Aber diesmal lächelte sie ihn nicht verzeihend an, sondern legte den Hörer auf den Tisch und ging an ihm vorbei, als sei er unsichtbar. Als sie die Wagenschlüssel nahm und die Haustür öffnete, geriet er ernsthaft in Panik.

„Frankie, warte! Wohin gehst du? Warte, ich komme mit!“

Sie verließ die Veranda und ging hinaus in die Nacht. Er griff nach dem Telefon.

„Hallo? Hallo? Wer ist da? Was zum Teufel haben Sie meiner Frau gesagt?“

Es war nur ein Freizeichen zu hören. Er legte den Hörer auf und folgte Frankie nach draußen, doch sie war bereits in den Wagen gestiegen und losgefahren.

„Frances! Verdammt, ich habe doch gesagt, dass du warten sollst!“ brüllte er, aber sie war schon zu weit entfernt. Er zog die Schlüssel aus der Hosentasche, stieg in seinen Truck und fuhr ihr nach.

Über einen Kilometer klebte er regelrecht an ihrer Stoßstange und versuchte, mit Hupe und Lichthupe zu verstehen zu geben, dass sie anhalten sollte. Sie verhielt sich so, als wäre er gar nicht hinter ihr. Ein weiterer Kilometer verstrich, und er fühlte, wie Angst von ihm Besitz ergriff. Sie musste etwas wirklich Schlimmes erfahren haben, wenn sie so reagierte. Als er sah, dass sie sich einem Bahnübergang näherten, fühlte er sich ein wenig beruhigter. Die Signallichter blinkten bereits und die Schranken waren unten und verhinderten jede Weiterfahrt. Endlich würde er mit ihr reden können.

Er atmete auf und hatte ein gutes Gefühl, dass sich bald alles klären würde. Doch als sie sich der Schranke näherten, erkannte er, dass Frankie im Gegensatz zu ihm offenbar nicht bremste. Schlimmer noch, sie hatte das Tempo erhöht. Im Lichtkegel seiner Scheinwerfer sah er, dass sie die Arme zur Seite ausgestreckt hatte und das Lenkrad nicht mehr festhielt! Was um alles in der Welt wollte sie damit beweisen?

„Halt an, Frances, halt an!“ murmelte er unentwegt, aber es war vergebens.

Fassungslos sah er mit an, wie sie mit ihrem Wagen die Schranke durchbrach und ungebremst in den Zug raste. Der Wagen explodierte, einzelne Teile wirbelten durch die Luft. Charlie trat mit aller Kraft auf die Bremse und began zu schreien, als ein Teil der Stoßstange gegen seinen Truck geschleudert wurde.

Ihre Überreste wurden drei Tage später zu Grabe getragen. Niemand in der Familie konnte sich vorstellen, was es mit dem Anruf auf sich gehabt haben könnte, doch Charlie war davon überzeugt, dass das Telefonat der Grund für ihren Tod war. Es musste so sein. Sonst würde er akzeptieren müssen, dass sein Verhalten sie in den Selbstmord getrieben hatte. Aber mit dieser Schuld hätte er nicht leben können.

Eine Woche später, Oklahoma City, Oklahoma

Marsha Butler nahm auf dem Beifahrersitz im Wagen ihrer besten Freundin Platz und lächelte ihr freundlich zu.

„Weißt du, Allison, das ist wirklich lieb von dir, dass du mich abholst. Mein Wagen ist die ganze Woche über in der Werkstatt gewesen, aber zum Glück ist er jetzt endlich fertig.“

Allison Turner grinste breit. „Kein Problem. Außerdem muss ich sowieso zur Bank, um meinen Gehaltsscheck einzulösen. Ich möchte nämlich nicht, dass die Schecks platzen, mit denen ich gerade meine Rechnungen bezahlt habe.“

Marsha erwiderte das Grinsen. „Kommt mir irgendwie bekannt vor.“

Allison hielt kurz an und bog dann nach rechts in den Air Depot Drive.

