Das Internat

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In der Schule waren sie unzertrennlich, doch heute haben sich die Wege der drei Freundinnen längst getrennt: Mattie hat Karriere als Richterin gemacht, Breeze ist erfolgreiche Unternehmerin und Jane die First Lady der Vereinigten Staaten. Als jedoch der Journalist Jameson Cross auftaucht, müssen sie sich an ihren alten Schwur erinnern, denn er beginnt, unangenehme Fragen zu ihrer Vergangenheit zu stellen: Hat ihre Freundin Ivy damals im Internat wirklich Selbstmord begangen? Und was haben die Frauen mit dem Tod der damaligen Internatsleiterin Millicent Rowe zu tun? Bald schon brechen alte Wunden auf, und alle Beteiligten werden immer tiefer in ein Geflecht aus Lügen und Schuld hineingezogen, aus dem nur die Wahrheit einen Ausweg weisen kann.


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955761677
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Suzanne Forster

Das Internat

Roman

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Lonely Girls Club

Copyright © 2005 by Suzanne Forster

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung & Autorenfoto:

© by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-167-7

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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1. KAPITEL

Rowe-Akademie für Mädchen

Tiburon, Kalifornien

Winter 1980

Das Baumwollhemdchen war zu eng. Es presste ihre Brüste zur kleinsten Körbchengröße zusammen. Sie zog sich eine frische weiße Bluse an und knöpfte sie auf, gerade so weit, dass der Ansatz ihres Halses entblößt war.

Sie konnte ihn sehen, sein nachdenkliches Gesicht. Er betrachtete sie, fasziniert von ihrem Ritual vor dem großen Spiegel. Sich für den Sex anzuziehen, kam ihr immer komisch vor, doch so mochte er es nun einmal. War er schon erregt? Elektrisiert vom rasenden Rhythmus seines Herzens?

Die Falten ihres karierten Rocks reichten ihr gerade bis an die Knie. Der Rock öffnete sich wie ein Kilt, und der Stoff flog auseinander, als sie auf einem Fuß herumwirbelte. Sie war jetzt fröhlich, kindlich. Ihre dunklen Zöpfe wippten. Sicher bemerkte er ihre Verwandlung. Während sie die baumwollnen Kniestrümpfe über ihre nackten Füße streifte, sah sie nicht in den Spiegel. Sie zog Seide vor, aber schließlich musste ihr Outfit authentisch sein. Kein Make-up war erlaubt, nur ein paar Kniffe in die Wange und etwas Lipgloss. Kein Schmuck. Das wäre zu viel.

Er war nicht länger im Spiegel zu sehen. In der Hoffnung, ihn auf dem Bett liegend zu entdecken, über die Maßen erregt und zitternd vor Scham, drehte sie sich erwartungsvoll um. So hatte sie Macht über ihn, und es musste heute alles glattgehen, sonst würde ihre Beziehung nicht überleben. Sie hatte ihm etwas Wichtiges zu sagen. Aber ihre Hoffnung schwand, als sie ihn am Fenster stehen sah, den Blick auf den Hof gerichtet, drei Stockwerke unter ihrem Apartment, wo die Schülerinnen ihres Mädcheninternats gerade die Pause verbrachten.

Die Akademie, ein hufeisenförmiges Gebäude, gestaltet in der Art efeuumrankter viktorianischer Schlösser im alten England, war mehr als eine Schule, es war Millicents Zuhause. Nach dem Tod ihrer Großmutter vor fünfzehn Jahren hatte eine Stiftung in dem Gebäude ein Internat eingerichtet. In diesem Moment aber kam es ihr wie ein Gefängnis vor.

Sie ging zu ihm, aber er nahm ihre Anwesenheit nicht wahr. Stattdessen starrte er auf ein wunderschönes Wesen mit langen roten Locken und dem verheißungsvollen Lächeln einer Sixtinischen Madonna. Die junge Frau stand neben dem Brunnen in der Mitte des Hofes und schien nicht zu merken, dass der Dunst des Wassers sie wie ein Kommunionsschleier umschwebte. Wegen des frischen Wetters hielten sich die meisten Schülerinnen drinnen auf, aber diese wollte offenbar mit ihren Gedanken allein sein.

"Ist sie es also?", fragte ihn die Direktorin. "Eines meiner Mädchen? Du willst wirklich ein Kind?" Ihre Bitterkeit schmerzte sie wie eine blutende Wunde, aber er war sich dessen nicht bewusst.

"Sie ist kein Kind", stellte er fest. "Sie ist erwachsen, aber immer noch in der Blüte der Jugend. Sie ist natürlich und zauberhaft, unberührt."

Eine Welle des Zorns ergriff die Direktorin. Noch keine dreißig, und sie wurde zur Seite gestoßen für ein junges, dummes Mädchen? Nach allem, was sie für ihn getan hatte? Ihr ganzes Leben hatte sie nach seinen Bedürfnissen ausgerichtet, aber jetzt gab es keine Möglichkeit, ihm von den Neuigkeiten zu berichten. Er würde sich über sie lustig machen.

Ihre Wut erstarb. Sie erstarrte zu Eis. Er würde das bekommen, was er wollte, und er würde dafür zahlen. Er war ein mächtiger Mann. Allzu leicht konnte er sie ruinieren. Aber er war zu weit gegangen, und sie beide wussten es. Ja, er würde bekommen, was er wollte. Ja, er würde dafür zahlen.

* * *

San Quentin-Gefängnis

Sommer 2005

Nebel verschleierte die Sonne und verwandelte sie in einen silbernen Mond, als das Haupttor klirrte. Das große, dünne, gespenstische Abbild eines Menschen schlich in den Eingangsbereich. Er ging ein paar Schritte, doch es sah eher wie Schweben als Gehen aus. Ein dunkler Anzug schlackerte lose um seine knochige Gestalt, sein volles blau-schwarzes Haar fiel nach vorn, sodass kein Licht auf sein Gesicht fiel, von dem lediglich die spitzen Wangenknochen erkennbar waren. Ein Insasse des Todestraktes, aber er wurde entlassen – der einzige Häftling an diesem Tag.

Die Straße vor sich schien er nicht wahrzunehmen, nur die mittelalterliche Festung hinter sich. Nach ein paar Schritten hielt er inne, drehte sich um, schwankend wie ein spindeldürrer, übergroßer Baum. Er hob die Hand und krümmte alle Finger, außer dem mittleren. Es war weniger ein Akt des Trotzes als eine Überprüfung seiner verfassungsmäßigen Rechte. War er wirklich ein freier Mann? Eine Autotür schlug in der Ferne zu, und er duckte sich, offenbar in der Erwartung, erschossen zu werden.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein anderer Mann, neben einem glänzend schwarzen Geländewagen mit verdunkelten Scheiben. Jameson Cross war genauso groß wie der Ex-Häftling, und sein dunkles Haar hatte den gleichen Blauschimmer. Aber damit endete die Ähnlichkeit; abgesehen von den körperlichen Merkmalen waren die Männer grundverschieden.

"William Broud? Kann ich dich mitnehmen?" Cross trat vorsichtig nach vorn, streckte die Hand aus und zeigte mit der anderen auf sein Auto. "Es ist ein langer Weg zurück in die Zivilisation."

Broud sah nicht auf oder ließ sonst wie erkennen, dass er Cross wahrnahm. Der entlassene Häftling tat gerade so, als würde er nicht existieren. Doch Cross wusste, dass der andere ihn gehört hatte. Es geschah mit voller Absicht. William Broud hatte ihn schon ignoriert, bevor er ins Gefängnis ging. Sie waren keine Feinde, nein, es war schlimmer.

Cross lief ein Stück neben ihm her. "Ich möchte mit dir über die Morde im Mädcheninternat sprechen. Du wirst jetzt einen Job brauchen, und ich kann dich einige Zeit bezahlen."

Cross war ein Bestsellerautor, er schrieb über wahre Kriminalfälle, und sein Interesse an dem Fall ging über das Buch weit hinaus. Broud war Gärtner und Hausmeister an der exklusiven Akademie in Tiburon gewesen. Er hatte dreiundzwanzig Jahre im Gefängnis verbracht, die meisten davon im Todestrakt, verurteilt wegen des Mordes an Millicent Rowe, der Schulleiterin. Aber Broud war kürzlich durch eine DNA-Probe entlastet worden. Cross verstand nicht, warum der Mann sich weigerte, über eine Ungerechtigkeit dieses Ausmaßes zu sprechen. Bei der Verhaftung hatte er behauptet, unschuldig zu sein, von Verschwörungen und Vertuschungen geschwafelt, von einem Sexring, dem angeblich Schülerinnen angehörten. Aber er war damals im Besitz von Drogen gewesen, und es war Blut der Gruppe B-negativ gefunden worden, Brouds Blutgruppe.

"Wer sind die einsamen Mädchen?", fragte Cross. "Du hast behauptet, dass sie die Direktorin getötet haben. Waren sie Schülerinnen des Mädcheninternats?"

Broud ging weiter, den Kopf gesenkt, das Gesicht vom Haar verdeckt.

Cross war verärgert. Das musste aufhören. "Du bist dreiundzwanzig Jahre im Gefängnis verrottet, und keinen hat es interessiert", sagte er. "Sie hätten dich sterben lassen. Wer auch immer es getan hat, sollte dafür zahlen, dass er dich durch die Hölle gehen ließ."

Das schwarze Haar flog zur Seite und entblößte Brouds gequälte Miene. Er starrte Cross an. "Du hast recht. Es hat keinen interessiert. Warum sollte es dann mich noch interessieren? Lass mich in Ruhe."

"So muss es nicht sein. Billy …"

"Nenn mich nicht so", fauchte Broud mit wildem Blick. "Billy ist verschwunden. Es gibt ihn nicht mehr."

Cross blieb stehen und sah zu, wie Broud davonhumpelte. Wenn er weitergemacht hätte, wäre es nur zum Streit gekommen. Es mochte keinen Billy Broud mehr geben, aber wenn Zombies existierten, hätte dieser Mann einer sein können. Sein Gesicht glich einer furchterregenden Halloweenmaske. Auch wenn ihm die Hinrichtung erspart geblieben war, so schien doch seine Menschlichkeit nun ausgelöscht. Nur in seinen Pupillen brannte noch ein Funken von Leben. Und Jameson Cross würde diesen Ausdruck nicht so schnell vergessen.

Cross war sicher, dass Broud wusste, wer ihm das angetan hatte, aber aus irgendeinem Grund sprach er nicht darüber. Vielleicht wollte er sich selbst rächen. Nichtsdestotrotz war dies eine Geschichte, die Cross erzählen wollte. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Allein seine Verdächtigungen würden Schlagzeilen machen.

Es würde spannend sein, zu sehen, wer in Deckung gehen würde, sobald Cross den ersten Schuss abfeuerte. Wenn er recht hatte, jagte er Großwild. Die Leute, die er verdächtigte, operierten auf den höchsten Ebenen der Regierung, in Justiz und Wirtschaft. Und was es noch interessanter machte: Es waren alles Frauen.

2. KAPITEL

"Sag mir, dass sie einen weißen Spitzenslip unter der schwarzen Robe trägt, und ich schwöre, ich schmeiße meine Videos weg."

Mattie Smith lehnte tief über einen Karton mit Rechtsakten und ignorierte das geflüsterte Gebet ihres Assistenten an den Allmächtigen. Als das vierundzwanzigjährige Ex-Gang-Mitglied ihre Kammer betrat, veränderte Mattie ihre Position, während sie durch die Akten blätterte. Sie musste in diesem Karton die Akte zu einem Fall finden, an den sie sich noch aus ihren Anwaltstagen erinnerte.

Wie viele Assistenten sprachen in der Anwesenheit einer Richterin des Bundesberufungsgerichts von Slips? Auch wenn nur im Flüsterton? Nur Jaydee Sanchez. Hätte ein anderer Angestellter das versucht, Mattie hätte ihn wahrscheinlich sofort gefeuert. Aber James Dean Sanchez war nicht irgendein Mitarbeiter. Und sie war nicht irgendeine Richterin.

Er ließ die Morgenzeitung auf ihren Schreibtisch fallen. Das Klatschen des Papiers auf dem polierten Mahagoniholz bescherte ihm einen gemurmelten Dank von Mattie. "Du hättest große Chancen in der Filmbranche, Jaydee, wenn du kein Anwalt wärest."

"Ich habe meine Zulassung noch nicht", erinnerte er sie, "und ich habe eine Karriere beim Film noch nicht ausgeschlossen. Es ist würdevoller als die Arbeit mit Gesetzen, und es wird bestimmt besser bezahlt. Aber, herrje, schließlich habe ich mich für einen Sitz am Obersten Gerichtshof entschieden."

Mattie drehte sich um und blickte in seine unbewegte Miene. "Du hast es in Erwägung gezogen? Film?"

"Ich habe auch darüber nachgedacht, als Model zu arbeiten", sagte er, als würde das alles erklären.

Um den Schmerz in ihrem unteren Rücken zu vertreiben, richtete Mattie sich auf. Entweder hatte sie sich zu lange in gebeugter Haltung befunden, oder ihre achtunddreißig Jahre machten sich bemerkbar. Sie rieb sich über die schmerzende Stelle.

Ihr Stirnrunzeln verhieß Jaydee, den Mund zu halten, obwohl Mattie keine Ahnung hatte, was er sagen wollte. Wenn er sich mit irgendetwas beschäftigte, dann war es nicht ihr Alter oder ihre Gebrechen. Meistens beschwerte er sich über die Auswahl ihrer Kleidung. Zu viel Khaki.

"Wenn ich mich recht entsinne, wolltest du dir meine schusssichere Weste für ein Casting leihen", sagte sie in Erinnerung an seinen Umweg in die Modeszene der Bay Area. Es hatte Mattie überrascht, denn Jaydee war bekannt für sein konservatives Outfit.

"Ich wollte nur sehen, wie du sie ausziehst."

Ein Grinsen vertiefte seine zimtfarbenen Grübchen. Er drückte die Plastikhaube auf seinen großen Pappbecher Kaffee und nahm einen Schluck von dem dampfenden Getränk. Seine dunklen Wimpern flatterten amüsiert.

"Du musst lockerer werden."

Mattie hatte ihn immer um die Fähigkeit beneidet, sich spontan über etwas zu freuen. Jaydees Gabe nannte sie das. Aber heute machte ihr das schlechte Laune. In der vergangenen Nacht hatte sie kaum Schlaf gefunden, der Fall von Kindesentführung, der vor ihr lag, hatte Mattie wach gehalten. Sie verhandelte normalerweise keine Kriminalfälle auf Bezirksebene. Vor drei Jahren war sie im Berufungsgericht eingesetzt worden, wo die Fälle unter der Leitung von drei Richtern verhandelt wurden. Wegen einiger Krankheitsausfälle war sie aber kürzlich als zeitweise Vertretung an das Bezirksgericht gerufen worden.

Dieser spezielle Fall entwickelte sich von Anfang an schwierig. Mattie musste zwischen ihrer Kammer am Neunten Gericht und der anderen im Bezirksgericht pendeln, was ihr den Zugriff auf Bibliothek und Archivmaterial erschwerte. Darüber hinaus bestürzten sie die Missbrauchsfälle aus persönlichen Gründen. Anfangs hatte Mattie sich deshalb gefragt, ob sie überhaupt gerecht und unbefangen urteilen könnte. Jetzt machte sie sich Sorgen, dass sie in ihrem Versuch, fair zu sein, zu weit gegangen sei.

Der einundzwanzigjährige Angeklagte hatte seinen sechs Jahre alten Bruder entführt, um ihn vor den Übergriffen des Vaters zu schützen, und ihn an einen sicheren Ort jenseits der kanadischen Grenze gebracht. Er hatte versprochen, so schnell wie möglich zurückzukehren. Aber das Haus wurde vom FBI gestürmt und der Junge heimgebracht.

Die Vorgeschichte war umfangreich und kompliziert. Weil die Eltern wohlhabend genug waren und über gute politische Kontakte verfügten, war der Angeklagte in allen Versuchen gescheitert, seinen kleinen Bruder von zu Hause wegzubringen. Schließlich griff er aus lauter Verzweiflung seinen Vater an und wurde wegen Körperverletzung verurteilt. Als er nach neunzig Tagen aus der Haft entlassen wurde, hielt das Jugendamt ihn nicht länger für glaubwürdig. So blieb der Sechsjährige im Haus seiner Eltern, bis der Angeklagte ihn von dort entführte.

Jetzt war das Kind in einer Pflegefamilie gut untergebracht, aber über das Schicksal von Ronald Langston, dem älteren Bruder, sollte das Gericht entscheiden. Er hatte bei der Befragung durch die Polizei einige Dinge gesagt, die als Geständnis gelten konnten. Es stand in Matties Macht, die Aussagen nicht zuzulassen, aber sie wollte fair sein und ließ sie als zulässige Beweise gelten. Tatsächlich hatte sie nie damit gerechnet, dass Langston verurteilt würde. So wie die Verhandlung jetzt lief, war sie sich nicht mehr so sicher.

"Hier ist deine geliebte Zeitung."

Mattie schaute hoch und sah, wie Jaydee auf die Ausgabe des San Francisco Chronicle deutete, die auf ihrem Schreibtisch lag.

"Du liest das Ding wegen der Kleinanzeigen, richtig?" Er nickte wissend.

Mattie machte sich nicht die Mühe, ihm den bösen Blick zuzuwerfen, den er verdiente. Es war sowieso hoffnungslos. Sie kannten sich schon seit Jahren, und in mancher Hinsicht waren sie sich näher als Verwandte. Sie war seine Mentorin in allen rechtlichen Belangen. Wegen ihrer einzigartigen Verbindung hatte sie besonders darauf geachtet, ihm den Umgang mit Richtern beizubringen. Außerhalb der Kammern behandelte Jaydee sie mit äußerster Ehrerbietung und Respekt, aber innerhalb der Kammern war das eine andere Geschichte.

Mattie hatte noch als Anwältin gearbeitet, als Jaydee ihr Kronzeuge gegen einen Drogenbaron gewesen war, der den Großteil der hispanischen Jugend in Orange County beliefert hatte. Auf dringendes Anraten der lokalen Polizei musste Mattie damals ständig eine schusssichere Weste tragen.

Jaydee entstammte einer Macho-Gangkultur und war es nicht gewohnt, einer Frau nach der Pfeife zu tanzen. Trotz allem zwang Mattie ihn nicht zur Aussage. Aus persönlichen Gründen sagte er aus. Mit dreizehn Jahren riskierte er alles, um dabei zu helfen, den Drogenhändler dingfest zu machen, und seine Aussage brachte den Mann lebenslang hinter Gitter. Außerdem brachte es Mattie in sein Leben. Sie profitierte von ihrer Verbindung enorm, aber Jaydee verlor. Alles. Die Schläger des Drogenkönigs ermordeten seine einzigen noch lebenden Familienmitglieder – die Großeltern, die ihn aufgezogen hatten.

Matties Schock und Kummer kamen dem von Jaydee sehr nah. Er war zu stolz, um sich offen von ihr trösten zu lassen, aber sie fand andere Wege. Sie wurde seine Familie, holte ihn zu sich in die Bay Area, wo sie aufgewachsen war. Sie eröffnete eine Anwaltspraxis und gab ihm einen Job. Aber weil sie so viel arbeitete, fand sie für ihn eine Pflegefamilie, bei der er wohnen konnte.

Als er sich für eine Karriere als Anwalt entschied, freute sich Mattie darüber.

Soweit es sie betraf, konnte Jaydee Sanchez sie wegen ihrer Weste oder ihrer Taucheruhr jederzeit piesacken. Außerdem war er nicht der Einzige, der sich Bemerkungen dieser Art erlaubte. Sie war bekannt als der 50-Kilo-Pitbull mit den kobaltblauen Augen. Sie sah das positiv. Wenn ein Geheimnis ihre Gegner so lange verwirrte, dass sie daraus einen Vorteil schlagen konnte, dann sollten sie sich in Gottes Namen gern wundern.

"Könnten wir über den Fall Langston sprechen?", fragte sie. "Der macht mir wirklich Sorgen."

"Kein Scheiß?" Jaydee zog einen gelben Block voller Notizen aus seiner überfüllten Aktentasche. "Der Pflichtverteidiger ist unfähig und die Anklage brillant. Die lassen den Jungen aussehen wie das Monster aus Alien."

Mattie konnte ihm nur zustimmen. Einmal war der Staatsanwalt zu den Geschworenen hinübergeschlendert und hatte sich zu Langston umgedreht, einem stämmigen Jugendlichen mit rasiertem Kopf und einer hässlichen Narbe im Gesicht, die von dem Kampf mit seinem Vater stammte. "Können Sie sich vorstellen", hatte der Staatsanwalt zu den Geschworenen gesagt, "welche Angst das Kind gehabt haben muss, als es im Dunkeln aus dem Bett gerissen wurde? Wie stellen Sie es sich vor, von diesem Mann entführt zu werden?"

Eine Verzweiflung, die für eine Richterin vollkommen unangemessen war, hatte Mattie in diesem Moment erfasst. Wenn ein empfindsames Herz in dem alles abstreitenden Langston schlug, war es schwer zu erkennen.

"Der Staatsanwalt versucht, es wie einen Machtkampf zwischen Langston und seinem Vater aussehen zu lassen", sagte Jaydee. "Und er macht seinen Job gut. Er will die Geschworenen glauben machen, dass sie das Kind wie einen Fußball hinund hergetreten haben."

Natürlich hatte der Vater den Missbrauch während seiner Zeugenaussage geleugnet, und er sagte, dass sein ältester Sohn ihn wegen einer Testamentsänderung hasse und ihn deshalb bedrohe. Er behauptete sogar, dass sein Sohn ursprünglich die eigene Identität verbergen und das Kind habe entführen wollen, um Lösegeld zu erpressen. Der Staatsanwalt war darauf eingegangen – eine exzellente Strategie.

"So wie ich das sehe, hat Langston keine Chance auf ein ordentliches Verfahren." Jaydee fuchtelte mit seinem Block. "Aber ich werde den Retter spielen. Willst du meine Idee hören, wie man das wieder hinkriegt?"

"Ich glaube nicht, Jaydee. Lieber nicht."

"Mattie, er wird verlieren, und bei allem gebotenen Respekt, die Beweise, die du zugelassen hast, sind die Schlinge um seinen Hals. Seine einzige Chance ist eine Berufung. Und die bekommt er nicht, es sei denn, es liegt im Verfahren ein Formfehler vor. Jemand muss einen Fehler machen, einen großen."

"Formfehler können nicht im Vorfeld arrangiert werden, Jaydee, und erst recht nicht von mir."

Matties Knie knackte verdächtig, als sie sich hinkniete, um erneut durch die Akten zu blättern. Sie wurde wirklich gebrechlich. Die Knieverletzung stammte von einem Vorfall in ihrer Kindheit, der mehr seelische als körperliche Schmerzen verursacht hatte. Welche Ironie, dass sie glaubte, sie hätte ihre Vergangenheit besser unter Verschluss als den Karton, den sie suchte. Nun zwang sie der Fall dazu, beides wieder hervorzuholen.

"Also geht Langston ins Gefängnis, möglicherweise lebenslänglich, weil er ein guter Bruder sein wollte?"

Mattie seufzte. Jaydee konnte nicht wissen, wie dieser Fall sie erschütterte, sonst hätte er nicht versucht, sie dazu zu bringen, dass sie ihre Macht auf fragwürdige Art und Weise einsetzte. Sie sah ihn befremdet an.

"Denkst du, wir könnten den Prozess fortführen, bis wir das Urteil der Geschworenen haben? Dafür ist unser Gerichtssystem da."

"Es sei denn, der Angeklagte hat schlechte Karten und ist nicht mal selbst schuld daran."

"Hier ist sie!" Sie riss die Akte aus dem Karton. "Das Volk gegen Randolph."

"Alles, was wir brauchen, ist ein korrigierbarer Fehler", beharrte Jaydee, "ein polizeilicher Ermittlungsfehler oder Interessenkonflikt vielleicht. Der Vater des Angeklagten spielt wahrscheinlich Golf mit dem Staatsanwalt. Zur Hölle, eine falsche Beratung des Angeklagten könnte schon ausreichen."

"Ich kann nicht, Jaydee. Berufsethik."

Er schlug mit seinem Block auf den Schreibtisch. "Das einzige Ethische, was man hier tun kann, ist, dem Jungen ein anständiges Verfahren zu verschaffen. Wo ist dein weiblicher Gerechtigkeitssinn?"

Sie warf ihm einen warnenden Blick zu und stand auf. "Gerade vorhin stand meine Weiblichkeit noch in Frage, oder nicht?"

"Das würde sie nicht, wenn du aufhören würdest, diese Weste zu tragen."

Seine Augen funkelten dunkel. Aber irgendwie taten sie das immer.

"Verzieh dich", sagte sie. "Ich brauche etwas Zeit allein mit Justitia hier." Sie berührte die Marmorstatue, die auf dem Schreibtisch stand. Es war zu einem ihrer Rituale geworden, vor einem schwierigen Fall ruhig dazusitzen und die Symbolfigur zu betrachten, die die Waagschalen der Gerechtigkeit balancierte. Nicht, um zu beten, zu meditieren oder nach Rat zu fragen; nur um zur Ruhe zu kommen und sich der Schwere der Aufgabe bewusst zu werden, die vor ihr lag.

Heute würde sie vielleicht sogar beten.

Sie wusste, dass Jaydee ihre Überzeugungen nicht in Frage stellte. Er konnte nur nicht verstehen, dass dieser Fall für sie persönlich schwierig war, sie sich zurückhalten musste und deshalb versuchte, vorsichtig zu sein. Normalerweise kritisierte Jaydee Matties Unwillen, eine politisch korrekte Moral vor das Gesetz zu stellen. Sie schreckte nicht vor Doppeldeutigkeiten zurück. Sie ging bei ihren Fällen in die Tiefe und analysierte sie von Grund auf. Die Suche nach der Wahrheit nahm sie ernst – auch wenn die Wahrheit nicht immer das war, was die Leute hören wollten. Meist lag ihnen lediglich daran, eine Rechtfertigung für ihre Überzeugungen zu bekommen, egal wie falsch sie waren. Sie wollten, dass Mattie es ihnen leicht machte, an ihren Lügen festzuhalten – aber sie machte es ihnen schwer.

Jaydee warnte sie permanent vor der Gefahr, sich Feinde zu machen. In vielerlei Hinsicht war er konservativer als sie. Und manchmal sogar klüger. Aber er war kein Richter. Er musste sich keine Gedanken darüber machen, wo die Grenzen des Gesetzes mit denen der eigenen Macht kollidierten.