„Zu welcher Werkstatt müssen wir gleich noch mal?“ fragte sie.

„Hughley’s, gleich an der Ecke Reno und Air Depot.“

„Ah, ja, die kenne ich. Haben sie den Fehler gefunden, oder knöpfen sie dir jetzt einfach so ein Vermögen ab?“

Marsha seufzte. „Wer weiß das schon? Du weißt doch, wie man in solchen Läden Frauen behandelt. Das ist einer von diesen Augenblicken, in denen ich mir wünsche, ich wäre immer noch verheiratet.“ Dann schüttelte sie amüsiert den Kopf. „Aber nicht so sehr, dass ich deswegen Terry wiederhaben wollte. So ein Mistkerl.“

Sie lachten beide laut los. Einige Minuten später zeigte Marsha aus dem Fenster.

„Da vorne ist es“, sagte sie. „Bieg rechts ab.“

„Alles klar“, erwiderte Allison und setzte den Blinker. In dem Moment begann ihr Handy zu klingeln, das neben ihrem Sitz auf der Mittelkonsole lag.

„Kannst du für mich rangehen?“ fragte sie.

Marsha nahm das Telefon an sich.

„Hallo? Nein … ich bin nicht Allison. Sie fährt gerade. Würden Sie bitte einen Moment warten?“

„Danke“, sagte Allison, während sie auf den Hof der Werkstatt fuhr.

„Du kannst mich hier irgendwo aussteigen lassen“, sagte Marsha.

„Ich warte, bis du weißt, ob der Wagen wirklich fertig ist.“

„Ich bin ja angerufen worden, ansonsten wäre ich das Risiko nicht eingegangen.“

„Egal, ich warte sicherheitshalber“, sagte Allison.

„Danke. Du hast was bei mir gut“, erwiderte Marsha und stieg aus.

Sobald ihre Freundin den Wagen verlassen hatte, verriegelte sie die Türen und nahm das Gespräch an.

„Hallo, hier ist Allison, danke, dass Sie gewartet haben … Hallo? Hallo?“

Sie riss die Augen einen Moment lang auf, dann sanken die Augenlider herab und ihr Kopf fiel leicht nach vorne, während sie den Hörer immer noch an ihr Ohr presste.

Marsha bezahlte soeben die Rechnung für ihren Wagen, als sie sah, dass Allison immer noch auf sie wartete. Sie lächelte und musste daran denken, welch enge Freundschaft zwischen ihnen entstanden war. Minuten später saß sie in ihrem eigenen Wagen und fuhr zur Ausfahrt. Als sie auf gleicher Höhe mit Allisons Auto war, hupte sie kurz, aber ihre Freundin reagierte nicht.

Verwundert wollte Marsha aussteigen, da sah sie, dass Allison noch immer telefonierte. Sie zögerte, denn sie vermutete eine private Sache, und wollte weiterfahren. Aber etwas an der Art, wie ihre Freundin hinter dem Lenkrad saß, beunruhigte Marsha. So steif, wie sie ihr vorkam, musste sie schlechte Nachrichten erhalten haben.

Spontan stieg sie aus, ging zu Allisons Wagen und klopfte an das Seitenfenster.

„Allison! Ich bin’s! Ist alles in Ordnung?“ Sie wollte die Tür öffnen, aber die war von innen verriegelt. „Allison! Allison, hörst du mich?“

Sie sagte nichts, sie bewegte sich nicht. Marsha war außer sich vor Sorge, als Allison auf einmal den Kopf hob. Sie legte das Telefon auf den Beifahrersitz, legte einen Gang ein und gab Gas. Marsha konnte gerade noch einen Satz zur Seite machen, um nicht mitgeschleift zu werden. Fassungslos sah sie mit an, wie Allisons Wagen zwei Fahrspuren überquerte und dabei nur knapp zwei Kollisionen entging.