"Also, tragen wir heute etwas Interessantes unter der Robe?", fragte Jaydee, während er die Plastikhaube seines Kaffees drehte.

Mattie zog die schwarzen Falten des Stoffes auseinander und machte eine kleine Verbeugung, um ihm zu zeigen, dass sie die berüchtigte Weste nicht trug. "Kriege ich dafür Pluspunkte?", fragte sie. Der kakifarbene Rock und das weiße Männerhemd, das sie aus ihrem Schrank geangelt hatte, waren hochmodisch, verglichen mit dem, was sie normalerweise unter ihrer Robe trug – Kakihosen und ein Poloshirt.

Jaydee lachte. "Wann ist denn die Geschlechtsumwandlung geplant?"

"Du bist der Erste, der es erfährt. Und jetzt raus mit dir!"

Sie zeigte auf die Tür, aber Jaydee schien noch nicht gehen zu wollen.

"Ernsthaft, Mattie", sagte er. "Warum so burschikos? Was steckt dahinter?"

"Es funktioniert."

"Um Männer fernzuhalten?"

"Nein, um meine Ziele zu erreichen. Ich bin eine Kämpfernatur. Die Leute legen sich nicht gern mit mir an. Na ja, außer dir."

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und wollte mit ihrer Arbeit weitermachen, nachdem die Unterhaltung beendet war. Sie musste sich eine Akte ansehen. Aber ihre Gedanken kehrten kurz zu dem Tag zurück, an dem Jaydee ihr das erste Mal begegnet war.

Plötzlich beugte er sich hinunter und berührte die Einkerbung unter ihren Lippen. "Du hast einen hübschen Mund", sagte er mit einer seltsamen, sanften Stimme. "Warum benutzt du ihn nicht für etwas anderes als nur zum Mittagessen?"

Ein hübscher Mund. Mattie lief ein kalter Schauer über den Rücken, wegen der Worte und der Art, wie er es gesagt hatte. Sie sprang auf die Füße und starrte ihren Schützling an, als hätte er den Verstand verloren.

"Raus hier, Jaydee", sagte sie. "Verschwinde jetzt – und fass mich nie wieder so an."

"Hey, Euer Ehren, ich habe nichts Böses gewollt."

Zu aufgewühlt, um ein weiteres Wort zu riskieren, drehte sie ihm den Rücken zu. Ihre Schläfen pochten, aber sie hörte, wie er ging. Die Tür zu ihrer Kammer fiel ins Schloss, und erst jetzt ließ sie die Schultern fallen. Stumm betrachtete sie ihr Spiegelbild im Fenster und machte eine Bestandsaufnahme. Sie hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem Mann, egal was Jaydee sagte. Ihre geraden Schultern verrieten Stärke, aber ihr Körperbau war zierlich. Sie sprühte vor Energie. Aber trotz aller Härte und Durchsetzungskraft fühlte sie sich durchsichtig wie Glas. Wenn das Feuer verglüht war und die Schatten aufzogen, nahm ihr Gesicht einen zerbrechlichen, verzweifelten Ausdruck an – sie sah dann aus, als holten sie Gespenster ein. So wie jetzt.

Ihre wenig figurbetonte Kleidung wählte Mattie absichtlich. Keine Accessoires. Kein Make-up. Ihr Rock und ihre Bluse hätten modisch und sexy sein können, kombiniert mit Stilettos und hochgesteckten Haaren. Aber Mattie hielt ihre schulterlangen Locken mit einem einfachen schwarzen Haarband zusammen. Das war weder besonders trendy, noch betonte es ihre tiefblauen Augen und die ausgeprägten Wangenknochen. Mattie Smith hatte Ecken und Kanten, an denen man sich schneiden konnte, und sie setzte sie ein.

Aber weiß Gott, es war einsam. Wenn sie dieses Gefühl zuließ, war das fast mehr, als sie ertragen konnte. Sie hatte Jaydee angelogen. Sie hatte alle angelogen. Sie zog sich nicht so an, um ihre Ziele zu erreichen. Sie tat es, um sich vor Leuten zu schützen, vor Männern, die ihren Mund berührten …

3. KAPITEL

Rowe-Akademie für Mädchen

Herbst 1981

"So ein hübscher Mund", stellte der Mann mit der Reibeisenstimme fest. "Gut, sie sieht ein bisschen unordentlich aus, aber das könnte ganz lustig werden. Ein echter Wildfang."

Die Frau, die das "Date" arrangiert hatte, schob das Mädchen ins grelle Licht einer Lampe, damit er sie besser sehen konnte. Die Uniform des Mädchens, ein karierter Faltenrock und eine weiße Bluse, kombiniert mit einem marineblauen Schal, den ein Monogramm zierte, betonte ihre schlaksige Gestalt. Von ihren blauen Kniestrümpfen war einer auf die Hälfte der Wade gerutscht, der andere bis zum Fußgelenk, so als ob sie hastig übergestreift worden wären. Eine glänzend schwarze Haarsträhne klebte an der feuchten Wange des Mädchens, aber es waren ihre wachsamen tiefblauen Augen, die ihr Gesicht dominierten.

Man hätte sie leicht als unordentlich bezeichnen können. Ungezähmt war der weitaus bessere Begriff, und ihr wildes Wesen war vermutlich die Quelle ihrer seltsamen, unsteten Erscheinung. Sie wirkte mürrisch, aber das kam von der Angst, die ihr Inneres durchflutete.

Sie befeuchtete sich mit der Zungenspitze die Lippen. Sie wollte nicht verführerisch wirken, aber ihr Mund war trocken und fühlte sich klebrig an. Sie schaffte es nicht einmal, zu lächeln.

"Sie sieht jung aus", sagte der Mann.

"Sie ist sehr clever", konterte die Frau. "Sie ist unsere beste Schützin, aber ich muss leider sagen, dass auch Handlesen zu ihren Hobbys gehört."

"Handlesen? Eines eurer Mädchen?" Seine krächzende Stimme durchdrang das leere Klassenzimmer. Die Hartholzböden und die geschlossenen Fenster ließen jedes Geräusch widerhallen wie in einem Canyon.

Die Frau strich sich über das Haar. Sie befingerte die Haarbüschel, die sich aus dem geflochtenen Knoten gelöst hatten, der wie eine glänzende Schlange an ihrem Hinterkopf saß. "Sie ist anders. Ich habe viel Zeit mit ihr verbracht, aber sie scheint gegen meine Erziehungsmaßnahmen immun zu sein."

"Klingt das nach My Fair Lady?"

Sie seufzte. "Ich fürchte ja."

Das vierzehnjährige Mädchen, über das diskutiert wurde, starrte trotzig vor sich hin. Man hatte ihr gesagt, dass sie lächeln und mit dem Mann flirten solle, aber das Licht war so grell, dass sie ihn nicht erkennen konnte, nicht einmal, wenn sie die Augen zusammenkniff. Und dafür würde man ihr später die Hölle heiß machen. Miss Rowe hasste es, wenn sich ihre Schützlinge so gewöhnlich benahmen, auch wenn sie es waren. Aber dieses Mädchen war nicht wie die anderen Schülerinnen, die aus reichen Familien stammten. Sie war eine derjenigen, die ein Grace-Stipendium hatten.

"Wie heißt sie?", fragte der Mann.

"Matilda. Süßer Name, nicht? Sie ist sehr lebhaft und auf ihre Art wirklich bezaubernd."

Das Mädchen glaubte, nicht richtig zu hören. Bezaubernd? Sie war schrecklich ungelenk, niemand wusste das besser als sie selbst. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendein Mann etwas von ihr wollte. Matilda, die Streberin? Der Freak mit dem Superhirn? Warum hatte man sie für diese entwürdigende Vorstellung ausgewählt? An der Schule waren nur vier Stipendiatinnen, und die anderen drei würden niemals glauben, dass er sich Mattie Smith ausgesucht hatte. Sie waren alle wunderschön und hatten Brüste. Mattie hatte sogar ihre Kleidung zerknautscht, in der Hoffnung, dass er sie für schlampig und ungeeignet hielt.

Der Mann zog etwas aus seiner Manteltasche, eine lange Schärpe, die er glatt zog.

"Keine Augenbinden", warnte Miss Rowe. "Sie hat Angst davor, eingesperrt zu sein. Und sie würde im Dunkeln nichts sehen."

Matties Herz schlug zum Zerbersten, es hämmerte schmerzhaft in ihrer Brust, als der dunkle Stoff in seiner Tasche verschwand. Was würde sie machen, wenn er ihr die Augen mit dem Ding verbinden würde, wenn er ihr die Sicht nähme?

Ihn umbringen, dachte sie. Ihn mit dem Messer aufschlitzen, das sie aus der Küche geklaut und im Strumpf versteckt hatte. Hätte Mattie ihren Bogen, sie würde einen Pfeil in sein Herz schießen.

"Woher wissen wir, dass sie nicht redet?", fragte er die Direktorin, die einen Schmollmund zog.

"Sie unterschätzen mich, Sir. Das ist kein Problem, das versichere ich Ihnen. Diese Mädchen wissen, was auf dem Spiel steht. Sie haben viel Glück gehabt, eine Schule wie Rowe besuchen zu dürfen. Stimmt doch, Matilda?"

Mattie gelang ein Nicken.

"Sie sieht wirklich jung aus", wiederholte er, so als ob das für ihn schwer wog. Er bewegte sich in Matties Reichweite, aber alles, was sie sehen konnte, war der dunkle Ärmel seines Mantels und die blasse Hand, die sich ihrem Gesicht näherte.

Instinktiv wollte sie zurückzucken, aber sie konnte nicht wegsehen. Er hatte dicke Hände mit kurzen, weichlichen Fingern. Eine spatelförmige Hand bedeutet, dass man ein sehr körperlicher Mensch ist, aggressiv, eine Führungsperson. Ihr fielen Hände auf. Das geschah automatisch, wie ein Reflex. Aber etwas Glitzerndes lenkte Mattie ab. Es waren Manschettenknöpfe. Der eine, den sie sah, hatte einen goldenen Stern auf einem Kreis von Onyx.

"Das hier", flüsterte er, "ist einer der niedlichsten kleinen Münder, die ich je gesehen habe."

Er berührte ihre Lippen, und ein Ruck ging durch sie hindurch. Ihr wurde im Magen ganz flau vor Ekel. In ihren Ohren klingelte es. Es war schwer, ihn danach zu verstehen, aber er murmelte etwas davon, dass er sie küssen wolle, und sie spürte, wie eine Hand ihren unteren Rücken drückte.

Die Schulleiterin schob sie dem Mann entgegen. Matilda drängte zurück und spürte, wie sich scharfe Fingernägel in ihre Haut bohrten.

"Matilda?", hörte sie ihn fragen. "Ist etwas nicht in Ordnung?"

Jetzt war er zu nah. Sie konnte den abgestandenen Kaffee in seinem Atem riechen und einen anderen Geruch, der ihr die Kehle zuschnürte. Er roch wie die Männer, die ihre Mutter besucht hatten. Lela Smith war von Beruf Handleserin, die ihre Kunden im Schlafzimmer des kleinen Apartments empfing, das sie mit ihrer Tochter bewohnte. Zu jung, um zu verstehen, was genau vor sich ging, nahm Mattie doch das Gelächter wahr, das Flüstern und den seltsamen Geruch.

Weil sie Angst hatte, dass ihr schlecht würde, drehte Mattie den Kopf zur Seite. Übelkeit stieg in ihr auf, und das Licht drehte sich über ihr. Sie hatte kein Talent für weibliche Berechnung, sonst hätte sie die Gelegenheit genutzt und einen Ohnmachtsanfall vorgetäuscht. Die anderen Mädchen hätten das bestimmt gemacht, aber sie waren nicht so unbeholfen.

Sie fasste einen verzweifelten Plan, als sie darum kämpfte, das Gleichgewicht zu bewahren.

"Es ist alles in Ordnung", sagte sie, ließ ihn ihr Gesicht berühren und es sanft anheben. Er würde sie jetzt küssen, und sie wusste, dass Miss Rowe das zulassen und sogar mit etwas Genugtuung zusehen würde.

Das Licht, das in Matties Augen brannte, verhinderte, dass sie einen Blick auf ihn werfen konnte. Vielleicht war es auch besser so, dachte sie, sonst wäre sie nie in der Lage, das, was sie sich vorgenommen hatte, durchzuziehen. Er zog sie an sich, den Finger auf ihr Kinn gelegt. Miss Rowe schubste und drängte sie immer weiter.

"Matilda mit dem hübschen Mund", sagte er sanft.

Angesichts dessen, was passieren sollte, lief es ihr eiskalt den Rücken herunter. Als er sich zu ihr beugte, um sie zu küssen, spuckte Mattie ihn an. Und nicht nur ein bisschen. Sie hatte alle Flüssigkeit, die sich noch in ihrer ausgedörrten Kehle befunden hatte, gesammelt und ihm alles wütend entgegengeschleudert.

Er heulte vor Wut auf, und Miss Rowe sprang dazwischen. Sie griff so fest nach Matties Arm, dass ihre Knochen knackten und Mattie vor Schmerzen aufschrie. Der Mann verschwand im Schatten, und die Direktorin schob Mattie zur Seite, um mit ihm zu sprechen.

"Es tut mir furchtbar leid." Sie hob flehentlich die Hände. "Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Entschuldigen Sie mich bitte, ich rede mit ihr."

Mattie konnte die Erwiderung des Mannes nicht hören. Es hätte sowieso keine Rolle gespielt. Er hätte sie nicht retten können, nicht mal, wenn er es gewollt hätte. Niemand konnte es. Wenn er einmal aus dieser gotischen Monstrosität von einer Schule verschwunden wäre, würde sie auf eine Weise bestraft werden, die sicherstellte, dass sie die Direktorin nie wieder bloßstellte, dass sie es nicht einmal wagen würde, jemals wieder daran zu denken.

Matties Mund war mit etwas vollgestopft, das wie Höllenfeuer brannte. Als sie versuchte, es auszuspucken, stellte sie fest, dass es ihre eigene Zunge war. Sie war auf die doppelte Größe angeschwollen und jeder Millimeter der Oberfläche war rau. Sie konnte Blut schmecken, aber sie traute sich nicht, zu schlucken. Sie würde bestimmt ersticken.

Das war ihre erste erschreckende Erkenntnis, als sie sich ihren Weg zurück ins Bewusstsein kämpfte. Die zweite war schlimmer. Sie war in Dunkelheit eingehüllt und gefangen in einem so engen Raum, dass sie ihren eigenen Atem über sich spüren konnte. Die Decke des Raums konnte kaum mehr als zehn Zentimeter entfernt sein.

War dies etwa ein Sarg? War sie in einem Grab, lebendig begraben?

Panik ergriff sie, ließ sie die Kontrolle verlieren. Sie musste da raus, oder sie würde sterben! Ihre Hände waren an ihren Seiten gefangen und ihre Knie schlugen schmerzhaft an die Wände. Es war so eng in dem Raum. Sie konnte sich nicht genug bewegen, um gegen die Wände zu schlagen oder sie einzutreten.

Ein Lichtblitz überraschte sie. Er erhellte ihr Gefängnis, und von dem, was sie sehen konnte, ähnelte der dreckige Bereich eher einer Abseite als einem Sarg. Aber woher kam das Licht?

Beruhige dich, sagte sie sich. Lieg still und schau dich um, hör genau hin. Aber jeder Atemzug verstärkte das enge, panische Gefühl in ihrer Brust. Irgendwie musste Mattie einen sicheren Ort in sich selbst finden. Sich darin versenken und sich beruhigen. Anders konnte sie nicht überleben. Dies war der Albtraum, der sie seit jeher verfolgt hatte – und der sie für alle Zeiten verfolgen würde. Jeder hatte Urängste. Sie hatten darüber im Unterricht gesprochen. Sie stecken in uns, noch aus den urzeitlichen Wäldern und Sümpfen. Das hier war Matties schlimmste Angst. Aber woher wusste Miss Rowe das?

Jetzt ist dein Mund nicht mehr so hübsch, oder, Matilda?

Das Licht blitzte wieder auf, und ein klopfendes Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit. Es klang, als ob ein Wasserhahn tropfte, aber jeder Tropfen schien einen kleinen Funkenregen zu verursachen. In Sekunden war die Abseite von tödlicher, knisternder Elektrizität erfüllt und von einem Geruch, den sie als gefährlich einstufte, dem Gestank von versengten Haaren.

Plötzlich verstand Matilda. Sie war in einer Abseite, vielleicht auf dem Dachboden von Miss Rowes Apartment im Turm, und es regnete draußen. Irgendwo dicht neben ihrem Kopf war ein Elektrokabel, das in einer Wasserpfütze lag. Die Funken hatten schon ihr Haar angesengt. Wenn sie in direkten Kontakt mit dem Kabel kam, wenn sie zum Leiter würde, bekäme sie einen tödlichen elektrischen Schlag.

War es das, was Miss Rowe wollte?

Ein schwaches Keuchen entrang sich ihrer Kehle. Ihr ganzer Körper zitterte. Dieser Ort war eine mittelalterliche Folterkammer. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen. Würde sie hier jemals rauskommen?

Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was passiert war, bevor sie das Bewusstsein verloren hatte. Miss Rowe hatte sie in das Wohnzimmer ihres Apartments gebracht und ihr eine Tasse Tee gemacht. Um sie zu beruhigen, hatte sie gesagt. Sie hatte darauf bestanden, dass Mattie den Tee trank, bevor sie sich unterhielten. Danach konnte sich Mattie an nichts mehr erinnern, außer dass der Tee zu süß schmeckte, so als ob sie extra viel Honig hineingetan hätte, um einen anderen Geschmack zu überdecken.

Was hatte sie in den Tee getan? Lauge? Säure? Jedes davon hätte Mattie wahrscheinlich umgebracht, wenn sie davon getrunken hätte. Aber vielleicht kam der Tod langsam. Mattie wusste nicht viel über diese Dinge. Sie könnte gleich jetzt sterben. Miss Rowe beschäftigte sich viel mit Kräutern, einige davon waren giftig, aber die meisten davon sollten homöopathische Heilmittel sein. Sie musste etwas Schlafmittel in den Tee gefüllt und Matties Zunge, als sie bewusstlos gewesen war, mit etwas Ätzendem betupft haben. Ihre Zunge fühlte sich an, als wäre sie mit kochendem Wasser verbrüht worden.Mattie traute Miss Rowe so etwas durchaus zu. Die Direktorin war grausam.

Mattie hatte in der Vergangenheit Gerüchte über verschwundene Stipendiatinnen gehört. Bis jetzt hatte sie sie nicht geglaubt. Vielleicht waren hier oben in der Abseite sogar noch andere Mädchen. Tote Mädchen. Die Akademie war ein altes Gebäude im viktorianischen Stil und hatte verschiedene Flügel. Versteckte Tunnel und Türme waren da, und nur ein Drittel davon wurde momentan benutzt. Es gab zahlreiche Möglichkeiten, Leichen zu verstecken, besonders wenn man sich nicht mehr an sie erinnerte.

Sie würde nicht so sterben. Sie würde kämpfen. Sie versuchte, ihre Beine zu bewegen, aber es fühlte sich an, als seien sie gelähmt – vor Angst, wenn nicht aus einem noch weitaus schlimmeren Grund. Eine seltsame Lethargie übermannte sie. Ihre Augenlider fielen zu, ihr gesamter Körper wurde müde, aber sie musste wach bleiben. Wenn sie einschlief, würde sie sich vielleicht bewegen und das Kabel berühren. Die wenige Luft, die ihr zum Atmen blieb, war warm und dick geworden. Erstickend.

Ihr gequälter Seufzer übertönte beinah ein anderes Geräusch, ein Klacken in der Ferne. Es klang wie Schritte. Kam jemand in ihre Richtung?

Es war Miss Rowe. Wer konnte es sonst sein? Die Schulleiterin wollte nachsehen, ob Mattie schon tot war.

4. KAPITEL

Bundesbezirksgericht

San Francisco

Sommer 2005

Der Hammer hüpfte, als Mattie ihn auf den Block schlug, um das Gericht zur Ruhe zu rufen. Es fühlte sich komisch an, wieder einer Verhandlung vorzusitzen, obwohl sie es noch vor ein paar Jahren regelmäßig getan hatte. Sie hatte zwei Jahre hier am Bezirksgericht verbracht, bevor sie zum Berufungsgericht kam. So oft hatte sie bereits in genau diesem Raum auf genau diesem Richterstuhl gesessen.

Er war vielleicht nicht so groß und prunkvoll wie die Gerichtssäle des historischen Gebäudes, in dem das Neunte Gericht ansässig war, aber überall strahlte der Glanz von Messing und Mahagoniholz, und überall war auch die Anwesenheit von Macht und Gerechtigkeit zu spüren. An diesem Morgen, als sie auf den Angeklagten Ronald Langston warteten, war das Gefühl von Macht und Endgültigkeit irritierend, selbst für Mattie.

Sie wandte sich an den Sprecher der Geschworenen, einen ergrauten zierlichen Mann mit einer gerahmten Brille, die ihm vorn auf der Nase saß.

"Sind Sie zu einem Urteil gekommen?"

"Ja, Euer Ehren."

"Bitte übergeben Sie das Urteil dem Gerichtsdiener."

Mattie nahm den wachsamen Gesichtsausdruck des Angeklagten wahr. Sie spürte aus der Ferne, dass seine Nerven blank lagen. Aber sie mochte sich kaum vorstellen, wie es sein mochte, der Gnade der Männer und Frauen ausgeliefert zu sein, die als Geschworene fungierten. Mit etwas Glück würde sie es auch nie herausfinden müssen.

Heute Morgen würde über sein Schicksal entschieden, und sein Lebensweg wäre mit ein paar Worten besiegelt. Sie hoffte, dass es die richtigen Worte sein würden. Aber als Richterin war sie gezwungen, ihre Gefühle und Ansichten für sich zu behalten. Das bedeutete, dass sie sich unter Kontrolle haben musste, egal, was sie empfand. Sie hatte ihr Bestes getan, um keinen Einfluss auf die Geschworenen auszuüben. Mattie hatte nur sichergestellt, dass sie das Gehörte verstanden und sich in ihrer Entscheidung von den Tatsachen und dem Gesetz leiten ließen. Sie hatte sich außerdem vergewissert, dass sie sich über die Konsequenzen ihrer Entscheidung im Klaren waren.

Der Gerichtsdiener reichte Mattie das Urteil. Ihre Hände waren ruhig, aber ihr Herz schmerzte, als sie es las. Sie gab es dem Gerichtsdiener zurück. Als er auf die Geschworenen zuging, brachte sie die Worte heraus: "Mr. Foreman, bitte verlesen Sie das Urteil."

Der Sprecher der Geschworenen räusperte sich. "Im Anklagepunkt der Entführung befinden wir, die Jury, den Angeklagten für schuldig. Im Anklagepunkt der Kindesbedrohung befinden wir den Angeklagten ebenfalls für schuldig."

Mattie streckte die Hand nach dem Hammer aus, aber ihre Finger waren außerstande, nach ihm zu greifen. Sie fühlte sich, als hätte sie einen heftigen Schlag bekommen, der ihr Rückenmark so gewaltig erzittern ließ, dass es vielleicht nie wieder nachlassen würde. Diesen Ausgang hatte sie befürchtet, aber sie hatte doch nicht glauben wollen, dass dies wirklich passieren würde. Irgendwie musste sie sich zusammenreißen. Ihr Job war noch nicht beendet. Sie musste einen Termin für den Haftbeginn festsetzen und die Sitzung für beendet erklären. Aber was sie am meisten fürchtete, war die Notwendigkeit, Ronald Langston noch einmal anzusehen. Das konnte sie nicht ertragen. Sie konnte es nicht ertragen, in seinen Augen zu lesen, dass er sich wie ein verängstigtes Tier im Käfig fühlte.

Mattie schaffte es noch nicht einmal, um den Schreibtisch herum zu ihrem Stuhl zu gehen. Sie ließ die Ledermappe und die Gerichtsakten direkt neben die nicht angerührte Zeitung fallen und registrierte kaum, dass sie keine Zeit für ihr morgendliches Ritual gehabt hatte. Sie las den San Francisco Chronicle normalerweise bei einer heißen Tasse Tee mit Honig – während Ronald Langston in seiner Zelle so etwas wie Haferschleim bekäme.

Zieh deine Robe aus, ermahnte sie sich, aber sie kam nicht weiter als bis zum Reißverschluss. Die Tür hinter ihr öffnete sich, und Mattie stieß an den Schreibtisch, als sie sich umdrehte. Etwas fiel zu Boden, aber sie hatte keine Zeit, es aufzuheben.

Jaydee schüttelte den Kopf, offenbar niedergeschlagen.

"Sie mich nicht so an", sagte sie. "Sosehr ich mir auch gewünscht habe, dass Langston nicht ins Gefängnis muss, ich konnte doch diesen blöden Pflichtverteidiger nicht zu einem Fehler verleiten. Ich hatte einfach gehofft, dass er von selbst einen macht."

"Richtig", erwiderte er und stieß einen schweren Seufzer aus. "Ich hätte das nie ansprechen sollen. Was machen wir jetzt?"

Mattie hatte darüber schon nachgedacht. "Ich werde zwei der besten Anwälte, die ich kenne, damit beauftragen, in Berufung zu gehen. Sie werden mich dafür hassen, aber ich werde es trotzdem tun. Ich werde einen Brief schreiben, in dem all die Gründe stehen, die aus meiner Sicht eine faire Verhandlung verhindert haben, einschließlich meiner zweifelhaften Entscheidung, das falsche Geständnis als Beweis zuzulassen. Und natürlich wird er nur das Mindestmaß der Strafe bekommen."

Jaydee klopfte auf seinen gelben Block. "Deine eigene zweifelhafte Entscheidung? Bist du sicher, dass du das tun willst? Das wird in deinem Lebenslauf nicht gut aussehen."

"Was sollen sie tun? Mich meines Amtes entheben? Bundesrichter sind auf Lebenszeit ernannt." Mattie wusste, dass es sich nicht gut machen würde, aber was sollte sie tun? Ein einundzwanzigjähriger Mann hatte keine ordentliche Verhandlung bekommen, weil sie die Beweislage falsch eingeschätzt hatte.

"Sie werden wissen wollen, warum du solche Entscheidungen triffst", stellte er fest.

Mattie hatte viel mit Jaydee geteilt, aber niemals die Qualen ihrer Vergangenheit. Sie zweifelte nicht daran, dass er Mitleid haben würde. Aber bisher war sie in ihrer Beziehung immer diejenige gewesen, die Trost und Rat gespendet hatte, und es widerstrebte ihr zutiefst, die Rollen zu tauschen. Es war sowieso schon zu viel durcheinandergeraten.