„Allison, pass auf!“ schrie sie verzweifelt, aber ihr Ruf verhallte ungehört. Schockiert musste sie miterleben, wie Allison Turner geradewegs unter einen Tanklastwagen raste. Zahlreiche Fahrer versuchten mit einer Vollbremsung oder einem Ausweichmanöver, nicht in den Unfall verwickelt zu werden, während andere, die ihren Wagen bereits zum Stehen gebracht hatten, fluchtartig davonliefen, da sie wussten, was geschehen würde. Unmittelbar vor dem Zusammenstoß hatte Marsha für einen kurzen Moment freie Sicht auf den Wagen gehabt. Sie hätte schwören können, dass Allison die Arme ausgestreckt hatte, als wolle sie den bevorstehenden Tod in die Arme schließen.

Nur einen Sekundenbruchteil, nachdem sich Allisons Wagen in den Tanklastzug gebohrt hatte, vergingen beide in einem gewaltigen Feuerball, dessen Wucht Marsha nach hinten auf den Boden schleuderte.

Als die ersten Krankenwagen die Unfallstelle erreichten, schrie sie noch immer voller Entsetzen.

2. KAPITEL

Eine Woche später, Sacred Heart Convent, im Norden von New York

Vor fünf Jahren hatte Georgia Dudley in ihrem Leben endlich Ruhe gefunden. Nach vier Jobs in zwei Jahren und lange währendem Kampf, ihren Platz in der Welt zu finden, war ihr in einem Traum die Erkenntnis gekommen, was sie tun musste. Ihre Familie hatte schockiert reagiert, ihr damaliger Freund war voller Trauer über ihre plötzliche Entscheidung. Doch für Georgia war es ein Moment der Würde gewesen.

Sie wollte Nonne werden.

Für eine Frau, die von frühester Jugend an Partys geliebt und kein fleischliches Vergnügen ausgelassen hatte, war es eine Entscheidung, die ihr niemand glauben konnte. Aber sie war durch das Feuer der Erlösung gegangen, das ihr Herz und ihre Seele gereinigt hatte, und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie wirklich glücklich. Als Schwester Mary Teresa lebte sie nun im Sacred Heart Convent im Norden von New York, und sie war in ihrem Element.

Sie war noch immer hitzig, aber stets in Gedanken bei Gott, wenn sie mit Verve und Freude durch das Leben ging. Sie war bei allen Nonnen beliebt. Sogar die Mutter Oberin hatte ein Leuchten in den Augen, wenn Schwester Mary in der Nähe war.

Jetzt, unmittelbar nach der Rückkehr von ihrem ersten Urlaub, war Schwester Mary Teresa voller Tatendrang und bereit, die Welt neu zu erfinden.

Die Mutter Oberin blickte von ihrem Schreibtisch auf und bot den seltenen Anblick eines Lächelns, als sie die junge Nonne in das Hauptbüro eintreten sah.

„Du bist also heimgekehrt“, sagte die Äbtissin. Schwester Mary lachte und breitete die Arme aus. „Ja … ja … und es ist ein Segen, wieder hier zu sein, das kann ich Ihnen versichern. Oh, Mutter Oberin, es war so wunderbar! Ich habe den Papst gesehen, ich habe seinen Ring geküsst! Oh, und dieses prachtvolle Rom! Es war wie in einem Film. Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass alles so … so …“

Die Äbtissin lächelte. „Es ist das Altertümliche, das dich so berührt, nicht wahr?“

Schwester Mary klatschte in die Hände. „Ja! Das ist es! Das Altertümliche. Man steht dort auf einer Straße und denkt darüber nach, wie viele Jahrhunderte diese Stadt schon erlebt hat und wie viele Millionen Menschen schon vor einem an genau derselben Stelle gestanden haben. Man kommt sich so klein und demütig vor.“

„Genau so, wie es auch sein soll.“

Schwester Mary lächelte. „Ja, ich weiß. Ich bin immer noch zu sehr von mir selbst eingenommen. Das ist eine Last, die ich mit mir herumtrage. Aber das mache ich frohen Herzens.“

Die Mutter Oberin lächelte erneut. „Und dieses Herz wird von uns allen sehr geschätzt“, sagte sie sanft. „Nun aber zu etwas anderem. Du hast Post bekommen, sie liegt nebenan auf dem Schreibtisch von Pater Joseph. Warum nimmst du sie nicht an dich, solange er fort ist. Dann musst du ihn später nicht deswegen stören.“

„Ja, Mutter Oberin. Danke“, sagte Schwester Mary und eilte zur Tür, die ins Nebenzimmer führte.