"Ich werde mich darum kümmern."

"Hör mal, ich bin immer da, wenn du reden willst."

"Es ist schon in Ordnung", unterbrach sie ihn sanft. "Ich habe den Vorteil, dass ich Berufungsrichterin bin, also habe ich eine ziemlich gute Vorstellung davon, was ich machen muss, um den Fall vor das Berufungsgericht zu bekommen, und du ja wohl auch."

Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. "Soll ich die Mitschriften nach Fehlern durchsuchen?"

"Bitte."

"Soll ich den Brief entwerfen? Du kannst die Zweifelhaftigkeiten dann selbst hinzufügen."

"Bitte."

Nach kurzem Zögern fragte er vorsichtig: "Ist alles in Ordnung zwischen uns? Ich meine, wegen heute Morgen."

Er meinte die Art, wie er sie berührt hatte, aber darüber konnte Mattie nicht sprechen. Der Fall hatte Erinnerungen geweckt, und seine Geste hatte sie in eine Situation katapultiert, in der sie nie wieder sein wollte. Er konnte das natürlich nicht wissen, aber er war zu weit gegangen, trotz allem.

"Lass uns nicht mehr davon sprechen, okay?"

"Mattie, komm schon. Ich bin's. Wir können über alles reden."

Sein drängender Tonfall riss an ihren gespannten Nerven. "Okay, wenn du es so willst", sagte sie und atmete tief ein, "dann lass uns darüber reden, dass du manchmal nicht weißt, wann es genug ist. Du machst Witze über meine Unterwäsche, und du platzt ohne Vorwarnung in mein Büro. Das ist unprofessionell, Jaydee. Unprofessionell und unhöflich."

Wie Miss Rowe klinge ich, erkannte Mattie in diesem Moment. Wie Miss Rowe, wenn sie über Manieren dozierte, während die Korruption an der Schule fraß wie Würmer an einem vergammelten Stück Holz. Wenn ich mit ihnen fertig bin, werden meine Mädchen wissen, wie man lächelt und redet und andere unterhält. Meine Mädchen werden die Anmut selbst sein.

Jaydee wich einen Schritt zurück und zog die Augenbrauen hoch. Er schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. Sie hatte es geschafft, ihn ein Stück von sich wegzutreiben, aber das schenkte ihr wenig Trost. Schließlich wollte sie mit ihm über den Vorfall sprechen, aber nicht so.

"Hey, es tut mir leid", sagte er. "Wenn ich anklopfen soll, klopfe ich in Zukunft."

Mattie versuchte, die ganze Episode mit einem Schulterzucken abzutun, aber das akzeptierte er nicht.

"Ich glaube, dass du wegen der Geschichte echt sauer bist. Ich habe mich schon zweimal entschuldigt. Ich könnte mir auch die Hand abschlagen, wenn das helfen würde."

"Behalte deine Hand und entspann dich." Sie bemühte sich um einen strengen Tonfall. "Alles ist in Ordnung, und wenn es nicht so wäre, läge es nicht an heute Morgen." Mattie zitterte. Ein Schweißfilm zog sich über ihre Stirn, sogar die Kopfhaut war feucht. "Ich brauche nur ein bisschen Zeit, um den Kopf freizubekommen."

"Sicher", sagte er und sah ihr direkt in die Augen. "Geht es dir wirklich gut?"

"Ja, wirklich." Sie setzte ein Lächeln auf. "Ich habe mit Michelle Rücksprache gehalten, und abgesehen von der Anhörung wegen der Haftstrafe habe ich in den nächsten Tagen keine Termine, also werde ich meine Sachen packen."

Die Verhandlung war früh zu Ende gegangen, und Mattie musste erst nächste Woche wieder am Neunten Bezirk sein. Was auch immer für Langston getan werden konnte, sie würde es von dort aus erledigen. Um wichtige Termine würde sich Matties Mitarbeiterin Michelle kümmern.

"Du hast mit Michelle darüber gesprochen?"

"Ja, ich habe ihr den Nachmittag freigegeben. Du könntest auch freinehmen."

Jaydee war Matties wichtigster Assistent, und er hatte einige Monate lang doppelt gearbeitet, als eine Teilzeitangestellte im Schwangerschaftsurlaub gewesen war. Nach seinem Abschluss in Berkeley hatte Mattie Jaydee eingestellt, und sie musste zugeben, dass er gut war. Er würde bald die Zulassung bekommen, und er machte keine Scherze, wenn er vom Obersten Gerichtshof sprach. Dass nur ein Prozent der Besten dafür infrage kam, schien ihn nicht zu irritieren.

"Okay … aber du würdest es mir sagen, wenn irgendetwas los wäre, oder?"

"Ja, Jaydee, es ist zwar nichts los, aber danke, dass du fragst." Sie drehte sich um, damit er nicht sah, wie sie an ihrer Robe zerrte, um den Reißverschluss zu öffnen. Sie wartete darauf, dass die Tür sich schloss, aber sie hörte das Klicken nicht.

"Mattie, du weißt, dass ich dir immer den Rücken freihalten würde, oder?", sagte er. "Egal was passiert, ich würde dir immer aus der Patsche helfen."

Sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. "Ich weiß, Jaydee, danke."

Wie gern hätte sie ihn beim Wort genommen. Sie wusste, dass es ehrlich gemeint war, aber er ahnte ja nicht, was er ihr da anbot. Das einzige Mal in ihrem Leben, dass ihr jemand beiseite gestanden hatte, war während eines brutalen Jahres im Pensionat gewesen, als sie und zwei ihrer Mitschülerinnen einander gelobt hatten, mit dem Leben füreinander einzutreten. Ein Schwur, der sich als prophetisch erweisen sollte.

Mattie wusste nicht genau, was sie als Erstes tun sollte. Unbedingt wollte sie sich wieder in ihrer eigenen Kammer einrichten, aber ihr fehlte die Energie, etwas einzupacken, nicht einmal ihre persönlichen Dinge. Eine lange Mittagspause klang ganz verlockend, zumal ihr Frühstück ausgefallen war. Aber dann müsste sie nach Hause, um sich umzuziehen, und sie schien ja noch nicht mal aus der Robe herauszukommen.

Plötzlich trat sie mit dem Schuh gegen etwas, und als sie nachschaute, fand sie die Zeitung auf dem Fußboden. Sie musste hinuntergefallen sein, als Mattie gegen den Tisch gestoßen war. In der Hocke kniend, öffnete sie das Blatt gleich dort, wo es auf dem Fußboden lag, und warf einen Blick auf die Schlagzeile, bevor sie weiterblätterte.

Ihr Knie tat in dieser Haltung weh, aber sie blätterte weiter, nicht so sehr aus Gewohnheit, sondern aus wachsender Neugier. Wonach sie suchte, wusste Mattie nicht, aber sie hatte ein seltsames Gefühl. Etwas trieb sie an. Es war, als ob ihre Augen ein Bild gesehen hätten, das ihr Bewusstsein nicht registriert hatte.

Ein Artikel im Lokalteil erregte ihre Aufmerksamkeit. Anfang des Monats war ein örtlicher Arbeitsstreit vor der Richterversammlung des Neunten Gerichts ausgefochten worden, Mattie war mit dabei gewesen. Sie hatte die Forderungen abgelehnt mit der Begründung, dass einige Sicherheitsvorkehrungen unnötig und eine Zumutung für die ohnehin schon überlasteten Auftragnehmer seien. Das hatte sie bei den Gewerkschaftsfunktionären nicht besonders beliebt gemacht, aber andererseits schätzte man sie in der Wirtschaft ohnehin nicht. Letztes Jahr hatte sie sich auf die Seite des streikenden Großhandels gestellt.

Ihr Mangel an ideologischer Prägung sorgte sogar manchmal unter ihren Kollegen für Verwirrung. Manchmal fragte Mattie sich, ob das der schwierigste Teil war. Sie war eine einsame Streiterin in ihrem Beruf, und bis jetzt hatte sie keine engen Verbindungen zu anderen Richtern geknüpft. Das war manchmal ein Hindernis, aber es gab ihr auch die wertvolle Freiheit, unabhängig zu denken und zu entscheiden.

Sie überflog den Sport- und den Immobilienteil und blätterte weiter zu den Reportagen. Was auch immer sie dazu bewog, intuitiv weiterzusuchen, hielt an. Vielleicht hatte sie unbewusst eine Schlagzeile oder ein Zitat wahrgenommen.

Der Leitartikel über Jameson Cross, einen lokalen Krimi-Schriftsteller, ließ sie innehalten. Sie las die Schlagzeile ein zweites Mal.

"Das kann nicht sein", flüsterte sie.

Das Papier raschelte laut, als sie aufstand. Sie hielt die Seite fest, überflog den Text so schnell, dass sie einige Informationen überlas. Das Wichtigste war die Gegendarstellung, irgendwo musste der Absatz sein, in dem stand, dass dies hier ein Witz sei, ein Fehler. Das konnte nicht wahr sein.

Jameson Cross rief dazu auf, den Mordfall im Mädcheninternat wieder aufzurollen. Er wies auf William Brouds Entlastung hin und war der Meinung, dass Brouds Behauptungen über einen Sexring und eine Verschwörung, die zur Vertuschung des Mordes geführt hatte, ernst genommen werden sollten. Zitiert wurde Cross' Ankündigung, seine eigenen Untersuchungen mit dem Ziel der Wiederaufnahme des Falls zu beginnen. Außerdem behauptete er, einige prominente Verdächtige zu haben.

Mattie las den letzten Absatz laut. "Cross, der als literarischer Kopfgeldjäger nach Justizirrtümern gräbt, plant ein Buch über den Fall. Durch seine vergangenen Untersuchungen sind einige Gefangene, die fälschlicherweise des Mordes oder anderer Vergehen bezichtigt worden waren, für unschuldig befunden und entlassen worden. Außerdem half er der Polizei, die wahren Mörder zu finden."

Wenige Momente später saß Mattie an ihrem Schreibtisch und starrte auf das Telefon. Ihr erster Anruf würde in ein Luxusressort nach Mexiko gehen, der zweite ins Weiße Haus.

5. KAPITEL

Jane Mantle war nicht erfreut, ihre persönliche Assistentin Mia von der anderen Seite des runden Empfangszimmers für Diplomaten winken zu sehen. Mia war zwischen den Flügeltüren hindurchgeschlüpft und stand nun etwas unschlüssig in der Nähe eines mit gelbem Damast bezogenen Sofas. Die Handbewegung der jungen Frau signalisierte, dass es wichtig war, und ihre Einschätzung musste Jane ernst nehmen. Die Besprechung mit der Frau des peruanischen Botschafters hätte Mia nicht ohne guten Grund gestört.

Sie nickte Mia kaum merklich zu.

"Vergeben Sie mir, Señora Velasquez." Jane achtete darauf, eine Hand auf den Arm der zierlichen Frau zu legen, und versprach, sofort zurück zu sein. Was den persönlichen Kontakt mit ausländischen Würdenträgern anging, variierte das Protokoll. Aber Jane war gesagt worden, dass die südlichen Nachbarn weniger Wert auf die formelle Konversation legten als auf den Körperkontakt, obwohl das bei den Männern über Handschütteln nicht hinausging. Jane fand das seltsam, aber sie achtete penibel darauf, es richtig zu machen.

Mit ihren achtunddreißig Jahren gehörte sie zu den jüngeren First Ladys der Geschichte, aber das war für sie kein Grund, etwas im Alleingang zu unternehmen oder die Vorschriften zu missachten. Regeln gaben ihr Sicherheit. So viel Sicherheit, dass sie dafür bekannt war, selbst welche aufzustellen, wenn Zweifel auftraten. Die Medien bezeichneten sie gern als die bestorganisierte First Lady der Gegenwart, obwohl das nicht unbedingt ein Kompliment war. Man hatte sich in der Presse darüber lustig gemacht, dass sie genau drei vierminütige Pausen in ihren Zwölf-Stunden-Tag eingeplant hatte, in denen sie auf die Toilette verschwinden konnte. Auch die Bemerkungen über ihre pastellfarbenen Anzüge waren wenig schmeichelhaft.

Sie war ein Frühlingstyp, Herrgott noch einmal. Was sollte sie denn tragen? Schwarz?

Als Jane die Frau allein ließ, tauchte wie von Geisterhand eine Angestellte auf, um Señora Velasquez eine Erfrischung anzubieten.

"Sie haben einen Anruf, Ma'am", sagte Mia. "Ich glaube, es ist dringend."

"Ist es der Präsident?" Janes erster Gedanke galt Larrys Gesundheit. Er hatte über Brustschmerzen geklagt, und sie glaubte fest an die Heilkraft von Kräutern und Naturmedizin. Sie hatte ihn selbst behandelt, statt die ganze Nation durch einen Arzttermin des Präsidenten in Alarmbereitschaft zu versetzen. Es würde schon wieder werden. Es musste. Das Land brauchte ihn, und sie brauchte ihn auch. Aber sie würde ihn sofort in die Bethesda-Herzklinik bringen, sollte sich sein Zustand verschlechtern.

Seit fünfzehn Jahren waren sie verheiratet, aber Jane hatte sich und ihren Beruf nicht für Larry Mantles politische Karriere geopfert, wie so viele glaubten. Sie hatte sich bewusst dafür entschieden. Im Gegensatz zu vielen anderen Präsidenten-Ehepaaren hatten sie keine Kinder, ebenso wenig Hunde oder Katzen, aber sie waren ein eingeschworenes Team. Das verstanden die wenigsten. Was würde sie tun, wenn sie sein Schiff nicht mehr steuern konnte? Er war der Pilot, aber sie war seine Lotsin.

"Nein, Ma'am, es ist Matilda Smith. Es tut mir leid, aber …"

"Matilda Smith?" Es war Jahre her, aber Jane würde Mattie Smith nie vergessen. Sie konnte sich nur nicht vorstellen, dass sie hier anrief, einfach so, ohne Vorwarnung.

"Sie sagte, sie sei eine alte Freundin", erklärte Mia. "Sie seien zusammen zur Schule gegangen. Sie beharrte darauf, dass es dringend sei und dass Sie die Unterbrechung gewollt hätten. Ich hoffe, ich habe keinen Fehler gemacht."

Jane legte die Finger an ihren Hals, auf die Perlenkette, die sie trug. "Nein, das ist in Ordnung. Lassen Sie sich die Nummer geben und sagen Sie ihr, dass ich zurückrufe, sobald das Gespräch mit Señora Velasquez beendet ist."

Alle möglichen Fragen gingen Jane durch den Kopf, als sie zu ihrem Gast zurückkehrte, der nun auf einem blau-gold gemusterten Diwan saß und weder den Anistee noch das Karamellbaiser – beides peruanische Spezialitäten – angerührt hatte. Kein gutes Zeichen, wenn Würdenträger im Weißen Haus nichts aßen. Normalerweise nahmen sie das, was ihnen angeboten wurde, schon aus Respekt vor der Umgebung. Jane hatte oft Erfrischungen angenommen, um Erwartungen zu erfüllen oder sich die Zeit zu vertreiben.

Was konnte Mattie Smith nur wollen? Jane konnte an nichts anderes denken, als sie den Raum durchquerte. Es war einige Jahre her, seit sie zuletzt persönlich mit Mattie gesprochen hatte, und dringend konnte alles Mögliche sein. War Mattie etwas zugestoßen? Oder Breeze Wheeler, ihrer anderen Freundin aus dem Internat?

Die Rowe-Akademie.

Das satte Blau und Gelb des Empfangsraumes wurde vor ihren Augen blass, und sie verlangsamte ihre Bewegungen, um die Fassung wiederzuerlangen. Sie hatte das alles hinter sich gelassen, so weit hinter sich, dass es sie nicht einholen konnte, nicht jetzt, nicht hier. Sie fühlte sich leicht benommen und hörte ein seltsames Klopfen in den Ohren. Was war das für ein Geräusch? Ihr Herz?

Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, was passierte. Sie hatte dieses Gefühl so lange nicht gehabt, dass sie es kaum erkannte. Janes Zeitplan war lang und eng, aber sie hatte den Stress immer als positiv empfunden. Sie mochte die Disziplin, die nötig war, um so viele Dinge zu erledigen. Es gab keine Gelegenheit, irgendwelchen Gefühlen nachzugeben. Emotionale Höhen und Tiefen waren gefährlich, weil sie einen aus der Bahn werfen konnten. Also gab Jane Gas und sah zu, dass sie nicht ins Schlingern geriet.

Es ging nicht um Rowe. Das würde Jane nicht zulassen.

Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel ihres Blazers und putzte sich die Nase. Bevor sie das weiße Spitzentuch zurücksteckte, warf sie einen Blick darauf. Wenn sie unter Stress stand, bekam Jane schnell Nasenbluten, dagegen konnte sie nichts tun. Zum Glück hatte das bislang niemand bemerkt, sonst hätte sie deswegen zum Arzt gehen müssen.

Vor Jahren hatte sie damit begonnen, leichte Beruhigungspillen in so winzige Stücke zu schneiden, dass sie wie Splitter aussahen. Die Tabletten halfen ihr, den Tag durchzustehen. Jane war stolz darauf, dass man ihr Nerven aus Stahl nachsagte, auch wenn sie die nur dank ihrer kleinen Helfer hatte. Außerdem wachte sie mitten in der Nacht nicht gern schweißgebadet auf und kämpfte mit den Dämonen, die in irgendwelchen dunklen Ecken auf sie warteten.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Noch eine Stunde? Heute war es schlimm.

Jane ging mit einem entschuldigenden Lächeln auf Señora Velasquez zu. "Ich möchte unser Gespräch über den Regenwald fortsetzen", sagte sie. "Habe ich erwähnt, dass ich die Schritte bewundere, die Sie und Ihr Gatte unternommen haben, um die natürlichen Ressourcen Ihres Landes zu erhalten?"

Janes Hände waren eiskalt, sodass die andere Frau zurückzuckte, als Jane ihren Arm berührte. Der Schreck im Gesicht der peruanischen First Lady löste eine Vorahnung in Jane aus. Sie hatte so etwas wie einen sechsten Sinn für manche Dinge. Matties Anruf gehörte dazu. Was auch immer passiert sein mochte, es war nichts Gutes. Und nach Jahren der Leere fühlte sie plötzlich das Einsetzen des einen Gefühls, das sie nie wieder spüren wollte: Furcht.

Breeze Wheeler stand vor ihrer Kommode mit Dessous und suchte nach dem perfekten Teil, als sie das Klingeln des Telefons hörte. Entschlossen, ihre Suche fortzusetzen, nahm sie das schwarze Satinnegligé heraus und betrachtete es kritisch. Zwar bestand es aus außergewöhnlich schöner Spitze, aber es war nicht das Richtige. Zu klassisch. Sie suchte nach etwas Sinnlichem, Verspieltem. Ein üppiges Dekolleté, die weichen Federn einer Boa und Marilyn Monroes verruchte Atemlosigkeit, so etwas schwebte Breeze vor.

Sie entdeckte ein rotes Babydoll aus Chiffon, legte es neben die anderen ausgewählten Stücke auf ihr Bett und ignorierte das andauernde Klingeln des Telefons.

"Zwei, drei, vier, fünf, sechs", murmelte sie, während sie die Stücke zählte, die sie herausgelegt hatte. Das sollte funktionieren. Zufrieden legte sie noch eine Polaroidkamera auf eines der Samtkissen.

Schon wieder das Telefon. Ihr Gast musste da sein, und er war es nicht gewohnt, zu warten. Seine Untergebenen zitterten in seiner Gegenwart, aber hier in Breeze Wheelers Luxusressort "Spa Marbella" galten die allgemeinen Regeln nicht. Hier war auch er nur einer von vielen Männern, die eine ihrer verschiedenen und höchst exklusiven Dienstleistungen brauchten.

Das war vielleicht der beste Part ihres eigenartigen und wunderbaren Lebens: die Mächtigen verletzlich zu sehen. Hinter den selbstbewussten Fassaden wurden Zweifel und Ängste sichtbar, und es war Breezes Aufgabe, ihren Kunden das Gefühl von Schutz und Sicherheit zu vermitteln – und sie darin zu bestärken, dass sie ihren exzeptionellen Status verdienten. Manche waren abstoßend. Aber die behandelte sie auf eine ganz spezielle Art und Weise.

Der seidene Kimono wogte um ihre nackten Beine, als sie den Hörer abnahm und die Empfangsdame des Spas sich meldete.

"Miss Wheeler? Hier ist ein Telefongespräch aus den Staaten für Sie."

"Ich kann jetzt nicht, Therese."

"Sie sagt, es sei dringend."

"Sie?"

"Matilda Smith. Sie sagte, Sie wüssten, wer sie sei."

"Oh, mein Gott."

"Miss Wheeler?"

Breeze glitt der Hörer aus der Hand, sie hörte, wie er auf dem Boden aufschlug. Ihre ohnehin schon helle Haut war so weiß geworden wie die Marmorplatte ihrer Kommode. Woher konnte Mattie die Telefonnummer haben? Ihre kleine Beautyfarm hatte Breeze zu einem luxuriösen Ressort ausgebaut, mit vielen, hervorragend ausgebildeten Mitarbeitern, und ihr Kundenkreis gehörte zu dem exklusivsten der Welt. Das Spa war nicht öffentlich. Wo es lag, wussten nur einige Auserwählte. Aber Mattie hatte sie aufgespürt, obwohl sie in den letzten Jahren den Kontakt nur sporadisch per E-Mail gehalten hatten.

Wie eine Familie hatten sie zueinandergestanden, aber ihre Verbindung war sogar noch stärker als das gewesen, stärker als Blut. Im Internat war Breeze Teil eines unzertrennlichen Trios gewesen. Nach dem Schulabschluss hatten sie sich aus den Augen verloren. Keine von ihnen besaß Familienangehörige, die der Rede wert waren, deshalb schien es umso wichtiger, dass sie sich regelmäßig anriefen oder trafen. Aber das funktionierte nur ein paar Jahre lang. Mattie hatte als Anwältin Karriere gemacht, und Jane, die furchtlose Anführerin, hatte einen Politiker geheiratet. Nach der Hochzeit galt sie als eine Person des öffentlichen Lebens. Es kam ihnen klüger vor, dass jede ihren eigenen Weg ging, und obwohl es unausgesprochen blieb, hatte Breeze nie aufgehört, ihre zwei Seelenverwandten zu vermissen.

"Miss Wheeler, Ihr Gast ist außerdem schon da. Er wartet bereits …"

"Therese, entschuldigen Sie mich bitte bei ihm. Seien Sie zuvorkommend, lenken Sie ihn mit etwas Leckerem ab, Champagner und Beluga-Kaviar, wenn es sein muss, aber geben Sie mir ein paar Minuten, bevor Sie ihn hochschicken."

Was für eine bizarre Wahl, dachte Breeze: Für wen sollte sie sich entscheiden: für die alte Schulfreundin, die ihr das Leben gerettet hatte – oder für einen der hochdekoriertesten ausländischen Würdenträger ihrer Kundschaft?

"Was ist mit dem Anruf?", fragte Therese.

Breeze zögerte, immer noch hin- und hergerissen. Wenn das Mattie Smith war, ging es hier nicht um die Ankündigung einer Hochzeit oder die Geburt eines Babys. Es war etwas Großes, und Breeze, normalerweise flatterhaft, musste sich darauf vorbereiten. Nicht einmal sie watete ohne anständige Stiefel durch ein krokodilverseuchtes Gewässer.

"Notieren Sie bitte die Nummer", antwortete sie.

Wenn es nicht Mattie gewesen war, die angerufen hatte, sondern jemand anders – und das war möglich –, dann wollte sie im Vorfeld so viel wie möglich wissen, und das erforderte etwas Detektivarbeit. Denn Breeze musste vorsichtig sein. Sie musste die Anonymität ihrer Klienten schützen.

Breezes Suite hatte ein Wohnzimmer und eine Bar. Sie griff nach dem Alkohol, den sie selbst kaum je anrührte, dafür aber reichlich an ihre Kunden ausschenkte. Schnell goss sie sich ein goldgerändertes Glas ein, vielleicht enthielt die Flasche Cointreau, Breeze bemerkte es nicht. Der brennende Geschmack trieb ihr Tränen in die Augen. Nicht einmal die Hälfte hatte sie getrunken, aber das war sowieso unwichtig. Was ihr fehlte, konnte nicht durch einen Drink ersetzt werden.

Es würde schon gut gehen. Was auch immer passieren würde, sie fände die Kraft, damit klarzukommen. Das hatte bisher immer funktioniert.

Jetzt musste sie sich auf ihren Gast vorbereiten.

Innerhalb von Sekunden zog sie den Kimono aus und das rote Babydoll an, das aus so dünnem Stoff gefertigt worden war, dass Breeze sich nackt fühlte. Dass weniger mehr war, besonders was die Kleidung anlangte, hatte sie früh in ihrer Jugend lernen müssen.

Sie warf das Nichts von Stoff über, dazu eine passende, mit flauschigen Federn verzierte Chiffonweste, die sie offen ließ, und schließlich ein paar rote Satinpumps.

"Die Vorstellung kann beginnen", murmelte sie und strich sich über den Kopf, um die Haare in Ordnung zu bringen. Ein Tropfen Parfum in das Dekolleté verfehlte die gewünschte Wirkung nie. Und einen weiteren in den Bauchnabel. Dann mal los, dachte sie und drapierte sich träge auf die Chaiselongue, um auf ihn zu warten. Zu dick aufgetragen für Seine Königliche Hoheit? Zu offensichtlich? Vielleicht.

Ein Klopfen an der Tür ließ ihr Herz rasen. Dies war der entscheidende Moment. Wenn sie sich verkalkuliert hatte, würde sie es sofort wissen.

Sie war sich nicht sicher, ob er ihr in seiner Robe und der Keffiyeh, der traditionellen Kopfbedeckung, besser gefallen hatte als in dem maßgeschneiderten dunklen Anzug, den er jetzt trug.

"Möchten Sie hereinkommen?", fragte sie und schenkte ihrem Gast ein Lächeln.

Seine gesellschaftliche Position verlangte, dass sie aufstand und ihm so Respekt zollte. Sie tat natürlich nichts dergleichen. Sie ließ einen Träger von der Schulter gleiten, während sie sich langsam aufsetzte.

"Haben Sie jemals die amerikanische Zeitschrift 'Playboy' gelesen? Ja?" Sie erwiderte sein eifriges Lächeln. "Nun ehrlich gesagt wusste ich das bereits, Königliche Hoheit. Jemand hat mir verraten, dass dies Ihr Lieblingsmagazin ist, und ich habe ein kleines Geheimnis. Ich wollte schon immer das Mädchen auf dem Poster in der Heftmitte sein."