„Wandele, Schwester, wandele“, mahnte die Äbtissin die stürmische junge Nonne.

Schwester Mary kicherte und verringerte ihr Tempo auf gemäßigte, aber ausholende Schritte, während sie durch die Tür ging, um ihre Post zu holen. Es fiel ihr sichtlich schwer, ihr Temperament zu zügeln.

„Ich habe mein Gepäck schon auf mein Zimmer gebracht“, rief sie über die Schulter in das Büro zurück. „Sobald ich ausgepackt habe, komme ich sofort meinen Pflichten nach.“

Die Mutter Oberin lächelte kopfschüttelnd. „Es ist schon fast drei Uhr. Du musst dir vor morgen früh keine Gedanken über deine Pflichten machen. Geh und pack deine Taschen aus. Erfreue dich an deiner Post und geh früh schlafen, damit du dich in Ruhe wieder einleben kannst. Morgen ist ein neuer Tag für einen neuen Anfang.“

Wieder kicherte Schwester Mary. „Ja, Mutter Oberin, und vielen, vielen Dank. Ach, es ist einfach so schön, wieder zu Hause zu sein.“

Sie eilte so schnell aus dem Zimmer, dass ihre Tracht sich wie ein Segel an einem Mast bei voller Fahrt aufblähte.

Die Mutter Oberin schüttelte den Kopf und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit. Das Kind war beseelt, weiter nichts, und daran war nichts verkehrt. Sie konnten mehr Frauen von dieser Art gebrauchen.

Schwester Mary ließ sich auf ihr Bett fallen und nahm von der spartanischen Einrichtung nichts wahr, während sie sich in ihre Post vertiefte.

„Oh wie wunderbar! Ein Brief von Mutter und auch noch einer von Tommy!“

Tommy war ihr älterer Bruder, dem sie als Kind auf Schritt und Tritt gefolgt war, bis er und seine Freunde sie als ewige Nervensäge ebenso wie als ein Mitglied ihrer Gang akzeptiert hatten. Voller Vorfreude auf Neuigkeiten von zu Hause öffnete sie seinen Brief zuerst und erwartete, etwas über die neuesten Eskapaden ihres jüngsten Neffen zu erfahren. Ihre Hoffnung wurde schnell enttäuscht.

Hallo, Schwester … Wenn ich mich nicht irre, bist Du doch eine Zeit lang mit Josephine Henley in eine Klasse gegangen, stimmt’s? Ich kann mich nämlich daran erinnern, dass ich mit ihrem älteren Bruder Sammy befreundet war, bis seine Familie weggezogen ist. Jedenfalls habe ich von ihm vor kurzem schlechte Neuigkeiten erfahren. Es scheint so, dass Jo-Jo in Amarillo Selbstmord begangen hat. Sie ist einfach auf die Straße vor einen Truck gelaufen. Es ist alles sehr traurig. Die Familie kann es noch immer nicht fassen. Sie sagen alle, dass sie glücklich war und dass es ihr gut ging. Aber wer weiß schon, was in einem Menschen vorgeht. Ich habe Dir den Zeitungsausschnitt beigelegt, den Sammy mir geschickt hat. Tut mir Leid, dass ich schlechte Nachrichten überbringe, aber ich glaube, dass Du das schon wissen wolltest.

Ungläubig überflog sie den Ausschnitt, dann ließ sie den Brief auf den Schoß sinken. Ihr Herz war bei der Familie und dem kleinen Mädchen, an das sie sich noch so gut erinnern konnte. Sie würde später für Jo-Jo und ihre Familie beten. Dann nahm sie den Brief ihrer Mutter, überzeugt davon, dass sie angenehmere Neuigkeiten zu vermelden hatte.

Damit befand sie sich allerdings im Irrtum.

Georgia, Liebling … Oh, entschuldige, ich muss ja annehmen, dass Du diesen Namen nicht mehr benutzt. Ich freue mich für Dich, aber ich kann mich nicht dazu durchringen, Dich mit Schwester Mary anzureden, darum verzeih mir, Liebling, wenn ich es versäume.

Ich bin in der letzten Zeit sehr beschäftigt gewesen. Einige Tage in der Woche arbeite ich ehrenamtlich im Krankenhaus. Du solltest mal diese rosafarbenen Uniformen sehen, die wir tragen müssen. An der Hüfte sind sie zu eng und oben herum zu weit. Aber vielleicht bin ich ja auch nur so unförmig, wer weiß? Aaron Spaulding lässt Dich schön grüßen. Du weißt ja, er ist Vizepräsident in der Bank, in der er immer noch arbeitet. Er wäre ein guter Ehemann für Dich gewesen. Zu schade, dass Du Dich von ihm getrennt hast, als er noch Kassierer war. Habe ich Dir übrigens schon geschrieben, dass er noch Junggeselle ist? Allerdings nehme ich an, dass Dich das jetzt nicht mehr interessiert.

Schwester Mary musste grinsen. Ihre protestantische Mutter war noch immer schockiert darüber, dass ihre Tochter nicht nur Katholikin geworden, sondern auch noch ins Kloster gegangen war.

Es gibt noch eine Neuigkeit, von der Du vermutlich noch nichts weißt. Erinnerst Du Dich noch an die kleine Emily Patterson? Die diesen Jackson-Jungen geheiratet hat und dann nach Seattle gezogen ist? Ihre Mutter lebt noch immer einen Block von uns entfernt, von ihr habe ich es auch erfahren. Es ist so entsetzlich traurig. Stell Dir vor, Emily ist tot. Es tut mir so Leid, Dir das schreiben zu müssen, weil ich mich erinnere, wie Du mit ihr nach der Schule immer bei uns vor dem Haus gespielt hast.

Vielleicht kannst Du ja für sie beten. Auf jeden Fall heißt es, sie hätte sich umgebracht. Stell Dir das nur vor! Sie ist einfach von einer Brücke ins Wasser gesprungen, ohne an ihren Mann und ihr kleines Kind zu denken. Ehrlich gesagt, kann ich das nur schwer glauben, aber es weiß ja niemand, was mal aus einem Kind wird. Ich hätte schließlich auch nicht gedacht, dass meine eigene und einzige Tochter Nonne werden würde. Nicht, dass das etwas Schlimmes ist, aber erwartet habe ich das nicht. Ich lege Dir einen Ausschnitt aus einer Zeitung aus Seattle bei, in dem etwas über den Vorfall geschrieben steht. Lies es Dir in Ruhe durch. Ruf mich doch mal an, wenn sie Dir das erlauben. Ich denke immer, dass Du hinter diesen dicken Mauern wie im Gefängnis lebst, auch wenn ich sicher bin, dass das nicht der Fall ist. Oder? Du darfst doch telefonieren, wenn Du das möchtest, oder nicht?

Marys Hände begannen zu zittern. Das war mehr, als sie ertragen konnte. Ohne den Brief bis zum Schluss zu lesen, legte sie ihn zu dem anderen und kniete nieder, um zu beten, während der Verlust ihr zu schaffen machte, den die Freunde und Familien spürten.

Die Nacht war über Sacred Heart hereingebrochen. Die Vesper war vorüber, und Schwester Mary hatte sich auf ihr Zimmer begeben, den Rest der Post aber noch immer nicht gelesen.