Die Polaroidkamera lag immer noch inmitten der Dessous auf ihrem Bett. Breeze griff danach und reichte sie ihm, wie zufällig glitt dabei ihre Weste auseinander. "Würden Sie den Job übernehmen?"

Er nahm die Kamera, und sie konnte am Funkeln seiner Augen erkennen, dass sie das Richtige getan hatte. In den nächsten paar Stunden würde nichts anderes zählen, als diesen Mann, der alles besaß, glücklich zu machen. Und alles, was dazu nötig war, besaß Breeze: eine Polaroid für fünfzig Dollar und ein bisschen Vorstellungskraft.

6. KAPITEL

Rowe-Akademie

Herbst 1981

Mattie wusste nicht, ob sie schreien oder sich tot stellen sollte. Die Schritte hatten direkt vor der Abseite gestoppt. Jemand war dort draußen. Mattie konnte also nicht weit von einer Halle oder einem Flur entfernt sein. Sie dachte nicht, dass irgendwer außer Miss Rowe wusste, wo sie war, aber andererseits hatte Mattie keine Ahnung, wie lange sie bewusstlos gewesen war und an diesem Ort gefangen.

Wenn sie sich ruhig verhielt, würde die Direktorin vielleicht denken, sie wäre schon tot, und ließe sie hier verrotten. Kein schöner Gedanke, aber besser als noch mehr Qualen durch eine sadistische Geistesgestörte zu erleiden. Mattie wollte nicht verstümmelt werden und dann in den Wänden der Rowe-Akademie verenden. Sie wollte fliehen, und wenn dies ihre einzige Chance war, durfte sie es nicht vermasseln.

Sie schloss die Augen und hörte das röchelnde Geräusch ihres Atmens. Sie klang wie ein Güterzug, und das allein versetzte sie in Panik. Es musste doch einen Weg geben, sich zu beruhigen! Sie zwang sich, ganz langsam zu atmen und in sich zu gehen. Das vermittelte ihr nach einer Weile das wunderbare Gefühl, wie ein Tiefseetaucher in die Stille zu sinken, und in diesem eigenartigen Zustand fand sie plötzlich die Lösung.

Vor ihrem inneren Auge sah Mattie das Schwarze einer Zielscheibe vor sich. Ihre Schießstunden verlangten immer volle Konzentration. Sie erlebte dort eine Entspannung und innere Ruhe wie nirgendwo sonst. Manchmal hatte sie das Gefühl, mit der gelben Kugel in der Mitte zu verschmelzen und in einen tranceartigen Zustand zu versinken, der alles andere ausblendete. Im Ruhepol der sich drehenden Welt, dachte sie in Erinnerung an das Zitat von T. S. Eliot aus ihrem Literaturunterricht. Konzentriere dich darauf.

Ihre Arme entspannten sich, und sie streckte die Finger, die zu Fäusten geballt gewesen waren. Die Stille war tröstend, und als Mattie darüber nachdachte, stellte sie fest, dass das Kabel aufgehört hatte zu funken. Vielleicht war die Leitung tot, und sie war wenigstens davor sicher.

Sie hatte begonnen zu glauben, dass ihr Plan funktionieren würde, als sie ein Kratzen hörte. Es drang durch den Boden unter ihren Füßen und klang, als versuchte jemand, ein altes Rost zu bewegen, vielleicht von einem Belüftungsschacht, aber das schien in einem so alten Gebäude unwahrscheinlich.

"Ist da jemand in der Wand?"

Mattie schlug die Augen auf. Wer auch immer das war, die Person sprach mit ihr.

"Mattie, bist du's? Bist du da drin?"

Die Stimme klang vertraut, aber … War das Jane?

Matties Herzschlag geriet außer Kontrolle. Sie war sich nicht sicher, und sie konnte mit der angeschwollenen Zunge nicht sprechen. In der verzweifelten Hoffnung auf Rettung presste sie ein gequältes Krächzen heraus und begann mit den Beinen zu zappeln. Aber sie hatte immer noch Angst, einen elektrischen Schlag zu bekommen.

"Pst, sei ruhig! Ich kann dich hören, aber ich kriege dich hier nicht allein raus. Ich muss Hilfe holen."

Nein, nein! Lass mich nicht allein, Jane!

Mattie konnte sie wegrennen hören. Dann fiel eine Tür ins Schloss. Matties zenartige Ruhe war verschwunden, und sie kam nicht wieder. Die Stille empfand sie jetzt so schneidend wie die Hitze. Schweiß tropfte ihr von der Stirn und brannte in ihren Augen wie Salz in einer Wunde. Aber sie wagte es nicht, ihn wegzuwischen. Sie traute sich auch nicht, einen Muskel zu bewegen, als sie wenig später sich nähernde polternde Schritte hörte. Alles, was sie sich vorstellen konnte, war die Klinge eines Beils, die ihren Sarg zerschlug und ihre Brust entzwei teilte.

Was hatte Jane getan? Den Feueralarm ausgelöst? Mattie betete, dass sie nicht Miss Rowe zu Hilfe geholt hatte, denn in dem Fall würden sie und Jane für die Ewigkeit hinter diesen Wänden verschwinden.

Ein dumpfer Schlag erschütterte Mattie und entrang ihrer Kehle einen stummen Schrei. Noch einmal erzitterte die Abseite, und das Elektrokabel hinter ihr fing wieder an, Funken zu sprühen. Ein greller Blitz erhellte den Bereich, aber es war keine Elektrizität. Der Metallrost war aufgebrochen worden, und Licht strömte herein.

Jemand zog Mattie an den Fußgelenken und zerrte sie aus ihrem stickigen Verließ. Sie landete mit dem Gesäß auf dem Boden und rang inmitten der Staubwolken nach Luft. Ihr Arm blutete. Es sah wie eine Schnittwunde aus, aber sie hatte keine Zeit, sich um Verletzungen zu kümmern. Der Staub legte sich, und sie starrte geradewegs in das furchterregende Gesicht ihres Retters.

Der kleine Raum war abgedunkelt, aber Mattie erkannte die mürrische Gestalt sofort. Wie konnte sie die blutunterlaufenen Augen, diesen kalten wütenden Mund vergessen? Sie kannte seinen Namen nicht, aber er war der Hausmeister und Gärtner der Schule. Seit sie eines Tages gesehen hatte, wie er mit seiner Spitzhacke eine kranke Kiefer mit einem Schlag in zwei Teile gespalten hatte, ging Mattie ihm aus dem Weg. Jeder außer Miss Rowe hatte Angst vor ihm.

Mattie wollte ihm danken, aber sie konnte nur die Lippenbewegungen dazu machen. Sie fragte sich, wo Jane war. Vielleicht hatte Jane ihm aber gar nicht Bescheid gesagt, sondern er war von ganz allein gekommen. Mattie begann zu zittern.

Schließlich brachte sie heraus: "Wo ist meine Freundin?"

"Ist hingefallen und hat sich verletzt", murmelte er.

"Wie?" Mattie war sich nicht sicher, ob nicht er Jane verletzt hatte. Er hatte sie aus dem Weg geschafft, und jetzt würde er sie genauso beseitigen.

"Was zum Teufel machst du auf dem Dachboden?" Verächtlich verzog er den Mund. "Ich habe gewusst, dass sie hier etwas versteckt. Habe nicht gedacht, dass das eine ihrer Schülerinnen sein könnte. Was hast du gemacht? Die falsche Gabel benutzt?"

Es erschien Mattie sicherer, nicht zu antworten. Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.

"Diese verdorbene kleine Schlampe hat eine Lektion verdient", brummte er.

Mattie zuckte zusammen. Sie rappelte sich hoch, und er machte absolut keine Anstalten, ihr zu helfen. Er sah so angewidert aus, als hätte er sie am liebsten wieder zurück hinter die Wand geschoben.

Zorn loderte hinter ihrer Angst auf. Böse starrte Mattie ihn an. "Eine Schlampe vielleicht", krächzte sie, "aber verdorben bin ich nicht."

Sie war überrascht, weil sie die Worte herausgebracht hatte, aber noch mehr weil sein Gesichtsausdruck weicher wurde. Nur eine Sekunde lang, bevor er sich umdrehte und ging, ohne einen Funken von Interesse. Seltsam, wie schnell er zur Tür eilte, so als ob er nicht erwarten könnte, von dort zu verschwinden, als ob er sich sonst Ärger einhandeln würde. Vielleicht bedeutete das, dass er über den Vorfall schweigen würde.

Die Tür schlug krachend zu, und ein Schauer der Erleichterung lief Mattie über den Rücken. Sie hatte erwartet, dass er sie genauso in Stücke schlagen würde wie den Baum.

Der Raum, den er als Dachboden bezeichnet hatte, war voller Staub und Spinnweben. Er war leer, bis auf ein paar aufeinandergestapelte Metallstühle. Mattie stöhnte und stellte sich auf die Füße, den Blick auf die Tür gerichtet, durch die er gegangen war. Die einzige Tür. Mattie musste hier raus, aber bei dem Gedanken, dass er unten an der Treppe auf sie warten würde, wäre es ihr fast lieber gewesen, aus den Mansardenfenstern zu krabbeln.

Die Krankenstation der Schule befand sich im Erdgeschoss der Graedon Hall, einem dreistöckigen Turm am östlichen Ende des hufeisenförmigen Gebäudes. Mattie schien die einzige Schülerin zu sein, die in einem der Krankenbetten des Traktes lag, womit sie leben konnte, nachdem ihre Freundin Jane aufgetaucht war und ihr stolz die Schrammen präsentiert hatte, die sie sich beim Sturz auf der Turmtreppe zugezogen hatte. Der Hausmeister hatte tatsächlich die Wahrheit gesagt.

Mattie lutschte an einem Eiswürfel und genoss die Erleichterung, als die Schmerzen in ihrer Zunge nachließen. Sie war vielleicht vor einer Stunde zu sich gekommen, roch nach Jod und trug einen Krankenkittel, aber sie hatte keine Ahnung, wo ihre Kleider waren. Nach dem schlimmen Sturz aus dem Dachbodenfenster sei sie ohnmächtig geworden, sagte Jane. Irgendwie war Jane an der Arzthelferin vorbeigekommen, die im Büro der Krankenstation saß.

"Wie lange bin ich schon hier?", krächzte Mattie.

Jane machte ihr ein Zeichen, ruhig zu sein, während sie die Vorhänge um das Bett zog. "Miss Rowe hat uns gestern beim Abendessen erzählt, dass du einen allergischen Anfall hattest", flüsterte sie. "Sie sagte, du wärest in der Krankenstation, aber wir sollten dich nicht besuchen, weil deine Zunge wie ein Tennisball aussähe und es dir peinlich wäre."

Mattie bedeutete Jane, ihr etwas zum Schreiben zu bringen. Schnell zog Jane einen Notizblock und einen Stift aus ihrem Rucksack hervor.

Rowe hat mir das angetan, schrieb Mattie. Ich habe einen ihrer widerlichen Männer angespuckt.

Jane schlug sich die Hand vor den Mund, weil sie sonst losgeprustet hätte. "Gut gemacht", kicherte sie.

Mattie kritzelte noch eine Frage hin. Wie lange bin ich schon hier?

"Seit gestern Nacht", erklärte Jane. "Nachdem der Gärtner ohne dich vom Dachboden kam, bin ich hinaufgegangen. Du warst weg, aber das Fenster stand offen. Du hast mich zu Tode erschreckt, Mattie. Ich dachte, du wärest gesprungen, und bevor ich wieder unten war, hatte diese bescheuerte Lane Davison dich in einem Haufen auf dem Boden gefunden. Es ist ein Wunder, dass du dir nicht die Knochen gebrochen hast."

Da war sich Mattie nicht so sicher. Ihr Arm war fest einbandagiert, und ihr Knie schmerzte, als ob etwas gebrochen wäre. Ich bin nicht gesprungen, schrieb sie. Ich bin zwei Stockwerke hinuntergeklettert, bevor ich gefallen bin.

"Also, Lane hat Miss Rowe geholt", sagte Jane, eifrig bemüht, die Geschichte weiterzuerzählen, "die so tat, als würde sie Erste Hilfe leisten. Nein, keine Mund-zu-Mund-Beatmung!" Beide Mädchen zogen bei dem Gedanken eine Grimasse. "Sie hat deinen Puls kontrolliert und Ähnliches, und dann sah sie den Gärtner und bat ihn, dich zur Krankenstation zu tragen. Ich war ihnen so dicht auf den Fersen, dass ich hören konnte, wie sie ihm erzählte, dass du eine schwere allergische Reaktion gehabt hättest, sonst wäre deine Zunge nicht so angeschwollen. Er hat nichts gesagt, aber er musste ja wissen, dass sie log."

Auweia!, schrieb Mattie. Er hat mich getragen? Darth Vader?

Jane nickte, die Arme um sich geschlungen, als würde sie zittern.

Wo sind Ivy und Breeze?, schrieb Mattie, neugierig auf die anderen zwei Mitglieder ihrer kleinen Bande von Außenseitern. Alle vier Mädchen hatten ein Stipendium für Rowe, das sie von der Gemeinschaft der neureichen und blaublütigen Mädchen ausgrenzte. Aber das machte Mattie nicht mehr so viel aus. Sie hatte das erste Mal im Leben echte Freunde, auf die sie sich verlassen konnte.

"Sie sind in Breezes Schlafsaal, haben Kerzen angezündet und schicken Gebete für deine schnelle Erholung an die Göttin."