Sie saß auf ihrem Bett und öffnete die Schublade des kleinen Nachttischs, um die Briefe von ihrem Bruder und ihrer Mutter dort zu deponieren. Als sie die Schublade zuschob, war ihr, als hätte sie symbolisch zwei alte Freundinnen beerdigt. Sie wollte sich daran geben, die anderen Briefe zu lesen, aber ihr Herz war zu schwer, und ihre Stimmung befand sich auf einem Tiefpunkt, als dass sie sich mit ihnen hätte befassen wollen. Dennoch wusste sie, wo sie Erbauung finden konnte. Sie griff nach der Bibel, flüsterte rasch ein Gebet und schlug sie auf, um in den Zeilen der alten Texte Trost zu finden.

Einige Zeit verging, in der sie sich mit den unerfreulichen Nachrichten hatte abfinden können, als jemand an der Tür klopfte.

„Herein“, sagte sie leise.

Die Tür wurde geöffnet. Sie erkannte die Silhouette der Mutter Oberin vor dem Lichtschein des Flurs.

„Ich habe noch Licht gesehen“, sagte sie. „Bist du krank?“

Schwester Mary seufzte. „Im Herzen“, sagte sie leise und klappte die Bibel zu.

„Kann ich helfen?“

„Beten Sie für die Verlorenen“, antwortete Schwester Mary und dachte an die Seelen der beiden Freundinnen.

„Leg dich schlafen, mein Kind. Morgen ist ein neuer Tag.“

Schwester Mary nickte.

Die alte Nonne zog die Tür zu. Schwester Mary starrte so lange auf den Türknauf, bis ihre Augen zu brennen begannen. Dann machte sie sich für die Nacht fertig. Die Mutter Oberin hat Recht, dachte sie: Morgen ist ein neuer Tag.

In derselben Nacht, St. Louis, Missouri

Virginia Shapiro drehte den Wasserhahn zu und verließ die Dusche. Sie nahm sich ein Badetuch und drehte sich zu dem Spiegel, der die gesamte Innenseite der Badezimmertür bedeckte. Der Dampf vom heißen Wasser hatte ihn beschlagen lassen, und hier und da waren vereinzelte Rinnsale zu sehen, die sich ihren Weg nach unten bahnten. Sie wollte den Spiegel trockenwischen, aber sie war zu sehr in Eile. Sie wand ein Handtuch wie einen Turban um ihre Haare und nahm sich ein zweites, um sich flüchtig abzutrocknen. Im nächsten Moment eilte sie schon aus dem Badezimmer zum Schrank und ignorierte die Feuchtigkeit auf ihren langen, schlanken Beinen. Die Gene, die ihr zugeteilt worden waren, hatten an ihrem Körper kaum Platz für Fülle gelassen, und obwohl viele Frauen mit ihrer hoch gewachsenen, grazilen Figur hätten tauschen wollen, störte sich Ginny sehr daran, dass sie bequem auf einen BH verzichten konnte, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Ginny Shapiros einzige Schwäche war ihre Art zu gehen. Die Natur hatte sie nicht mit einem leichten, wippenden Gang beschenkt.

Im Flur schlug plötzlich eine Uhr. Sie wirbelte auf der Stelle herum, in der einen Hand ein Kleid, in der anderen ein Paar Schuhe, und sah zur Uhr.

Oh nein! Viertel vor fünf. Joe würde jeden Augenblick klingeln.

Mit hektischen Bewegungen warf sie ihre Kleidung auf das Bett und begann, in der Schublade Unterwäsche herauszusuchen. Nur fünf Minuten später stand sie wieder vor dem Spiegel im Badezimmer, den sie behelfsmäßig trockengewischt hatte, um in aller Eile ihr Make-up aufzulegen.

Sie warf den Lippenstift auf die Badezimmerablage und nahm den Föhn, um mit stärkster Leistung ihre Haare zu trocknen. Ihr glattes, schulterlanges Haar war noch immer feucht, als sie die Türklingel hörte. Sie warf einen letzten Blick auf ihr Spiegelbild, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und stürmte zur Wohnungstür.