Das zauberte ein Lächeln auf Matties Lippen, was ihr schwer fiel, weil ihre Zunge sich immer noch wie ein Tennisball anfühlte. Die Mädchen hatten Artemis in einem Unterstufenbuch über Mythologie entdeckt und die böse griechische Gottheit als ihre Schutzpatronin adoptiert. Mehr noch als die Göttin der Jagd und der Fruchtbarkeit war Artemis die Schutzheilige der jungen Frauen. Sie hatte verfügt, dass sie und ihre Dienerinnen nie von einem Mann gesehen werden durften. Aber der arme Actaeon, ein Jäger, machte den Fehler, Artemis und ihre Frauen zu beobachten, als diese nackt badeten. Daraufhin verwandelte Artemis ihn in einen Hirsch und sah zu, wie seine eigenen Hunde ihn in Stücke rissen.

Wenn Artemis Nein sagte, meinte sie es auch so.

"Oh, das habe ich fast vergessen …" Jane kramte noch etwas anderes aus ihrem Rucksack. "Ivy wollte, dass ich dir das hier gebe. Es soll dir Gesellschaft leisten, bis du wieder bei uns bist."

Der knuddelige Bär musste aus Ivys Stofftiersammlung stammen, aber Mattie wollte ihn nicht. Sie war nicht der Typ für Teddybären. Um Himmels willen – sie seilte sich von hohen Gebäuden ab! Aber sie wollte auch Ivys Gefühle nicht verletzen.

Nach einigem Zögern griff sie nach dem Bär, woraufhin Jane in ein leises Gelächter ausbrach. "Er beißt schon nicht", sagte Jane und drückte ihr das Tier in die Arme.

Mattie seufzte und drückte den Bär, mit dem Gefühl, so ungeschickt zu sein, wie Jane ihr immer unterstellte. Sie brachte ein schmerzhaftes Grinsen zustande. Ihr Knie machte ein klickendes Geräusch, sobald sie es bewegte, und in dem bandagierten Arm spürte sie einen stechenden Schmerz, aber sie hatte noch eine Frage.

Wie bist du hier reingekommen, ohne dass dich jemand gesehen hat?

Jane wurde tatsächlich rot. "Kennst du Jimmy Broud? Diesen süßen Typen aus der Stadt, der Sachen ausliefert? Er hat die Schlüssel zur Hintertür dieses Gebäudes, wo die Vorräte aufbewahrt werden. Ich habe ihn rein zufällig beim Rausgehen beobachtet."

Janes Lächeln war viel zu geheimnisvoll. Mattie kam vor Neugierde fast um, aber sie war entschlossen, nicht den Anflug von Interesse zu zeigen.

Also, hat er dich reingelassen?, schrieb sie.

"Ja, und er hat gefragt, ob ich mir die schlafende Schöne ansehen wolle. Ich glaube, er hat dich gemeint. Aber ich habe gelogen und gesagt, dass ich nur ein Aspirin gegen meine Kopfschmerzen bräuchte. Er ist ziemlich süß, findest du nicht?"

"Nein", stieß Mattie hervor und erntete dafür einen fiesen Schmerz im Mund. Wenn Jimmy Broud sie angesehen hatte, während sie schlief, dann hatte er die vielen Schrammen und Kratzer in ihrem Gesicht gesehen, den grotesk geschwollenen Mund. Er konnte nicht von ihr gesprochen haben – und wenn, dann hatte er es bestimmt ironisch gemeint.

"Ist etwas nicht in Ordnung, Matt?"

Mattie fiel zurück in ihr Kissen. "M…müde."

"Ja, tut mir leid, ich verschwinde besser. Ich muss sowieso los zur ersten Stunde. Kommst du hier klar?"

Mattie antwortete mit einem Seufzen.

Jane wurde plötzlich ernst. Sie legte eine Hand auf Matties, was sie zuvor noch nie getan hatte. "Miss Rowe war nicht immer so grausam", sagte sie. "Erinnere dich mal an unser erstes Jahr. Wie oft hat sie uns in ihre Wohnung eingeladen, nur uns vier. Sie hat uns geschminkt und uns gesagt, dass Frauen geheime Kräfte hätten, die sie nicht nutzten. Sie hat versprochen, uns Dinge beizubringen, die die vielen Nachteile in unserem Leben wettmachen würden. Und sie sagte, wir könnten alles werden, was wir wollten. Ich habe ihr geglaubt."

Auch Mattie hatte ihr geglaubt.

"Was ist mit ihr geschehen?", frage Jane. "Warum hat sie sich so verändert?"

Mattie wusste es nicht. Als sie zu ihrer Freundin hinüberblickte, sah sie Tränen in Janes Augen schimmern. Von plötzlichem Schmerz übermannt, fühlte Matti, wie sich ihr Herz zusammenschnürte. Sie hatte keine Ahnung, was sie dagegen tun oder wie sie Jane helfen konnte. Von allen vier Mädchen hatte Jane sich die Dinge am meisten gewünscht, von denen die Schulleiterin gesprochen hatte: die Anmut und Würde, die allein der privilegierten Schicht zuzustehen schien.

"Was wirst du tun?", fragte Jane. "Ich meine Rowes Treiben hier?"

Matties Lösung war simpel, aber sie schrieb sie nicht für Jane auf. Es würde vielleicht eine Weile dauern, um sich ein paar Vorräte anzulegen, aber sie würde abhauen. Ihre Freundinnen ließ Mattie ungern allein zurück, besonders Ivy, die so zerbrechlich war und mehr Schutz als die anderen brauchte. Aber eine unbekannte Macht, vielleicht Artemis, hatte ihr die Wahrheit ins Ohr geflüstert. Wenn sie an diesem Ort noch länger bliebe, würde etwas Furchtbares geschehen. Jemand würde noch schwerer verletzt werden. Und es würde ihretwegen geschehen.

7. KAPITEL

Mattie stieß einen stummen Schmerzensschrei aus. Sie spürte etwas Kaltes, Scharfes im Rücken. Als sie sich umdrehte und die Augen öffnete, entdeckte sie voller Entsetzen, dass jemand neben ihrem Bett stand. Ein silbernes Objekt glitzerte in der Dunkelheit, und der Mensch, der sich über sie beugte, sah unheimlich aus.

Ein Albtraum? Sie blinzelte, um ihn zu vertreiben. Aber sie träumte nicht. Es war Miss Rowe, und sie hatte ein Messer in der Hand.

Mattie rutschte näher an die Wand, an dem das Bett stand. Sie kauerte sich in eine Ecke, machte sich so klein wie möglich. Sie konnte nicht laut genug schreien, niemand würde sie hören. Erst vor ein paar Tagen war sie ihrem Versteck entkommen, und ihre Zunge war immer noch geschwollen.

Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. In einem nahe gelegenen Geräteschuppen hatte sie einen Schraubenschlüssel gefunden und sofort unter ihrem Bett versteckt. Aber er war außer Reichweite, und die Direktorin viel zu nah.

Mattie starrte die furchterregende Gestalt an und konnte immer noch nicht glauben, dass es Miss Rowe war. Sie trug einen glänzend schwarzen Morgenrock. Aus dem Zopf, den sie normalerweise zu einem Knoten aufgesteckt trug, hatten sich Strähnen gelöst. Im Mondlicht sahen diese Strähnen wie weiße Drähte aus. Miss Rowe war immer in jeder Hinsicht perfekt gewesen, von ihrer Erscheinung bis zu ihren Manieren. Dieselbe Perfektion erwartete sie von ihren Schülerinnen. Was war mit ihr geschehen?

Die Schulleiterin durchbrach die Stille plötzlich mit einem unheimlichen Kichern.

"Versuchst du, dich zu verstecken, Matilda? Wie lächerlich. Was hast du gedacht, würde ich mit dir machen? Dich erstechen?"

Sie hielt das silberne Objekt hoch und zeigte Mattie, dass es sich dabei um einen Brieföffner handelte. "Ich habe nur versucht, dich zu wecken. Ich finde, wir sollten uns mal ein bisschen unterhalten."

Mattie kauerte sich noch mehr zusammen. Sie wusste, dass ihr Schlaf-T-Shirt die Beine entblößte, aber sie konnte sich mit nichts anderem schützen. Das könnte ein Trick sein. Rowe könnte ihr in den Bauch stechen, sobald Mattie die Position änderte.

Eine Drohung schlich sich in Miss Rowes Grinsen. "Nun gut", sagte sie mit tiefer, zitternder Stimme. "Wenn du darauf bestehst, albern auszusehen, dann bitte schön. Aber du bist wirklich ein dummes, kleines Mädchen."

Mattie wollte krächzen, dass sie klug genug sei, keinen verrückten Menschen mit spitzen Gegenständen zu vertrauen. Aber sie wusste, dass sie sich unter diesen Umständen besser nicht mit Rowe anlegte.

"Es ist an der Zeit, dass wir eine Einigung finden", sagte die Direktorin, "und da du dich nicht an die Schulregeln hältst, bin ich gezwungen, kreativ zu sein."

Sie zog Matties Rucksack hervor. Offensichtlich hatte sie in Matties Schrank herumgeschnüffelt. Mattie hielt den Rucksack seit längerem dort versteckt, und jeden Tag hatte sie ihn mit Vorräten aus der Cafeteria gefüllt.

"Wenn du daran denkst, abzuhauen, Matilda, dann überleg es dir gut. Wenn du das tust, werde ich deine Freundinnen unaussprechlichen Qualen aussetzen. Und ich werde dich finden und an den Haaren zurückzerren, damit du zusehen kannst. Das solltest du wissen. Ich finde dich überall."

Sie ließ den Rucksack auf den Boden fallen. Das Geräusch von splitterndem Glas ließ Mattie zusammenzucken. Sie hatte auch Geschirr darin versteckt.

"Sch…sch…sch…" Das Wort blieb Mattie im Halse stecken. Scheiße.

Erschrocken zuckte sie zurück, als der Brieföffner plötzlich auf ihr Gesicht zuschoss. Sie hörte, wie die Klinge die Luft durchschnitt.

Miss Rowe baute sich über ihr auf und sprach zischend wie eine Schlange auf sie ein. "Es ist mir todernst, du dumme, schlampige Göre. Und wenn du irgendwem von diesem Gespräch erzählst – wenn du irgendetwas ausplauderst –, werden deine drei Freundinnen einen Unfall haben. Einen tödlichen Unfall. Sie werden sterben, eine nach der anderen, und die erste wird Ivy sein."

Ungläubig schüttelte Mattie den Kopf. Miss Rowe war verrückt geworden. Seit sie aus dem Sommerurlaub zurückgekehrt war, benahm sie sich immer seltsamer. Jetzt drohte sie, Menschen umzubringen? Vielleicht hatte sie schon mehrere um die Ecke gebracht und in den Wänden versteckt.

Drohend streckte die Direktorin den Arm aus und rollte den Ärmel ihres Bademantels hoch. Mattie beobachtete in stiller Panik, wie Miss Rowe das scharfe Ende des Brieföffners über ihre blasse Haut zog. Ein dünner Blutstreifen zeichnete sich ab. "Ich habe keine Angst vor Schmerzen, Matilda. Und wie du weißt, habe ich auch keine Angst davor, anderen Schmerzen zuzufügen."

Ihr Lächeln war plötzlich milde, so als hätte sie gerade eine Zeremonie beendet. Mattie wurde schlecht bei dem Anblick. Sie erschrak, als Miss Rowe sich zu ihr beugte und in sanftem, gütigem Tonfall sprach. "Natürlich wirst du es keiner Menschenseele erzählen, nichts hiervon, nichts von dem Mann, zu dem du so unhöflich warst, gar nichts." Fast liebevoll tätschelte sie Matties Gesicht. "Ich bin da wirklich zuversichtlich, Matilda. Du darfst es allerdings deinen Freundinnen sagen. Ehrlich gesagt, zähle ich darauf, dass du es tust. Sie müssen die Regeln ja auch verstehen."

Rowes Gesicht war gerötet, und ihr Atem ging stoßweise, als sie sich zur Tür wandte. Fast genauso plötzlich, wie sie erschienen war, verließ Miss Rowe die Krankenstation. Mattie floh ins Badezimmer, den Schmerz in ihrem Knie ignorierend. Sie musste sich übergeben, und sie mochte sich kaum vorstellen, was die Magensäure ihrem wunden Mund antun würde.

Stets wählte Ivy White Kleidung, in der sie sich unsichtbar fühlte. Heute war es ein grob gestrickter grauer Rollkragenpulli, kombiniert mit einer ausgewaschenen Jeans, die zwei Nummern zu groß war. Aber sosehr sie auch versuchte, mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, man sah sie trotzdem. Vielleicht lag es daran, dass sie sich auf eine so merkwürdige Weise an der Wand entlangdrückte, jedenfalls zog Ivy die Aufmerksamkeit auf sich wie ein Magnet. Manchmal war sie sicher, dass ihre Klassenkameradinnen nur darauf warteten, sie in Verlegenheit zu bringen und ihr gemeine Worte an den Kopf zu werfen.

"Womit kämmst du dir die Haare, White? Mit einer Harke?"

Autor

Suzanne Forster

Schon während ihrer Schulzeit war es Suzanne Forsters Traum Psychiaterin zu werden. Doch sie stammte aus einer Arbeiterfamilie, in der Geldsorgen zum Alltag gehörten. Keiner ihrer Vorfahren hatte ein College besucht und als ihr klar wurde, dass auch ihr dieses Privileg nicht vergönnt sein würde, fügte sie sich den Wünschen...

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