Bevor sie öffnete, atmete sie noch einmal tief durch, verdrehte die Augen, weil sie ein solches Theater wegen eines Abendessens mit einem Mann veranstaltete, der für sie niemals mehr als ein Freund sein würde, dann machte sie die Tür auf.

„Ich hoffe nur, dass du einen Riesenhunger hast. Ich bin nämlich so gut wie ausgehungert, aber ich möchte nicht mehr essen als du“, sagte sie.

Joe Mallory grinste und erwiderte: „Du isst immer mehr als ich.“

Ginny warf ihm einen viel sagenden Blick zu und meinte: „Das kostet dich einen Nachtisch.“

Dann nahm sie ihre Handtasche und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Als sie Momente später im Aufzug standen und auf dem Weg nach unten und damit zu weit entfernt waren, um noch etwas davon wahrzunehmen, klingelte das Telefon. Der Anrufbeantworter sprang an.

„Hier ist Virginia Shapiro. Hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton.“

Es folgte ein langer Pfeifton, aber niemand sagte etwas. Nach ein paar Augenblicken wurde die Verbindung unterbrochen. Das war nicht weiter schlimm. Der Anruf würde später noch einmal erfolgen, es war noch Zeit genug.

Am nächsten Morgen zitterten Schwester Mary Teresas Hände, während sie nach dem Telefonhörer griff, um den Anruf zu erledigen. Die Briefe sowie die E-Mail, die sie von einem entfernt verwandten Cousin erhalten hatte, sprachen eine deutliche Sprache. Fünf Frauen, mit denen sie in die erste Klasse gegangen war, hatten Selbstmord begangen, und das in einem Zeitraum von wenigen Wochen.

Es gab noch eine seltsame Verbindung zwischen ihnen, die ihr aber erst aufgefallen war, nachdem sie bei den fünf Familien angerufen hatte, um ihr Beileid auszusprechen. Ausnahmslos war es den Frauen sehr gut gegangen, bis sie plötzlich einen Anruf erhalten hatten. Die Frage war nur, welche Nachricht so schlimm sein konnte, dass sie alle so gleichermaßen selbstzerstörerisch reagiert hatten. Es ergab keinen Sinn. Hinzu kam die Tatsache, dass sie die Namen mit einer anderen Erinnerung in Verbindung brachte. Sie wusste, wen sie anrufen musste, um die Antworten zu erhalten.

Sie atmete tief durch, dann tippte sie die Nummer ein. Als sie am Ende der Leitung die Stimme ihrer Mutter vernahm, fühlte sie sich von dem Wunsch überwältigt, wieder ein Kind zu sein, um den Kopf in den Schoß ihrer Mutter zu legen und darauf zu warten, dass alles wieder in Ordnung kam. Sie unterdrückte diese Schwäche und sprach mit freundlicher Stimme, obwohl sie am liebsten geheult hätte.

„Mutter, ich bin es.“

Sie konnte fast hören, wie Edna Dudley zu grinsen begann. „Darling! Du bist zurück! Wie war es in Rom?“

„Wunderbar. Und so erfrischend für den Geist. Mutter, ich würde mich gerne viel länger mit dir unterhalten, aber ich bin schon spät dran. Wir besuchen heute Morgen ein Kinderkrankenhaus, und ich möchte nicht, dass die anderen ohne mich abfahren. Aber du musst mir einen Gefallen tun.“

„Alles, was du willst“, erwiderte Edna.

„Weißt du, wo sich mein altes Jahrbuch von der Montgomery Academy befindet?“

„Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, es steht in deinem Zimmer in einem Regal. Soll ich nachsehen?“

Schwester Mary zögerte.

„Das dauert nicht lange“, sagte Edna. „Ich bin schon im ersten Stock.“

„Dann bitte ja. Es ist wichtig.“

Edna legte den Hörer zur Seite.

Autor

Dinah Mc Call
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